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Juli 1941. Die deutsche Wehrmacht besetzt in Ostgalizien die Stadt Lemberg und zieht weiter Richtung Kiew. Ihr folgt die Einsatzgruppe C mit dem Einsatzkommando 5. Ein Mitglied des EK5 war der aus Bremen stammende SS-Offizier Hermann Lumm. Bis Anfang 1942 war er in Ostgalizien tätig. Die spätere Entnazifizierung brachte ihm eine Kategorisierung als >Minderbelasteten< ein. Anfang Mai 1960 wurde er erneut verhaftet und wegen der Erschießung von Juden angeklagt. Das erregte in Bremen erhebliches Aufsehen, da er als Oberregierungsrat das Lastenausgleichsamt leitete. Doch wurde er nicht verurteilt. Hier werden seine Lebensgeschichte und seine Verstrickung in die Nazi-Verbrechen sowie das Anklagegeschehen dargestellt.
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Seitenzahl: 82
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I
Prolog
Rekonstruktion
Im Krieg
Nach 1945
Demaskierung
Zur Person
Epilog
II
Erwin Schulz
Einsatzgruppe C
Einsatzkommando 5
Sonderkommando 1005
Einsatzgruppenprozess
Lemberg und das Janowska-Lager
Berditschew / Uman / Kiew
Denkmäler und aktuelle Situation
III
Anmerkungen
Abkürzungen
Abbildungsnachweise
Quellen und Literatur
Der Oberregierungsrat Lumm kam oft in die Buchhandlung gegenüber der katholischen Kirche im Bremer Schnoorviertel. Er war Leiter einer Behörde, literarisch interessiert, gebildet, gläubiger Katholik, guter Familienvater. Äußerlich machte er einen sehr gepflegten Eindruck, vermittelte Integrität, Distinktion, eine sein Ich tragende Ruhe. Kein Chaos war sichtbar, keine Brutalität, keine Falschheit. Uns Auszubildenden begegnete er mit Höflichkeit, ohne Anmaßung. Ein Mann, der mit sich im Reinen war. Oft wurde über ihn in der Buchhandlung bewundernd gesprochen.
Eines Morgens im Frühsommer 1960 raste der Besitzer der Buchhandlung herein und rief spontan: »Kinder, habt Ihr schon die Zeitung gelesen? Stellt Euch vor, unser Herr Lumm ist verhaftet worden. Er soll an Judenerschießungen in Lemberg[/Lwiw]0 beteiligt gewesen sein!« Das saß. Nach einer Weile und spontanen Äußerungen von Ungläubigkeit und Entsetzen kristallisierte sich die Frage nach der aktuellen Persönlichkeit des Herrn L. War er wirklich ein Nazi, ein Kriegsverbrecher gewesen und, das vor allen Dingen, war er immer noch ein Nazi? Hat er seine Tat verdrängt oder vielleicht bereut, seine Schuld eingestanden? Wie kann jemand sich so verstellen, über Jahre hinweg. Hoffte er, unentdeckt zu bleiben hinter seiner Maske der Wohlanständigkeit? Dachte er, sich hinter und in seiner Familie, der Kirche und der sozialen Stellung als Oberregierungsrat verstecken zu können? Wie konnte er überhaupt zu dieser Position gelangen? Er war doch bei der Gestapo tätig gewesen und muss als solcher den früheren Verfolgten und späteren politischen Machthabern bekannt gewesen sein.
Die erzählende Protagonistin fuhr in der Mittagspause nach Hause und traf dort einen Bruder der Mutter an. Mit ziemlicher Verstörung erzählte sie von dem Geschehen. Der Onkel reagierte mit Wut: »Recht so, sie gehören alle verhaftet, das sind Verbrecher.« Für die Neunzehnjährige war das ein klarer Standpunkt und brachte Ruhe in das momentane persönliche Chaos. Doch die Causa Lumm trieb die sich betrogen fühlende Protagonistin lange um und soll hier endlich Klärung erfahren. Jahrzehnte später öffnete sich wieder die Datei Lumm und damit Fragen wie:
Hat Hermann Lumm sich schuldig gemacht?
Ist er verurteilt worden?
Hat er sich seiner Schuld gestellt und seine Zeit in der SS und im SD überhaupt bereut?
Letztendlich geht es vor allem um Schuld, Sühne und Gerechtigkeit.
In der Folge wird seiner Lebensgeschichte im Kontext zu den politischen Ereignissen nachgegangen. Wobei der subjektive Faktor in Relation zum objektiven Handeln mitzudenken wäre.
