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Zwei Stellvertreter Gottes standen dem Faschismus gegenüber: Der eine Papst, Pius XII., schwieg öffentlich zum Holocaust. Sein Vorgänger, Pius XI. (1922-1939), galt als wahrer Stellvertreter Christi, der auf der Seite der verfolgten Juden stand und Hitler durch die Enzyklika ›Mit brennender Sorge‹ in seine Schranken verwies. In der packenden Geschichte über die Geheimbeziehungen des Vatikan zur faschistischen Führung wird deutlich, dass sich Mussolini und Pius XI. zwar hassten, sich aus Gründen des Machterhalts aber dennoch stützten. Der ungebildete, ungläubige Duce und der gottesfürchtige Kleriker schlossen einen verhängnisvollen Pakt. Erst mit Einführung der Rassengesetze 1938 und der immer größer werdenden Nähe zu Nazi-Deutschland dämmerte es Pius XI., mit wem er da paktiert hatte. Als er starb, konnte sein Nachfolger Eugenio Pacelli diesen Pakt fortsetzen. David Kertzers bahnbrechende Arbeit, die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, enthüllt das ganze Ausmaß der faschistischen Verstrickung.
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Seitenzahl: 943
Bild 1: Papst Pius XI. und Benito Mussolini.
David I. Kertzer
Pius XI.und der geheime Paktmit dem Faschismus
Aus dem Englischenübersetzt von Martin Richter
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Für die englischsprachige Originalausgabe:Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel „The Pope and Mussolini –The Secret History of Pius XI and the Rise of Fascism in Europe“ bei RandomHouse. Published in the United States by Random House, an imprint of The RandomHouse Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York.Copyright © 2014 by David I. KertzerMaps copyright © 2014 by Laura Hartman Maestro
Für die deutschsprachige Ausgabe:Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG.© 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Übersetzung: Martin RichterFachlektorat: Elisabeth RichterSatz: primustype Hurler Gmbh, NotzingenEinbandabbildung: © Jochen Helle, akg-images/Bildarchiv MonheimAutorenfoto: © Rene PerezEinbandgestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-3382-7
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-8062-3427-5eBook (epub): 978-3-8062-3428-2
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Für die drei BärenSam, Jack und Charlienipotini straordinarivon ihrer Zaide
Vorwort
Prolog
Teil 1 Der Papst und der Diktator
Kapitel 1 Ein neuer Papst
Kapitel 2 Der Marsch auf Rom
Kapitel 3 Die tödliche Umarmung
Kapitel 4 Zum Befehlen geboren
Kapitel 5 Rückkehr aus dem Grab
Kapitel 6 Die Diktatur
Kapitel 7 Attentäter, Päderasten und Spitzel
Kapitel 8 Der Pakt
Teil 2 Gemeinsame Feinde
Kapitel 9 Der Erlöser
Kapitel 10 Wie man eine Artischocke isst
Kapitel 11 Die Rückkehr des verlorenen Sohnes
Kapitel 12 Kardinal Pacelli hält durch
Kapitel 13 Mussolini hat immer Recht
Kapitel 14 Der protestantische Feind und die Juden
Kapitel 15 Hitler, Mussolini und der Papst
Kapitel 16 Grenzüberschreitungen
Kapitel 17 Gemeinsame Feinde
Kapitel 18 Träume vom Ruhm
Teil 3 Mussolini, Hitler und die Juden
Kapitel 19 Attacken auf Hitler
Kapitel 20 Viva Il Duce!
Kapitel 21 Hitler in Rom
Kapitel 22 Eine überraschende Mission
Kapitel 23 Der geheime Handel
Kapitel 24 Die Rassengesetze
Kapitel 25 Die letzte Schlacht
Kapitel 26 Vertrauen zum König
Kapitel 27 Ein willkommener Tod
Kapitel 28 Der Himmel hellt sich auf
Kapitel 29 Der Weg in die Katastrophe
Epilog
Nachwort
Danksagung
Nachweise
Archivquellen und Abkürzungen
Publikationen
Organisationen
Anmerkungen
Bibliographie
Bildnachweis
Register
Wichtige Personen
„Stellvertreter Jesu Christi auf Erden“ – so lautet der wichtigste Titel des Papstes. Daraus leitet sich ein ungeheurer Anspruch ab, der nicht nur Unfehlbarkeit und universalen Primat umfasst, sondern bis ins Jenseits reicht: Was der Papst auf Erden bindet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was er hier löst, wird auch dort gelöst sein (Mt 16,19). So ist aber auch das Kriterium, nach dem das Reden und Handeln eines Papstes gemessen wird, kein geringeres als das Reden und Handeln Jesu Christi selbst. Die Seligpreisungen der Bergpredigt und im Extremfall Jesu Tod am Kreuz sind der Maßstab für den, der Stellvertreter Jesu sein will.
Nicht wenige Päpste wurden an diesem Maßstab gemessen – und für zu leicht befunden. Dies gilt in besonderer Weise für Pius XII. (1939–1958), der zur Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden geschwiegen hat, wo er als Anwalt der Menschenwürde hätte schreien müssen, der zugesehen hat, wie Juden in die Vernichtungslager transportiert wurden, anstatt sich den Judenstern an die Soutane zu heften und stellvertretend nach Auschwitz in den Tod zu gehen. So lautet zumindest der Vorwurf, den Rolf Hochhuth Pius XII. in seinem Theaterstück „Der Stellvertreter“ gemacht hat. Ein Vorwurf, der bis heute nicht verstummt ist.
Der Vorgänger dieses Papstes, Pius XI. (1922–1939), galt nicht nur Hochhuth, sondern auch zahlreichen Historikern bisher als Antipode, als wahrer Stellvertreter Christi, der auf der Seite der verfolgten Juden stand, Hitler durch die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ in seine Schranken verwies und eine Enzyklika gegen den Antisemitismus in Auftrag gab.
Nach der Lektüre von David Kertzers exzellent geschriebenem Buch wird man dieses Geschichtsbild revidieren müssen. Denn: Ohne Römische Kurie kein Faschismus, ohne Achille Ratti kein Benito Mussolini, ohne Pius XI. kein Duce – so kann man die Kernthese auf den Punkt bringen, auch wenn Kertzer sie nur implizit andeutet.
Kertzer schreibt im Grunde eine Parallelbiographie Mussolinis und Pius’ XI., auf breitester Quellenbasis und in stupender Kenntnis der Forschungsliteratur. Mussolini und Ratti waren beide Aufsteiger, beide standen für totalitäre Konzepte, der eine im Staat, der andere in der Kirche, beide lehnten Demokratie ab, verlangten unbedingten Gehorsam, hatten keine wirklichen Freunde, zeigten eine judenfeindliche Grundeinstellung. Ratti wollte einen katholischen, Mussolini einen faschistischen Staat, gemeinsam bekamen sie einen klerikal-faschistischen. Beide kamen 1922 an die Macht und stabilisierten ihre Herrschaft gegenseitig. Der Papst räumte Mussolinis politische Gegner, insbesondere die katholische Volkspartei, aus dem Weg, Mussolini überschüttete die katholische Kirche mit Geld und Privilegien. 1929 kam es schließlich zu den Lateranverträgen. Was mit demokratischen Regierungen nicht möglich war, funktionierte mit dem Faschismus: Nach fünf Jahrzehnten war die „Römische Frage“ endlich gelöst.
Zu spät erkannte Pius XI. seinen Fehler. Nach den italienischen Rassegesetzen versuchte der Papst endlich etwas für die verfolgten Juden zu tun, aus dem Antijudaisten wurde ein „geistlicher Semit“. Aber es war zu spät. Er wurde – wie Kertzer überzeugend darlegt – von Mussolini und Pacelli gebremst. Pius XI. war – folgt man Kertzer – der erste Stellvertreter, der den Faschismus und damit vielleicht auch den Nationalsozialismus überhaupt erst möglich machte. Aus der einstigen Lichtgestalt wird ein, wenn auch tragischer, Dunkelmann.
Seine weitreichenden Thesen kann Kertzer breit belegen. Wer sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Für Kirchenhistoriker und interessierte Katholiken ist es ohnehin eine Pflichtlektüre, denn es stellt die Frage nach der Schuld der Kirche, die Johannes Paul II. im Heiligen Jahr 2000 aufgeworfen hat, noch einmal neu. Der Papst verlangte damals Antworten von den Historikern – Kertzer gibt eine. Nicht nur auf die wissenschaftliche Diskussion, die dieses Buch auslösen wird, darf man gespannt sein. Die Pflicht zur Lektüre wird zum Vergnügen, weil Kertzer in bester angelsächsischer Tradition einfach gut schreibt, Spannendes zu erzählen hat und die deutsche Übersetzung sehr gelungen ist. Ein Buch, das den Pulitzer-Preis voll und ganz verdient hat.
Münster, im Sommer 2016
Prof. Dr. Hubert Wolf
Papst Pius XI. bat Gott, ihm noch einige Lebenstage zu vergönnen. Er war krank, alt und hatte im Vorjahr nur knapp einen Kreislaufkollaps überlebt. In seiner weißen Soutane saß er am Schreibtisch des Arbeitszimmers im dritten Stockwerk des Vatikans. An der Wand daneben lehnte ein Gehstock. Kompass und Barometer von seinen Bergtouren auf die höchsten Alpengipfel Italiens lagen verrostet auf einer Seite des Tisches und erinnerten an längst vergangene Tage. Eine alte Stimmgabel ruhte seit Jahren unbeachtet in der Schublade. Voller Stolz auf seine Singstimme und darauf bedacht, nicht das musikalische Gehör zu verlieren, hatte er geübt, sobald sich die Gelegenheit bot, aber nur dann, wenn er sich unbelauscht fühlte. Als er nun sein Ende nahen fühlte, öffnete er jede Schublade und überzeugte sich, dass seine Papiere in Ordnung waren.
