Stockholmer Spaziergänge (3) - Anne E Dünzelmann - E-Book

Stockholmer Spaziergänge (3) E-Book

Anne E. Dünzelmann

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Beschreibung

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 setzte eine zum Teil breite Fluchtbewegung aus politischen und rassistischen Gründen ein . Ein Zielpunkt der Emigration war Stockholm. Hier bildete sich eine vielfältige deutschsprachige Exilgesellschaft heraus, deren Vorstellungen und Zielsetzungen auch in der Nachkriegszeit wirksam waren. Vor allem war sie gekennzeichnet durch eine relative Vielfalt bei entsprechender sozialer und politischer Vernetzung mit Kontakten nach Deutschland. Das wird nicht nur an einzelnen Beispielen aufgezeigt, sondern auch anhand der zahlreichen Biografien, die auch helfen, das seinerzeitige Lebensgefühl zu verstehen.

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Diese von Michael Meschke geschaffene Figur des Baptiste (Kinder des Olymp) reflektiert die Situation vieler Exilierter: Es gibt trotz allem einen Neubeginn.

Inhalt

Einleitende Anmerkungen

I Zur Situation im schwedischen Exil

Kinder/Jugend-Alijah

In Schweden

Svenska Israelmission /SIM

Exkurs

: Flyktingbarnen aus Dänemark, Norwegen und Finnland

Hilfen für Fluchtmigranten

II Die Wege, die Erinnerung

Stadtgeografische Verortungen

Emigrantenschicksale

Vernetzungen

Organisationen, Vereine, Selbsthilfe

Die Exilgesellschaft

Lagerleben

Im Widerstand

Aktivitäten der Internationalen Transportarbeiter-Föderation

Im Austausch mit der Bremer SAPD-Gruppe

Sabotage als Mittel zum Zweck?

Verbindung zum Kreisauer Kreis: Adam von Trott zu Solz und Willy Brandt

Ersehnte Rückkehr — oder?

III Anhang

Betreuende Einrichtungen und ihre geografische Verteilung

Glossar

Anmerkungen

Abkürzungen

Abbildungsnachweise

Bibliografie

Dank

Einleitende Anmerkungen

Forschung bedeutet ja nie Stillstand und befindet sich immer in Bewegung. Dem wird hier mit einer dritten Auflage mit vielfachen Ergänzungen Rechnung getragen, was sich durchaus als notwendig oder wünschenswert erwiesen hat. Das betrifft nicht nur das biografische Segment, sondern insbesondere Widerstandsaktivitäten seitens einiger Exilierter gegen das Nazi-Regime in Deutschland. Dazu passend wird das sorgfältig eingefädelte Treffen zwischen Willy Brandt und Adam von Trott zu Solz vom Kreisauer Kreis* thematisiert.1 Ansonsten sind verschiedene Korrekturen hinzugekommen. Zudem wurde mehreren Biografien eine stärkere Aufmerksamkeit zuteil, da die Protagonisten bestimmten Erfahrungen ausgesetzt waren und somit exemplarisch für bestimmte Ereignisse stehen. Gleich geblieben ist das Anliegen, eine Übersicht über das im historischen Kontext doch recht schmale Zeitfenster hinsichtlich der Möglichkeiten der meisten in Stockholm angekommenen Exilierten aufzuzeigen. Vor allem geht es hier um den Menschen, die Menschen selbst, die bestimmten Zwängen und Schwierigkeiten ausgesetzt waren und diese bewältigen mussten. Darüber hinaus kann diese Arbeit auch Anregungen für weitere intensivere Forschungen liefern. Doch ist leider anzumerken, dass nicht alle kontaktierten Personen und Einrichtungen notwendig gewordene Anfragen beantwortet haben. Dadurch bleiben vorläufig bestimmte Unklarheiten und Lücken noch offen.

Aus den Geschehnissen ist Geschichte geworden

Im Fokus dieser Darstellung steht der Mensch an sich und erhält mit seinem Potential zur Vernetzung die entsprechende Aufmerksamkeit, und zwar in Anlehnung an Hannah Arendt. Kennzeichnend für die Situation fast aller hier genannten Fluchtmigranten ist ein bisher erlebtes und ziemlich positives Miteinander zu verlassen und die eigene Flucht- bzw. Exilerfahrung nun mehr mit anderen Betroffenen zu teilen. Daraus resultierte ein Bewusstsein, sich nunmehr gemeinschaftlich neu verorten zu müssen. Erste Kontakte zu in etwa Gleichgesinnten mussten also ausgelotet werden, damit es überhaupt zu einer gemeinschaftlichen Neufindung kommen konnte. Aus den zunächst wohl nur persönlichen Kontakten entstanden lockere und sich dann vertiefende Zusammenschlüsse.

Zunächst wird einmal den formalen und gesellschaftlichen Bedingungen eines Aufenthalts im Aufnahmeland Schweden nachgegangen, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der in Deutschland verfolgten Juden. Im daran anschließenden Kurzkapitel wird der Komplex Kindertransporte behandelt, wobei die von jüdischer Seite geplante und vorbereitete Auswanderung der betroffenen Kinder und Jugendlichen ausführlicher dargestellt wird. Weiter wird in einem Exkurs die Aufnahme jüdischer Kinder und Jugendlicher aus dem inzwischen besetzten Dänemark und Norwegen festgehalten. Es folgt in chronologischer Ordnung eine Auflistung der von schwedischer Seite initiierten Hilfs- und Betreuungsangebote für die in Stockholm aufgenommenen Fluchtmigranten.

Um ein Gefühl für die geografische Neuverortung der zugewanderten Exilierten zu entwickeln, werden im zweiten Teil die entsprechenden Orte und Räume in Stockholm aufgesucht, wo sie lebten und agierten. Obwohl die Zeit nicht stehen geblieben ist und insofern Veränderungen nicht ausgeblieben sind. Insofern verweisen auch nur wenige Erinnerungsorte auf die Anwesenheit und das Wirken bestimmter Exilierter hin. Beispielhaft dafür sind Bertolt Brecht, Willy Brandt, Nelly Sachs und das Långholmen fängelse.

Im biografischen Teil stellt sich u. a. die Frage, von woher kamen die jetzt im Exil lebenden Akteure, was für Fähigkeiten und Kenntnisse brachten sie mit. Wobei die Biografieneinzelner Exilierter ausführlicher dargestellt werden, da deren Schicksale in Verbindung stehen mit besonderen Ereignissen. Zu diesem Personenkreis gehören z. B. Willy Brandt, Hermann Knüfken, Nelly Sachs, Stefan Szende und die Familien Goldstein/Winter. In diesem Kontext stellt sich vor allem die Frage, wie gestalteten sie ihr nunmehriges Leben? Und in Anlehnung an Hannah Arendt: Gab es für sie Möglichkeiten des Handelns, um so ein aktives, ein tätiges Leben zu führen? Dieses gelingt nicht in der Isolation, es benötigt die umgebende Welt und ein Bezugsgewebe zwischenmenschlicher Beziehungen. Das schafft sich der Mensch bzw. schaffen sich die Menschen selbst. Beispielhaft dafür sind die vielen Vereinigungen, die im Laufe des Exils geschaffen und geformt wurden. Aus Begegnungen entstanden Gesprächskreise, Gruppierungen und Interessenvertretungen bis hin zu Vereinen, von denen nicht alle einen formellen Status besaßen und daher Schwankungen unterworfen waren. Da nicht alle hier genannten Vereinigungen exakt durchleuchtet werden konnten, soll die vielfache Organisierung innerhalb der Exilgesellschaft die Möglichkeiten einer zum Überleben notwendigen Vernetzung aufzeigen.

Mit der Organisierung in Selbsthilfegruppen und Vereinigungen zeigt sich die Wichtigkeit von Vernetzungen, um sich mit Hilfe dieses Medium in der nunmehrigen Gesellschaft zubehaupten und überhaupt einen Ort zu finden. Das Exil war tatsächlich eine neue Erfahrung für Menschen, die zwar zuvor durchaus in einem Miteinander lebten, sich nach ihrer Fluchterfahrung aber neuen Gemeinsamkeiten stellen mussten. In einem allmählichen Prozess mussten die neuen Möglichkeiten zunächst ausgelotet werden, bevor sich auf der Basis einigermaßen übereinstimmender Vorstellungen entsprechende Gruppen bilden konnten. Tatsächlich entwickelte sich dann ein breites Spektrum vielfältiger Vereinigungen, was eine Neuverortung erleichterte und unterstützte und zugleich Schutz bot. Tatsächlich kam es mit der Herausbildung von Vereinigungen im informellen Bereich oft zu einer Neu-Beheimatung, was die einzelnen Individuen stärkte und womöglich auch zu einer Art Natalität im Sinne von Hannah Arendt verhalf. (Vita activa) Die Vereine selbst entstanden zum Teil aus Gesprächskreisen, die aus anfänglichen Begegnungen resultierten und sich verfestigten. Auch wurden mitgebrachte Erfahrungen und Kontakte im Exil weitergeführt. Insgesamt weist die exilantische Vereinslandschaft ein buntes und breit gefächertes Spektrum auf und hat sicherlich auch der Aufnahmegesellschaft entsprechende Impulse gegeben.

Nach den Ausführungen zur geografischen und organisierten Neuverortung der fraglichen Exilierten soll nicht vergessen werden, dass es bedingt durch Verfolgung und Flucht zu einer Entheimatung gekommen ist. Doch bestand weiterhin eine Verbundenheit mit dem Herkunftsland und der Herkunftsgesellschaft im gemeinsamen Bewusstsein des Widerstands gegen ein stark repressives Regime. Dabei mussten gleichzeitig neue Herausforderungen bewältigt werde. wozu z. B. die Erfahrung der Internierung in den hier erwähnten Lagern bzw. Einrichtungen gehörte. Von Bedeutung war für einige wenige Protagonisten die aktive Teilhabe am Widerstand innerhalb eines im Untergrund agierenden Netzwerkes.

Das betrifft nicht nur die Verbindungen nach Deutschland, sondern insbesondere die von bestimmten Exilierten geplanten Sabotageakte sowie das Treffen zwischen Willy Brandt und Adam von Trott zu Solz. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen dann vor allem Rückkehrwünsche zur Debatte, die nicht so einfach umzusetzen waren. In den zuvor geführten Diskussionen wurden oft eher idealistische Vorstellungen für eine Neuordnung der deutschen Gesellschaft entwickelt und dabei die eigene Positionierung eingebracht. Doch wer durfte und konnte remigrieren? Das wird nicht nur im entsprechenden Teilkapitel berücksichtigt, sondern auch in den betroffenen Biografien. Doch ist damit nicht der Kreis des Exils, der Emigration geschlossen: mittels der inzwischen gesammelten Erfahrungen galt es wieder einmal eine Zukunft zu gestalten.

