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Kein Mensch ist eine Insel“, sagt eine alte Weisheit. Entsprechend sind wir vom ersten Tag unseres Lebens an auf der Suche nach Zugehörigkeit, Bestätigung und menschlichem Widerhall – nach Resonanz. Neurobiologische Forschungen zeigen allerdings, dass unsere digitale Multitasking-Welt dieses Miteinander stört und Belastungen wie Stress, Burn-out und Isolation nach sich zieht. Der Psychotherapeut und Theologe Arnold Mettnitzer zeigt die vielfältigen Facetten dieses menschlichen Grundbedürfnisses auf und wie wir im Austausch mit anderen zu einem gelingenden Leben finden.
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Seitenzahl: 184
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Arnold Mettnitzer
Der ermutigte Mensch
Durch Resonanz meinen Platz im Leben finden
Für Ingrid Kernmayer
Trägerin des Goldenen Verdienstzeichens der Republik Österreich,
die am 21. August 2019 im 57. Lebensjahr nach einem in jahrzehntelanger Krankheit gereiften und erfüllten Leben ihre Erlösung gefunden hat.
Cover
Titel
Widmung
AUFTAKT
Das Abenteuer der Resonanz
Was Sie von diesem Buch (nicht) erwarten dürfen
I.RESONANZ ALS GRUNDLAGE MENSCHLICHER EXISTENZ
Was ist Resonanz?
Der Mensch als Resonanzwesen
Der Schock der Geburt: Atem und Berührung als Mittel der Resonanz mit der Welt
Die Stimme als vokale Nabelschnur
Wie lernt der Mensch das Kommunizieren?
Körperhaltung und Gesichtsausdruck
Mimik
Die Sprache der Hände
Be-hand-lungen
Die Landschaft des Gesichts als das äußere Erscheinungsbild der Seele
Riechen
Schmecken
Weinen und Lachen
II.RESONANZ DES MITEINANDER: ZUSAMMEN VERÄNDERN WIR DIE WELT
Der ermutigte Mensch
Die Begeisterung (wieder)entdecken
Verschüttete Kräfte freilegen
Eine neue Art von Emanzipation
Eine Welt gefangen in bequemer Unmündigkeit
ermutigung
Resonanz und digitale Transformation
Durch Resonanz dem Schicksal der Demenz entkommen
Wer rastet, der rostet
Die Sehnsucht anzukommen: Kohärenz
Kohärenz neu gedacht
HEUREKA! Der Weg ist das Ziel
kohärenz
Träume als Resonanzräume zwischen Bewusstem und Unbewusstem
Die Welt als Erlebnis von äußerer und innerer Resonanz
Resonanz „in extremis“: Vom Umgang mit dem Tod
Abschied, Verdrängung und Trauer
Ermutigung durch stimmige Kondolenz
ende
III.REISEN IN DER SEHNSUCHT NACH RESONANZ UND KOHÄRENZ
Fernweh
Der Liebende, der „Ich“ sagte
Resonanz im Land der Bibel: Der Weg ist das Ziel
Der steinige Weg nach Jerusalem
Zwiesprache mit dem Herzen
Der Hunger nach Erfahrung
Im Weingarten des Lebens
Heilende Begegnung am Brunnen
Ijob und sein Aufstand gegen Gott
Elija oder wie Depression heilen kann
Das war erst der Anfang
Wir sind nur Gast auf Erden, Flüchtlinge nicht einmal das
IV.SPIRITUALITÄT IN DER KUNST: DIE ALLES DURCHDRINGENDE RESONANZSPHÄRE
Kunst lädt ein, „anders“ zu sein
Eine lyrische Bildmeditation: Zu den Werken von Teresa Gonçalves Lobo
furchenfelder
Was bedeutet „Spiritualität“?
AUSKLANG
Anmerkungen
Der Autor
Die Künstlerin
Die Werke von Teresa Gonçalves Lobo
Impressum
Zwei Freunde gehen durch die Stadt. Plötzlich bleibt der eine stehen und sagt zum anderen: „Hörst du es auch, wie schön da ein Vogel singt?“ Der andere wundert sich: „Wie kannst du im Großstadtlärm eine einzelne Vogelstimme hören?“ Im Weitergehen lässt der eine unbemerkt eine Münze fallen. Jetzt fragt der andere: „Hast du nicht auch eine Münze fallen hören!?“ Da wundert sich der eine: „Wie kannst du im Großstadtlärm eine einzelne Münze fallen hören?“ Für einen Augenblick bleiben beide stehen, schauen sich an und gehen dann wortlos weiter.