Jahrelang hatte der Papst sich guter Gesundheit erfreut, und Beobachter hatten über sein strapaziöses Pensum gestaunt. Er hatte darauf bestanden, die vatikanischen Angelegenheiten in allen Einzelheiten zu kennen und alles einigermaßen Wichtige selbst zu entscheiden. Nun war jeder Tag eine Prüfung und jeder Schritt schmerzhaft. Nachts fand er keinen Schlaf, die Krampfadern in den Beinen pochten, sein Asthma machte das Atmen zur Qual, doch am schlimmsten war das Gefühl, irgendetwas sei schrecklich fehlgeschlagen.
Bei Tag fiel das Licht vom Petersplatz durch die drei Fenster des Arbeitszimmers. Doch nun war es Nacht, und die kleine Schreibtischlampe warf einen gelblichen Schein auf die Blätter vor ihm. Der Herr hatte ihn aus einem bestimmten Grund am Leben erhalten, dachte er. Er war Gottes Stellvertreter auf Erden und konnte nicht sterben, bevor er gesagt hatte, was gesagt werden musste.
Der Papst hatte alle italienischen Bischöfe nach Rom geladen, um ihnen seine letzte Botschaft mitzuteilen. Die Versammlung sollte in eineinhalb Wochen, am 11. Februar 1939, im Petersdom stattfinden und das zehnjährige Jubiläum der Lateranverträge begehen. Diese historische Übereinkunft hatte Pius XI. mit Italiens Diktator Mussolini geschlossen, um Jahrzehnte der Feindschaft zwischen Italien und der römisch-katholischen Kirche zu beenden. Das Abkommen hatte die Trennung von Kirche und Staat beendet, die das moderne Italien seit seiner Gründung vor 68 Jahren geprägt hatte. Ein neues Zeitalter begann, in dem die Kirche ein bereitwilliger Partner von Mussolinis faschistischer Regierung geworden war.
17 Jahre zuvor war der gerade zum Kardinal ernannte Achille Ratti 1922 überraschend Nachfolger von Papst Benedikt XV. geworden. Er wählte den Namen Pius XI. Noch im selben Jahr wurde Benito Mussolini, der 39 Jahre alte Parteichef der Faschisten, Ministerpräsident Italiens. Seitdem waren die beiden Männer politisch voneinander abhängig geworden. Der Diktator brauchte den Papst, um die katholische Unterstützung zu bekommen, die seinem Regime eine dringend notwendige moralische Legitimität verlieh. Der Papst zählte auf Mussolinis Hilfe, um die Macht der Kirche in Italien wiederherzustellen. Als Pius nun mit dem Federhalter in der Hand an diese Jahre zurückdachte, bedauerte er das zutiefst. Er hatte sich in die Irre führen lassen. Mussolini hielt sich anscheinend selbst für einen Gott und hatte sich mit Hitler verbündet, den der Papst verabscheute, weil er die katholische Kirche in Deutschland geschwächt hatte und eine heidnische Religion eigener Prägung förderte. Die schmerzhafte Szene vom letzten Frühjahr suchte ihn heim: Als der deutsche Führer im Triumph durch die historischen Straßen zog, war Rom in ein Meer rotschwarzer Nazifahnen getaucht gewesen.
Zwei Monate nach Hitlers Staatsbesuch schockierte Mussolini die Welt damit, dass er die Italiener zu einer reinen, überlegenen Rasse erklärte. Obwohl Juden seit der Zeit Jesu in Rom lebten, galten sie nun offiziell als schädliches, fremdes Volk. Der Papst war entsetzt. Warum ahmte der italienische Staatschef so eifrig den Führer nach?, fragte er in einer öffentlichen Audienz. Die Frage versetzte Mussolini in Wut, denn nichts ärgerte ihn mehr, als eine Marionette Hitlers genannt zu werden. Eilig glätteten die Männer aus der engsten Umgebung des Papstes die Wogen. Sie fürchteten die vielen Privilegien zu verlieren, die Mussolini der Kirche verliehen hatte, und zogen ohnehin autoritäre Regimes den Demokratien vor. In ihren Augen wurde der Papst im Alter unbesonnen. Er hatte schon die NS-Führung verstimmt; nun sorgten sie sich, er gefährde die Bindungen des Vatikans an das faschistische Regime.
In seinem Hauptquartier auf der anderen Seite des Tiber wetterte Mussolini gegen den Papst. Wenn die Italiener noch zur Messe gingen, dann nur, weil er sie dazu aufgefordert hatte. Ohne ihn würden Kirchenfeinde durch die Straßen Italiens ziehen, Kirchen plündern und den sich ängstlich duckenden Priestern Rizinusöl einflößen. Wenn in jedem Klassenzimmer und jedem Gerichtssaal ein Kruzifix an der Wand hing, wenn Priester in allen staatlichen Schulen lehren durften, dann nur, weil der Duce es befohlen hatte. Wenn der Staat großzügige Mittel für die Kirche aufwandte, geschah das durch seinen Willen, um eine für beide Seiten vorteilhafte Verständigung zwischen seiner faschistischen Regierung und dem Vatikan zu schaffen.
In der Nacht des 31. Januar wie auch in der Nacht davor blieb Pius lange auf, um seine Bemerkungen für die Bischofsversammlung aufzuschreiben. Der ehemals kerngesunde „Bergsteigerpapst“ mit dem breiten Brustkasten war abgemagert, sein früher volles Gesicht faltig und eingefallen. Doch alle, die ihn sahen, bemerkten seine Entschlossenheit, diese Ansprache zu halten. Er wollte nicht sterben, bevor er die Bischöfe gewarnt hatte, dass es überall faschistische Spione gab, auch in der Kirche. Es würde seine letzte Chance sein, Mussolinis Übernahme der rassistischen NS-Ideologie zu geißeln.
In der Woche, die bis zur Ansprache blieb, schmolzen aber die letzten Kraftreserven des Papstes dahin. Er konnte nicht mehr stehen und legte sich ins Bett. Eugenio Kardinal Pacelli, als Kardinalstaatssekretär der zweitmächtigste Mann im Vatikan, bat ihn, die Versammlung zu verschieben. Der Papst wollte nichts davon hören und ließ die vatikanische Tageszeitung schreiben, er erfreue sich guter Gesundheit. Als er am 8. Februar befürchtete, nicht stark genug zu sein, um in drei Tagen seine Ansprache zu halten, ließ er von der Vatikanischen Druckerei ein Exemplar für jeden Bischof drucken. In der Nacht darauf verschlechterte sich sein Zustand, und am frühen Morgen des 10. Februar atmete er nur noch mit Mühe. Man setzte ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht und bemühte sich, das weiße Käppchen nicht zu verschieben. Um vier Uhr morgens weckte man Kardinal Pacelli. Er eilte ans Bett des Papstes und fiel auf die Knie, um zu beten. Seine Augen röteten sich von Tränen.
Auf seinem einfachen Eisenbett tat Pius XI., der rapide schwächer wurde, bald seinen letzten schwachen Atemzug. Gott hatte seine letzte Bitte nicht erhört. Die Bischöfe würden ihn nicht im Petersdom sehen, sondern in der nahen Sixtinischen Kapelle, wo sein abgemagerter Leichnam am Nachmittag des 10. Februar auf einem Katafalk aufgebahrt wurde. Wer ihn in seiner Blütezeit erlebt hatte, erkannte ihn kaum noch. Es war, als läge jemand anders in der weißen Seidensoutane und der roten, hermelingesäumten Kappe des Papstes unter Michelangelos Deckenfresko.
Auf der anderen Seite des Tiber nahm Mussolini die Nachricht vom Tod des Papstes mit einem erleichterten Grunzen auf und hoffte, die Trauerfeier werde nicht das nächste Rendezvous mit seiner grünäugigen jungen Geliebten Clara Petacci verhindern. Doch eine letzte Sorge blieb. Im Lauf der Jahre hatte er ein dichtes Netz von Spionen im Vatikan installiert und las ihre Berichte aufmerksam. Vor kurzem hatte man ihn gewarnt, der Papst wolle eine aufrührerische Ansprache zum Jubiläum halten, die seine antisemitische Kampagne und die immer engeren Bindungen an Hitler verurteilte. Mussolini befürchtete, wenn der Text nun bekannt würde, könnte er immer noch als eine prophetische Botschaft des Papstes aus dem Grabe Schaden anrichten.
Es gab aber einen Mann, von dem der Diktator sich Hilfe versprach. Er nahm Kontakt zu Kardinal Pacelli auf, der in seiner Rolle als Camerlengo nun über Pius’ gesamten Nachlass bestimmte, einschließlich der handschriftlichen Aufzeichnungen auf seinem Schreibtisch und des Stapels frisch gedruckter Broschüren, die darauf warteten, an die Bischöfe verteilt zu werden. Mussolini wollte, dass alle Exemplare der Ansprache vernichtet würden.
Er vermutete nicht zu Unrecht, dass Pacelli sich nicht sträuben würde. Der Kardinal entstammte einer vornehmen römischen Familie, die seit Generationen in engem Verhältnis zu den Päpsten stand, und hatte in den letzten Monaten in der Furcht gelebt, der Papst könne sich gegen Mussolini stellen. Zu viel stand auf dem Spiel. Er verdankte dem Papst, der ihn zum Kardinalstaatssekretär gemacht und stark gefördert hatte, zwar sehr viel, empfand aber eine noch größere Verantwortung für den Schutz der Kirche. Er ließ den Schreibtisch des Papstes räumen und die gedruckten Exemplare der Ansprache beschlagnahmen.
