Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918 - Manfried Rauchensteiner - E-Book

Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918 E-Book

Manfried Rauchensteiner

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Beschreibung

Das Standardwerk des renommierten Historikers Manfried Rauchensteiner zum Ersten Weltkrieg liegt nach gemeinsamer Überarbeitung mit dem Journalisten Josef Broukal jetzt auch in komprimierter Form vor: für den raschen Überblick, verständlich geschrieben und spannend zu lesen. Mit Kartenmaterial und Chronik. Eine Strafexpedition gegen den Nachbarn Serbien sollte es sein, ein Weltkrieg mit 20 Millionen Toten wurde es. Am Ende ist die Habsburgermonarchie Geschichte. Zwischen dem Attentat von Sarajevo und dem Waffenstillstand liegen die Entfesselung des Ersten Weltkriegs, die Kriegserklärungen Italiens 1915 und der USA 1917, die letzten Lebensjahre Kaiser Franz Josephs, Kaiser Karls Versuche, einen Weg aus dem Krieg zu finden, der Zerfall Österreich-Ungarns, Hunger und Elend – und in Folge veränderte nationale Grenzen. Josef Broukal und Manfried Rauchensteiner haben das große Geschehen in einem handlichen Band zusammengefasst. Informativ, prägnant und spannend.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar

Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com

Umschlagabbildung: Ausschnitt aus Albin Egger-Lienz, Den Namenlosen 1914; Tempera Leinwand, 1916 © Wien, Heeresgeschichtliches Museum

Sonstige Abbildungen:

Aufmacherfotos zu den Kapiteln 1, 8, 12, 13, 16, 17, 19, 20, 22: Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung: alle anderen Fotos: Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv, Wien

Karten (S. 39, 42/43, 97, 106/107, 113/114, 186/187):

Manfried Rauchensteiner

Reinzeichnung: Franz Gruber

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Korrektorat: Gabriele Fernbach, Wien

Umschlaggestaltung: hawemannundmosch, Berlin

ISBN 978-3-205-20282-0

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Vorwort

1. Der Vorabend

Der alte Mann an der Donau – 1908: Österreich nimmt sich Bosnien-Herzegowina – 1912 – 1913: Zwei Mal Krieg vor Österreichs Haustür – Ein Kontinent des Gegeneinanders – Losschlagen oder auf den Angriff des Gegners warten?

2. Der Anlass

Der Mord von Sarajevo – Österreich-Ungarn will den Krieg – Deutschland gibt »Blankoscheck« – Unannehmbare Bedingungen – Die Kriegserklärung – Ein Anlass – viele Gründe – Europa taumelt in die Katastrophe – Erlösung durch den Krieg

3. Die Realität des Kriegs

Truppen zu Fuß an die Front – Kennt Russland Österreich-Ungarns Kriegsplan? – »Serbien zuerst!« – Zu schwach für Russland – Lemberg fällt – Die erste Belagerung von Przemyśl – Die zweite Belagerung von Przemyśl – Conrad stoppt die Russen – Ungeheure Verluste – Deutschland will auch die k. u. k. Armeen lenken

4. Die Heimatfront

Wirtschaft entscheidet über Kampffähigkeit – Frauen ersetzen die eingerückten Männer – Die Rüstungsindustrie boomt – Verwundete, Kranke und Tote – Das Hinterland wird zur Festung – »Amtlich wird verlautbart«

5. Der erste Kriegswinter

Conrad baut die Armeeführung um – Die k. u. k. Kriegsmarine – allein gegen mächtige Gegner – Im Schatten des Galgens – Wofür eigentlich Krieg? – Tod in den Karpaten – Przemyśl kapituliert – Der Sieg von Tarnów-Gorlice – Eine Armee – viele Nationen

6. »Der König von Italien hat Mir den Krieg erklärt«

Die dritte Front – Italien in der Offensive – Der Abnützungskrieg

7. Innere Front

Die Armee will mehr Macht im Staat – Die Armee verlangt den Sturz des k. k. Ministerpräsidenten

8. Sommerschlacht und »Herbstsau« 1915

Erneutes Scheitern gegen Russland – Wieder muss Deutschland helfen – Die vierte Offensive gegen Serbien – Österreich-Ungarn besetzt Serbien, Montenegro und Albanien – Die Vision vom Siegfrieden

9. Die »Strafexpedition« gegen Italien

Tod am Col di Lana – Conrad drängt zum Angriff – Die Offensive – General Brusilov rettet Italien

10. Die deutsche Umarmung

Die Russland-Front kommt unter deutschen Oberbefehl – Rumänien erklärt den Mittelmächten den Krieg – Giftgas – Die »Gemeinsame Oberste Kriegsleitung«