Der eine ist gern in der Stille zu Besuch, er fühlt sich wohl unter den Menschen, genießt es aber immer wieder, auch allein unterwegs zu sein. Er liebt die Natur, spricht mit Bäumen, umarmt sie, atmet tief ein und aus und spürt dabei, wie seine Seele weit wird. Er wandert gern, am besten entlang eines Baches stromaufwärts, und freut sich an allem, was er sehen, hören, riechen, schmecken, pflücken und genießen kann …
Der andere liebt das Leben in der Stadt, die Abwechslung, das bunte Treiben auf den öffentlichen Plätzen. Unter den vielen Menschen, die da kommen und gehen, fühlt er sich wohl. Wenn es ruhig wird um ihn herum, wird er unruhig. Bahnhöfe und Flughäfen sind für ihn gewissermaßen „Andachtsplätze“. In den Warteräumen beschäftigt ihn die Frage, woher die Menschen kommen, wohin sie gehen, von wem sie sich soeben verabschiedet haben und wer am Ende ihrer Reise wohl auf sie warten mag.
Der singende Vogel und die fallende Münze, auf die sie sich gegenseitig aufmerksam gemacht haben, gehen beiden nicht aus dem Kopf; doch keiner wüsste, was er davon im Moment dem anderen mitteilen könnte … „Wir kommen dorthin, wohin wir schauen“, denkt der eine. „Was wir im Herzen tragen, da hinein werden wir verwandelt. Den Sinn des Lebens finden wir über unsere Sinne, dazu aber bedarf es der Stille, der Ruhe, des Alleinseins als Voraussetzung für das ‚All-eins-Sein‘ mit den Menschen, mit Gott und der Welt.“ An seinem Freund gefällt ihm „das andere“, von dem er nichts wüsste, wenn es diesen nicht gäbe.
Der andere, den das Fallen der Münze hellhörig macht, nimmt mit beiden Händen, was er bekommen kann. „Nur Bares ist Wahres“, sagt er gern. Er liebt die Abwechslung und die Freiheit, sich immer wieder etwas gönnen zu können. Jetzt aber zögert er, seinem Freund davon zu erzählen: Dieser könnte das missverstehen und von ihm denken, er hätte am Lärm der Stadt größeren Gefallen als am Gesang eines Vogels. Dass er in vielen Dingen ganz anders denkt, erachtet er als Gewinn; wo zwei immer einer Meinung seien, wäre einer der beiden überflüssig, wie – so behauptet er – Winston Churchill gesagt haben soll.
Irgendwann entlang ihres Weges ergibt sich aus diesen getrennt voneinander gedachten Gedanken ein gutes und langes Gespräch, was für eigenartige Vögel sie doch wären, wie grundverschieden und dabei doch so liebevoll umeinander besorgt und darüber froh, dass der eine nicht ohne den anderen unterwegs ist.
Dieses Buch ist der Versuch, das Gespräch dieser beiden Freunde weiterzuführen, ihren unausgesprochenen Fragen, Gedanken und Überlegungen Raum zu geben. Einige Leserinnen und Leser sind den beiden schon in meinem Buch „Klang der Seele“ begegnet; damals allerdings hatten sie sich noch nicht so gut gekannt. Die Unterschiede zwischen den beiden waren größer: der eine jung, der andere alt und jeder der beiden noch eher nur mit dem eigenen Standpunkt beschäftigt und noch nicht so erfahren im Umgang miteinander wie die beiden Freunde jetzt.
Wie damals geht es auch heute noch darum, auf der Spielwiese des Alltags gleich vierfach das Abenteuer der Resonanz als Ermutigung zu entdecken: Einmal dadurch, im Gespräch miteinander erleben zu dürfen, mit unseren Gedanken und Gefühlen nicht allein zu sein und sich von anderen verstanden zu wissen; über Unterschiede hinweg „gut“ miteinander zu „können“, einen „Draht“ zueinander zu finden, weil, wie wir manchmal sagen, zwischen uns „die Chemie stimmt“.