Drei Wochen später wartete eine große Menschenmenge ungeduldig auf dem Petersplatz, während die Kardinäle im Konklave berieten. Als der dünne weiße Rauch über dem Apostolischen Palast aufstieg, erhob sich Jubel. „Habemus papam“, verkündete der Kardinalprotodiakon vom Balkon über dem Hauptportal des Petersdoms. Bald trat eine große, dünne Gestalt mit Brille in dem weißen Papstgewand und mit einer juwelenbesetzten Tiara heraus, um das Volk zu segnen. Eugenio Pacelli würde zu Ehren des Mannes, an dessen Totenbett er vor kurzem geweint hatte, den Namen Pius XII. annehmen.
Vor dem Tor des Vatikans hatte sich eine kleine Menge versammelt und applaudierte den schwarzen Limousinen, die langsam in das von der mittelalterlichen Mauer umschlossene Gebiet einfuhren. Als Zeichen des Dankes oder aus bloßer Gewohnheit hob jeder eintreffende Kardinal vom Rücksitz aus die Hand zum kirchlichen Segen. Auf beiden Seiten des Tores standen Schweizergardisten in ihren buntscheckigen Uniformen und legten die weiß behandschuhte Hand zum Gruß an den glänzenden Helm. Wenig später, nachdem jeder Kardinal sein Zimmer im Apostolischen Palast bezogen hatte, eilten sechs Würdenträger mit Glocken durch die langen, kalten Korridore und läuteten. Als der letzte Außenstehende hinausging, rief jemand „Extra omnesl“. Der Zeremonienmeister des Konklaves aus der Adelsfamilie der Chigi verschloss die schwere Tür von außen mit einem massiven alten Schlüssel. Camerlengo Pietro Gasparri verschloss sie von innen. Die Fenster wurden versiegelt. Es war Donnerstag, der 2. Februar 1922. Bis zur Wahl eines neuen Papstes sollten die Türen sich nicht wieder öffnen.
Nur zwei Wochen zuvor hatte ein hartnäckiger Husten Papst Benedikt XV. zu plagen begonnen. Obwohl er ein kleiner, zerbrechlicher Mann war, der seit seiner Kindheit hinkte – böse Zungen im Vatikan nannten ihn „den Kleinen“ –, war er noch nicht alt und hatte sich in seinen sieben Jahren auf dem Thron Petri guter Gesundheit erfreut. Doch was als Bronchitis begann, wurde rasch zu einer Lungenentzündung, und der 68 Jahre alte Benedikt empfing am 20. Januar die Sterbesakramente. Am Nachmittag des nächsten Tages verlor er auf seinem einfachen Eisenbett das Bewusstsein. Am Morgen des 22. Januar war er tot.1
Giacomo della Chiesa war eine ungewöhnliche Wahl gewesen, als der leutselige, aber herrische Pius X. 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs gestorben war. Als sich die 52 Kardinäle Ende August des Jahres versammelten, um seinen Nachfolger zu wählen, war della Chiesa erst seit drei Monaten Kardinal. Er stammte aus einer adligen, aber keineswegs reichen Familie und wurde wegen seiner Intelligenz und seines Urteilsvermögens geschätzt, wirkte aber nicht wie ein Papst. Seine würdevolle Haltung und seine vornehmen Manieren kontrastierten mit seiner geringen Größe, der bleichen Gesichtsfarbe, dem undurchdringlichen schwarzen Haar und den hervorstehenden Zähnen. Alles an ihm wirkte ein wenig schief, von Nase, Mund und Augen bis zu den Schultern.2
Als junger Priester arbeitete della Chiesa im Vatikanischen Staatssekretariat, das für die Beziehungen des Heiligen Stuhls zu den Regierungen auf der ganzen Welt zuständig ist. Dort stieg er auf, bis er 1913 Erzbischof von Bologna wurde.
Manche glaubten, della Chiesas Versetzung aus dem Vatikan sei das Werk von Rafael Kardinal Merry del Val gewesen, Kardinalstaatssekretär unter Pius X. und sein wichtigster Verbündeter im Kreuzzug zur Ausrottung jedes Anzeichens von „Modernismus“ in der Priesterschaft. Pius X. befürchtete, dass moderne Ideen die jahrhundertealten Lehren der Kirche verdrängten. Besonders schädlich galten ihm der Glaube an die Rechte des Einzelnen und die Religionsfreiheit, dazu häretische Ideen wie die Trennung von Kirche und Staat und die Vereinbarkeit des Glaubens mit den Lehren der Wissenschaft. Da er della Chiesa für zu moderat hielt, wollte Merry del Val ihn aus dem Machtzentrum der Kirche entfernen.3
Beim zehnten Wahlgang erreichte della Chiesa ganz knapp die notwendige Zweidrittelmehrheit. Einer von Merry del Vals konservativen Mitstreitern, Gaetano Kardinal De Lai, demütigte den neuen Papst durch die Forderung nach einer Neuauszählung, um sicher zu gehen, dass er nicht für sich selbst gestimmt hatte.
Pius X. war zu einem für Italiener beängstigenden Zeitpunkt gestorben, aber der Tod seines Nachfolgers fiel 1922 in noch unruhigere Zeiten. Viele fürchteten, jederzeit könne die Revolution ausbrechen, obwohl man uneins war, ob Sozialisten oder Faschisten sie auslösen würden. Der Erste Weltkrieg, von dem sich die Elite eine verstärkte Einigung der hoffnungslos gespaltenen Italiener und stärkere Unterstützung für die Regierung erhofft hatte, hatte keines von beidem bewirkt. Über eine halbe Million Italiener waren gefallen, und noch mehr kehrten verwundet heim. Eine demobilisierte Armee fand bei ihrer Rückkehr nur wenige Arbeitsplätze vor. Die politischen Führer des Landes schienen unfähig, einen Weg aus der Krise zu finden.
Die Sozialisten, deren Zahl seit Jahrzehnten gewachsen war, hatten gehofft, auf der Welle des Volkszorns an die Macht zu kommen. Arbeiter besetzten Fabriken in Turin, Mailand und Genua. Landarbeiter streikten und bedrohten die alte ländliche Grundbesitzerklasse. Nur zwei Jahre zuvor hatte 1917 eine kommunistische Revolution die Bolschewiki in Russland an die Macht gebracht und die alte zaristische Ordnung zerstört. Von ihrem Beispiel befeuert, träumten Protestierende in Italien von einer Zukunft, in der Arbeiter und Bauern herrschen würden.4
Doch die Sozialisten waren selbst gewaltsam bedroht. Kurz nach dem Krieg gründete der 39 Jahre alte Benito Mussolini, früher einer der prominentesten Sozialisten des Landes, eine neue faschistische Bewegung. Sie wurde vor allem von enttäuschten Kriegsveteranen getragen. Bald entstanden in den Städten ganz Italiens faschistische Gruppen. Ihre ersten Rekruten stammten wie Mussolini von der Linken und teilten seinen Hass auf die Kirche und die Priester. Mussolini wechselte aber rasch von der Beschimpfung der Priester und kapitalistischen Kriegsgewinnler zur Verurteilung der Sozialisten, die sich gegen Italiens Kriegseintritt gestellt hatten. Nun schlossen sich auch Menschen von der extremen Rechten an.
Vor ihren Hauptquartieren in den Städten Nord- und Mittelitaliens zwängten sich Faschisten in schwarzen Hemden in Autos und marodierten durchs Land, wo sie Gewerkschaftssäle, Versammlungsräume der Sozialisten und die Redaktionen linker Zeitungen niederbrannten. Mussolini übte wenig direkte Kontrolle über diese squadristi aus, die unter der Leitung örtlicher Faschistenchefs, der sogenannten ras’, standen. Ab 1919 attackierten diese Banden drei Jahre lang immer häufiger und in immer größerem Ausmaß sozialistische Amtsträger und Aktivisten, schlugen sie zusammen und flößten ihnen Rizinusöl ein. Die squadristi empfanden sadistische Freude beim Verabreichen dieses Öls, das nicht nur Ekel, sondern auch demütigenden, unbeherrschbaren Durchfall erzeugte. Sozialistische Bürgermeister und Ratsmitglieder flohen in Panik und ließen einen großen Teil Italiens unter der Kontrolle faschistischer Schläger.5
Diese „Strafexpeditionen“ richteten sich auch gegen Mitglieder der katholischen politischen Partei Italiens. Der Partito Popolare Italiano (Italienische Volkspartei) war ein Versuch der Katholiken, sich politischen Einfluss zu verschaffen. Dass der Vatikan sich positiv zur Bildung einer solchen Partei in Italien stellte, war eine neue Entwicklung. 1861 hatte Vittorio Emanuele II., König von Savoyen in Nordwestitalien mit der Hauptstadt Turin, nach dem Anschluss eines Großteils der Apenninhalbinsel ein neues Königreich Italien ausgerufen. Zu den Territorien, die er durch eine Mischung aus Rebellion und Eroberung erwarb, gehörten auch die meisten Gebiete, die seit Langem von den Päpsten regiert wurden. Nur Rom und sein Hinterland blieben Teil des Kirchenstaats. Dann nahm eine italienische Armee 1870 auch Rom ein und erklärte es zur Hauptstadt der neuen Nation. Papst Pius IX. zog sich in den Vatikan zurück und schwor, seine Mauern nicht mehr zu verlassen, bis der Kirchenstaat wiederhergestellt sei.
Der Papst exkommunizierte den König und verbot es Katholiken, zu wählen oder sich selbst ins Parlament wählen zu lassen; er hoffte auch auf internationale Unterstützung, um Rom wieder unter päpstliche Herrschaft zu stellen. Doch je weiter das 19. Jahrhundert voranschritt, desto unwahrscheinlicher erschien diese Aussicht. Unterdessen entstand eine neue Bedrohung durch den raschen Aufstieg der sozialistischen Bewegung. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Pius IX. und seine Nachfolger regelmäßig den Sozialismus verurteilt. In seiner berühmten Enzyklika Rerum novarum hatte Leo XII. 1891 den Sozialisten vorgeworfen, dass „sie die Besitzlosen gegen die Reichen aufstacheln.“6 Er verwarf ihre Forderung nach Abschaffung des Privateigentums. Als das neue Jahrhundert begann, hatte der Vatikan klargemacht, dass der Sozialismus einer der gefährlichsten Feinde der Kirche sei.