11. Wie die k. u. k. Monarchie den Krieg finanzierte

Die Kriegsgewinnsteuer

12. Eine Ära geht zu Ende

Das Attentat auf den k. k. Ministerpräsidenten – Ein Kaiser stirbt – Testament ohne Überraschungen

13. Kaiser Karl

Distanz zu den Deutschen – Köpferollen – Koerber muss gehen – Czernin wird Außenminister – Karl will den Frieden – Hunger – Krönung stimmt Ungarn um

14. Friedensschritte

Zerstörung der Habsburgermonarchie wird alliiertes Kriegsziel – Der Monarchie gehen die Soldaten aus – Der U-Boot-Krieg – Die USA steigen in den Weltkrieg ein – Karl löst Generalstabschef Conrad ab

15. Revolution in Russland

Noch einmal Krieg mit Russland – Die Wiedereröffnung des Reichsrats – Ein Parlament der Feindschaften – Clam-Martinic am Ende – Der Hunger greift nach den Menschen

16. Besatzer, Helfer und Ausbeuter

Polen – Serbien – Montenegro – Albanien – Rumänien

17. Sommer 1917

Tiszas Sturz – Der »Kaiser zum Angreifen« gerät in die Kritik – Tschechen kämpfen gegen Österreich – Dann doch wieder Krieg …

18. Ein problematischer Sieg

Offensive gegen Italien – Das Hinterland zahlt den Preis – Giftgas und neue Angriffsverfahren – Weiter zum Piave – Bilanz der Offensive – Die Beute – Doch kein Sieg?

19. Flüchtlinge, Internierte, Kriegsgefangene

Nur weg von der Front! – Seuchen und Enge im Massenquartier – Die Ablehnung wächst – Rückkehrer – Die Internierten – Die Kriegsgefangenen – Winter bringt verheerende Seuchen – Unersetzbare Hilfstruppen – Sibirien – Serbien – Italien

20. Krieg gegen die USA und Frieden mit Russland

Lenin an der Macht – Die Verhandlungen in Brest – Die Besetzung der Ukraine – K. u. k. Soldaten kämpfen für die Entente – Wilsons 14 Punkte – Meuterei in Cattaro

21. Prinz Sixtus und die Briefaffäre

Italien will nicht verhandeln – »Mein Kaiser lügt« – Canossagang – Der »Kongress der unterdrückten Völker« – Es gärt in Österreich – Die Rüstungsindustrie bricht zusammen – Der Untergang der »Szent István«

22. Österreich-Ungarns letzte Offensive

Der Streit der Kommandanten – Die letzten Vorräte – Schon am ersten Tag gescheitert – Auf der Suche nach den Schuldigen – Abgeordnete fragen– Lässt sich der Krieg fortsetzen? – Die Eliten resignieren – Militärdiktatur statt Parlament?

23. Ein Reich geht zugrunde

Front und Hinterland – Das Ende der kaiserlichen Flotte – Kaiser Karl bietet Frieden an – Die letzten Wochen – Vergebliche Suche nach einer politischen Lösung – Das Kaisermanifest

24. Die Auflösung

Wilson distanziert sich von seinen 14 Punkten – Die letzte kaiserliche Regierung – Die Armee zerfällt – Der letzte Angriff der Alliierten – Nichts geht mehr – Italien verzögert Waffenstillstand – und greift weiter an – Chaos – Der letzte Armeeoberkommandant – Österreich kapituliert, Italien kämpft weiter – Abgesang

Chronik

Österreich-Ungarns Heer und Flotte im Ersten Weltkrieg

Namen- u. Ortsregister

Vorwort

Im Pariser »Musée de l’armée« findet man an einer schlichten Wandtafel das Grauen des Ersten Weltkriegs kurz und bündig in Zahlen gefasst: 70 Millionen Männer gingen an die Fronten. 20 Millionen wurden verwundet. Zehn Millionen fanden den Tod – und dazu noch Millionen von Zivilisten. Am Anfang dieser Katastrophe steht im Sommer 1914 der Entschluss Österreich-Ungarns, das kleine, nach Machtzuwachs strebende Serbien ein für alle Mal auf seinen Platz zu verweisen. Serbien aber hatte in Russland einen mächtigen Verbündeten. Den in Schach zu halten, fiel dem Deutschen Reich zu. Mit dem aber hatte Frankreich eine offene Rechnung – Elsass/Lothringen. Dem Britischen Empire wieder drohten die Deutschen zu mächtig zu werden. Und so stolperte ein Kontinent, der 43 Jahre in relativem Frieden gelebt hatte, in einen mehr als vierjährigen Krieg hinein. Drei Jahre lang sah es so aus, als würden ihn Deutschland, Österreich-Ungarn und die mit ihnen verbündeten Türken und Bulgaren gewinnen können. 1918 kam es anders. Die vier Verbündeten waren ausgeblutet, die Kriegsmittel erschöpft. Die Not der Menschen begann sich in Revolutionen Luft zu machen. Und der Kriegseintritt der USA ließ die Gegner übermächtig werden. Der Krieg mündete für Deutschland und die mit ihm verbündeten Mächte in einer schweren und folgeschweren Niederlage. Die Habsburgermonarchie aber zerfiel. Sie hatte schon lange Auflösungserscheinungen gezeigt, und der Krieg sollte den inneren Zusammenhalt wieder festigen. Ein gewaltiger Trugschluss. Unwillkürlich ist man an das Sprichwort gemahnt: Wer sich mutwillig in Gefahr begibt, kommt leicht darin um.