Hermann Heinrich Wilhelm Lumm
* 2. 3. 1912 in Bremen, † 8. 10. 2000 in Bremen
SS-Nr. 272.349; NSDAP-Nr. 4.183.394
Hermann Lumm wuchs in der St. Jürgenstraße im Bremer Steintorviertel in einer Familie mit evangelischer Konfession auf. Der Vater Paul war laut Bremer Adressbuch von Beruf Seemann bzw. Schiffsoffizier und etwa ab 1920/21 als Weserlotse tätig. Politisch gehörte er dem ›Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten‹ an, während die Mutter aus einem sozialdemokratischen Elternhaus stammte. Zu dieser Zeit lebte die Familie in der Lloydstraße, während Hermann nach der Volks- bzw. Vorschule 1921 die sechste Klasse (Sexta) des Bremer Realgymnasiums (das heutige Hermann-Böse-Gymnasium) besuchte. Im September 1922 verließ Hermann diese Schule als Fünftklässler und zog mit der Familie nach Bremerhaven/Wesermünde. Dort war er zunächst auf der Realschule und von 1927 bis 1929 auf der Oberrealschule in der Hafenstraße. Danach besuchte er für ein Jahr die Höhere Handelsschule, schloss aber nicht mit dem Abitur ab und begann im April 1930 eine kaufmännische Lehre. Nach kurzer Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter wurde er Anfang 1933 arbeitslos. Nach eigener Aussage war er bis dahin politisch nicht aktiv gewesen und 1933 politisch noch unreif. Doch blieb die nationalsozialistische Machtübernahme nicht ohne Eindruck auf ihn. Von März bis Oktober 1933 hielt er sich im Arbeitslager Sandstedt/Unterweser des ›Jungstahlhelm‹1 auf. Ab Oktober arbeitete er erneut als kaufmännischer Angestellter. (StAB 4,39/2-; 4,66-I-6871; 4,82/1)
1: Hermann Lumm, li., Erwin Schulz, re. im Polizeihaus Bremen, April 1937 an der Wand ein Ausspruch von Heinrich Himmler
Zum Februar 1934 konnte Lumm als Verwaltungsangestellter beim Zoll und später bei der Polizeidirektion Wesermünde tätig sein, womit der Grundstein für seine polizeiliche Karriere gelegt wurde. In diesem Jahr begann auch der langanhaltende berufliche Kontakt zu Erwin Schulz (→ II.1). Ende 1934 »wurde ich als Angehöriger der Gestapo automatisch in den SD übernommen und damit SS-Angehöriger (Rottenführer)«, so seine spätere Aussage. Laut Aktenvermerk war er allerdings bereits seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der SS. Im SD war er seit Oktober 1935 ehrenamtlich tätig. In diesemZeitraum kam er zur Abteilung Abwehr und Grenzpolizei, 1936/37 absolvierte er einen Kriminalkommissar-Lehrgang in Berlin und trat 1937 der NSDAP bei. Laut Personalbericht war er ab April 1937 bei der Staatspolizei in Wesermünde tätig und leitete die Abt. III (Abwehr und Grenzpolizei: Passabfertigung im Überseeverkehr) mit dem Rang ein es SS-Stamm-Rottenführers im SD Nord-West. Konfessionell verortete er sich jetzt als »gottgläubig«2. (StAB 4,66-I-6871; 4,89/3-921) Doch blieb er mutmaßlich weiterhin Mitglied der Evangelischen Kirche, wie aus seiner Bremer Meldekarte hervorgeht. (StAB 4,82/1)
Im Sommer 1938 heiratete er die 1917 geborene Selma Laue, mit der er sechs Töchter und einen Sohn haben sollte. Der Eheschließung vorausgegangen war ein Antragsverfahren beim SS-Sippenamt. Wobei sich herausstellte, dass Selmas Vater wegen einer manisch-depressiven Erkrankung in Behandlung war. Was einen deutlichen Minuspunkt für Lumm als SS-Mann darstellte. Trotz einiger Bedenken wurde Lumm am 18. Juni die Heiratserlaubnis erteilt, doch konnte er nicht mit »einer Eintragung in das Sippenbuch der SS rechnen«.3 Zumal auch der Vater von Lumm nicht ganz einwandfrei war: 1936 war er »wegen schwerer Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug zu einem Jahr und 3 Monaten verurteilt« worden. (StAB 4,66-I-6871) Noch im gleichen Jahr wurde das erste Kind geboren. Es ist anzunehmen, dass Selma L. ebenfalls stark nationalsozialistisch orientiert war, da auch sie konfessionell als ›Dissidentin‹ geführt wurde. Ebenso die drei ältesten, im Zeitraum von 1938 und 1941 geborenen Kinder. Mit dieser Zugehörigkeit bewiesen die Lumms auch spirituell ihre Verbundenheit mit der nationalsozialistischen Ideologie. (StAB 4,82/1) Ebenfalls 1938 wurde Lumm Mitglied der NSV und stieg zum SS-Untersturmführer auf. (StAB 4,66-I-6871) In diesem Zeitfenster war er dienstlich auch mit Erwin Schulz verbunden. Dieser schätzte Lumm sehr, hatte aber nach seiner Aussage keinen persönlichen Kontakt zu ihm. (StAB 4,89/3-923)