Mit der Ausweitung des italienischen Wahlrechts zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Wahlverbot des Vatikans unhaltbar. Wenn die Kirche nichts tat, würden wahrscheinlich die Sozialisten an die Macht kommen. Im November 1918 traf der sizilianische Priester Luigi Sturzo mit Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri zusammen, um seine Pläne für eine katholische Partei zu besprechen, die Italienische Volkspartei heißen sollte. Sie sollte eine progressive Plattform bieten, um Bauern und Arbeiter von den Sozialisten wegzulocken. Wenige Monate später wurde sie mit dem Segen Benedikts XV. offiziell gegründet. 1922 war sie eine der größten Parteien Italiens geworden.7
Das Konklave dieses Jahres wurde zum Duell zweier Fraktionen. Auf der einen Seite standen jene Kardinäle, die man die zelanti (Eiferer) nannte. Sie blickten nostalgisch zu den Tagen Pius X. zurück und wollten den Kreuzzug der Kirche gegen die Übel des modernen Zeitalters wieder aufnehmen. Auf der anderen Seite hofften die politicanti genannten Gemäßigten, den weniger extremen Kurs und die offenere Politik Benedikt XV. fortzusetzen. Die zelanti wurden vom Kardinalstaatssekretär Pius X., Rafael Merry del Val, angeführt. Die Gemäßigten unterstützten Benedikts Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri. Das Konklave versprach eine epische Schlacht um den Kurs der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert zu werden, deren Spannung durch den unsicheren Ausgang noch gesteigert wurde. Es war zweifelhaft, ob eine Fraktion die nötige Zweidrittelmehrheit gewinnen könne, und es gab keinen offensichtlichen Kompromisskandidaten.8
Wenn Kardinal Gasparri manchmal il pecoraio, der Schäfer, genannt wurde, geschah das nicht im pastoralen Sinne. Der zur Zeit des Konklaves 69 Jahre alte Mann entstammte einer Bauernfamilie aus einem kleinen Schafzüchterdorf im Apenningebirge in Mittelitalien. Sein Spitzname – auf den er stolz war – trug im Italienischen die Konnotation eines Bauerntölpels, eines Emporkömmlings unter den weltgewandten Angehörigen der vatikanischen Hierarchie. Als Kind folgte seine Familie ihrer Herde jeden Frühling in die Berge und kehrte im Herbst ins Tal zurück, wo Pietro zum Unterricht beim Gemeindepriester geschickt wurde. Der aufgeweckte Junge kam danach aufs Priesterseminar, doch im Gegensatz zu vielen Mitgliedern des hohen diplomatischen Dienstes des Vatikans besuchte er nicht die prestigereiche Päpstliche Diplomatenakademie, die traditionell die Söhne des Adels anzog.
Gasparri wuchs zu einem kleinen, rundlichen Mann heran, einem Priester, dessen Füße sich beim Gehen nie vom Boden zu heben schienen. Seine Kleidung „zeigte eine ungewöhnliche Gleichgültigkeit gegenüber der Sauberkeit.“ Doch er war beim diplomatischen Korps beliebt und machte durch Leutseligkeit wett, was ihm an Schliff fehlte. Er gestikulierte ausladend, seine Augen funkelten, und er lachte häufig. Ständig musste er sich das rote Käppchen zurechtrücken. Gasparri war stolz auf die Gerissenheit, Intuition, Hartnäckigkeit und Fähigkeit zu harter Arbeit eines Bergbauern, und andere sahen ihn ebenso. „Seine schwarzen, intelligenten Augen verrieten seine Schlauheit“, hielt ein Beobachter fest.9
Am Abend des 2. Februar 1922 begann das Konklave in der Sixtinischen Kapelle; jeder der 53 Kardinäle erhielt einen Platz an einem eigenen Tischchen. Unter den Abwesenden waren zwei Kardinäle aus den USA, deren Schiff sich noch auf dem Atlantik befand. Die 31 Italiener bildeten die Mehrheit, und nur starke italienische Unterstützung konnte einem Kandidaten zur Wahl verhelfen. Auf dem Altar an der Stirnseite der Kapelle standen ein großes Kruzifix und sechs brennende Kerzen. Bei jedem Wahlgang traten die Kardinäle in der Reihenfolge ihres Ranges zum Altar. Am Fuß des Altars kniete jeder nieder, betete kurz und sprach einen lateinischen Eid, den Mann zu wählen, der nach Gottes Willen für das Amt bestimmt war. Er warf seinen gefalteten Wahlzettel ein und senkte dann das Haupt vor dem Kreuz, bevor er zu seinem Platz zurückkehrte.
Jeden Vormittag und jeden Nachmittag wurden zwei Wahlgänge abgehalten. Drei durch das Los bestimmte Kardinäle zählten die Stimmen aus. Im Lauf der kommenden Tage wiederholte sich die würdevolle Zeremonie vierzehn Mal und wurde nur einmal unterbrochen, als ein Dominikanerkardinal beim Aufstehen gegen sein Tischchen stieß und sich ein Tintenfläschchen über seine weiße Soutane ergoss.10
Zwölf Kardinäle bekamen Stimmen. Am zweiten Tag erreichte Merry del Val seinen größten Erfolg mit 17 Stimmen. Beim sechsten Wahlgang erhielt Gasparri 24 Stimmen, konnte die Zahl aber in den folgenden zwei Wahlgängen nicht steigern. Vor dem Vatikan warteten fromme und neugierige Römer voller Unruhe. „Nur eines ist sicher“, berichtete der französische Figaro, „niemand weiß irgendetwas.“11 Kardinal Gasparri lag in der Nacht nach dem achten Wahlgang schlaflos im Bett und wusste, dass er niemals Papst werden würde. Am nächsten Morgen, bevor der dritte Wahltag begann, besuchte er das jüngste Mitglied des Konklaves, Achille Ratti. Er sagte dem überraschten Ratti, der erst wenige Monate zuvor zum Kardinal ernannt worden war, er werde seine Unterstützer auffordern, ihre Stimmen auf ihn zu übertragen.
Achille Ratti war 1857 in der kleinen Stadt Desio in der streng katholischen Region Brianza nördlich von Mailand geboren worden, wo sein Vater eine Seidenfabrik leitete. Seine fromme Mutter war der Typ einer planvollen und einschüchternden Frau, die dazu geboren schien, etwas viel größeres als einen Haushalt zu leiten. In späteren Jahren sprach Ratti oft mit tiefer Zuneigung und Respekt von ihr, aber niemals von seinem Vater. Zur Zeit seiner Geburt gehörten Desio und Mailand zum Habsburgerreich, und Rattis frühste Erinnerung war, dass sein Vater ihm mit zwei Jahren erzählte, französische und savoyische Truppen kämpften in der Nähe gegen die Österreicher.12 Binnen weniger Wochen löste sich der Flickenteppich von Herzogtümern und Königreichen auf, aus dem Italien so lang bestanden hatte, und ein vereinigter italienischer Staat nahm Gestalt an.
Da es in Desio keine Schule gab, wurde Achille mit zehn Jahren zu seinem Onkel geschickt, dem Priester der kleinen Gemeinde Asso nahe dem Comer See. Die regelmäßigen Besuche von Priestern aus der Nachbarschaft brachten Geselligkeit in den Haushalt seines Onkels. Achille beschloss, ebenfalls Priester zu werden, und ging bald aufs Seminar. Jeden Sommer kam er zurück, aber nicht zu seinen Eltern, sondern zu seinem Onkel. Im Seminar herrschte äußerst strenge Disziplin. Gegenüber den Priestern galt unbedingter Gehorsam, und Regeln mussten in allen Einzelheiten befolgt werden. Der fleißige Junge störte sich nicht daran.13 Seine Kameraden nannten ihn den „kleinen alten Mann“, denn Achille blieb lieber mit seinen Gedanken allein, als mit den anderen zu spielen.14
1875 kam Ratti ins Seminar in Mailand, um sich auf das Priesteramt vorzubereiten. Er las unermüdlich, nicht nur die italienischen Klassiker wie Dante, sondern auch englische und amerikanische Literatur. Er empfand solches Mitgefühl für Jim, den Sklavenfreund von Mark Twains Huckleberry Finn, dass seine Klassenkameraden ihn l’africano nannten. Obwohl er den Spitznamen nicht lange behielt, war Achille erfreut darüber und sagte seinen Kameraden, er wolle eines Tages als Missionar nach Afrika gehen. Rattis Lieblingsautor war der große Mailänder Autor Alessandro Manzoni. Viele Jahre später, als er schon Papst war, betrat eines Tages der Zeremonienmeister sein Arbeitszimmer und kniete wie üblich nieder, um seine Anweisungen zu empfangen. Der Papst ging im Zimmer auf und ab, versunken in die laute Lektüre von Manzonis Verlobten. 20 Minuten vergingen, ehe er den knienden Geistlichen bemerkte. Der Papst entschuldigte sich für die Wartezeit, fügte aber lächelnd hinzu: „Diese Seiten verdienen es, auf den Knien angehört zu werden, Monsignore!“15
Nach vier Jahren in Mailand setzte Ratti seine Studien am kürzlich eröffneten Päpstlichen Lombardischen Priesterseminar in Rom fort. Rom hatte seit über einem Jahrtausend unter der Herrschaft der Päpste gestanden, aber neun Jahre zuvor war es von italienischen Truppen eingenommen worden und nun die Hauptstadt des neuen Italien.