Letztendlich soll noch erwähnt werden, dass der Impuls für diese Arbeit aus der Lektüre zweier Bücher resultiert. Nämlich: Marc Auge, Ein Ethnologe in der Metro sowie vor allem von Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands, wo es deutliche Bezüge zur Stockholmer Exilsituation gibt und insofern auch hier bestimmten Wegen und Ereignissen nachgegangen wird.

1) Die mit einem * versehenen Begriffe, Personen und Institutionen werden im Glossar ausführlicher dargestellt.

I Zur Situation im schwedischen Exil ________________

Legale, Illegale, Abgewiesene – sie kennzeichneten ab 1933 auch in Schweden die Zuwanderunden: 7000) kam es ab 1933 zu Verhandlungen mit dem ›Zentralausschuss der deutschen Jug politisch, rassistisch, überhaupt Verfolgter aus Nazi-Deutschland. Betroffen waren vor allem Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten, deren Rezeption hier kurz dargelegt wird.

Seitens der Mosaiska församlingen Stockholm mit ihren etwa 4000 Mitgliedern (in Schweden für Hilfe und Aufbau‹ und anderer Organisationen in Berlin. Im Fokus stand die Hilfe schwedischer Juden für die bedrängten deutschen Juden. Es wurde antizipiert, dass die Flüchtlingsfrage grundsätzlich auf internationaler Ebene zu klären sei, wobei Schweden eine passive Rolle einnahm ‐ bis hin zur Einführung des roten »J« im Pass bei in Schweden einreisender jüdischer Fluchtmigranten. Damit konnte bereits an der Grenze eine Auswahl getroffen werden. Bis zum 9. November 1938 wurde nur wenigen die Einreise erlaubt, dann setzte man in Verhandlungen einmal für die Kindertransporte eine Quote von 500 Kindern und Jugendliche fest, für Erwachsene zunächst lediglich 140. Die deutsche Besetzung der ČSR führte ebenfalls zu einer breiten Fluchtbewegung vor allem jüdischer Personen. Deren Einlass, so der damalige schwedische Außenminister, könnte »die öffentliche Meinung im Land negativ beeinflussen.« Darin unterstützt wurde er durch die Jüdische Gemeinde Stockholm, »die mit ihren, als minderwertig angesehenen Glaubensgenossen aus dem Osten nichts zu tun haben wollte«, so Weiss in Ästhetik. Mit dieser Problematik beschäftigt sich beispielsweise der Historiker Svante Hansson in seinem 2004 erschienenen Buch Flykt och överlevnad – flyktingsverk samhet i Mosaiska Församlingen. Nach Aussage von David Toren (Klaus-Günther Tarnowski) war Eva Warburg »the only one in the Jewish administration in Stockholm who was a Mensch«. (Info:J.Winter)

Auf der Internationalen Flüchtlingskonferenz in Évian im Juli 1938 stemmte auch Schweden sich gegen eine Rezeption besonders jüdischer Flüchtlinge. Es wollte nicht, wie der zuständige Sozialminister sagte, »das Tor werden, durch das Deutschlands Nichtarier den Weg nach draußen suchten.« Nicht vertreten war der Zionistische Weltverband, was sich negativ für jüdische Flüchtlinge auswirken sollte. Neben ihrem Antisemitismus wurde die schwedische Politik auch bestimmt durch eine weit verbreitete Fremdenfeindlichkeit. Darin unterstützt von einem großen Teil der Bevölkerung. So organisierte die Svensk Socialistik Samling (früher Nationalsocialistiska Arbetarpartiet) gegen Ende 1938 Aktionen unter dem Slogan »Lasst Moses nicht zur Tür herein«, die bis 1945 andauerten. In Schweden waren seit 1933 etwa 2000 jüdische Fluchtmigranten mit teilweiser Unterstützung der Mosaiska församlingen aufgenommen worden. Anfang 1939 hielten sich hier zwischen 3000 und 3500 jüdische Fluchtmigranten auf, im Oktober lag die Zahl bei etwa 4000. Nach 1939 durfte ein Kontingent von weiteren 400 deutschen Juden in Schweden einreisen, ausgehandelt von Cora Berliner von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Ebenso wurden dank der Bemühungen Eva Warburgs etwa 500 deutschsprachige jüdische Kinder aufgenommen. (→ Kinder/Jugend-Alijah). Im November 1939 konnten mit Hilfe der Svenska Israelmissionen und der Nansen-Hilfe* über 250 Personen (200 Erwachsene und 60 Jugendliche) aus Österreich nach Schweden und Norwegen emigrieren.

Auf die durch den Anschluss Österreichs bedingte erneute jüdische Fluchtbewegung reagierte Schweden mit einem Visumzwang für österreichische Pässe, etwas später auch für deutsche. Die Visa waren auf zwei Jahre befristet, zudem musste eine ausreichende finanzielle Grundlage gewährleistet sein. Um jüdischen Transmigranten eine Einreise in die USA zu erleichtern, traten der frühere schwedische Generalkonsul Olof H. Lamm und Gunnar Josephson, Vorsteher der Mosaiska församlingen, an das US-Außenministerum heran, um eine höhere Quote zu erreichen. Darin auch unterstützt von Hans Schäffer, einem ehemaligen hohen deutschen Staatsbeamten. (Vgl. Rudberg) Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs änderte sich die Situation. Schweden nahm bis zum deutschen Ausreiseverbot im Oktober 1941 an die 4000 jüdische Fluchtmigranten auf, wovon zwei Drittel mit familialer Unterstützung und mittels anderer Beziehungen sowie ein Drittel über eine zuvor ausgehandelte Quote gekommen waren. Neben Schweden hielt sich auch Norwegen mit der Rezeption jüdischer Fluchtmigranten zurück, während diese in Dänemark bereitwillig aufgenommen wurden.

Aufschlussreich ist die Tatsache, dass nach dem Krieg in Malung (Dalarnas län) auf einem privaten Dachboden der neue Hausbesitzer in einer Truhe einen Haufen Merkzettel fand. Diese Zettel enthielten die Namen von etwa 3000 Personen jüdischer Abstammung oder nur vermuteter. Sie sollten mutmaßlich als Unterlage für Deportationen in Vernichtungslager dienen, falls Schweden nationalsozialistisch werden würde. Ein noch umfangreicheres Judenregister führte der rechtslastige Manhem Förbundet bzw. die Society Manhem*. Ebenso legte das Ausländerbüro der Sozialbehörde ein gesondertes Judenregister an, weil die »jüdische Herkunft in der internationalen Fremdenpolitik nun eine erhebliche Rolle spielt«. (Spiegel 47/1997) Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden Boote mit jüdischen Flüchtlingen oft abgewiesen, da ohne Visa. Überhaupt war Schweden durch den Krieg »sehr aufgestört, der kriegsaktivismus wächst jeden tag, die sozialdemokratie unterstützt ihn tatkräftig«, wie Bertolt Brecht im Arbeitsjournal 1 am 16.12.39 notierte.

In seinem Buch Ästhetik lässt Weiss dichterisch frei den Protagonisten bei dessen Einreise nach Schweden eine damals an vielen Grenzen Europas auftretende Szene beobachten und schildern. Die Abschiebung traf zwei jüdische Familien, die es endlich von Dänemark aus geschafft hatten, auf die schwedische Eisenbahnfähre in Helsingborg zu kommen:

Die beiden Familien, die eine mit einem Säugling, die andre mit Alten und ein paar Kindern, aus Böhmen stammend, mußten sich, schreiend zuerst, dann verzweifelt jammernd, schließlich verstummt, gebrochen, auf die Fähre zurücktragen lassen, und dies zu einem Zeitpunkt, da in Deutschland die Synagogen angezündet, die jüdischen Geschäfte zertrümmert, die rassisch Verdammten durch die Straßen gejagt wurden.

Doch nicht nur Juden galt eine gewisse Verächtlichmachung, sie galt auch Kommunisten. Wie überhaupt die schwedische Arbeiterbewegung stark gespalten war: Sozialdemokraten versus Kommunisten. Politisch war Schweden von einer eher rechtsgerichteten Sozialdemokratie dominiert. Der Begriff des Folkhemmet/Volksheim wurde zu einer wichtigen Metapher der schwedischen Gesellschaft. Im Ausländerrecht vertrat nicht nur die Politik wenig liberale Positionen. Die Flüchtlingspolitik wurde äußerst restriktiv gehandhabt, man konnte sich einfach nicht vorstellen, so Müssener in Exil, dass Menschen ihre Heimat verließen, egal aus welchen Gründen. Doch wurde sozialdemokratischen Verfolgten durchaus Hilfe zuteil. Dementsprechend war der Umgang mit ihnen deutlich liberaler. Zwar wurde ihnen keine nennenswerte finanzielle Unterstützung zuteil, wohl aber erhielten sie eine Wohnung und Hilfe bei der Arbeitssuche. Um die Emigranten in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wurden etliche von ihnen 1939 nahe der Södra Station in Södermalm auf einem Werkstattgelände zu Drehern und Fräsern ausgebildet. Einige erhielten hierdurch Arbeit, andere wurden 1940 als Waldarbeiter eingesetzt.

Aus Konkurrenzgründen verhielt man sich ebenfalls ablehnend gegenüber Intellektuellen, Akademikern, Künstlern und Ärzten. Schweden zeichnete sich also nicht gerade durch ein freundliches Verhalten gegenüber Fluchtmigranten aus. Die wirtschaftlichen Beziehungen Schwedens zu Nazi-Deutschland waren eben wichtiger als eine solidarischhumanitäre Hilfeleistung für Verfolgte. Deutlich einfacher war eine Emigration nach Schweden für diejenigen, die über gute Kontakte auf freundschaftlicher oder verwandtschaftlicher Basis verfügten. Viele der Fluchtmigranten hatten ihre Rezeption auch Prinz Eugen Bernadotte zu verdanken, der sich beispielhaft für sie einsetzte.

Eine andere, kleinere Gruppe bildeten die sogenannten tyska desertörer, die deutschen Militärflüchtlinge, die vor allem ab 1940 aus Norwegen kamen. Bis 1942 wurden viele wieder zurückgeschickt, weil sie, wie der damalige Staatssekretär Tage Erlander sagte, keine politischen Flüchtlinge waren. Ein großer Teil wurde dann in Deutschland in Konzentrationslagern inhaftiert, z. B. in Bergen-Belsen. Bis zum Kriegsende 1945 sollen bis zu 500 Deserteure nach Schweden gekommen sein. Untergebracht waren sie anfangs in entsprechenden Lagern, wie in Storsien nahe der finnischen Grenze oder wurden in Gefängnissen in Umeå und Kalmar inhaftiert. (→ Lagerleben) Doch ist es zweifelhaft, ob eine Desertion immer aus Gründen des politischen Widerstands erfolgte oder Späher eingesetzt wurden.