Das 2013 erschienene, mehr als eintausend Seiten starke Buch »Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914 – 1918« berichtet von diesem letzten, dem Todeskampf des [<<11||12>>] multinationalen Großreichs Österreich-Ungarn in der Mitte Europas. »In aller Kürze« will das Buch, das Sie gerade in Händen halten, dieses detaillierte Bild in seinen Konturen nachzeichnen. Es stellt seiner Vorlage eine Version an die Seite, die zusammenfasst, aber den großen Linien des Originals treu bleibt. Es berichtet von der Vorgeschichte des Kriegs, dem Attentat von Sarajevo und von den Schlachten des »Großen Krieges«. Vom Elend der Flüchtlinge. Von Hunger und Not im Hinterland. Von der Rolle Kaiser Franz Josephs und vom vergeblichen Bemühen des jungen Kaisers Karl, Österreich-Ungarn aus dem Krieg zu lösen und ihm eine Zukunft zu sichern.

Trotz der Kürzung und Verknappung sind einige Elemente in diesem Buch dazu gekommen. Kartenskizzen sollen helfen, die großen Schauplätze von Österreich-Ungarns letztem Krieg räumlich zuzuordnen. Zwei Gliederungen sollen die militärischen Hierarchien und die Vermehrung der Befehlsebenen verständlich machen. Und eine Chronologie hilft, die Zusammenhänge der Geschehnisse deutlich werden zu lassen.

Wien, im Juni 2015

Manfried RauchensteinerJosef Broukal [<<12||13>>]

Der Vorabend

[<<13||14>>] Hundertjahr-Feier der Völkerschlacht von Leipzig in Wien, 16. Oktober 1913. Kaiser Franz Joseph vor den Fahnendeputationen an der Ringstraße. Rechts von ihm der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und die Erzherzöge mit militärischen Rängen. In der zweiten Reihe ganz rechts Erzherzog Friedrich. [<<14||15>>]

 

Der alte Mann an der Donau

Beim Zweiten Weltkrieg scheint die Sache klar zu sein: Deutschland wollte ihn, Deutschland entfesselte ihn. Beim Ersten Weltkrieg sind sich die Historiker auch nach hundert Jahren nicht einig. Nicht einmal darüber, ob es sich um die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« handelte. Sicher ist eines: Innerhalb einer Generation kämpften dieselben Staaten wieder gegeneinander – mit einer Ausnahme: Österreich-Ungarn war am Ende des Ersten Weltkriegs Geschichte …

1914 waren die Gegensätze unter den europäischen Groß- und Mittelmächten mit Händen zu greifen: Deutschland war wirtschaftlich die Nummer eins in Europa geworden und wollte es auch militärisch sein. Frankreich wollte die im Krieg von 1870/71 verlorenen Gebiete Elsass und Lothringen zurückhaben. Russland träumte davon, sich nach dem Westen und vor allem bis zu den Meerengen des Bosporus und der Dardanellen zu vergrößern. Großbritannien wollte nicht, dass ein Staat auf dem Kontinent übermächtig würde oder sein weltumspannendes Reich infrage stellte. Und Österreich-Ungarn? In Wien und Budapest wollte man bloß, dass alles so blieb wie es war. Man fühlte sich im Vergleich zu den anderen Mächten schwach. Wollte verhindern, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken.

Dieses Österreich-Ungarn war ein merkwürdiges Gebilde. Eigentlich handelte es sich um zwei Staaten mit einem gemeinsamen Staatsoberhaupt, einer gemeinsamen Außenpolitik, einer gemeinsamen Währung und einer gemeinsamen Armee. Im westlichen dieser beiden Staaten, »den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern«, hatten die Deutsch sprechenden Bewohner das Sagen. Im östlichen, »den Ländern der Stephanskrone«, herrschten die Ungarn. Die slawischen Bewohner der Doppelmonarchie sahen sich oft als zweitrangig. So blieben Tschechen und Slowaken, Slowenen, [<<15||16>>] Serben und Kroaten unzufrieden. Und als ihnen am Ende des Ersten Weltkriegs die Sieger die Chance boten, gründeten sie ihre eigenen Nationalstaaten und zerstörten Österreich-Ungarn. Die Gebiete der Donaumonarchie, in denen Ruthenen, Polen, Italiener und Rumänen lebten, suchten ebenso einen Neubeginn.