Der 1,76 Meter große, breitbrüstige Ratti, dessen blondes Haar schon schütter wurde, trug bereits die Brille mit den runden Gläsern, die bald sein Erkennungszeichen werden sollte und ihm das Aussehen eines jungen Gelehrten verlieh. Im Dezember 1879 wurde er in der gewaltigen Lateranbasilika zum Priester geweiht und studierte weitere drei Jahre an der Gregoriana, wo die jesuitischen Lehrkräfte auf Latein dozierten.
1882 war Ratti wieder in Mailand und wurde bald am Priesterseminar der Stadt zum Professor für Homiletik (Predigtlehre) und Dogmatik ernannt. Trotz seines Titels war er nicht allzu eloquent. Er war so auf die Präzision seiner Aussagen bedacht, dass er bei der Suche nach den richtigen Worten schmerzhaft langsam sprach und sich ständig verbesserte, wenn er meinte, sich nicht genau genug ausgedrückt zu haben.16 Der wenig gesellige Ratti fühlte sich zwischen Büchern wohler als unter Menschen. Nach sechs Jahren als Professor wurde er Assistent an der Mailänder Ambrosiana-Bibliothek, deren unerreichte Manuskriptsammlung Schätze wie Leonardos Codex Atlanticus enthält. Er beherrschte nicht nur Latein, sondern auch Griechisch, Französisch und Deutsch.
Ratti war aber kein bloßer Bücherwurm. Als junger Mann in Mailand begeisterte er sich für das Bergsteigen und schloss sich dem örtlichen Zweig des italienischen Alpenvereins an. Jeden Winter studierte er mit seinem Bergsteigerfreund, einem anderen Priester, alles vorhandene Material über die Routen der Berge, die sie im nächsten Sommer besteigen wollten. Erfolg lag für ihn vor allem in der sorgfältigen Planung. Von 1885 bis 1911 machte er 100 Bergtouren, alle über 2500 Meter.17 Das Verspüren der kalten Luft, die Majestät der Alpengipfel und die Landschaft in den Tälern unter ihm zeigten ihm die Glorie von Gottes Schöpfung.18
Als der Präfekt der Ambrosiana 1907 starb, wurde der fünfzigjährige Ratti sein Nachfolger. Vier Jahre später beschloss der Direktor der Vatikanischen Bibliothek, es sei an der Zeit, einen Nachfolger für sich zu suchen. Als Direktor einer Bibliothek, deren Rang nur von der des Vatikans übertroffen wurde, war Achille Ratti keine überraschende Wahl. Die Mailänder Zeitung ergänzte die Meldung von der Ernennung mit einem Foto, das einen kahl werdenden Geistlichen zeigte, aber Rattis wichtigstes Erkennungszeichen blieb seine kleine runde Brille. Zusammen mit seinem ernsten Auftreten – manche würden es Melancholie nennen – verlieh sie ihm das Aussehen eines mürrischen Kirchenintellektuellen. Er zeigte jedoch väterliches Interesse für die Bibliotheksangestellten. Damit sie während des Ersten Weltkriegs ihre Familien ernähren konnten, erwirkte er bei Benedikt XV., dass der Innenhof der Vatikanischen Bibliothek als Gemüsegarten genutzt werden durfte. Wurde einer von ihnen krank, brachte er ihm persönlich Süßigkeiten oder eine Flasche guten Wein.19
Wäre Ratti vatikanischer Bibliothekar geblieben, wie er es erwartete, so wäre er 1922 niemals in der Position gewesen, Papst zu werden. Doch im März 1918 erhielt er eine überraschende Bitte: Benedikt XV. wollte ihn sofort als persönlichen Abgesandten nach Warschau schicken. Noch heute weiß man nicht, warum der Papst ihn für diese diffizile Aufgabe auswählte. Ratti besaß keine diplomatische Erfahrung und kein besonderes Wissen über Polen, doch als die Kardinäle der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten seine Ernennung diskutierten, nahmen sie seltsamerweise an, er spreche Polnisch.20 Mit 61 Jahren sah Ratti seiner Aufgabe voller Nervosität entgegen, reiste aber im Mai gehorsam ab. Man hatte ihm gesagt, er werde nur wenige Monate fort sein und solle einen Bericht für den Papst über die Lage in Polen anfertigen.
Als Ratti in Warschau eintraf, war das Blutbad des Ersten Weltkriegs kaum vorüber. Die Polen bereiteten die Wiedergeburt ihrer unabhängigen Nation vor, deren größter Teil über ein Jahrhundert lang von Russland beherrscht wurde, der Rest von Preußen bzw. dem Deutschen Reich und von Österreich. Rattis Aufgabe war delikat, denn die Grenzen des neuen polnischen Staates waren noch nicht festgelegt und es gab große Spannungen.
Bei seinen Reisen durchs Land war eines der Gefühle, das der vatikanische Bibliothekar am häufigsten von Geistlichen hörte, ihr Hass auf die Juden, die sie als Feinde des katholischen Polens ansahen. Während Italien nur einen winzigen jüdischen Bevölkerungsanteil von einem Zehntelprozent besaß, war in Polen ein Zehntel der Bevölkerung jüdisch. Ein Jahrzehnt zuvor hatte Ratti beim Mailänder Oberrabbiner Hebräischunterricht genommen, und die weitgehend assimilierte jüdische Bevölkerung der Stadt hatte ihm keine Sorgen bereitet.21 Doch obwohl sein persönliches Verhältnis zur kleinen jüdischen Gemeinde Mailands herzlich gewesen war, wusste er, dass der Vatikan die Juden viel negativer sah.
Die Geschichte der kirchlichen Dämonisierung der Juden ist alt und beginnt schon kurz nach dem Ursprung des Christentums als jüdischer Sekte. 1555 erließ Papst Paul IV. die Bulle Cum nimis absurdum, welche den Juden aller Länder unter seiner Herrschaft befahl, in Ghettos zu leben. Die Kontakte von Juden zu Christen sollten stark eingeschränkt werden, und sie durften nur die niedrigsten Berufe ausüben. Nach Ansicht des Papstes waren die Juden von Gott zu „ewiger Sklaverei“ verurteilt worden, weil sie die Lehren Christi abgelehnt und ihn gekreuzigt hatten. Erst 1870, als Rom durch italienische Truppen eingenommen wurde, durften die Juden das Ghetto der Stadt verlassen.22
In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte La Civiltà Cattolica, eine alle 14 Tage erscheinende und vom Vatikan beaufsichtigte Jesuitenzeitschrift, die Juden unbarmherzig attackiert. Die Zeitschrift wurde nicht von den katholischen Massen gelesen, für die sie zu hoch war, vielmehr vermittelte sie katholischen Meinungsführern, Zeitungsredakteuren und höheren Geistlichen die Sicht des Vatikans in aktuellen Fragen. Ein Mann in Achille Rattis Position an der Ambrosiana las jedes Heft gleich nach Erscheinen.
Einer der zahlreichen Angriffe lautete: „Die Juden sind ewig aufsässige Kinder, halsstarrig, schmutzig, Diebe, Lügner, Unwissende, Plagen und die Geißel aller in nah und fern. … Es gelang ihnen, sich in den Besitz … des ganzen öffentlichen Reichtums zu bringen … und fast ganz allein kontrollieren sie nicht nur das gesamte Geld …, sondern auch die Gesetze in jenen Ländern, wo man ihnen öffentliche Ämter erlaubte.“ Die vom Vatikan beaufsichtigte Zeitschrift betonte, die Kirche lehre seit Langem, man müsse die Juden von den Christen trennen, sonst würden sie die Christen zu ihren Sklaven machen: „Oh, wie stark ist Irrtum und Verblendung bei denen, die meinen, das Judentum sei bloß eine Religion … und nicht eine Rasse, ein Volk und eine Nation!“ Als schädlicher Fremdkörper, so die Zeitschrift, könnten Juden niemals dem Land, in dem sie lebten, treu sein, da sie planten, die Großzügigkeit derer auszunutzen, die ihnen leichtfertig gleiche Rechte gaben.23 Diese Kampagne nahm die Zeitschrift wenige Monate nach Rattis Wahl zum Papst in einer Artikelserie wieder auf, die den Juden die Russische Revolution zur Last legte und vor einer gewaltigen jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft warnte.24
Ratti war stark geprägt von einer Kirche, in der solche Meinungen über die Juden tief verwurzelt waren, und wurde so fast zwangsläufig von dem heftigen Antisemitismus beeinflusst, dem er in Polen begegnete. Die zahlreichen schriftlichen Berichte, die er von Mitgliedern der katholischen Elite Polens erhielt, zeigten ihm, wie sehr sie die jüdische Bedrohung beunruhigte. Juden wurde vorgeworfen, sie hätten sich im letzten Krieg auf die Seite der deutschen Invasoren geschlagen und trieben im ganzen Land Wucher durch Geldverleih. Besonderen Eindruck machte auf Ratti der Vorwurf, die Ausbreitung des Bolschewismus sei das Werk der Juden.25 Im Oktober 1918 sah er die Schuld für die jüngsten Unruhen in Polen bei „den extremistischen Parteien, die Unordnung schaffen wollen: Sozialanarchisten, Bolschewisten … und Juden.“26 Eine Pogromwelle in Polen führte zur Ermordung vieler Juden und dem Niederbrennen ihrer Häuser. Auf die Bitte Benedikts XV. – der antisemitischen Verschwörungstheorien weniger zuneigte als seine Vorgänger –, den Wahrheitsgehalt der Geschichten über diese Pogrome zu ermitteln, antwortete Ratti, das sei schwierig. Er betonte aber, die Juden seien ein gefährliches Element; die Polen seien zwar gute und treue Katholiken, aber er befürchtete, „dass sie in die Klauen jener bösen Einflüsse geraten könnten, die ihnen Fallen stellen und sie bedrohen.“ Ratti ließ keinen Zweifel daran, wer diese Feinde waren, und fügte hinzu: „Einer der übelsten und stärksten Einflüsse, die hier empfunden werden, vielleicht der stärkste und übelste, ist der Einfluss der Juden.“27
Im Herbst 1919 erkannte der Vatikan den neuen polnischen Staat offiziell an. Rattis Mission wurde verlängert, und er wurde zum päpstlichen Nuntius ernannt. Im folgenden Sommer stieß die Rote Armee nach einer Reihe von Schlachten mit polnischen Armeen im Baltikum und der Ukraine nach Polen vor und marschierte auf Warschau. Männer, Frauen und Kinder bewaffneten sich, um die Stadt zu verteidigen. Viele Ausländer flohen, aber Ratti hielt aus. Am 15. August warf eine polnische Gegenoffensive die bolschewistischen Truppen zurück, während die bewaffneten Einwohner nervös warteten. Für Ratti war dies ein traumatisches Erlebnis. Die Überzeugung, dass die westlichen Demokratien die kommunistische Bedrohung nicht verstanden, verließ ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr.28
1921 berief Benedikt XV. Ratti nach Italien zurück und ernannte ihn zum Erzbischof von Mailand. Da er nur wenig pastorale Erfahrung besaß und sein Leben lang Bibliothekar gewesen war, war Ratti eine überraschende Wahl, aber seine Kompetenz, seine Aufopferung für die Kirche und seine Selbstlosigkeit hatten Benedikt beeindruckt.29 Dass Ratti den größten Teil seines Lebens in Mailand verbracht hatte, spielte gewiss auch eine Rolle. Mit der Ernennung kam auch der Kardinalshut, der dem Oberhaupt der größten und reichsten Erzdiözese Italiens traditionell zustand.30
Als die zelanti im Verlauf des Konklaves merkten, dass weder Merry del Val noch ein anderer ihrer Kandidaten gewinnen würde, beschlossen auch sie, sich heimlich mit Achille Ratti zu treffen. Sie glaubten wohl, als jemand, der keiner der beiden Fraktionen angehörte, könne er ein erfolgreicher Kompromisskandidat sein. Außerdem meinten sie, jemand mit so wenig Erfahrung in der Kirchenhierarchie sei leichter zu beeinflussen, besonders wenn er seine Wahl ihrer Unterstützung verdankte. Gaetano Kardinal De Lai, der Sekretär der Bischofskongregation, trug Ratti im Namen der zwölf Kardinäle seiner Gruppe ein Angebot vor.