Nicht weniger wichtig ist die Erfahrung, dass Auseinandersetzungen Gelegenheiten bieten, die eigenen Gedanken zu schärfen, in einer Streitkultur die Kunst zu üben, Argumente präziser zu formulieren, daran zu wachsen, den Horizont zu erweitern und sich über Dazugelerntes und neue Sichtweisen freuen zu können. Der Volksmund weiß ja nicht nur, dass „Gleich und Gleich sich gern gesellt“, sondern auch, dass Gegensätze sich anziehen, weil er aus Erfahrung weiß, wie viel Kraft und Potenzial in klug geführten Auseinandersetzungen stecken. Vorausgesetzt freilich, beide Seiten sind dabei mehr am Gemeinsamen als am Trennenden interessiert, mehr an Klärungen als an Siegen.
Das dritte und vierte Feld der Resonanz als ermutigende Erfahrung sind eng verwoben und die geheimnisvollsten und schönsten, weil sie aus der Stille kommen und wieder in die Stille führen. Sie lassen staunen, sie bedürfen keiner Worte. Das dritte Feld lässt sich am besten mit dem Bild der Reise und des Unterwegsseins fassen, mit dem Erreichen eines Ziels – in der äußeren wie inneren Welt. Ist man angekommen, gibt es einem das Gefühl, mit Menschen und auch mit den Orten, an denen sie leben, verbunden zu sein, sich geborgen und nicht allein (gelassen) zu fühlen.
Dieses Feld ist aber gleichzeitig das am schwersten zu fassende, weil es den Menschen auch mit den Abgründen des Menschen konfrontiert und ihn so die Orte, an denen solches passiert, meiden lässt, weil er an ihnen nicht freiwillig an negative Erfahrungen im menschlichen Miteinander erinnert werden möchte. Solche Erfahrungen gipfeln nicht selten in dem Satz: „Dort gehe ich nicht (mehr) hin!“ Damit kommt zum Ausdruck, wie mühsam und belastend es sein kann, an Negativ-Erlebtes erinnert zu werden; gleichzeitig aber wird dadurch auch bewusst, dass ein Mensch dem Leben und seinen täglichen Zumutungen nicht immer nur ausweichen, sondern daran auch wachsen kann. Resonanz erscheint so als die Grundmelodie allen Lebens, der sich kein Mensch zu verweigern vermag.
Bei allem, was er unternimmt, bietet ihm das Leben eine Spielwiese für das Abenteuer der Resonanz: Einmal in inniger Begegnung und Übereinstimmung mit anderen Menschen, dann in der Abgrenzung von ihnen beziehungsweise in der Auseinandersetzung mit ihnen; und das alles immer und überall in Verbindung mit der Natur und den konkreten Ereignisorten. Die dort erfahrenen Erlebnisse lassen seine erlebten Erfahrungen unverwechselbar an diesen Ort gebunden sein, und wenn er davon später zu erzählen beginnt, wird er immer zu sagen wissen, wo und wann sich etwas mit wem ereignet hat. Von der Geburt bis zum Ende seines Lebens ereignet sich so das Abenteuer der Resonanz unter den Koordinaten von Ort, Zeitpunkt und Weggefährten. Was immer Menschen einander erzählen, lebt aus dieser Grundstruktur.
Das vierte Abenteuer der Resonanz auf der Spielwiese des Lebens ereignet sich im Erleben von Kreativität, Kunst, Kultur und der auch damit verbundenen spirituellen Erfahrung, in der Lust, die Welt nicht nur zu erleben, sondern sie auch zu gestalten. Den Höhepunkt jeder Art von Resonanzerfahrung erlebt ein Mensch dort, wo ihm die Sprache versagt, wo er bei dem, was er erlebt, vergebens ums Wort ringt, ihm der Mund offen bleibt, er nichts zu sagen vermag ob des Entsetzens oder des unvermutet von menschlicher Schöpfungskraft gestalteten Schönen, mit dem er sich plötzlich konfrontiert sieht.