Dass dieses Österreich-Ungarn, ein übernationales Reich in der Zeit der Hochblüte des Nationalismus, es überhaupt bis 1914 geschafft hatte, verbindet man meist mit der Person seines seit Menschengedenken regierenden gemeinsamen Herrschers. Kaiser und König Franz Joseph I. war als Achtzehnjähriger im Revolutionsjahr 1848 auf den Thron gekommen. Hatte in jungen Jahren sein Reich in eine Reihe unglücklich verlaufener Kriege geführt, später den Ausgleich mit den seit der niedergeschlagenen Revolution von 1848 in Gegnerschaft verharrenden Ungarn erreicht. Er hatte zögernd immer mehr Menschen das Wahlrecht zugestanden, aber oft selbstherrlich die Reichspolitik bestimmt. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war der damals 84-Jährige für die meisten Bewohner der Doppelmonarchie immer schon da gewesen …

1908: Österreich nimmt sich Bosnien-Herzegowina

Im Jahr 1878 hatten sich Europas Großmächte darauf geeinigt, Österreich-Ungarn zwei Provinzen der Türkei zur Verwaltung zu übergeben: Bosnien und Herzegowina. Dreißig Jahre später, am 7. Oktober 1908, erklärte Österreich-Ungarn Bosnien und Herzegowina auch formell zu seinem Staatsgebiet. Serbien reagierte wütend. Rief einen Teil seiner Soldaten zu den Waffen. Großbritannien und Deutschland vermittelten. Serbien musste erklären, dass es seine Beziehungen zu Österreich-Ungarn wieder positiv gestalten wollte. Musste versprechen, seine Vorbehalte gegen die Annexion Bosnien-Herzegowinas aufzugeben, keine feindseligen Absichten [<<16||17>>] zu hegen und gute Nachbarschaft leben zu wollen. Aber in Serbien gärte es. Führende Persönlichkeiten fanden sich in geheimen Organisationen. Ihr Ziel: Alle Gebiete, in denen Südslawen lebten, sollten in einem großen südslawischen Königreich vereinigt werden. Das schloss auch die in Österreich-Ungarn lebenden Serben, Kroaten und Slowenen ein.

Der Chef des Generalstabs der kaiserlichen und königlichen (k. u. k.) Armee, General Franz Conrad von Hötzendorf, forderte daraufhin einen Krieg gegen Serbien. Die von Serbien ausgehende Gefahr sollte ein für alle Mal beseitigt werden. Conrad scheiterte am Widerstand des Außenministers Alois Lexa von Aehrenthal und dem des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand.

1912 – 1913: Zwei Mal Krieg vor Österreichs Haustür

Wenige Jahre später, 1912, führte Serbien zusammen mit Bulgarien und Griechenland Krieg gegen die Türkei. Serbien wollte einen Zugang zur Adria gewinnen, dehnte die Kämpfe dorthin aus. Österreich hielt dagegen. Wieder stellte man sich in Wien die Frage: Sollte Österreich-Ungarn gegen Serbien in den Krieg ziehen? Ein Teil der Staatsführung war dafür, aber die Oberhand behielten die Kriegsgegner. Schließlich gab es eine diplomatische Lösung. Die europäischen Großmächte schufen den Staat Albanien, der Serbiens Zugang zur Adria blockierte.

1913 zerstritten sich die Sieger des Ersten Balkankriegs: Serbien und Griechenland führten Krieg gegen Bulgarien. Serbien gewann neues Land im Süden, mit zusätzlichen Einwohnern. Besetzte auch Teile von Albanien. Nach Ansicht der Kriegsbefürworter in Wien wurde es damit noch gefährlicher. Im Oktober 1913 verlangte Wien den Rückzug Serbiens aus Albanien. Wieder gab [<<17||18>>] Serbien nach, wieder war der Krieg vermieden worden, zum Ärger jener Teile der k. u. k. Staatsführung, die nur einen geeigneten Anlass zum Losschlagen suchten …

Deutschland hatte, wann immer es in diesen Jahren Krieg hätte geben können, Österreich-Ungarn seine bedingungslose Unterstützung zugesagt.

Ein Kontinent des Gegeneinanders

Im Europa des 19. Jahrhunderts galt Krieg als etwas Normales im Leben der Nationen. Als »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«, wie der preußische Militärschriftsteller Carl von Clausewitz formuliert hatte. Das galt auch für Angriffskriege. Jeder Staat versuchte, die eigene Kraft durch Bündnisse zu verstärken. Deutschland fühlte sich durch Frankreich im Westen und Russland im Osten bedroht. Es schloss 1879 ein Bündnis mit Österreich-Ungarn. 1882 kam Italien dazu. Ein, wie sich zeigen solle, sehr unsicherer Partner mit Ambitionen auf Kolonien in Afrika und Gebietserwerb auf dem Ostufer der Adria.