Im Einwanderungsgesetz von 1937 wurde z. B. nicht der Begriff des politischen Asyls definiert. Die einzelnen Behörden (Soziales, Polizei) entschieden über Aufnahme oder Ausweisung. Damit sollte die Zuwanderung unerwünschter Exilierter aus Deutschland, Österreich und Tschechoslowakei klein gehalten werden. 1938 erklärte Schweden sich allerdings dazu bereit, verfolgte sudetendeutsche Sozialdemokraten aufzunehmen. Die Arbetarrörelsens flyktinghjälp übernahm deren Auswahl und die Organisierung der Flucht. Am Zustandekommen der Abmachung war insbesondere Ernst Paul beteiligt. Die von der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (DSAP)* in der ČSR ausgesuchten Personen und Familien wurden über Polen und die baltischen Länder nach Stockholm geschleust. Eine ausführlichere Darstellung hinsichtlich dieser Gruppe ist in Müssener, Exil enthalten. Von Oktober 1938 bis März 1939 rezipierte Schweden zunächst etwa 350 sudetendeutsche Fluchtmigranten. Anfangs waren sie in Auffanglagern untergebracht, erhielten aber bald eine Wohnung und fanden eine Arbeit. 1945 lebten an die 500 dieser demografischen Gruppe in Schweden (ihre Zahl erhöhte sich bis 1952 auf 4300 als Folge der Vertreibung aus der ČSR). Viele emigrierten allerdings weiter nach Kanada.

Erst nach dem 9. November 1938 schlug Schweden einen liberaleren Kurs ein. 1939 legte das Ausländerbüro der staatlichen Sozialbehörde ein Register über alle in Schweden lebenden etwa 20 000 Emigranten an, Juden gesondert. Doch wurden um 1941 die Überwachungsmethoden verstärkt: Die mit der Gestapo eng zusammenarbeitende Säpo erhielt die Befugnis, Briefe zu öffnen, Telefonate abzuhören, Hausdurchsuchungen und Leibesvisitationen durchzuführen. Auch konnte die Sozialbehörde bestimmte Fluchtmigranten – Anarchisten, Kommunisten, Linkssozialisten, Spanienkämpfer, Pazifisten – ohne Anhörung durch den zuvor eingerichteten Ausländerausschusses internieren. Hingegen ließ das schwedische Außenministerium im September 1941 wissen, dass nunmehr alle jüdischen Fluchtmigranten eine Einreiseerlaubnis erhielten, wenn sich in Schweden befindliche nahe Angehörige dafür verbürgten, dass sie der Allgemeinheit nicht zur Last fielen. Nur einen Monat später verfügte Nazi-Deutschland ein Ausreiseverbot für Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten.

Mit der Besetzung Dänemarks und auch Norwegens Anfang April 1940 unter dem Namen ›Unternehmen Weserübung‹ setzte erneut eine Fluchtbewegung deutscher Exilierter nach Schweden ein. Insbesondere im Herbst 1943, als das Führerhauptquartier in Berlin die Deportation aller in Dänemark (und Norwegen) lebenden Juden plante und darüber der in Kopenhagen tätige deutsche Schifffahrtssachverständige Georg Ferdinand Duckwitz* informiert wurde. Dieser nahm sofort Kontakt zu maßgeblichen Personen in Dänemark und Schweden auf und initiierte damit eine breit angelegte Rettungsaktion. Es wurden Visa für Schweden beschafft und die Überfahrt dorthin geregelt. Der Sozialdemokrat und spätere dänische Ministerpräsident Hans Hedtoft z. B. informierte den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, der die Nachricht schnell weiterverbreitete. In der Folge entstand eine Art Volksbewegung zur Rettung der Juden. Zahlreiche Hilfskomitees unter der Leitung eines Zentralkomitees organisierten landesweit eine umfassende Rettungsaktion. Innerhalb weniger Tage konnten etwa 7460 Juden mit Fischerbooten über den Öresund nach Schweden gebracht werden. Darüber hinaus informierte Duckwitz seinen Kollegen Theodor Steltzer* in Oslo über die geplante Aktion, der dann in der Folge ebenfalls die geplante massenhafte Deportation von Juden verhinderte. (Dünzelmann, Disziplin)

Viele der 1943 aus Dänemark Kommenden wurden u. a. in das Internierungslager Loka Brunn gebracht, einem alten Rheumabad am Vänersee. Aus Norwegen Geflüchtete wurden zum Teil in westschwedischen Einrichtungen untergebracht, wie z. B. in Nolhaga Slott in Alingsås (vgl. Anm. 4). Unter diesen erneut Geflüchteten befanden sich auch jüdische Kinder und Jugendliche. (→ Kinder/Jugend-Alijah) Die bald darauf einsetzende Kriegswende führte endlich zu einer Lockerung der restriktiven Flüchtlingspolitik: Ein Großteil der Inhaftierten und Internierten wurde freigelassen, die Kriterien überdacht. Auch die schwedische Gesellschaft nahm nunmehr die etwa 4500 deutschsprachigen Fluchtmigranten als Verfolgte wahr.

Von Seiten der Deutschen Gesandtschaft in Stockholm war man sehr um Kontrolle noch nicht ausgebürgerter Exilierter bemüht. Das betraf allerdings nicht jüdische Emigranten, die laut Gesetz vom 14. Juli 1933 automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der deutschen Reichsgrenze verloren. Um an die Daten deutscher Staatsangehöriger zu kommen, musste die Gesandtschaft auf informelle Informationen seitens der schwedischen Polizei- und Sozialbehörde sowie des Außenministeriums zurückgreifen. Nichtausgebürgerte Emigranten hatten, um nicht ihren legalen Status zu verlieren, sich regelmäßig bei den konsularischen Vertretungen zu melden. Wodurch sie einer starken Kontrolle und Drohungen ausgesetzt waren. Erst eine Ausbürgerung gewährleistete Sicherheit, die Betroffenen wurden dann allerdings staatenlos. Partner der deutschen Gesandtschaft waren die rechtskonservativen Eliten, aber nicht die rechtsgerichteten Parteien, so Roth in Hitlers Brückenkopf. In diesem Kontext ist noch zu erwähnen, dass der deutsche Volksgerichtshof zwischen 1936 und 1943 in insgesamt 12 Verfahren einige der in Stockholm lebenden politischen Exilierten erfasst hat. (db.saur.de/Ortsregister)

Schweden verstand sich zwar als neutraler Staat, aber in recht dehnbarem Maße. Im Januar 1945 erkannte man endlich in Schweden die Unterwanderung der Ausländerbehörde durch die Nationalsozialisten. Es wurde eine Untersuchungskommission unter dem Sozialdemokraten Rickard Sandler eingerichtet, die sogenannte Sandler-Kommission. An diese konnten sich alle Emigranten wenden, denen früher Unrecht widerfahren war. Andererseits entwickelte Stockholm sich dank der Zuwanderung von den Nationalsozialisten Verfolgter und deren vielfältiger Schichtung nicht nur zu einer interessanten Stadt. Insbesondere erhielt sie eine Bedeutung als sogenannte Nachrichtenbörse britischer und sowjetischer Geheimdienste, denen etliche der Exilierten Informationen zutrugen. So z. B. M. Hodann, W. Lansburgh, W. Steinitz. Ebenso wurden von hier aus im Widerstand Tätige mit entsprechenden Instruktionen ins Reich geschleust, wie aus einzelnen Biografien hervorgeht. (Vgl. Müssener, Exil)

1 Frémlingspass von Dietrich Müller-Winter, 1943

Die schwedische Neutralitätspolitik bedeutete auch, dass man gegenüber reichsdeutschen Wünschen bzw. Forderungen sich recht nachgiebig verhielt. So durften deutsche Soldaten von Norwegen nach Finnland durch schwedisches Gebiet transportiert werden. Deserteure wurden zumeist zurückgeschickt. Alles in allem wurde auf den starken Druck aus Berlin nur schwach reagiert, wenn auch in vielen Fällen diesem Druck standgehalten wurde − trotz der Kontakte zwischen Gestapo und Säpo. Im Hintergrund stand zudem die Furcht, dass Schweden ebenfalls von der deutschen Wehrmacht besetzt werden könnte. Tatsächlich gab es auch in Schweden Kreise, sie sich gegenüber völkisch gesinnten Deutschen sehr entgegenkommend zeigten. (W. Brandt, Erinnerungen; Roth, Brückenkopf) Demgegenüber steht die nach dem Kriegsende gezeigte Hilfsbereitschaft vieler Schweden, die sich an der Hilfsaktion der Weißen Busse* beteiligten, was ebenfalls gewürdigt wird.

Kinder/Jugend-Alijah

Bereits 1932 initiierte die Berliner Lehrerin und Publizistin Recha Freier* das Projekt der Jugend-Alijah. Ein Jahr später wurde die Kinderauswanderung als Unterabteilung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland mit Sitz in Berlin gegründet. Noch vor dem Pogrom am 9. November 1938 hatte man auf die Bedrohung durch die Nationalsozialisten mit der Planung von Transporten jüdischer Kinder und Jugendlicher in nahe gelegene sichere Aufnahmeländer reagiert. Das Projekt lief unter dem informellen Namen Kindertransport (bzw. Refugee Children Movement/RCM). In Großbritannien kam es schnell zu Verhandlungen einflussreicher Juden und christlicher Organisationen wie den Quäkern mit den zuständigen Behörden über die Rezeption dieser demografischen Gruppe aus Deutschland, später auch aus Österreich, ČSR und Polen. Die Jüdische Gemeinde in London war bereit, die Kosten für Reise und Aufnahme zu übernehmen. Bereits nach drei Wochen setzten die ersten Transporte nach Großbritannien ein, dann nach Belgien, Dänemark, Holland, Schweiz und Schweden.

Die Bedingungen für eine Ausreise waren zwischen der niederländischen Bankiersfrau Geertruida Wijsmuller-Meyer und Adolf Eichmann ausgehandelt worden. Demnach durfte jedes Kind einen Koffer, eine Tasche, eine Fotografie und zehn Reichsmark mitnehmen. Nicht erlaubt waren Bücher und Spielsachen. Gruppenweise wurden Blockvisa erstellt, wobei jedes Kind eine Nummer erhielt. Analog dazu erfolgte die Ausbürgerung ebenfalls pauschal. Bei der von der Gestapo überwachten Abfahrt durften Eltern und Angehörige oft nicht den Bahnsteig zum Verabschieden betreten ‐ es sollte keine Aufmerksamkeit erregt werden. Letztendlich konnte nur ein Drittel der Angemeldeten emigrieren, über 10 000 konnten wegen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr berücksichtigt werden. Insgesamt wurden etwa 18 000 jüdische Kinder und Jugendliche bis zu 17 Jahren aus Deutschland, Österreich, Polen und Tschechoslowakei mit Zügen und Schiffen in die oben genannten Länder evakuiert. Ein Teil von ihnen gehörte zur jüdisch orientierten Bündischen Bewegung*. Großbritannien nahm 10 000 auf, die Niederlande 1500, Belgien 1000, die Schweiz 300 und Schweden 500. Der erste Kindertransport nach Großbritannien startete am 1. Dezember 1938 in Berlin-Mitte vom Bahnhof Friedrichstraße.