Dieses Buch ist weder ein Ratgeber noch eine Sammlung von Patentrezepten, auch kein Wegweiser für den richtigen Platz im Leben. Aber vielleicht markieren die Erzählungen, Erfahrungen, Berichte und Gedichte für Sie den einen oder anderen Lichtblick oder Aussichtspunkt auf Ihrer psychogeografischen Landkarte. Was Menschen im Sinne der oben beschriebenen Resonanz einander zu bieten vermögen, sind nicht Erfolgsgarantien, sondern Erlebnisgemeinschaften, die durch das Interesse aneinander, in gegenseitiger Hilfsbereitschaft und in der Freude am Erfolg anderer Ahnungen wecken, wie Leben gelingen kann. Dabei geht es nie um die billige Kopie eines vermeintlichen Erfolgsrezepts, sondern um Hilfestellung und Ermutigung zu einem unverwechselbar eigenen Lebensentwurf. Die verlässlichste Hilfestellung dabei, die größte Ermutigung dazu wird immer von einem anderen Menschen kommen. Nichts im Leben eines Menschen vermag diesen mehr zu ermutigen als ein anderer Mensch. Deshalb ist auch das Gegenteil wahr und tut, wenn es zutrifft, besonders weh: Nichts vermag einen Menschen mehr zu kränken als die Erfahrung, von anderen im Stich gelassen, übersehen, übergangen, enttäuscht zu werden.
Aber wie groß Enttäuschungen auch sein mögen, das Gespräch mit Menschen, denen man sich mitteilen, mit denen man den Schmerz darüber teilen kann, ist und bleibt das wichtigste Psychopharmakon der Natur: Jemand, der einem anderen dabei behilflich ist, die tiefe Kränkung zu überwinden, dass er sich in einem anderen Menschen getäuscht hat, aber jetzt damit beginnen kann, dieser Täuschung ein Ende zu setzen, die „Ent-täuschung“ als Lebenserfahrung annehmen und daran wachsen zu können. So bleibt er über solche Erfahrungen hinaus mit Menschen im Gespräch, übt sich in der Kunst des Mitteilens, um im Miteinander wahr-zunehmen, was als Wahrheit „von innen her“ getrennt voneinander niemals wahrzunehmen wäre. Wo Menschen miteinander teilen, was sie getrennt voneinander erleben, eröffnen sich Resonanzräume, in denen das Wort „wahr-nehmen“ das meint, was an Wahrem im Inneren eines anderen vor sich geht und durch gemeinsame Aufmerksamkeit (mit-)geteilt wird.
Darin erkennt dieses Buch den inneren Kern aller Resonanz und die daraus wachsende „Ermutigung“. Vor zehn Jahren habe ich diesen Vorgang „Klang der Seele“ genannt; heute versuche ich, das Resonanzbedürfnis des Menschen als den ständigen Dialog zu beschreiben, der – vergleichbar mit dem Grundbedürfnis des Atmens – einen Menschen mit dem größeren Ganzen seiner Welt in Verbindung hält. Gleichzeitig wird ihm dabei aber – je älter er ist, umso mehr – bewusst, dass er in dieser Welt seinen unverwechselbar eigenen Weg und seinen Platz alleine finden muss. Hilfreich dabei aber wird ihm immer sein, am Leben anderer Anteil zu nehmen, sie an seinem Leben teilhaben zu lassen und dabei einander immer wieder liebevoll infrage zu stellen und die besten Antworten auf solche Fragen in noch gründlicheren Fragen zu suchen. So bewahren sich Menschen gegenseitig vor übertriebener Belehrung und verstehen sich eher als Spielgefährten auf den unbegrenzten Resonanzfeldern des Lebens …
Ein Wort von Martin Buber lautet: „Beziehung ist Gegenseitigkeit.“1 Leben als Beziehung in Gegenseitigkeit heißt, durch geschenktes Vertrauen eine wesentliche Seite eines anderen Menschen kennen zu dürfen und sich des Reichtums dieses Geschenkes bewusst zu sein. Vielen Menschen in meinem privaten und beruflichen Leben verdanke ich den Reichtum solcher Erfahrungen. Zwei davon sind die Hirnforscher Joachim Bauer und Gerald Hüther, die ich in den Jahren 2009 bis 2010 im wissenschaftlichen Beirat einer psychosomatischen Klinik im Allgäu kennen- und schätzen lernen durfte und von ihnen über diese Zeit hinaus bei gemeinsamen Veranstaltungen viel lernen konnte. Gerald Hüther verdanke ich fast alles, was ich in diesem Buch zu den Themen Emanzipation, Transformation und Kohärenz zu sagen versuche.