Personal-Bericht Hermann Lumm 1937 (StAB 4,66-I-6871)
Von April bis September (oder Juli?) 1940 war Lumm vorübergehend in Oslo im Rahmen eines Sipo-Einsatzes als Grenzinspekteur tätig. Danach ließ er sich beurlauben, um in Berlin das Abitur nachzuholen und ein Jura-Studium zu beginnen. Ab Oktober war er mit der Familie in Berlin-Treptow gemeldet bis zum 8. Mai 1945. Er selbst war im Rahmen seines Studiums Anfang 1941 Teilnehmer eines Sonderlehrgangs für Anwärter des leitenden Dienstes. Der Lehrgang fand in der von Erwin Schulz geleiteten Berliner Führerschule der Sipo statt. Im Mai 1941 wurden alle Teilnehmer nach Pretzsch an der Elbe nahe Wittenberg zur dortigen Grenzpolizeischule des RSHA4 abkommandiert. Die hier im Juni für den Krieg im Osten gebildete Einsatzgruppe C hatte Order, im Rahmen des ›Unternehmens Barbarossa‹5 während des Russlandfeldzugs die ›jüdischbolschewistische‹ Intelligenz zu beseitigen. (Vgl. II.2) Ihr unterstellt waren die Sonderkommandos 4a und 4b sowie die Einsatzkommandos 5 und 6 mit je 200 Mitgliedern, denen durchaus klar war, was von ihnen erwartet wurde. (Struve)
Seinem Rang nach war Lumm jetzt SS-Obersturmführer und Mitglied des von Schulz geleiteten EK 5, dem er also erneut unterstellt war. Er gehörte zwar nicht zu den oberen Befehlsrängen, führte aber später ein Teil- bzw. Exekutionskommando. (StAB 4,89/3-921, -923) Jedes der EK-Mitglieder erhielt zusätzlich zur Dienstpistole einen Wehrmachtskarabiner und kurz vor dem Ausrücken Richtung Osten die entsprechende Munition.
Um den 21. Juni wurde in Pretzsch das aus drei Teilkommandos bestehende EK 5 nach Osten in Marsch gesetzt. Etwa zwei bis drei Tage vorher war den Führern der Einsatzgruppen und ‒kommandos der Einsatzraum mitgeteilt worden. Bereits vorher waren die Kommandos 4a, 4b und z.b.V.6 aus Pretzsch abgerückt. (Vgl. Krausnick) Die geplante Route führte über Krakau nach Lemberg und weiter über Shitomir/Schytomyr nach Kiew/Kyjiw mit Abstechern in den Raum um Berditschew/Berdytschiw und um Uman. Die beiden letztgenannten Orte waren Räume mit starker jüdisch-chassidischer Präsenz und Bedeutung. (Vgl. II.3) Nach Lumms eigener Aussage im Mai 1960 und der einiger ebenfalls verhafteter Mitglieder des EK 5 war dieses Anfang Juli 1941 in Lemberg eingetroffen. Auf dem Weg dorthin durchquerte das Kommando auch die polnische Grenzstadt Przemyśl7, wo es bereits 1939 zu Drangsalierungen und Liquidierungen von Juden gekommen war. (StAB 4,89/3-921; Varia)
Skizze 1: Operationsgebiet Einsatzgruppe C und Einsatzkommando 5 Juli bis Dezember 1941
In Lemberg löste das EK 5 das inzwischen weiter nach Osten gezogene EK 4a ab. Zu diesem Zeitpunkt lebten dort etwa 150 000 Juden, die ein Drittel der Bevölkerung stellten, gegen die sofort ein Vernichtungsprogramm eingeleitet wurde. Doch zuvor war die 1. Gebirgsdivision aktiv geworden, entsprechend den Vorgaben der im Russlandfeldzug eingerichteten 17. Armee. Die Wehrmacht fand beim Einmarsch in Lemberg in den drei Gefängnissen von den Sowjets vor ihrem Rückzug massenhaft ermordete Häftlinge vor. Es waren vor allem ukrainische Nationalisten und politische Gegner, die aus logistischen Gründen von der abrückenden Sowjetarmee nicht mitgenommen werden konnten und wollten und daher liquidiert wurden. Dieses Vorgehen instrumentalisierten Wehrmacht und RSHA für ihre Zwecke und Ziele und machten gegenüber der ukrainischen Bevölkerung die ›jüdischen Bolschewisten‹ dafür verantwortlich. In einer Vergeltungsaktion der ukrainischen Miliz bzw. des Bataillons ›Nachtigall‹ unter dem späteren Bundesminister Theodor Oberländer wurden viele Juden in Lemberg aus ihren Häusern und Wohnungen gezerrt und in die Gefängnisse gebracht. Dort mussten sie die verwesenden Leichen in die Gefängnishöfe bringen und bei der Entsorgung helfen. Während die Wehrmacht weiter nach Osten zog, oblag der nachrückenden Egr C die Erledigung der geplanten Vernichtungsaktionen. (Varia)