In Schweden

Die Kinder-Alijah nach Schweden wurde zwar schon vor dem 9. November 1938 mit Hilfe der Hamburger Bankierstochter Eva (Unger-)Warburg angedacht, aber konkret erst nach dem Pogrom geplant und in die Wege geleitet. In den Verhandlungen zur Einreise jüdischer Kinder und Jugendlicher von 13 bis 17 Jahren wurde zunächst eine Quote von 60 festgelegt, sodass im Februar 1939 ein erster Transport starten konnte. Am 23. Mai 1939 erhielt die inzwischen in Stockholm lebende EW einen Brief von Eva Michaelis-Stern*, Leiterin der Youth Aliyah in London. In diesem offerierte sie EW die Leitung der Jugend-Alijah i Sverige. Barnahjälpen. Michaelis-Stern war überzeugt, dass gerade sie dank ihrer Ausbildung und ihres Engagements dafür prädestiniert war, »to do everything in your power to get out as many children as possible from Germany to Sweden for a transitory stay in order to have them trained there for agricultural work«. Erwartet wurde von ihr »the foundation of training centres in Sweden«. Dabei sollte der Brief ihr als formale Bestätigung ihres leitenden Status gelten, um Kontakte zu allen erforderlichen jüdischen und nichtjüdischen Organisationen aufzunehmen und Verhandlungen zu führen. (LSE Library; nationalarchives.gov.uk) Was laut Glück ebenfalls von der Jewish Agency in Jerusalem bestätigt wurde. (Hachscharah; Dünzelmann, Reise)

2 Züge in das Leben, in den Tod Denkmal Berlin Friedrichstraße Künstler: Frank Meisler1

3 Eisenbahnfähre »Deutschland« von Sassnitz nach Trelleborg

Das Büro der Jugend-Aliya richtete EW in der Arsenalsgatan 1 ein, nahe dem Kungsträdgården und nicht weit entfernt von der Jüdischen Gemeinde (Mosaiska församlingen) in der Wahrendorffsgatan. In der Folge organisierte sie nicht nur die praktische Vorbereitung auf das Leben in Palästina in entsprechenden Einrichtungen. Ebenso organisierte sie die Auswanderung nach Palästina einschließlich Visabeschaffung, Reisekosten und Reisemöglichkeiten. Daher stand sie nicht nur in Kontakt mit der Mosaiska församlingen und ihrem Hjälpkommittén für Flüchtlinge. Zu ihrem umfassenden Netzwerk gehörten beispielsweise das American Jewish Joint Distribution Committee (JOINT) und die Jewish Agency in Jerusalem. Insofern war EW eine wichtige Koordinatorin und Teil eines »komplexe[n] Netzwerk[s], das Helfer und Schützlinge verband und in dem es zu manövrieren galt«. (Maier-Wolthausen) Darüber hinaus war EW auf der Suche nach geeigneten Immobilien als Schulungsheime für die zukünftigen Chaluzim, wofür ehemalige Herrenhäuser bzw. Gutshöfe infrage kamen.

Eva Warburgs netzwerkliche Verbindungen:

Mitte Juni 1939 wurde die Quote der jugendlichen Migranten auf 500 erhöht, und zwar in Reaktion auf einen Appell des Hjälpkommitté und dank des Engagements von EW. Vor allem aber auch auf Druck Großbritanniens. Doch unter der Bedingung, dass die Jüdische Gemeinde alle Kosten übernahm und die schwedische Wirtschaft nicht belastet wurde. (Vgl. Spiegel 47/1997) Diese Migrantengruppe besaß allerdings nicht den Status von Emigranten, sondern den von Transmigranten. Keinesfalls durften die Eltern nachkommen, vielmehr sollten sie in andere Exilländer gehen und dorthin die Kinder nachholen. Trotzdem gab es einige Fälle des Nachzugs, was aber ab Oktober 1941 mit dem deutschen Ausreiseverbot für Juden unmöglich wurde. Das Hjälpkommittén der Mosaiska församlingen gewährleistete die geforderte Garantie für die Unterhaltskosten und die eventuelle Emigration nach Palästina etwa zwei Jahre später. Darauf sollten sie in entsprechenden Einrichtungen vorbereitet werden. Demgegenüber quotierte die Jewish Agency nur 95 Kinder und Jugendliche zur Einreise in Palästina, obwohl das neutrale Schweden inzwischen als gefährdet galt.

Mit Hilfe von EW und dem Hamburger Oberrabbiner Joseph Carlebach (1883-1942, Abb. 6) sowie in Zusammenarbeit mit der Mosaiska församlingen konnten ab der zweiten Hälfte des Jahres 1939 sukzessive die ausgehandelten 500 Kinder nach Schweden kommen. Der letzte Transport erfolgte im Dezember 1939. Carlebach selbst schickte die fünf ältesten seiner neun Kinder auf die Reise nach Großbritannien. Im März 1942 wurde er deportiert und in einem Wald bei Riga erschossen, zusammen mit seiner Frau und drei Töchtern. Neben EW mit ihrer tatkräftigen organisatorischen Hilfe unterstützte auch die Warburg-Familie das Vorhaben finanziell, so Max Warburg in seiner Funktion als Vorsitzender des Hilfsvereins deutscher Juden. In Schweden hatten jüdische Spender und die Jüdische Gemeinde die notwendige Bürgschaft übernommen.

Da es für die Jungen schwieriger war eine Pflegefamilie zu finden, richtete die Mosaiska församlingen u. a. Heime für Jungen in Stockholm und Uppsala ein, und zwar unter dem Namen Mosaiska/Judiska pojkhemmet (Jüdisches Jungenheim). In Uppsala waren z. B. Klaus Back und Harry Schein untergebracht. Das Heim wurde vorbildlich geleitet von Sophie Michaeli. (Abb. 4+93) Über seine Zeit dort berichtete Klaus B. später im Gelsenzentrum ausführlicher:

Das einfache, Ende 1938 für die Fluchtkinder hergerichtete Heim nahe Uppsala war ein ehemaliges Waisenhaus älterer Bauart. Klas gehörte zu den ersten dort aufgenommenen Kindern. Noch fehlte vieles in dem alten ehemaligen Waisenhaus. Betten mussten noch aufgestellt und die Küche in Ordnung gebracht werden. Neben Küche und Esszimmer gab es drei, später vier Schlafräume mit 11 bzw. 15 Betten. Vorsteherin war Sophie Michaeli, eine ehemalige Berlinerin, die das alltägliche Leben gut durchorganisierte. Jedes Kind hatte bestimmte Dienste zu verrichten: in der Küche, bei den Mahlzeiten, der Ofenversorgung, beim Holzhacken, dem Fahrraddienst usw. Die aufgenommenen Kinder waren 10 bis 17 Jahre alt und besuchten die einige Kilometer entfernte Schule mit dem Fahrrad. Bei den Schulaufgaben halfen ihnen Studenten der Universität Uppsala. Während der Mahlzeiten durfte kein Deutsch gesprochen werden bei Strafe von einem halben Öre, der in die Fahrradkasse wanderte. An Taschengeld erhielten die unter 15-Jährigen 30 Öre, die bis 17-Jährigen 50. Alles in allem wurden die Kinder gut auf die Zukunft vorbereitet, wie Back betonte. (Goch)

Er selbst blieb bis 1946 im Heim und war dann als 17-Jähriger auf sich gestellt. Im gesamten Zeitraum durchliefen etwa 50 Kinder die Einrichtung. Das in Stockholm befindliche Pöjkhemmet lag anfangs in der Fleminggatan 45 und später in der Hornsgatan 75. In beiden war Sophie Michaelis ältere Schwester Elisabeth Müller-Winter tätig gewesen. (Dünzelmann, Reise; Info:J.Winter) Weitere Einrichtungen und ihre geografische Verteilung sind im Anhang aufgelistet.

Wie aus den Berichten ehemaliger sogenannter flyktingbarnen hervorgeht, begann die Reise ins schwedische Exil einmal in Hamburg, wo es vom Hauptbahnhof mit dem Kurswagen nach Stockholm über Sassnitz auf Rügen und weiter mit der Fähre nach Trelleborg ging. Ein anderer Startbahnhof war der Stettiner (Kopf-)Bahnhof in Berlin-Mitte (heute Nordbahnhof), von dort ging es ebenfalls über Sassnitz und Trelleborg nach Schweden. Die Route über Dänemark wurde nicht gewählt, da dafür Transitvisa erforderlich waren und die Fahrt auch länger dauerte. In der Regel fanden die Verteilungen der Kinder und Jugendlichen auf andere Orte in den Ankunftsstädten statt. Wer in Schweden nicht in jüdischen Familien oder Einrichtungen unterkam, wurde anderweitig untergebracht, ohne dass dieses von der Jüdischen Gemeinde beeinflusst werden konnte. Auch EW stand nicht in direkter Verbindung zu allen Einrichtungen (→ Anhang).