Wenn sich der Untertitel dieses Buches und manche Abschnitte darin explizit auf die Studie von Hartmut Rosa über „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“2 berufen, dann nicht, weil ich in der Lage wäre, den beeindruckenden wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema weiterzuführen, sondern in großer Wertschätzung dem Autor gegenüber, dessen „Opus Magnum“ ich die Erkenntnis verdanke, wie entscheidend und abgrundtief gründlich das Thema Resonanz den Menschen „schon vor der Wiege bis zu seinem letzten Atemzug“ bestimmt und begleitet. Der resonanzbasierende Wachstumsprozess im Mutterleib ist dabei genauso beeindruckend geheimnisvoll wie die Präsenz und die Resonanz eines Menschen weit über seinen letzten Atemzug hinaus.
Innerhalb der vergangenen zwei Jahre konnte ich im Kreis von kleinen Reisegruppen vier Mal Israel und Palästina besuchen. Das Faszinierende dabei war aber nicht nur, das Land der Bibel (wieder) zu entdecken, sondern auch das Kennenlernen der Sehnsuchtsheimat vieler Pioniere der Psychoanalyse. Meine dabei entstandenen Reisenotizen sind auf vielfachen Wunsch zu einem weiteren Bestandteil dieses Buches geworden. Wie in meinen früheren Büchern finden sich auch in diesem immer wieder Gedichte in den fortlaufenden Text verwoben. Das hat einerseits mit meiner Vorliebe für verdichtete Texte zu tun; hier aber erscheint es mir mehr als sonst allein schon dem Thema dieses Buches geschuldet, weil durch Lyrik die persönliche Tiefe eines Gedankens (seine Resonanzqualität) viel deutlicher zutage zu treten vermag als in prosaischen Formulierungen.
Und wenn ich es hier auch wieder wage, ein paar lyrische Texte „aus eigener Werkstatt“ zu verwenden, dann nicht, weil ich so sehr von deren Qualität überzeugt bin, sondern eher, um der Leserin und dem Leser im Klang und im Rhythmus der Sprache etwas von dem zu vermitteln, was mich bewegt und erst wieder loslässt, wenn ich es mir auf diesem Weg von der Seele geschrieben habe. Ohne mich mit einem der Großen des vergangenen Jahrhunderts messen zu wollen, darf ich in diesem Zusammenhang an Arthur Schopenhauer erinnern, der am Ende seiner „Parerga und Paralipomena“ darauf hinweist, dass „in Gedichten, unter der Hülle des Metrums und des Reims, der Mensch sein subjektives Inneres freier zu zeigen wagt, als in der Prosa, und sich überhaupt auf eine mehr rein menschliche, mehr persönliche, jedenfalls ganz andersartige Weise mittheilt, als in Philosophemen, und eben dadurch einigermaßen näher an den Leser herantritt […] Verse drucken lassen ist in der Literatur, was in der Gesellschaft das Singen eines Einzelnen ist, nämlich ein Akt persönlicher Hingebung“.3
Als Rastplätze für die lesende Seele finden sich in diesem Buch Arbeiten der portugiesischen Künstlerin Teresa Gonçalves Lobo. Als ich sie im Sommer 2018 an der portugiesischen Atlantikküste in Pedrógão traf, lud ich sie ein, mir Arbeiten aus ihrer Werkstatt zum Thema Resonanz zur Verfügung zu stellen. Sie lehnte ab, weil sie sich viel lieber in den folgenden Monaten diesem Thema widmen und mir die so entstandenen 16 Zeichnungen zur Verfügung stellen wollte. Dafür bin ich ihr aus ganzem Herzen dankbar.