Frankreich und Großbritannien setzten 1904 diesem »Dreibund« ein eigenes Bündnis entgegen, die »Entente cordiale« (»herzliches Einvernehmen«). Russland kam 1907 als dritter Partner dazu. Dem Dreibund schloss sich wiederum Rumänien als heimlicher Verbündeter an. Serbien stand unter dem besonderen Schutz Russlands.

Losschlagen oder auf den Angriff des Gegners warten?

Klar, dass die Bündnispartner militärische Absprachen trafen. In Berlin ging man davon aus, dass Deutschland von Frankreich und Russland in die Zange genommen werden könnte. Um im Fall eines [<<18||19>>] Zweifrontenkriegs bestehen zu können, sollte nach den Plänen des deutschen Generalstabschefs Alfred von Schlieffen zunächst Frankreich angegriffen und niedergeworfen werden. Anschließend ginge es gegen Russland. Schlieffens Nachfolger, Helmut von Moltke, fand daran nichts auszusetzen.

Österreichs Militärplanung war flexibler, wollte aber ebenso Prioritäten setzen. Ein Teil des Heeres sollte gegen Russland, ein anderer gegen Serbien aufmarschieren. Ein dritter Teil sollte dort zum Einsatz kommen, wo man ihn dringender brauchte: Falls es Krieg mit Russland gab, an dieser Front. Falls nicht, auf dem Balkan. Am liebsten wäre Conrad gewesen, wenn Österreich-Ungarn von sich aus Serbien oder auch (das mit Österreich verbündete!) Italien angreifen würde. So stünde später die ganze Kraft der k. u. k. Monarchie für den Kampf gegen Russland zur Verfügung.

» Losschlagen, bevor es zu spät ist, weil die Gegner immer stärker werden« – das war ein in Deutschland und in der k. u. k. Monarchie weitverbreiteter Gedanke. In Deutschland, um die empfundene Einkreisung durch Frankreich und Russland zu beenden, in Österreich aber auch, um die dahinkränkelnde, am Streit der Nationalitäten leidende übernationale Monarchie zu retten. Der Sieg der Armee über äußere Feinde sollte die auseinanderstrebenden Völker der Monarchie wieder zusammenführen. [<<19||21>>]

Der Anlass

[<<21||22>>] Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie wurden am 28. Juni 1914 im Konak von Sarajevo aufgebahrt. Am darauffolgenden Tag wurde mit der Überführung der Leichen nach Metković begonnen, in dessen Nähe die Särge auf das Flottenflaggenschiff der k. u. k. Kriegsmarine »Viribus unitis« gebracht und nach Triest überführt wurden. [<<22||23>>]

 

Der Mord von Sarajevo

Es begann in Bosnien. Eine Gruppe junger bosnischer Serben beschloss im März 1914, ein Attentat gegen einen hohen Vertreter des Habsburger-Staates auszuführen. Als bekannt wurde, dass der Thronfolger Franz Ferdinand Ende Juni 1914 Truppenübungen beobachten und dann die bosnische Hauptstadt Sarajevo besuchen werde, wählten sie ihn als Ziel. Die jungen Verschwörer wurden in Serbien ausgebildet. Vage Gerüchte über den Attentatsplan erreichten die serbische Regierung. Der serbische Botschafter in Wien berichtete einem österreichischen Minister so allgemein und missverständlich darüber, dass dieser die Warnung nicht weitergab. Franz Ferdinand maß den Gerüchten keine Bedeutung bei. So gab es am 28. Juni 1914 auf der Fahrt des Erzherzogs und seiner Frau im offenen Auto durch Sarajevo nur wenige Polizisten, aber mehrere Attentäter mit Handgranaten und Pistolen. Ein erster Anschlag während der Fahrt in die Stadt misslang. Unverständlicherweise fuhr man wenig später denselben Weg zurück – und diesmal traf der 17-jährige Gavrilo Princip mit seiner Pistole genau. Seine Schüsse verletzten Franz Ferdinand und seine Frau Sophie tödlich.