Insgesamt kamen laut Lomfors 650 jüdische Kinder und Jugendliche aus Mitteleuropa per Kindertransport nach Schweden. Doch waren nur 160 jüdische Familien bereit, jemanden aufzunehmen. Ein Teil der so Geretteten ging später nach Palästina, ein anderer blieb in Schweden oder wanderte in die USA aus. Etwa 60 der 95 für die Alijah vorgesehenen Jugendlichen lebten im sogenannten Kibbuz Hälsinggården in Falun. (barndom) Beispielhaft für die Emigration vieler per Kindertransport nach Schweden gekommener Kinder und Jugendlicher wird hier in den Emigrantenschicksalen der Lebensweg einiger nachgezeichnet, so der von Klaus Back, Günter Heinrich, Hannelore und Inge Josias, Hans Kaufmann, Thea Kurzbarth, Erwin Leiser, Peggy Parnass, Ilse Reifenstein, Harry Schein, Otto Schwarz, Klaus-Günther Tarnowski, Eva Tuteur-Schwarz sowie Otto Ullmann. Einen besonderen Status erhält die Emigration der Geschwister Max und Peter Goldstein, die allein, also unorganisiert, von Berlin nach Schweden reisten. (→ Fallbeispiel)

Vorbereitung auf die Alijah nach Palästina

Hierzu wurden viele Jugendliche in heimähnlichen Einrichtungen untergebracht, die zumeist im südschwedischen Skåne/Schonen lagen. Eine Einrichtung befand sich in Tjörnarp nahe Hässleholm, dem Zentrum der schwedischen Hechaluz. Im westlichen Skåne wurde 1934 in Västraby nahe Helsingborg das Landschulheim Kristinehov internatsskola gegründet. Hier hatte 1937 und 1938 der spätere Musiker Kurt Lewin (→) im Auftrag der Jüdischen Gemeinde Berliner Jugendliche in den Sommerferien betreut. Zu den Internatsschülern gehörten nach 1938 Erwin Leiser und Eva Tuteur. Wobei die Schule nun mehr zionistisch mit regelmäßigem Hebräisch-Unterricht ausgerichtet war. Eva Warburg war sehr an dieser Schulungseinrichtung gelegen und plante im Sommer 1940, mit Hilfe der Mosaiska församlingen nahe Kristinehov eine weitere Immobilie für die Jugend-Alijah zu erstehen. Ebenso plädierte sie für die schnelle Ausreise von acht Jugendlichen aus diesem Internat. Die dafür von ihr geschätzten Kosten in Höhe von 76 000 Skr würden ziemlich unter denen für die weitere Unterbringung liegen, wie EW der Gemeinde vorrechnete. Zudem würden mit der antizipierten Auflösung der Einrichtungen in Tjörnarp und Falun weitere Kosten wegfallen. (Maier-Wolthausen) Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und mit der Abreise der Jugendlichen nach Palästina verlegte man diese Einrichtung 1941 nach Ebbarp in der Gemeinde Osby nördlich von Hässleholm und führte sie neuen Aufgaben zu. (Dünzelmann, Reise)

4 Sophie Michaeli im Mosaiska pojkhemmet / Klaus Back, zweiter li untere Reihe, hockend

5 Buchcover

Als erster Kibbuz entstand 1936 in Svartingtorp am Finjasjön nahe Hässleholm das Ausbildungszentrum Hachscharah i Sverige, Kibbuz Svartingtorp. Hier waren etwa 50 Jugendliche untergebracht, weitere bei einzelnen Bauern. Die Einrichtung musste aber 1940 aus ökonomischen Gründen geschlossen werden. Ein zweiter Kibbuz wurde 1939 in Falun in Dalarna län gegründet, wie weiter unten beschrieben. In beiden Einrichtungen sollte gemeinsam gearbeitet, hebräisch (ivrit) gelernt und sich auf das Leben in Palästina vorbereitet werden. Dazu trugen auch Wochenendseminare bei, die von deutschsprachigen Emigranten aus Stockholm gehalten wurden. Zu denen M. Hodann, K. Stechert, W. Strzelewicz und F. Tarnow gehörten. Zusätzlich gab es zwei Heime für orthodoxe Praktikanten, eines befand sich in Växjö in Västgötland. (Müssener, Exil)

Ein zweiter Kibbuz wurde in Falun unter dem Namen

Kibbuz BaDerech (auf dem Weg) / Kibbutz på väg

gegründet. Diese Immobilie wurde Mitte Juni 1939 in Falun nach einigem Suchen als geeignet gefunden: die zuvor ausgesuchten Objekte mussten aus Kostengründen abgelehnt werden. Diese letztlich favorisierte Anlage befand sich in Hälsinggården am Hälsingstrand und wurde mit Hilfe von Hechaluz und Jüdischer Gemeinde von EW im Juli 1939 angemietet und in der Folge als gemeinschaftlich bewirtschaftete Anlage genutzt. Den oben genannten und seinerzeit angesagten hebräischen Namen hatte die Kibbuzgemeinschaft sich selbst gegeben. Wie aus einer Postkarte an Günter Heinrich hervorgeht, lautete die postalische Adresse anscheinend Kornäs in Falun/Dalarna. (Dagen, www.platser.se) In offiziellen Unterlagen hieß die Einrichtung Internatsskolan Hälsinggård bzw. Hälsingstrand und wurde als Förening geführt. (KB-A) Sie war in einem ehemaligen Gutshof bzw. Herrgård in der für Dalarna typischen Bauweise untergebracht mit viel Natur ringsherum.

Anfangs waren dort 50 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren untergebracht, weitere 20 Plätze wurden durch Anmietung von Zimmern auf Bauernhöfen in der Nachbarschaft geschaffen. Um 1940 lebten hier etwa 60 Jugendliche, aufgeteilt in zwei Gruppen mit je 20 bis 30 Personen. 1943 erhöhte sich die Zahl auf 75 Personen, von denen jede täglich zwei (?) Skr kostete. (Glück) Auch Jugendliche, die mit der Svenska Israelmissionen nach Schweden gekommen waren, fanden hier Aufnahme und emigrierten zum Teil nach Palästina. Aber nicht alle der als Transmigranten eingeordneten Jugendlichen waren an einer Weiterreise nach Palästina interessiert und entschieden sich dafür, in Schweden zu bleiben. Etwa zwei Drittel sollen nach Palästina gegangen sein, während ein Drittel in Schweden blieb. (Vgl. Lomfors)

Um die Jugendlichen auf das Leben in Palästina als Pioniere vorzubereiten, zog man sie zu Arbeiten im Wald, in Gemüsegärten und in der Landwirtschaft heran. Zugute kamen dem Kibbuz und auch der Waldwirtschaft das von einem der Bewohner initiierte Projekt der Spielzeugfabrikation, Pluha genannt, wo z. B. Holzpferde von den Jugendlichen hergestellt wurden. Im Herbst 1939 zeichnete sich das Kibbuz-Projekt durch eine gute Stabilität aus. Etwa 30 bis 40 Mädchen und Jungen hatten eine Arbeit in der Umgebung gefunden, davon waren 20 in der Waldwirtschaft beschäftigt. Die Mädchen wurden zumeist als Friseurinnen, Haushaltshilfen, Näherinnen und Polsterer ausgebildet. Auf diese Weise konnte sich die Kibbuz-Gemeinschaft selbst erhalten, wie es auch angestrebt war. Der Alltag war gut organisiert: Morgens um acht Uhr begann der Arbeitstag und endete in der Mittagszeit um 12.30 Uhr. Am Nachmittag gab es weiterbildende Angebote. Doch soll die spirituelle und soziale Begleitung unzureichend gewesen sein. (Vgl. Glück) Neben der Arbeit, dem politischen und sprachlichen Unterricht kam allerdings die Freizeit nicht zu kurz, wie sich Hans Kaufmann später erinnerte.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieg verhinderte allerdings eine Emigration nach Palästina auf der westlichen Route über Marseille, genommen werden musste nunmehr die östliche Route über Finnland und weiter durch die Sowjetunion, Türkei und Syrien. In zähen und weitreichenden Verhandlungen bemühte EW sich um die Erteilung von Transitvisa durch diese Länder. Eine andere Schwierigkeit bestand in der Kostenübernahme, die zum Teil von der Mosaiska församlingen übernommen werden sollte. Erst nach einer von EW vorgelegten und genau durchkalkulierten Kostenrechnung stimmte diese zu. Denn die Reise nach Palästina war kostengünstiger als ein weiterer Aufenthalt in Schweden. (Maier-Wolthausen) Tatsächlich konnte noch im März 1941 eine kleine Gruppe nach Palästina reisen, zusammen mit einer in Dänemark gestarteten. Doch blieb die Kibbuzgemeinschaft bestehen und vergrößerte sich im Herbst 1943 durch die Aufnahme von aus Dänemark geflüchteter Jugendlicher. Zu denen gehörte u. a. Hans Kaufmann.

Allerdings musste EW den Plan fallenlassen, ebenfalls im März 1941 als Begleiterin der Jugendlichen nach Palästina zu reisen. Zuvor hatte sie das für eine Einreise erforderliche (Kapitalisten-)Zertifikat beantragt und auch erhalten. Denn auf Betreiben der Jewish Agency in Jerusalem wurde weiterhin ihre Hilfe bei der Betreuung in Schweden benötigt. Ebenso 1943 bei der Rezeption aus Dänemark geflüchteter jüdischer Jugendlicher, zu denen auch Hans Kaufmann gehörte. Von Helsingborg bzw. Malmö erfolgte deren Transport nach Stockholm per Bahn in Zehnergruppen, die EW am Centralbahnhof persönlich begrüßte und weiter betreute. Darüber hinaus veranlasste sie den Kauf eines Bootes, mit dem Juden zur Flucht aus Dänemark verholfen wurde. Ebenso half sie mit, Fischerboote zu chartern, die vor der dänischen Küste entlang fuhren und Flüchtende aufnahmen. 1944 engagierte sie sich ebenfalls bei der Betreuung finnisch-jüdischer Flüchtlingskinder und versorgte 1945 Holocaust-Überlebende. Im Kibbuz BaDerech selbst wurden bis zur Schließung 1946 ebenfalls Überlebende betreut. (RA: Jud. förs.)

Svenska Israelmissionen / SIM

(→ Hilfen für Fluchtmigranten)

Diese 1920 in Wien gegründete kirchliche Organisation erhielt nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland starken Zulauf und musste neben ihrer spirituelle Tätigkeit vor allem Aufgaben im sozialen Segment wahrnehmen, besonders hinsichtlich einer stark nachgefragten Auswandererhilfe. Die zuständige Mitarbeiterin Sylvia Wolff (-Simson) plante in diesem Kontext, auch von Österreich aus Kindertransporte nach Großbritannien und Schweden durchzuführen. Nach Verhandlungen mit dem Missionsdirektor in Stockholm und anderen Stellen wurde im Oktober 1938 etwa 100 Kindern unter 14 Jahren und 50 Jugendlichen bis 18 Jahren die Einreise nach Schweden genehmigt, letztendlich lag die Quote aber bei 65 und 30. Tatsächlich kamen 80 der insgesamt 500 nach Schweden transportierten deutschsprachigen Kinder aus Österreich.

Aber nicht jedes Kind konnte berücksichtigt werden. Denn von Seiten des Aufnahmelandes Schweden wurde ein regelrechter Katalog aufgestellt. Es wurden vor allem evangelische, jüdische oder konfessionslose Kinder bevorzugt, katholische sollten am besten nicht berücksichtigt werden. Weitere Kriterien waren der gesundheitliche Zustand und der Charakter. Sie sollten tüchtig, wohlerzogen, evangelisch, körperlich und geistig gesund sein, und im Aufnahmeland sollten sie nicht der staatlichen Fürsorge zur Last fallen. Nach Möglichkeit sollten zudem die Eltern die Transportkosten übernehmen. Auch hatten diese nachzuweisen, dass sie bald in sichere Länder emigrieren und die Kinder nachholen konnten. Vor allem aber musste auf die Wünsche der Pflegeeltern eingegangen werden. Wer nicht vermittelt werden konnte, kam zunächst in einem Heim unter.