Viele Überlegungen, Begegnungen und Erfahrungen aus den vergangenen Jahren habe ich in diesem Buch versammelt in der Hoffnung, in einer komplex gewordenen Welt mit ihren Kreuz- und Querverbindungen Perspektiven der Ermutigung freizulegen, Resonanz als Grundbedürfnis der menschlichen Seele (wieder-) zu entdecken und (erneut) bewusst im Alltag im Blick zu behalten. Denn das Schlimmste, was Menschen angesichts der drängenden Fragen dieser Welt passieren kann, ist Gleichgültigkeit. Eine „Ohne-mich-Devise“, die sich heraushält, nicht einmischt und von der Welt in Ruhe gelassen werden möchte. „Ohne mich! ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann“, schrieb der französische Diplomat und Philosoph Stéphane Hessel (1917–2013) und rief damit (nicht nur) jungen Menschen in der ganzen Welt ermutigend den geradezu biblisch anmutenden Satz zu: „Wenn ihr sucht, werdet ihr finden.“4
„Sagt mir, was bedeutet der Mensch? Woher ist er gekommen? Wo geht er hin? Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?“ So fragt der „Jüngling-Mann“ die Wogen des Meeres in Heinrich Heines Gedicht „Fragen“ und kommt in ihrem Gemurmel, im Wehen des Windes, im Fliehen der Wolken und im gleichgültig kalten Blinken der Sterne zur Gewissheit, dass lediglich Narren auf Antwort warten …“5 Trotzdem scheint sich das Fragen nicht nur für Narren zu lohnen. Nicht, weil jemand schlüssige Antworten wüsste, sondern weil das Fragen, das Suchen, das Ausschau-Halten nach besseren Möglichkeiten zum Menschen gehört, in immer neue drängende Fragen mündet und für kreative Unruhe sorgt.
Die Suche nach Nahrung für Mensch und Vieh, nach Weideplätzen und Wasserstellen bestimmt schon den Lebensrhythmus des biblischen Menschen. Hochbetagt bricht Abram auf, um neue Weiden und Oasen zum Rasten zu finden, getrieben von der Sehnsucht nach dem Paradies, einem Land, „in dem Milch und Honig fließen“. (5. Buch Mose, Kapitel 26,9.) Wie der biblische Mensch versuchen Menschen zu allen Zeiten als „homines viatores“ ihren Platz zu suchen, den Ort zu finden, an dem sie zu dem werden können, die sie gewesen sein werden, wenn einmal nur mehr ein paar Zeilen an ihren Gräbern daran erinnern, was vorher in ihren Personaldokumenten, in der sogenannten „Identity Card“, vermerkt war: neben dem aktuellen Wohnort der Ort und das Datum der Geburt, vielleicht noch der Beruf und früher einmal auch noch sein religiöses Bekenntnis.
Aber dieses Knochengerüst persönlicher Identität sagt nichts darüber, was einen Menschen von Anfang an und über seinen Tod hinaus einzigartig und unverwechselbar gemacht hat, kein Wort über den Tränen der Freude und des Leides, nichts von den Höhepunkten, den Schicksalsschlägen und den daraus gewonnenen Erfahrungen … Was aber jeden Menschen einzigartig und unverwechselbar zu dem Menschen macht, der er in dieser seiner Welt ist und war, das ist die verlässliche Konstante der Resonanz: Alles, was er erlebt und im Blick zurück erlebt haben wird, verdankt er als Gemeinschaftswesen dem Geheimnis der Resonanz. Es ist die Resonanz, durch die Menschen schon lange vor seiner Geburt auf sein Kommen gewartet haben und ihn lange nach seinem Gehen aus dieser Welt nicht vergessen konnten.
Das Wort „Resonanz“ kommt aus dem Lateinischen „re-sonare“ und kann wörtlich mit „zurück-tönen“ oder „widerhallen“ übersetzt werden. In der Physik ist damit das Mitschwingen oder auch Mittönen eines Körpers gemeint. Im sozialen und psychologischen Kontext wird damit alles beschrieben, was mit Mitschwingen, Akzeptanz, Würdigung, Lob, Achtung, Respekt, Wertschätzung, Anerkennung, Anklang, Sympathie, Empathie und Einfühlungsvermögen in Verbindung steht.