„Wir werden für Eure Eminenz stimmen, wenn Eure Eminenz verspricht, Kardinal Gasparri nicht zum Kardinalstaatssekretär zu machen“, sagte De Lai.
„Ich hoffe und bete, dass der Heilige Geist unter so vielen verdienten Kardinälen einen anderen auswählen wird“, antwortete Ratti. „Aber sollte ich gewählt werden, werde ich in der Tat Kardinal Gasparri zu meinem Kardinalstaatssekretär machen.“31 Ob Ratti das Gasparri bereits versprochen hatte, ist nicht sicher, aber wahrscheinlich. Mit seiner mangelnden Erfahrung in vatikanischen Angelegenheiten konnte er in jedem Fall den erfahrenen Diplomaten gut an seiner Seite gebrauchen. Vielleicht war er auch schlauer, als sie ihm zutrauten, und erkannte den Wert eines Kardinalstaatssekretärs, der ihn vor den Forderungen der zelanti abschirmen würde.
„Eure Eminenz würde einen schweren Fehler machen“, warnte Kardinal De Lai.
Bild 2: Achille Ratti, Erzbischof von Mailand.
„Ich fürchte, es wäre nicht der einzige Fehler, den ich machen würde, wenn ich auf dem Stuhl Petri sitze, aber sicher der erste.“
Beim zwölften Wahlgang, dem letzten des dritten Wahltages, erhielt der Mailänder Erzbischof 27 Stimmen.32 Am nächsten Morgen versammelten sich die Kardinäle erneut in der Sixtinischen Kapelle. Um zehn Uhr begannen sie mit dem dreizehnten Wahlgang, der wieder kein klares Ergebnis brachte. Doch beim nächsten Mal erreichte Achille Ratti die Zweidrittelmehrheit.
Die 52 Kardinäle standen in konzentrischen Kreisen um den Kardinal, der wie betäubt aufrecht auf seinem Stuhl saß, den Kopf gesenkt, als trügen seine Schultern eine neue Last. Der Kardinalprotodiakon stellte die obligatorische Frage mit einer Stimme, die auch die Schwerhörigsten verstehen konnten: „Nehmt Ihr die Wahl an, die Euch nach Kirchenrecht zum Pontifex Maximus beruft?“ Ratti antwortete nicht gleich, und einige Kardinäle wurden nervös. Nach ganzen zwei Minuten hob er den Kopf und antwortete auf Latein. Seine Stimme zitterte vor Bewegung. „Obwohl ich mir meiner Unwürdigkeit bewusst bin …“, begann er. Die Kardinäle wussten, dass sie einen neuen Papst hatten.33
Während all das geschah, fuhr im Bahnhof von Rom auf der anderen Tiberseite ein Zug aus Neapel ein, dem die beiden amerikanischen Kardinäle William O’Connell aus Boston und Dennis Dougherty aus Philadelphia entstiegen. Nach der langen Überfahrt auf der Woodrow Wilson waren sie von Neapel nach Rom geeilt, entdeckten aber zu ihrem Ärger, dass sie zu spät gekommen waren. O’Connell hatte besonderen Grund zum Missfallen, denn er verdankte seine Karriere zu einem Gutteil der Patronage durch Kardinal Merry del Val. Wären er und Dougherty dort gewesen, um ihn zu unterstützen, so wäre es vielleicht anders gekommen. Noch ärgerlicher war die Tatsache, dass es beim Tod Pius X. vor siebeneinhalb Jahren genauso gewesen war; man hatte den Amerikanern nicht genug Zeit gegeben, um nach Rom zu kommen. Auch damals war O’Connell erst eingetroffen, als der neue Papst schon gewählt war.34
Von der Sixtinischen Kapelle wurde Ratti in die nahe Sakristei geführt, wo er zum ersten Mal das weiße Gewand des Papstes anlegte. Für alle Fälle waren drei Gewänder bereitgelegt worden, ein kleines, ein mittleres und ein großes. Die mittlere Größe passte ihm perfekt. Er trug eine weiße Soutane, weiße Seidenstrümpfe und rote Samtpantoffeln, dazu einen roten, mit Hermelin gesäumten Samtumhang. Auf dem Kopf trug er über dem weißen Käppchen den roten camauro, eine Papstmütze mit weißem Pelzbesatz, die über die Ohren gezogen wurde. Als er in die Sixtinische Kapelle zurückkehrte und zum Thron vor dem Altar schritt, knieten die Kardinäle nieder. Dann kamen sie nacheinander zu ihm, küssten ihm den Fuß und baten um seinen Segen. Der Mann, der so gern auf Berge gestiegen war, würde nun die klaustrophobische Enge der vatikanischen Paläste nie mehr verlassen, falls er die Praxis seiner vier Vorgänger weiterführte.35
Die Welt hatte aufmerksam beobachtet, wen das Konklave wählen würde. Die Italiener, deren 40-Millionen-Volk zu 99 % katholisch war, zeigten das größte Interesse, aber auch die 260 Millionen Katholiken außerhalb Italiens warteten gespannt auf die Nachricht.36
Seit Beginn des Konklaves hatten viele Menschen auf dem Petersplatz gewartet, die Augen auf den Schornstein gerichtet, wo der Rauch der nach jedem Wahlgang verbrannten Wahlzettel ihnen zeigte, ob ein Papst gewählt worden war.37 Dreizehn Mal in vier Tagen war er schwarz gewesen, doch gegen Mittag des vierten Tages zeigten Menschen aus der durchnässten Menge auf die dünne weiße Rauchsäule am regnerischen Himmel über dem Apostolischen Palast. Eine Dreiviertelstunde später erschien ein Kardinal auf dem zum Platz gelegenen mittleren Balkon des Petersdoms und hob langsam den rechten Arm. „Habemus papam … wir haben einen Papst.“ Achille Ratti hatte den Namen Pius XI. gewählt, mit der Begründung, Pius IX. sei der Papst seiner Jugend gewesen und Pius X. habe ihn als Leiter der Vatikanischen Bibliothek nach Rom berufen.38 Der Mann, der noch vor wenigen Jahren ein paar Bibliothekare geleitet hatte, war nun für die 300 Millionen Katholiken auf Erden verantwortlich.
Die jubelnde Menge schob sich zu den Toren des Petersdoms. Seit 1870, als italienische Truppen Rom eingenommen und die Päpste sich zu „Gefangenen im Vatikan“ erklärt hatten, hatte kein Papst mehr draußen sein Gesicht gezeigt, nicht einmal von einem der Fenster zum Petersplatz aus. Alle drei Nachfolger Pius IX. hatten die Gläubigen nach ihrer Wahl im Dom gesegnet.
Dann sahen die Menschen etwas Unerwartetes. Mitglieder der Schweizergarde erschienen auf dem Balkon über der gewaltigen Mitteltür von St. Peter und hängten einen roten Wandteppich mit dem päpstlichen Wappen über die Balustrade. Als der Pontifex in der weißen Soutane auf den Balkon heraustrat, um seinen Segen zu spenden, wurde es still auf dem gewaltigen Platz, und die Menschen knieten nieder. Niemand vergaß den Anblick der italienischen Soldaten, die auf dem Platz für Ordnung sorgten und nun neben der Schweizergarde die Waffen präsentierten. Gemeinsam grüßten sie den neuen Papst.39 Es war ein seltener Augenblick des Friedens in einer Stadt, die zunehmend von Panik beherrscht wurde. Gewalt und Chaos breiteten sich im ganzen Land aus, und die Regierung war gelähmt. Noch bevor das Jahr zu Ende war, sollte der neue Papst vor einer Entscheidung von ungeheurer Tragweite stehen.