Der erste Transport verließ den Wiener Westbahnhof am 1. Februar 1938 um 20.12 Uhr und war von zwei Betreuerinnen begleitet. Die Reise ging über Berlin nach Sassnitz, dann mit der Fähre nach Trelleborg und weiter mit dem Zug nach Göteborg. Dort begann die Verteilung auf die Pflegeeltern. Ungefähr 25 zumeist ältere Jungen blieben übrig, die in das Kinderheim Hemhult in Tollarp südwestlich von Kristianstad gebracht wurden. Hier bestimmte ein streng reglementierter Tagesablauf mit religiösen Inhalten das Leben. Es wurde weiterhin versucht, sie in Privathaushalten unterzubringen oder sie als Arbeitskräfte zu vermitteln. So gab es jeden Sonntag eine öffentliche ›Beschau‹ der Jugendlichen. Diejenigen, die letztlich wegen ihres ›fremden‹ Aussehens nicht vermittelbar waren, wurden bei Bauern oder Gewerbetreibenden untergebracht, wie z. B. Harry Schein und Otto Ullmann. Beide wählten Schweden als neue Heimat, hingegen migrierte Siegfried Tschmul nach zweijährigem Aufenthalt in Schweden mit dem letzten Alijah-Transport im März 1941 nach Palästina und nannte sich fortan Shlomo Shaked. Ein weiteres Heim befand sich in Tostarp nordöstlich von Tollarp bei Hässleholm. Hier sollten 20 bis 30 nicht in Familien vermittelte Jugendliche über 14 Jahren auf den Aufenthalt in einer geplanten ›judenchristlichen‹ Kolonie in Südamerika oder Afrika vorbereitet werden. Dafür bildete man sie in der Landwirtschaft und in Haushalten aus. Doch mussten etliche in der Waldwirtschaft als Holzfäller und im Pflegebereich arbeiten. Weitere berufliche Perspektiven fehlten. (Åsbrink; Dünzelmann; Reise, Pammer)

Aus internationaler und schwedischer Sicht wird die Arbeit der SIM inzwischen als fragwürdig eingeordnet. Man wirft ihr neben einem religiös motivierten Antisemitismus auch Zwangstaufen von Kindern und zweifelhafte Auswahlkriterien bei der Zusammenstellung der Kindertransporte vor. Einige der Kinder wurden wohl schon vor der Abreise von SIM-Missionaren getauft, andere nach der Ankunft in Schweden. Auf jeden Fall kam es hier besonders im ländlichen Bereich zu massiver religiöser Indoktrination. Was Lomfors (barndom) ausführlich beschrieben hat und von Pammer andiskutiert wurde. (Barnen) Bei Erscheinen des Buches von Åsbrink, das Pammer als »einen Frontalangriff auf SIM und ihre Kinderhilfsaktionen« bezeichnet, kam es in Dagens Nyheter zu einer kontroversen Diskussion. Vor allem die Unterbringung von O. Ullman auf dem Gut des Nazis und Faschisten Kamprad durch die SIM bzw. ihre Mitarbeiter wurde heftig kritisiert. Die Schriftstellerin Ilse Aichinger als getaufte Jüdin warf der SIM vor, nicht in erster Linie »an der Rettung ihrer Schützlinge vor der Verfolgung und Vernichtung« interessiert gewesen zu sein, sondern mehr an der Rettung der Seelen. (Ebd.)

Bewertung

Die durch äußerliche Gewalt erzwungene Trennung der betroffenen Kinder von ihrer Familie wirkte sich oft traumatisch aus: Sie fühlten sich von den Eltern verstoßen und sahen sie selten wieder. Aus später verfassten Berichten geht deutlich hervor, dass viele mit dieser Situation schwer zurecht kamen. Beispielhaft dafür ist die Reaktion des fünfjährigen Gady Parnass, der einige Jahre sprachgestört war. Vielfach entsprach die Unterbringung auch nicht den Erwartungen der Kinder. Dem setzten manche ein renitentes Verhalten entgegen und stellten in Briefen an die Eltern die Situation bewusst negativ dar. Da z. B. die Post von der SIM kontrolliert wurde, ging man den Erzählungen nach und zeigte teilweise auch Verständnis für das Heimweh der Kinder. Oft aber kam es zu Sanktionen und einmal zur Rückführung eines Dreizehnjährigen nach Wien. Andererseits lebten die Eltern in immerwährender Sorge um die Kinder, zumal wenn diese auf ihre häufigen Briefe seltener antworteten. Da die Schilderungen nicht immer positiv waren, sprachen die Eltern ihnen Mut zu mit der Bitte um Durchhalten bis zu einer erhofften Verbesserung der Situation. (Ebd.)

Hinzu kam, dass ihnen in Schweden ein Höchstmaß an Anpassung und Assimilation abverlangt wurde. Sie vermissten die eigene, oft gehobenere Kultur, das obst- und gemüsereichere Essen, Musik und Tanz. In der schwedischen Gesellschaft nahmen sie die unterste Position ein, was den zumeist aus der Mittelschicht stammenden Kindern unverständlich war. Trotzdem erkannten viele, dass die Lebensbedingungen der schwedischen Unterschicht sehr hart waren, sie selbst dagegen privilegiert aufgewachsen waren. Tatsache war auch, dass Behörden und Gesellschaft die sogenannten nicht-arischen flyktingbarnen diskriminierte, vor allem wegen ihres fremdartigen Aussehens. Hingegen wurden 1944/45 die blonden finnischen Flüchtlingskinder bereitwillig zu Tausenden rezipiert. (Ebd.)

Insofern gelang auch nicht allen ein erhoffter Aufstieg. Mädchen konnten oft keinen richtigen Beruf erlernen, sondern mussten als Hausmädchen arbeiten oder in der Fabrik. Hinzu kamen ethnizistisch motivierte Konflikte wie dem Anderssein, dem othering, und der Exklusion. Aber auch das Unverständnis vieler Schweden gegenüber ihrer Situation. Erst Anfang 1945 änderte sich dies. Infolge der Reportagen, Berichte und Fotos erkannte man endlich, was wirklich in Nazi-Deutschland und in den von ihm besetzten Ländern geschehen war. Auch die Auswahlverfahren wirkten nach: im Herkunftsland die Taxierungen, im Aufnahmeland das Prozedere der Verteilung. Und diejenigen, die in ländliche Familien kamen, entfremdeten sich der bisherigen Kultur und oft auch dem Judentum. Zudem kam es infolge der Traumatisierung zu Erinnerungsblockaden, die sie das Gewesene, die hergebrachte Kultur vergessen ließen und dazu führte, dass real Geschehenes in ein Neukonstrukt umgedeutet wurde.

Maßgebliches Moment im Integrationsprozess war das Beziehungsgeflecht, in dem sich die flyktingbarnen bewegten. Wobei die gleiche konfessionelle Zugehörigkeit ein wichtiger Faktor war. Denn, wie Lomfors ermittelte, heirateten später 28 Prozent der Kinder Partner-Innen aus dem gleichen Umfeld. Von denjenigen, die in Schweden eine neue Heimat fanden, heirateten 44 Prozent jüdische PartnerInnen aus der schwedischen Gesellschaft. Weiter stellt sie fest, dass trotz der Widrigkeiten viele der Kinder aktiv ihr Leben in der neuen Heimat gestalteten: durch Bildung, berufliches Weiterkommen, familiäres und gesellschaftliches Engagement. (barndom) Insofern wurden sie Teil der schwedischen Mittelschicht, aus der sie ja auch selbst stammten und von der sie geprägt waren.

Für die in Schweden überlebenden Kinder und Jugendlichen stellte sich 1945 die Frage: Hier bleiben oder gehen? Der größte Teil musste nach 1945 damit fertig werden, dass ihre Eltern, Geschwister und andere Angehörige umgebracht worden waren, es also kein Wiedersehen gab. Nach Lomfors blieben 65 Prozent der Kinder im Aufnahmeland Schweden, 18 Prozent emigrierten in die USA und 13 Prozent nach Palästina bzw. ab 1949 nach Israel. Nur wenige wollten nach Deutschland oder Österreich repatriiert werden. Auch hielten nicht alle der Weitergewanderten Kontakt zum ersten Aufnahmeland Schweden. Erst mit zunehmendem Alter sahen sich viele mit der persönlich erlebten Negativerfahrung konfrontiert. Neben auftretenden Schuldgefühlen als Überlebende kam hinzu, dass Dankbarkeit gegenüber den Eltern als ihre eigentlichen Lebensretter nicht empfunden werden konnte. (Ebd.)

Doch kann konstatiert werden, dass die erlebten Fluchterfahrungen trotz allem ein Ansporn zum sozialen Erfolg und kreativer Lebensgestaltung waren. Das nicht nur der Fähigkeit zur Resilienz geschuldet. Insbesondere kann, analog zu Hannah Arendt, das tätige Leben der betroffenen Kinder und Jugendlichen in Hinblick auf einen Neuanfang als »Faktum der Natalität« definiert werden. (Vita activa) Die oft noch sehr jungen Kinder wurden abrupt aus einem Geborgenheit gebenden familialen Umfeld in ein fremdes Habitat verpflanzt. Ältere von 14 bis 17 Jahren mussten sich an ein von körperlicher Arbeit bestimmtes Leben gewöhnen. Für alle galt, eigenständig zukunftsweisende Entscheidungen zu treffen. Wie diese Herausforderung singulär bewältigt wurde, zeigen die einzelnen Biografien. Auch hier gilt das von Hanna Arendt dargelegte Prinzip des Vita activa, der drei Grundtätigkeiten Arbeiten, Herstellen und Handeln ‐ trotz der Verlusterfahrungen, denen die jungen Akteure ausgesetzt waren.

Letztendlich stellt sich noch die Frage, welches Narrativ die organisierten Kindertransporte bestimmte: Rettung der Kinder und Jugendlichen per se oder die Alijah nach Palästina. Laut Thor Tureby war primäres Ziel nicht die Rettung, sondern die Rekrutierung zur Alijah bereiter Jugendlicher inklusive der Vorbereitung auf ein Pionierleben in Palästina. Tatsächlich stand anfangs, also 1932, die Kinder/Jugend-Alijah im Fokus. Erst mit der zunehmenden Bedrohung und dann vor allem nach dem Pogrom am 9. November 1938 wurde mit den Kindertransporten die Rettung bestimmend. Andererseits war das Alter entscheidend, ob Rettung oder Hachscharah: Erst Jugendliche von 14 bis 17 Jahren waren für die Hachscharah vorgesehen. Nicht vergessen werden darf, dass Eva Warburg vor allem als überzeugte Zionistin agierte. Doch begegnete sie allen flyktingbarnen mit gleicher Freundlichkeit und Herzlichkeit.