Österreich-Ungarn will den Krieg

Dass das Attentat von serbischem Boden aus geplant worden war, wurde von Anfang an vermutet und bald auch durch Geständnisse untermauert. Wieder einmal Serbien! Das Land, das die südslawischen Teile der Habsburgermonarchie an sich reißen wollte. Das Land, das man in den letzten Jahren schon einige Male nur mit Androhung von Gewalt zum Einlenken hatte bringen können. Das Land, das durch die Eroberungen der Balkankriege größer, stärker [<<23||24>>] und selbstbewusster geworden war. Conrad von Hötzendorf schreibt in seinen Erinnerungen: »Der Mord von Sarajevo schloss eine lange Kette als letztes Glied. Er war nicht die Tat eines einzelnen Fanatikers, er war das Werk eines wohlorganisierten Anschlags, er war die Kriegserklärung Serbiens an Österreich-Ungarn. Sie konnte nur mehr mit dem Krieg erwidert werden.«

So dachte auch der Minister des Äußern Leopold Graf Berchtold, so dachte auch der Kaiser. Und hätte Österreich-Ungarn in den ersten Tagen nach dem Attentat losgeschlagen, wäre ihm die Sympathie der meisten anderen Staaten gewiss gewesen. Aber es sollte einen Monat dauern, bis die ersten Schüsse fielen. Und in dieser Zeit waren Trauer, Betroffenheit und Verständnis in den europäischen Hauptstädten längst wieder kühlen politischen Überlegungen gewichen. Und so wurde aus einer geplanten kurzen Strafexpedition nach Belgrad ein vier Jahre dauernder Krieg mit 17 Millionen toten Soldaten und Zivilisten.

Deutschland gibt »Blankoscheck«

Österreich-Ungarn machte sich zum Krieg bereit. Schon wenige Tage nach dem Attentat von Sarajevo wurde klar, dass Deutschland Österreich unterstützen würde. Wie sehr, das sollte einer der engsten Mitarbeiter des k.u.k Außenministers in Berlin herausfinden: Alexander Graf Hoyos. Am 5. Juli 1914 fuhr Hoyos nach Berlin. In Gesprächen mit der deutschen Regierungsspitze und mit Kaiser Wilhelm II. erhielt er die Zusage unbedingter Unterstützung. Einen Blankoscheck selbst für den Fall, dass Russland in den Krieg gegen Serbien eingreifen sollte. Österreichs Botschafter in Berlin berichtete nach Wien über das Gespräch mit dem deutschen Kaiser: »Russlands Haltung werde jedenfalls feindselig sein … und sollte es zu einem Krieg zwischen Österreich-Ungarn [<<24||25>>] und Russland kommen, so könnten wir davon überzeugt sein, dass Deutschland in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen würde. Wenn wir aber wirklich die Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien erkannt hätten, so würde er [Kaiser Wilhelm] es bedauern, wenn wir den jetzigen, für uns so günstigen Moment ungenützt ließen.«

Dennoch sollte es noch drei Wochen dauern, bis Österreich den Krieg gegen Serbien in Gang brachte. (Und den »so günstigen Moment ungenützt« ließ.) Der ungarische Ministerpräsident István Graf Tisza sperrte sich gegen sofortiges Handeln. Er schlug am 7. Juli vor: Erst konkrete Forderungen an Serbien stellen. Dann, nach der zu erwartenden Weigerung Serbiens, den Krieg erklären. In einem Brief an Kaiser Franz Joseph erklärte Tisza, es gehe darum, Serbien die Schuld am Krieg zuzuschieben. Ein Serbien, »welches die Kriegsgefahr dadurch auf sich gewälzt hatte, dass es sich selbst nach der Sarajevoer Gräueltat geweigert habe, die Pflichten eines anständigen Nachbarn ehrlich zu erfüllen«.

In Sarajevo wurden währenddessen die Attentäter verhört. Ein hoher Beamter des Außenministeriums berichtete am 13. Juli nach Wien: »Mitwisserschaft der serbischen Regierung … oder Bestellung der Waffen durch nichts bewiesen oder auch nur zu vermuten. … Durch Aussagen Beschuldigter kaum anfechtbar festgestellt, dass Attentat in Belgrad beschlossen und unter Mitwirkung serbischer Staatsbahnbeamten … vorbereitet. Ursprung Bomben aus serbischem Armeemagazin Kragujevac.« Es war bestenfalls die halbe Wahrheit.

Unannehmbare Bedingungen

Spitzenbeamte des Wiener Außenministeriums gingen daran, ein Schriftstück zu entwerfen, das den Krieg herbeiführen sollte. Ein [<<25||26>>] Schriftstück, in dem Serbien Bedingungen gestellt werden sollten, die es kaum akzeptieren konnte. Die Forderung, die Serbien nach österreichischer Ansicht nicht werde annehmen können, lautete am Ende: »Die königlich serbische Regierung verpflichtet sich, eine Untersuchung gegen jene Teilnehmer des Komplottes vom 28. Juni einzuleiten, die sich auf serbischem Territorium befinden; von der k. u. k. Regierung hierzu delegierte Organe werden an den diesbezüglichen Erhebungen teilnehmen.« Am 19. Juli stimmte auch der ungarische Ministerpräsident Tisza dem Text des Ultimatums an Serbien zu, und seiner Übergabe an die Serben. Er hatte als Einziger bisher gebremst.