Die Kleinstadt Predappio in der Romagna, in der Benito Mussolini geboren wurde, liegt nur ungefähr 250 Kilometer von Achille Rattis Geburtsort in der Lombardei entfernt, doch ihre Kindheitserfahrungen hätten unterschiedlicher kaum sein können. Das lag weniger am größeren Wohlstand der Rattis als am Unterschied zwischen einer konservativen, gläubigen Familie und einer, die im rebellischen Klima der Romagna lebte. Die Helden der Rattis waren Heilige und Päpste, die der Mussolinis Aufrührer und Revolutionäre.
Achille Ratti war schon ein 26 Jahre alter Priester, als Mussolini 1883 geboren wurde. Die Romagna war damals das Zentrum der anarchistischen und sozialistischen Bewegungen in Italien, und Benitos Vater Alessandro, ein großmäuliger Schmied, predigte seinen revolutionären Glauben jedem, der ihm zuhörte. Er nannte seinen Sohn nach Benito Juarez, einem verarmten Indianer, der mexikanischer Präsident, eine Geißel der europäischen Kolonialmächte und ein Feind der Kirche wurde. Benitos jüngerem Bruder gab er den Namen Arnaldo, nach dem Priester Arnaldo von Brescia, der 1146 einen Aufstand gegen den Papst in Rom angeführt hatte und später gehenkt wurde. Die geduldige Mutter der Brüder, Rosa, teilte den revolutionären Eifer ihres Mannes nicht. Sie ging regelmäßig zur Kirche und lehrte in der örtlichen Grundschule. Jeden Abend schlug sie das Kreuz über ihren schlafenden Kindern.1
Die Familie bewohnte zwei Zimmer im dritten Stock. Benito und Arnaldo schliefen in der Küche auf einem Eisenbett, das ihr Vater geschmiedet hatte, als Matratze diente ein großer Sack Getreidespelzen. Ihre Eltern teilten den anderen Raum mit der Tochter Edvige. Um in die Wohnung zu kommen, mussten sie durch das Schulzimmer ihrer Mutter gehen, das den Rest der Etage einnahm.
Alessandro und Rosa führten eine stürmische Ehe. Alessandro hatte nicht nur Geliebte, er kam auch häufig betrunken aus der Kneipe und fing Streit mit seiner Frau an. Einmal gewann sie die Auseinandersetzung, und so wurde der damals zehnjährige Benito auf eine nahegelegene Schule des Salesianerordens geschickt. Dort blieb er nicht lange. Beim Streit mit einem Mitschüler zog er ein Messer und stach den Jungen in die Hand. Die Salesianer verwiesen ihn der Schule. Benito legte seine rauen Sitten nicht ab, schaffte es aber als aufgeweckter Junge irgendwie, die Oberschule abzuschließen. 1901 begann er als Hilfslehrer zu arbeiten, verlor aber eine seiner ersten Stellen, als seine Affäre mit einer verheirateten Frau ans Licht kam.
Als er keinen neuen Posten fand, fuhr Benito in die Schweiz, um Arbeit zu suchen. Dort schloss er sich Sozialisten und Anarchisten an, deren begeisterte Reden von der Revolution ihn anzogen. Die schweizerische Polizei verfasste bald einen Bericht über ihn, der eine Beschreibung des jungen Mannes enthält: 1,67 Meter, gedrungen, braunes Haar und Vollbart, langes, bleiches Gesicht, dunkle Augen, Adlernase und großer Mund.2
1904 debattierte Mussolini in Lausanne mit einem evangelischen Priester öffentlich über die Existenz Gottes. Nachdem er sein Publikum mit Zitaten von Galileo bis Robespierre zu beeindrucken versucht hatte, stieg er auf einen Tisch, zog eine Taschenuhr heraus und brüllte, wenn es wirklich einen Gott gebe, solle Er ihn in den nächsten fünf Minuten tot umfallen lassen. Benitos erste Veröffentlichung mit dem Titel „Gott existiert nicht“ erschien im selben Jahr. Er führte seine Angriffe auf die Kirche fort und nannte Priester „schwarze Mikroben, ebenso tödlich für die Menschheit wie Tuberkulosemikroben.“3
Mussolinis Leidenschaft galt der Polemik und der Politik, und bald widmete er sich beidem ausschließlich. 1910 war er wieder in Forlì, nahe dem Wohnort seiner Familie, gab die örtliche sozialistische Wochenzeitung heraus und war Sekretär der Sozialistischen Partei. Im selben Jahr versuchte er sich als Schriftsteller und veröffentlichte den schwülstigen Roman Die Geliebte des Kardinals.4
In diesen Anfangsjahren seiner politischen Karriere war Mussolini eine auffallende Figur, teils ein wilder junger Mann der Linken, teils Don Juan. Mit seinem dichten Schnurrbart, den er die nächsten zehn Jahre über tragen sollte, war er jemand, der zu wissen schien, wie man Aufmerksamkeit erregte. Er war ein Regeln brechender Krawallbruder und Provokateur, den man lieber auf seiner Seite als gegen sich hatte. Eine der Eigenschaften, die man nie vergaß, zeigte er schon jetzt: seinen stählernen Blick. Er war zugleich einschüchternd und hypnotisierend und hielt die Zuhörer im Bann. Mussolinis Augen schienen hervorzuquellen. Ein Gewerkschaftsfunktionär beschrieb 1910 seine Erfahrung: „Er musterte mich mit einem Heben der Augenbrauen, wodurch das Weiße des Auges ganz erscheint, als wolle er etwas in der Ferne beobachten; dabei nahmen Augen und Gesicht den gedankenvollen Ausdruck eines Apostels an.“5
1912 bekam Mussolini, der noch keine 30 war, einen der einflussreichsten Posten der Sozialistischen Partei und wurde Chefredakteur der landesweiten Parteizeitung Avanti! in Mailand. Aus der bescheidenen Provinzstadt Forlì zog er in die finanzielle und kulturelle Hauptstadt Italiens.
Als Chefredakteur von Avanti! wandte Mussolini sich gegen die Reformfraktion der Sozialistischen Partei. Nur revolutionäre Aktionen, nicht Parlamentspolitik könnten seiner Meinung nach eine neue Ordnung hervorbringen. Als die Polizei 1913 südlich von Rom sieben Landarbeiter bei Protesten tötete, forderte er Rache: „Tod denen, die das Volk massakrieren! Lang lebe die Revolution!“, rief er bei einer Demonstration in Mailand. In seiner Zeitung schrieb er: „Wir führen einen Kriegsruf. Wer Massaker begeht, weiß, dass er selbst massakriert werden kann.“6
Der Kriegsausbruch in Europa im August 1914 war für Sozialisten das Werk kriegslüsterner Imperialisten und Kapitalisten, die das Proletariat als Kanonenfutter benutzten. Die Arbeiter aller Länder sollten sich vereinigen und einander nicht im Namen von Gott oder Vaterland abschlachten. Doch zur Überraschung seiner Genossen schrieb Mussolini zwei Monate nach Kriegsbeginn einen Artikel, der die Klugheit der italienischen Neutralität in Frage stellte. Pazifismus lag nicht in seinem Wesen, und er litt unter dem Gedanken, dass Italien danebenstand und zuschaute, während der Rest Europas Krieg führte. Ob er glaubte, seine Genossen überzeugen zu können, ist unsicher. Wenn ja, so erkannte er bald, wie sehr er sich täuschte. Binnen eines Monats wurde er nicht nur bei Avanti! entlassen, sondern auch aus der Partei ausgeschlossen.
Im Lauf der nächsten Jahre machte der ehemalige Sozialistenführer eine für seine früheren Genossen unerklärliche und verräterische Verwandlung durch und wurde zum schlimmsten Feind der Sozialisten. Er behielt die Verachtung des Revolutionärs für die parlamentarische Demokratie und die Faszination für die Möglichkeiten gewaltsamen Handelns bei, warf aber den Rest der marxistischen Ideologie über Bord. Das Chaos am Ende des Ersten Weltkriegs hatte ein Vakuum geschaffen, das er füllen wollte. Sein Engagement hatte stets vor allem ihm selbst gegolten, und er glaubte aus eigener Kraft ganz nach oben kommen zu können. Nun erkannte er einen neuen Weg, auf dem er diese Träume verwirklichen konnte.
Vier Jahre zuvor, 1910, hatte Mussolini eine Tochter namens Edda von seiner Geliebten Rachele Guidi aus seiner Heimatstadt bekommen, die er später heiratete. Damals lebten sie in einer verwanzten Zweizimmerwohnung in Forlì. Benitos Liebesleben war aber so aktiv, dass jahrzehntelang gemunkelt wurde, Eddas Mutter sei gar nicht Rachele. Edda wies später verärgert das verbreitete Gerücht zurück, ihre Mutter sei in Wirklichkeit eine russisch-jüdische Sozialistin (und später Sekretärin der Dritten Kommunistischen Internationale) namens Angelica Balabanoff, die nach Italien gezogen und eine von Mussolinis wichtigeren Geliebten und politischen Mentorinnen geworden war. „Da ich meine Mutter kenne, weiß ich sehr gut, dass sie mich keine fünf Minuten behalten hätte, wenn ich die Tochter von Balabanoff gewesen wäre“, schrieb Edda in ihren Memoiren.7
Rachele stammte aus einer armen Bauernfamilie und begegnete Benito zuerst mit sieben Jahren, als er für seine Mutter in der Grundschule aushalf. Rachele war keine gute Schülerin und verlor mit acht Jahren ihren Vater, worauf sie als Hausmädchen nach Forlì geschickt wurde. Obwohl sie später eine recht ausladende Figur hatte, war sie als junges Mädchen attraktiv, blond, klein, schlank und blauäugig.