6 Rabbiner Joseph Carlebach

7 Berthold Grünfeld, Oslo

ExkursFlyktingbarnen aus Dänemark, Norwegen und Finnland

Zu der in Dänemark nach der Pogromnacht 1938 initiierten Hechaluz-Bewegung gehörten insgesamt über 500 aus Deutschland, Österreich und ČSR geflüchtete Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren. Für ihre Betreuung war das Komiteen for de Jødiske Landvaesenselever in Kopenhagen zuständig. Die Reise führte die einzelnen Gruppen mit dem Zug vom Berliner Stettiner-Bahnhof nach Warnemünde, dann mit der Fähre nach Gedser und weiter mit dem Zug nach Odense auf Fünen. Von hier wurden sie nach kurzem Aufenthalt in der dortigen Jugendherberge auf nicht so weit voneinander entfernte Bauernhöfe verteilt, um ihnen bessere Kontaktmöglichkeiten untereinander zu verschaffen. An einem zentral gelegenen Ort wurde ein wöchentlich stattfindender Treffpunkt eingerichtet, wo sie in Hebräisch, Geschichte und allgemeiner Bildung unterrichtet wurden. Andere Praktikanten waren bei Fischern untergebracht. Hinzu kamen zwei orthodoxe Gruppen, die jeweils in einem Heim lebten und außerhalb desselben arbeiteten.

Es war vorgesehen, dass die Jugendlichen nach einem Jahr Praktikum und Schulung nach Palästina emigrieren sollten. Das verhinderte allerdings der Zweite Weltkrieg. Doch konnten im März 1941 noch 42 Hechaluz-Jugendliche über Schweden, Finnland, die UdSSR, Türkei und Syrien nach Palästina entkommen. Ihnen schloss sich in Stockholm eine Gruppe weiterer Jugendlicher an (→ Kibbuz BaDerech). In Dänemark blieben 184 sogenannte Aliyabørn und 303 Hechaluz-Jugendliche zurück. Von diesen wurden 28 und 38 je Gruppe von den Deutschen verhaftet. (Vgl. Jørgen Hæstrup, Jødisk ungdom på træk... Odense University Press 1982) Mit Hilfe von Eva Warburg und dem Hechaluz-Sekretariat in Hässleholm konnten laut Glück 75 Jugendliche zum Teil in Hälsinggården unterkommen, einige in einem Camp bei Norrköping. (Hachscharah.. com) Neben Hans Kaufmann kamen auch Nelly Kahn(-Moos) und Hans Moos nach Hälsinggården.

Der ebenfalls nach Schweden geflüchtete Berthold Rindsberg (1924-2015) stammte aus Adelsdorf bei Bamberg und kam im Oktober 1939 mit einem Alijah-Transport nach Dänemark. Nahe Odense auf Fünen erhielt er eine Praktikantenstelle in der Landwirtschaft. 1943 lebte er wegen akuter Bedrohung in verschiedenen Verstecken und konnte zusammen mit anderen Jugendlichen nach Schweden fliehen, wo er im Kibbuz BaDerech unterkam. Nach Kriegsende verließ er diesen und pendelte zunächst zwischen Schweden und Dänemark. 1948 reiste er mit einem legalen Transport nach Palästina, wo er sich seinen hebräischen Namen Baruch Ron zulegte. 2010 veröffentlichte er seine Autobiografie unter dem Titel Der Tag, an dem meine Schoah begann. (Dünzelmann, Reise)

Ab März 1938 nahm Norwegen mehrfach jüdische Kinder und Jugendliche aus Österreich und der ČSR auf. Aber nicht im Rahmen der Jugend-Alijah bzw. des Hechaluz, sondern mit Unterstützung des norwegischen Komitees der Wiener Kinder und der Nansen-Hilfe. So konnten im Juni 1938 aus Österreich 22 jüdische Kinder nach Norwegen zur Sommerfrische kommen. Diese Wienerbarna genannten Kinder waren zwischen 10 und 13 Jahre alt und wurden zunächst in einem Ferienheim der Jüdischen Jugendvereinigung Norwegens in Baerum bei Oslo untergebracht, später in Pflegefamilien. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs holten die Eltern von vier Kindern diese zurück, keines von ihnen überlebte den Holocaust. Drei Kinder konnten nach Australien und in die USA emigrieren, eines blieb bei den jüdischen Pflegeeltern und wurde später deportiert. (Irene Levin, Vertriebene Kinder; www.ntv.com/documents)

Die restlichen Kinder, sechs Jungen und drei Mädchen, wurden in einem Heim der Jüdischen Gemeinde in der Osloer Industrigate 34 untergebracht und von Nina Hasvold betreut. Sie besuchten die Volksschule, das jüngste Kind die erste Klasse, das älteste die vierte. Aus Sicherheitsgründen brachte man sie und weitere Kinder am 26. November 1942 in einer Privatwohnung unter und nach und nach in großer Heimlichkeit in einer anderen, die mehr Sicherheit versprach. Dank der umfassenden Betreuung vor allem durch Tove Filseth*, der Repräsentantin der Nansen-Hilfe, waren die Kinder in der Lage, zu ihr und Nina H. eine für das Überleben notwendige Beziehung aufzubauen und ihr zu vertrauen. Von diesem Versteck aus wurde der Grenzübergang nach Schweden organisiert. Da eines der Kinder in Oslo bleiben wollte, wurden nur noch 13 Kinder mit einem Lastwagen in die Nähe der Grenze gebracht und zu Fuß weiter nach Schweden. In einem schwedischen Militärlager versorgte man sie mit Keksen und Kakao und ließ sie in einem Krankenhaus untersuchen. Danach brachte man sie in Alingsås nicht weit von Göteborg auf dem als Turmhaus erbauten Engabo/Ängabo Herrgård nahe der Sjuhäradsgatan unter, wo sie bis Kriegsende blieben. Alle 13 Kinder kehrten wieder nach Norwegen zurück, einige emigrierten dann in andere Länder, zum Teil mit den wiedergefundenen Eltern. (Ebd.; haGalil.com)

Kurz vor Kriegsbeginn 1939 konnten weitere 37 jüdische Kinder aus der ČSR in Norwegen mit Unterstützung der Nansen-Hilfe einreisen. In Wien sammelten sich 13 Kinder aus Bratislava und 24 aus Prag, um von hier mit dem Zug nach Skandinavien auf der üblichen Route Berlin→Sassnitz→Trelleborg und im Transit durch Schweden nach Oslo zu reisen. Der größte Teil blieb in Oslo und wurde in einem Heim der Jüdischen Gemeinde und bei Pflegeeltern untergebracht, neun kamen nach Bergen in Westnorwegen und ein Kind nach Trondheim. Nach der deutschen Besetzung 1940 mussten 18 Flüchtlingskinder auf Wunsch der Pflegeeltern wieder zurückkehren ‐ keines dieser Kinder überlebte. Im Oktober 1942 wurden acht Kinder aus dieser Gruppe in Oslo im selben Heim wie oben genannt einquartiert, zwei Monate später gelang es den norwegischen Betreuern, sie nach Schweden zu bringen. Dort wurden sie ebenfalls im Herrgård Engabo untergebracht. (Levin)

Zu dieser Gruppe gehörte auch Berthold Grünfeld (1932-2007, Abb. 7). Er stammte aus Bratislava, wo er seit seiner frühen Kindheit in einem Waisenhaus lebte und dann in eine Pflegefamilie kam. Wie er später herausfand, war seine jüdische Mutter Prostituierte und wurde im Lager Sobibor umgebracht. Im Oktober 1939 reiste er mit 12 anderen Kindern nach Wien, weiter ging die Reise mit der Gruppe aus Prag nach Oslo. Er kam dann zu einer Pflegefamilie in Trondheim, wurde aber aus Sicherheitsgründen nach der deutschen Besetzung 1940 nach Oslo in das oben genannte jüdische Kinderheim gebracht. Mit den anderen Kindern flüchtete er Ende 1942 nach Schweden, wo alle auf Engabo in Alingsås bis 1946 lebten. BG kehrte nach Norwegen zurück, studierte Medizin und machte sich als Professor für Sozialmedizin einen Namen, ebenso als Psychiater. Zusammen mit seiner norwegischen Ehefrau bekam er drei Kinder. Seine Tochter Nina Grünfeld ging dem Leben ihres Vaters nach und stellte es filmisch dar. (Dagbladet, 14.3.2017; Dünzelmann, Reise)

Finnland kämpfte zwar im Zweiten Weltkrieg zusammen mit Deutschland gegen die Sowjetunion, galt aber den dort lebenden Juden noch als sicheres Land. Das änderte sich Anfang 1944 wegen der zunehmend unsicheren Situation. Daher nahm die Helsingfors Judiska Församlingen Kontakt zur Jüdischen Gemeinde in Stockholm auf, um über die Evakuierung jüdischer Kinder aus Finnland nach Schweden zu verhandeln. Mit Hilfe der JOINT konnten dann 91 (oder 100?) Kinder nach Schweden reisen: einmal von Turku mit dem Schiff nach Stockholm und dann per Flugzeug. Der erste Transport startete am 8. März 1944 mit 23 Kindern und einer Begleitperson. Bis zum September erhöhte sich die Zahl auf 91.

Von Stockholm aus wurden sie auf verschiedene Einrichtungen verteilt: 57 wurden privat untergebracht, 23 lebten in einem Gästehaus in Hallstavik, sechs im Kibbuz BaDerech in Falun, einige auch auf Engabo Herrgård in Alingsås. Eine weitere Gruppe wurde vom ehemaligen Arbeitslager in Källeryd in Västergötland aufgenommen. Transport und Unterbringung organisierte das Hjälpskommittén der Mosaiska församlingen ohne Inanspruchnahme einer staatlichen Unterstützung. Nach dem Waffenstillstand zwischen Finnland und der Sowjetunion im September 1944 kehrten die Kinder wieder nach Finnland zurück. Mit gemischten Gefühlen gegenüber dem Aufnahmeland Schweden. Einigen wurde sehr freundlich begegnet, anderen abweisend. Um die Aufarbeitung dieses Geschehens hat sich besonders Kai Rosnell verdient gemacht. (Finska Krigsbarn, 1,2014; sotalepset.fi, 1, 2014; s.a. Artikel von Daniel Weintraub, Finnische Universität Helsinki, Januar 1997)

Hilfen für Fluchtmigranten

Von Seiten des Aufnahmelandes Schweden wurde, trotz der negativen offiziellen Flüchtlingspolitik, im formellen und privaten Segment mit Hilfeleistungen auf die 1933 einsetzende Migrationsbewegung reagiert. Hier werden die wichtigsten institutionalen Träger in chronologischer Folge vorgestellt. Weiterführende Informationen sind bei Müssener, Exil in Schweden zu finden. Noch vor den 1933 einsetzenden Fluchtbewegungen wurde

1930

Röda hjälpen flykingskommitté / Rote Hilfe Flüchtlingskomitee

gegründet. Diese war ein Ableger der international agierenden kommunistischen Roten Hilfe*. Nur in geringem Umfang konnte Hilfe geleistet werden, war man doch von Spenden und Sammlungen abhängig. Nichtsdestotrotz leistete sie wirksame solidarische Hilfe. Vor allem wirkte sie unterstützend auf den moralischen Zusammenhalt der exilierten Gemeinschaft und der Individuen. 1934 wurde das oben genannte Komitee etabliert, Mitglieder waren zumeist Gewerkschaftler. Mit Kriegsbeginn und der zunehmenden Internierung kommunistischer Fluchtmigranten in Smedsbo und Långmora wurden nach außen die Hilfen scheinbar beendet. Tatsächlich bestanden diese weiter, so in Form von Paketen an die Internierten und bestimmten Sachleistungen. Da die Spenden infolge des Zweiten Weltkriegs zurückgingen, musste auch die Unterstützung reduziert werden, Spendengelder wurden sozusagen erbettelt. Um die Lebenshaltungskosten so niedrig wie möglich zu halten, wurden so genannte Kollektivhaushalte eingerichtet. (Müssener, (Exil). Um 1940 verbesserte sich allgemein die Situation finanziell und wohnungsmäßig. Die bisher zusammenlebenden Familienverbände konnten nach und nach eigene Wohnungen beziehen, wenn auch kleine.