Wie kein anderer in den vergangenen Jahren hat sich der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa mit diesem Thema beschäftigt und die Kernthese seiner Arbeit in den folgenden Worten zusammengefasst: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.“6 Rosa skizziert eine „Soziologie der Weltbeziehung“, ein Möglichkeitsfeld für gutes Leben, und plädiert dabei dafür, bei allen Lösungsansätzen die Unruhe zu bewahren, die wie in einem Uhrwerk erst unser Lebendig-Sein garantiert. Dabei zeigt er auf, wie eine Welt in der ständigen Vergrößerung ihrer Reichweiten und Möglichkeiten immer stummer und schwieriger wird, ein Dialog mit ihr beinahe unmöglich erscheint. Gegen diese fortschreitende Entfremdung zwischen dem Menschen und seiner Welt setzt Rosa die Resonanz als klingende, unberechenbare Beziehung mit einer nicht-verfügbaren Welt.
Zur Resonanz kommt es, sagt er, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet. Weil sich das Ergebnis dieses Prozesses nicht vorhersagen oder planen lässt, kommt überall dort, wo sich Resonanz ereignet, immer auch ein Moment von Unverfügbarkeit ins Spiel.7
Ein Mensch, der sich hingegen von anderen Menschen fernhält, mit ihnen nichts zu tun haben will und deshalb sein Haus außerhalb der Stadtmauern baut, wurde im antiken Griechenland mit dem Schimpfwort „idiotes“ bedacht, aus der Überzeugung, dass der Mensch als „zoon politikon“, als Gemeinschaftswesen, den anderen Menschen braucht, um in Resonanz mit ihm sein eigenes Leben leben zu können. Die Neurobiologie bestätigt das: Nach nichts hat der Mensch mehr Sehnsucht als danach, von einem anderen Menschen wertgeschätzt, willkommen geheißen und geliebt zu werden. Und nichts kränkt ihn mehr, als ausgegrenzt, abgelehnt und „nicht einmal ignoriert“ zu werden. Das hat die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten beeindruckend bestätigt und so die Rolle des Menschen als Gemeinschafts- und Resonanzwesen in den Mittelpunkt ihres Interesses gestellt. „Kern aller menschlichen Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben“8, formuliert dazu der Arzt, Gehirnforscher und Psychotherapeut Joachim Bauer und beschreibt höchst anschaulich die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz:
„Wenn sich zwei exakt gestimmte Gitarren gegenüberstehen und die tiefe E-Saite der einen Gitarre stark angezupft wird, werden die von ihr ausgesandten Schallwellen auch die E-Saite der anderen Gitarre zum Klingen bringen. Ähnlich dazu können auch Menschen durch Mitmenschen mit Gefühlen ‚angesteckt‘ und verändert werden. Menschen verfügen über ein neuronales Resonanzsystem, das bereits bei Säuglingen in Funktion ist. Die Art, wie wir uns gegenseitig ansprechen und behandeln, führt im jeweils anderen Menschen zu einer Resonanz. Die Art, wie erwachsene Bezugspersonen auf den Säugling reagieren, hinterlässt im Säugling eine Spur; eine Botschaft, die ihm Auskunft darüber gibt, wer er ist. Die an ihn adressierten Botschaften addieren sich im Säugling und bilden den Kern seines Selbst.“9
Mit dem Wort Resonanz ist auch die Beziehungsfähigkeit des Menschen zur Welt vom ersten Augenblick seiner Zeugung im Mutterleib bis zu seinem letzten Atemzug gemeint. Der Mensch als „Resonanzwesen par excellence“ könnte auf sich alleingestellt nicht leben. Sein Dasein hat im Resonanzraum mit seiner Mutter im Mutterleib begonnen. Dort hat er ihren Pulsschlag gehört und gefühlt, wurde von ihrem Blutkreislauf durchströmt und konnte gar nicht anders als im gegenseitigen Reagieren die Wärme und das Strömen spüren, den Austausch, der ihm gezeigt hat, dass zu seinem Wesen, zu seiner Existenz das „Umschwebtsein“ gehört. Deshalb ist der Mensch von seiner Urerfahrung her gesehen nicht bloß Lebewesen, sondern vielmehr zunächst einmal im Urozean des Mutterleibes ein „Schwebewesen“