Rachele glaubte, Edda sei Benitos erstes Kind. Wenige Monate vor Eddas Geburt bekam eine Kaffeehauskellnerin aber einen Sohn, den sie Benito nannte. Dieser kleine Benito starb nach wenigen Monaten, aber es gab weitere uneheliche Kinder, darunter mindestens einen weiteren Benito.8 Man mag sich zu Recht fragen, wo Mussolini die Zeit für seine journalistische und politische Karriere hernahm, während er mehrere Affären gleichzeitig hatte. Seine Frauen konnten kaum unterschiedlicher sein. 1913 hatte er ein Kind mit einer anderen russischen Jüdin, der er einige Jahre zuvor begegnet war, doch er erkannte das Kind nie an.9 Im selben Jahr verliebte er sich in die kaum zu ihm passende Leda Rafanelli, eine bekannte 32 Jahre alte anarchistische Autorin in Mailand, die einige Jahre zuvor nach einer mehrmonatigen Ägyptenreise zum Islam übergetreten war. Benito schlich sich aus seinem Büro, um Ledas nach Räucherstäbchen duftende Wohnung zu besuchen, wo die Gäste auf dem Boden saßen. Ihre Affäre dauerte bis zum Herbst 1914. Viele Jahrzehnte später, als alte Frau, veröffentlichte Leda Rafanelli 40 Briefe, die der junge Mussolini ihr in jenen bewegten Monaten geschrieben hatte.10
Im November 1915 wurde ein zweiter Benito geboren, und die Mutter war Ida Dalser, eine weitere von Mussolinis Geliebten, die ihn anbetete. Vielleicht um Idas immer entschiedeneren Anspruch, sie sei seine wahre Ehefrau, abzuwehren, heiratete Mussolini Rachele. Die eilige Zivilehe fand einen Monat nach Benitos Geburt statt, obwohl Mussolini damals Patient auf einer Typhusstation war. Als er Idas Briefe nicht mehr beantwortete, ließ sie seine Möbel pfänden. In rachsüchtiger Wut stapelte sie seine bescheidene Sammlung von Tischen und Stühlen in ihrem Hotelzimmer auf und zündete sie an.11
Nachdem Mussolini im November 1914 bei Avanti! entlassen worden war, verkündete er, nun eine eigene Zeitung namens Il Popolo d’Italia (Das italienische Volk) zu gründen.12 Sie fand die Unterstützung italienischer Industrieller, die von einem Kriegseintritt Italiens profitiert hätten, und blieb für drei Jahrzehnte seine Zeitung.13
Etwa zur gleichen Zeit wie seine Zeitung gründete er die Fasci d’azione rivoluzionaria, revolutionäre Zellen oder, wie er es nannte, „eine freie Verbindung von Umstürzlern“, die für den Kriegseintritt Italiens und die Abschaffung der Monarchie eintrat.14 Sie hielt ihre erste Versammlung im Januar 1915 ab, vier Monate bevor Italien auf Seiten Englands und Frankreichs in den Krieg eintrat. Bald wurde Mussolini eingezogen und an die Front in den Bergen Nordostitaliens geschickt. Am 23. Februar 1917 endete seine militärische Karriere, als eine Mörsergranate, die er abfeuern wollte, im Lauf krepierte, fünf Kameraden tötete und seinen Körper mit Schrapnell spickte. Trotz der Operationen oder vielleicht deshalb, kam es zu einer Infektion und hohem Fieber. Doch er überlebte und kehrte nach Mailand zurück, wo seine wichtigste Geliebte und politische Vertraute ihn erwartete.
Margherita Sarfatti war 1880 in eine wohlhabende jüdische Familie in Venedig hineingeboren worden und hatte zuhause Privatunterricht erhalten. Im Alter von 14 Jahren beherrschte sie Französisch, Deutsch und Englisch. Sie las philosophische Werke, lernte Shelley-Verse auswendig, studierte Kunstgeschichte und entwickelte eine Leidenschaft für die Literatur. Sie war attraktiv, hatte grüne Augen und kastanienbraunes Haar und heiratete mit 18 einen 14 Jahre älteren jüdischen Rechtsanwalt.
Das frisch vermählte Paar zog bald nach Mailand, wo Margherita Sympathien für die Sozialistische Partei zeigte und Kulturartikel für deren Zeitung schrieb. Sie lernte Mussolini kennen, als er Ende 1912 in die Stadt kam. Was ihr zuerst auffiel, waren seine Augen. Sie waren groß und hell und schienen sich fieberhaft zu bewegen, wenn er redete. Als sie ihn später bei einer sozialistischen Demonstration in Aktion sah, bewunderte sie seine Fähigkeit, die Menge mit markigen Worten zu fesseln. Sie verglich ihn mit den Helden der Vergangenheit, die in rostiger Rüstung immer wieder die glänzenden Ritter der königlichen Tourniere aus dem Sattel warfen. Er erinnerte sie auch an den Dominikanermönch Savonarola aus der Renaissance. Mussolini teilte mit dem feurigen Mönch das „seltsame fanatische Leuchten in den Augen und die herrische Biegung seiner Nase.“15
Ihre Affäre begann 1913. Als Mussolini 1917 aus dem Krieg heimkehrte, wurden die beiden unzertrennlich.16 Im November 1918 war Mussolinis Schwester Edvige, die zur Feier des Waffenstillstands nach Mailand gekommen war, überrascht, dass er sich den Schnurrbart abrasiert hatte. Er trug einen guten Anzug, einen makellosen weißen Kragen und hatte sogar eine Blume im Knopfloch. Sie fand ihn bemerkenswert gepflegt und vermutete, er sei verliebt.17
Mussolinis Liebesleben spielte sich vor den brutalen Umwälzungen der Nachkriegszeit in Italien ab. Arbeiter besetzten in vielen norditalienischen Städten ihre Fabriken. Die nur kurz zurückliegende Russische Revolution war jedermann bewusst, und Forderungen nach einem Ende der „bürgerlichen“ Demokratie und der Schaffung eines Arbeiterstaates wurden laut. Auf dem Land wurden linke Bauernbünde aktiv. Grundbesitzer, die gewohnt waren, den Bauern ihre Bedingungen zu diktieren, sahen sich nun in der Defensive. Hunderttausende Kriegsveteranen fanden keine Arbeit. Die Regierung war mittellos und von politischen Intrigen und persönlichen Rivalitäten gelähmt. Die Sozialisten errichteten in einem großen Teil des Landes, vom Alpenvorland im Nordwesten bis zur Adria im Osten, einen Staat im Staate, übernahmen die Kommunalverwaltung und bauten Arbeitskooperativen auf.
Mussolini fand seine natürlichen Anhänger in den heimkehrenden Veteranen, indem er an ihren Nationalismus appellierte, an ihr Gefühl, das Land schulde ihnen etwas, und an ihren Unwillen, das Kameradschaftsgefühl aufzugeben, das sie bis vor kurzem im Kampf gehabt hatten. Angriffe auf Kriegsprofiteure, Defätisten, unfähige Generäle und korrupte Politiker erwiesen sich als berauschende Mischung. Am 23. März 1919 berief Mussolini die erste Versammlung seiner faschistischen Bewegung ein.
Ebenso wie den Rest des Establishments lehnten die Faschisten zunächst auch die Kirche ab. Mussolini forderte die Beschlagnahme des Klosterbesitzes und ein Ende der staatlichen Zuschüsse für die Kirche. In einem Artikel vom November 1919 forderte er im Popolo d’Italia den Papst auf, Rom zu verlassen, und äußerte einen Monat später seinen Hass auf alle Formen des Christentums.18
Im selben Monat bekamen die Faschisten ihre erste Chance, eigene Kandidaten ins Parlament zu bringen, scheiterten aber kläglich.19 In Mailand erzielten sie weniger als zwei Prozent der Stimmen und brachten niemanden durch. Landesweit wurde gerade ein Kandidat gewählt.20
Obwohl seine Bewegung noch nicht viele Stimmen gewann, wurde Mussolini von der Polizei aufmerksam beobachtet. Kurz vor den Wahlen stellten die Behörden ein vertrauliches Dossier zusammen, in dem er als körperlich stattlich, aber syphilitisch beschrieben wurde. Angesichts seiner vielen Sexualpartnerinnen ist die Aussage, er habe sich mit der damals verbreiteten Syphilis angesteckt, nicht überraschend. Bis zum Ende seines Lebens flüsterte man darüber, und manche sahen es als Grund für seinen angeblichen späteren geistigen Verfall. Bei der Autopsie fand man aber keinerlei Anzeichen der Krankheit.
Mussolini stand jeden Tag spät auf und ging gegen Mittag in seine Zeitungsredaktion, kam aber erst weit nach Mitternacht zurück. Der Polizeibericht nannte ihn emotional und impulsiv, doch er habe auch eine sentimentale Seite, die erkläre, warum so viele Menschen ihn anziehend fänden. Er war intelligent und gerissen, erkannte rasch die Stärken von Menschen und nutzte ihre Schwächen aus. Er besaß Organisationstalent und Entscheidungsfreude und war loyal gegenüber seinen Freunden, hegte aber dauerhaften Groll gegen jene, die ihn geringschätzig behandelten. An besondere Überzeugungen fühlte er sich nicht gebunden und wechselte sie rasch. Vor allem war er extrem ehrgeizig und überzeugt, er sei ausersehen, die Zukunft Italiens zu formen.21
Anfang 1920 hatte Mussolini viel von der sozialistischen Ideologie über Bord geworfen, die er bis dahin so laut proklamiert hatte. Da er erkannte, dass sein Weg zum Erfolg darin lag, das Chaos im Land auszunutzen, präsentierte er sich als Verfechter von Recht, Gesetz und Nationalstolz.
Im Frühjahr 1920 organisierten sozialistische Vereine im Po-Delta einen Landarbeiterstreik. Als die Regierung nicht eingriff, wandten die Großgrundbesitzer sich an die fasci