Am 23. Juli 1914 um 18 Uhr wurde das Schriftstück mit Österreichs Forderungen an die serbische Regierung übergeben. Sobald der Text bekannt wurde, hagelte es Kritik. Belgien: »Unqualifizierbar«. Großbritanniens Außenminister: »Übelstes Schriftstück«. Italiens Botschafter am Zarenhof: »Unannehmbare« Bedingungen. Russlands Außenminister: »Das ist der Krieg.«

Großbritannien unternahm noch einen Versuch, diesen Krieg zu verhindern. Das britische Außenministerium schlug vor, Großbritannien, das Deutsche Reich, Frankreich und Italien sollten eine gemeinsame Vermittlungsaktion starten. Österreich-Ungarn sollte die Frist des Ultimatums verlängern. Als keine der angesprochenen Mächte antwortete, ließ der britische Außenminister in Berlin nachfragen. Deutschland reagierte positiv, aber Frankreich und Russland lehnten ab.

Am 25. Juli 1914, knapp vor 18 Uhr, überbrachte der serbische Regierungschef Nikola Pašić Serbiens Antwort in die österreichisch-ungarische Botschaft in Belgrad. Serbien nahm die meisten, aber nicht alle Forderungen Wiens an. Es lehnte die Teilnahme von österreichisch-ungarischen Vertretern an der Untersuchung der Vorbereitung des Attentats ab. Der k. u. k. Gesandte reiste wenige Minuten später mit dem gesamten Botschaftspersonal ab. Serbien [<<26||27>>] hatte schon einige Stunden vorher seiner Armee den Befehl gegeben, sich auf einen Krieg vorzubereiten …

Die Kriegserklärung

Was der deutsche Kaiser Wilhelm II. in dem Monat zwischen den Schüssen von Sarajewo und dem Beginn des Weltkrieges dachte, wissen wir sehr gut. Wilhelm versah viele Schriftstücke, die man ihm vorlegte, mit ausführlichen und sehr emotionalen Anmerkungen. Nichts dergleichen tat Kaiser Franz Joseph. Er pflegte seine Berater, Mitarbeiter und Minister einzeln zu sprechen. Aufgeschrieben wurde nichts. Franz Joseph fuhr am 29. Juni von seiner Sommerfrische in Bad Ischl zurück nach Wien. Schon acht Tage später, am 7. Juli, fuhr er wieder nach Bad Ischl zurück. In einem Gespräch mit seinem Außenminister, dem Grafen Berchtold, fiel in den Tagen zwischen 30. Juni und 2. Juli zum ersten Mal das Wort »Krieg!«. Die Weichen waren gestellt. Der Kaiser hatte gesagt, was er wollte und ging davon aus, dass seine Minister entsprechend handeln würden. In Bad Ischl unterschrieb Franz Joseph die Kriegserklärung an Serbien:

»Es war Mein sehnlichster Wunsch, die Jahre, die Mir durch Gottes Gnade noch beschieden sind, Werken des Friedens zu weihen und Meine Völker vor den schweren Opfern und Lasten des Krieges zu bewahren. Im Rate der Vorsehung ward es anders beschlossen … Mit rasch vergessendem Undank hat das Königreich Serbien, das von den ersten Anfängen seiner staatlichen Selbständigkeit bis in die neueste Zeit von Meinen Vorfahren und Mir gestützt und gefördert worden war, schon vor Jahren den Weg offener Feindseligkeiten gegen Österreich-Ungarn betreten … Diesem unerträglichen Treiben muss Einhalt geboten werden, den unaufhörlichen Herausforderungen Serbiens ein Ende bereitet werden … [<<27||28>>] Vergebens hat Meine Regierung noch einen letzten Versuch unternommen, dieses Ziel mit friedlichen Mitteln zu erreichen, Serbien durch eine ernste Mahnung zur Umkehr zu bewegen … So muss ich denn daran schreiten, mit Waffengewalt die unerlässlichen Bürgschaften zu schaffen, die Meinen Staaten die Ruhe im Innern und den dauernden Frieden nach außen sichern sollen. … Ich vertraue auf Österreich-Ungarns tapfere und von hingebungsvoller Begeisterung erfüllte Wehrmacht. Und Ich vertraue auf den Allmächtigen, dass Er unseren Waffen den Sieg verleihen werde.«

Ein Anlass – viele Gründe

»Wir haben den Krieg angefangen, nicht die Deutschen und noch weniger die Entente – das weiß ich«, schrieb der junge österreich-ungarische Diplomat Leopold von Andrian-Werburg. Er hatte im Außenministerium in Wien genau verfolgen können, wie die Monarchie den Krieg gegen Serbien vorbereitete. Gegen ein Nachbarland, das sich auf Kosten der Monarchie vergrößern wollte. Das auf dem Gebiet der Monarchie politischen Widerstand organisierte. Und das mit Russlands wohlwollender Rückendeckung handelte. Und das den Krieg riskierte.