1933

Arbetarrörelsens flyktingshjälp/Flüchtlingshilfe Arbeiterbewegung

Diese Organisation der schwedischen Sozialdemokraten und des Gewerkschaftsbundes wurde im Mai 1933 gegründet, und zwar als Hilfskomitee für gewerkschaftlich organisierte und politische Flüchtlinge. Ab Dezember 1938 fungierte sie unter dem oben genannten Namen. Hilfesuchende mussten vom Komitee als Flüchtlinge anerkannt werden. Bedingung für eine (minimale) Unterstützung waren Hilfsbedürftigkeit und die Zugehörigkeit zu einer sozialdemokratischen Partei. Alternativ wurde die Zugehörigkeit zu einer gewerkschaftlichen Organisation oder einer Arbeiterpartei wie die SAP anerkannt. Zudem musste eine Bedrohung der Antrag stellenden Person vorliegen. Kommunistisch Organisierte mussten offenlegen, dass sie keine Verbindung zu einer anderen Hilfsorganisation (wie der Roten Hilfe) hatten und Mitglied einer Gewerkschaft gewesen waren. Die administrativen Kosten wurden von der Partei getragen, die sich an der Arbeitslosenhilfe orientierende Unterstützung vom Gewerkschaftsbund. Zudem wurden Beihilfen und Mietzuschüsse gezahlt. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit in Schweden fand eine Arbeitsvermittlung bis 1938 nicht statt. Bis 1937/38 blieb die Zahl der anerkannten Fluchtmigranten gering, nach 1939 stieg sie deutlich an. Um eigene Interessen wahrzunehmen, schlossen sich die anerkannten Exilierten zu einer Emigrantengemeinschaft (→ Vernetzungen) zusammen. Es bestand eine enge Zusammenarbeit mit der Sozialbehörde und dem Außenministerium. Zur Säpo dürfte es Kontakte gegeben haben, vor allem wenn man nicht nur eine Nähe zu den Kommunisten vermutete, sondern auch zu ähnlichen Gruppierungen.

Insamlingen för landsflyktiga intellektuella Sammlung für landesflüchtige Intellektuelle

Diese Vereinigung bestand von 1933 bis 1940 und agierte als Hilfsfond vor allem für exilierte deutsche Kulturschaffende, die besonders auf private Hilfe angewiesen waren. Mitinitiatorin und Vorsitzende war die in Göteborg lebende schwedische Schriftstellerin Mia Leche-Löfgren. Die Zuwanderung vor allem intellektueller, zumeist nicht parteipolitisch organisierter Fluchtmigranten stellte diese Organisation vor erhebliche Schwierigkeiten. Daher riefen an die 200 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu der genannten Sammlung auf. Betont wurde das Gefühl der Verpflichtung gegenüber der Kultur dieser Gruppe. Es wurde ein Arbeitsausschuss gebildet und ein Sekretariat für die Hilfesuchenden eingerichtet. Doch es war sehr schwierig, die erforderlichen Hilfsgelder aufzutreiben. Immer wieder mussten Aufrufe um Spenden veröffentlicht werden.

Mit der 1939 angedrohten Auflösung von Insamlingen kam es zu einem Eingreifen staatlicherseits. Die auch als Intellektuellenkomitee bekannte Organisation erhielt seit Oktober 1939 entsprechende finanzielle Mittel zur weiteren Betreuung der oben genannten Emigrantengruppe. Sie wurde bis in die 1940er Jahre von einem Uppsalienser Professor geleitet. Von den Exilierten engagierte sich in diesem Komitee z. B. Curt Trepte. Da die Situation sich zunehmend verschlechterte, wurde im März 1940 beschlossen, Insamlingen aufzulösen.

Mosaiska församlingens hjälpkommittén/Hilfskomitee Jüd. Gemeinde

In der Judisk tidskrift wurde im März 1933 der erste Aufruf an die schwedischen Juden gerichtet mit der Bitte, den geflohenen Juden aus Deutschland Hilfe zu geben. Ein weiterer Hilferuf erfolgte 1935, da die bisher geleisteten Aufwendungen nicht ausreichten. Zwar reagierte die Gemeinde selbst schnell auf die ersten jüdischen Emigranten, doch verhielten sich viele Gemeindemitglieder eher abweisend. Man sah auf sie herab und ordnete sie als unerwünschte, aus dem Osten kommende Elemente ein. Vor allem nach 1938 mit der stärkeren Zuwanderung aus Österreich und der ČSR. Anfang der 1940er Jahre dürften etwa 150 bis 200 Personen ständig vom Hilfskomitee unterstützt worden sein. Auch von nichtschwedischen jüdischen Organisationen kam finanzielle Hilfe. Weitere Unterstützungsgelder flossen in das Projekt der Kinder- und Jugendalijah. So gingen z. B. Gelder an das deutsch-jüdische Internat Kristinehov in Västraby, an den Kibbuz in Falun, an das Pojkhemmet in Uppsala und an den Hechaluz. Engagierte Mitarbeiterin war u. a. Eva Warburg. (Unterlagen befinden sich im RA, Judiska församlingen)

1934

Neben dem Hilfskomitee gab es nunmehr auch das Caritas-Notwerk an der St. Eugenia-Kirche im

1935Stiftelsen Birkagården*/VHS Birkagården

Hier wurden ab 1935 auf Anregung von Franz Mockrauer Sprachkurse angeboten, ebenso Kurse, um Kenntnisse über schwedische Lebensgewohnheiten und Verhältnisse zu vermitteln. 1937 schloss sich Birkagården dem Zentralen Komitee für Flüchtlingshilfe an und vergab auch Unterstützungsgelder im Büro Karlbergsvägen. 1938 liefen an die 115 Kurse mit jeweils 150 Teilnehmenden. Sehr gut angenommen wurden die von Birkagården angebotenen Feiern zu Weihnachten und zum 1. Mai. Dank des Engagements der Leitenden, Gillis und Elisabeth Hammar, konnten Exilierte das Gefühl haben, willkommen zu sein und einer Gemeinschaft anzugehören.

Internationella Foyern / Internationales Foyer

Nach Aussage des Initiators Stig Bendixon war das Foyer eher zufällig entstanden. Menschen wie Mathilde Widengren und er wollten vor allem das Asylrecht verbessern bzw. dieses überhaupt installieren. Während eines Treffens mit Interessierten sollte nach dem Beispiel Paris auch in Stockholm ein Raum mit dem Namen Foyer eingerichtet werden, wo sich Flüchtlinge wohl fühlen konnten. Den entsprechenden Raum stellte Bendixon in der Västerlånggatan 40 im ersten Stock zur Verfügung. Damit konnte das Projekt ›Internationales Foyer‹ starten, das notwendige Mobiliar war schnell gesammelt. Schon bald wurde dieser Ort von Emigranten angenommen und in der Szene bekannt. Hier konnten sie in Ruhe Zeitungen lesen, sich informieren, Erfahrungen austauschen, Ratschläge und Auskünfte einholen, zur Mittagszeit Tee und Butterbrote zu sich nehmen. Leider erhielt diese private Einrichtung nicht die notwendige und erhoffte Anerkennung durch die Behörden. Nach der Besetzung Österreichs stieg die Zahl der Fluchtmigranten deutlich an. Manchmal hielten sich bis zu 80 Gäste am Tag im Foyer auf. Dabei zeigten sich ideologische Gegensätze, wie z. B. die zwischen Katholiken und Sozialisten. 1942 beendete das Foyer seine helfende Tätigkeit, da jetzt der Staat mehr Verantwortung für Exilierte übernahm.

1937Katholisches Hilfskomitee

Auch diese Einrichtung der von Jesuiten betreuten St. Eugenia-Gemeinde schloss sich 1939 dem Zentralen Hilfskomitee an.

Stockholms centrala kommitté för flyktingshjälp Zentrales Stockholmer Komitee für Flüchtlingshilfe

Es entstand ungefähr zur gleichen Zeit wie das Intellektuellenkomitee und war mit diesem eng verbunden. Folgende Organisationen waren zunächst angeschlossen

Intellektuellenkomitee

Hilfskomitee für Flüchtlinge

Internationales Foyer

Hilfskomitee der Jüdischen Gemeinde / Jugend-Alijah i Sverige. Barnahjälp

Hilfskomitee der Schwedischen Ökumene

Soziales Hilfskomitee der Quäker

Volkshochschule Birkagården

Israelmission

Katholisches Hilfskomitee

Weitere kamen im Laufe der Zeit hinzu. Abgelehnt wurde aber der Versuch der Roten Hilfe, sich dem Zentralkomitee anzuschließen.

Das Zentral-Komitee wurde auf Initiative des Theologen Nathanael Beskow gegründet. Ein Finanzausschuss regelte unparteiisch die Verteilung der Spendengelder auf die einzelnen Komitees. Eine wichtige Aufgabe war, bei Regierung und Sozialbehörde eine günstigere Behandlung der Fluchtmigranten zu erwirken. Auch wurde eine Gleichstellung der jüdischen Exilierten mit den politischen verlangt. Von Ausweisung Bedrohte sollten vorher persönlich vor dem Ausländerausschuss erscheinen können. Insgesamt wurde eine Liberalisierung der schwedischen Flüchtlingspolitik gefordert. Anfang 1939 konnte eine Sozialarbeiterin eingestellt werden, da die Zahl der Hilfesuchenden ständig wuchs. Doch deren Versorgung wurde immer schwieriger. Es fehlten preiswerter Wohnraum, Arbeitsmöglichkeiten usw. Erst Ende 1947 konnte das Komitee seine Arbeit einstellen.

1938Svenska Israelsmissionen (SIM)/Schwedische Israelmission