Europa taumelt in die Katastrophe

Am 28. Juli wurde die Kriegserklärung der serbischen Regierung übergeben. Russland reagierte am 29. Juli mit der Alarmierung eines Teiles seiner Truppen. Die deutsche Regierung teilte Russland mit, sie würde ein Fortschreiten der russischen Kriegsvorbereitungen mit der eigenen Mobilmachung beantworten. Russland aber ließ am 30. Juli sein ganzes Heer kriegsbereit machen. Am 31. Juli [<<28||29>>] forderte Deutschland Russland auf, innerhalb von zwölf Stunden die Generalmobilmachung einzustellen. Gleichzeitig forderte Deutschland Frankreich auf, in einem deutsch-russischen Krieg neutral zu bleiben.

Als Russland innerhalb der geforderten zwölf Stunden nicht auf Deutschlands Begehren antwortete, versetzte Deutschland seine Truppen in Kriegsbereitschaft und erklärte am Abend des 1. August Russland den Krieg. Am 3. August folgte die deutsche Kriegserklärung an Frankreich, das sich geweigert hatte, seine Neutralität zu erklären.

Deutschland war militärisch stärker als Frankreich oder Russland allein, aber schwächer als beide zusammen. Sein Kriegsplan sah vor, überfallsartig durch das neutrale Belgien Frankreich vom Norden her anzugreifen, Paris zu erobern und dann die weiter im Osten an der deutsch-französischen Grenze stehenden französischen Armeen auszuschalten. Dann wollte Deutschland seine ganze militärische Kraft gegen Russland wenden. Belgien wurde aufgefordert, die deutschen Truppen ungehindert passieren zu lassen. Aber Belgien lehnte ab. Daher mussten die deutschen Armeen sich kämpfend den Weg nach Frankreich bahnen. Das kostete Zeit. Aber noch entscheidender war, dass Großbritannien am 4. August wegen des Überfalls auf Belgien Deutschland den Krieg erklärte und rasch Truppen nach Frankreich zu verlegen begann. Am 5. August erfolgte die Kriegserklärung Montenegros an die k. u. k. Monarchie. Am 6. August erklärte schließlich Österreich-Ungarn Russland den Krieg.

Erlösung durch den Krieg

Große Teile der Bevölkerung aller europäischen Staaten begrüßten den Krieg. Zur Überraschung der Staats- und Wirtschaftseliten [<<29||30>>] gehörten dazu auch die Sozialdemokraten. Sie hatten immer gesagt, Kriege dienten nur den Interessen der Reichen und Mächtigen. Aber da jetzt, im Sommer 1914, jeder Staat behauptete, sich nur gegen Angriffe von außen verteidigen zu müssen, redeten auch die sozialdemokratischen Führer dem Krieg das Wort. In Deutschland stimmten die Sozialdemokraten im Parlament für die Freigabe der Geldmittel, die die Armee zur Kriegführung brauchte. In der sozialdemokratischen »Arbeiter-Zeitung« in Wien konnte man lesen, es handle sich um eine »heilige Sache des deutschen [und damit auch des deutsch-österreichischen] Volkes«. Der sozialdemokratische Reichsratsabgeordnete Wilhelm Ellenbogen schrieb, die Hauptgegner seien Imperialismus und Zarismus: »Diesem barbarischen Ungeheuer verschlägt es nichts, die ganze Menschheit in das grauenvolle Elend eines Weltkrieges zu stürzen.«

Eine ungeheure Kriegsbegeisterung kam auf. Studenten, Professoren, Künstler, Philosophen, Dichter, Schriftsteller, Priester, Atheisten, Anarchisten, politische Aktivisten, Radikale: Alle wollten dabei sein, wenn der lange europäische Frieden zu Ende ging. Der Krieg, schrieb der Schriftsteller Stefan Zweig, hatte »etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches« an sich, »dem man sich schwer entziehen konnte«. Und Sigmund Freud notierte: »Ich fühle mich vielleicht zum ersten Mal seit 30 Jahren als Österreicher und möchte es noch einmal mit diesem wenig hoffnungsvollen Reich versuchen …« Der österreichische Arbeiterdichter Alfons Petzold schrieb: »Nun gilt’s nicht mehr, ob schwarz ob rot, ob Pfaffe oder Genosse …« In den Kirchen der Erzdiözese Wien wurde ein Hirtenbrief des Kardinals verlesen: »Tage schwerer Prüfung sind über unser Vaterland hereingebrochen … Unserem vielgeliebten Kaiser … ist … das Kriegsschwert in die Hand gedrückt worden … Mit vollem Vertrauen auf die gerechte Sache unseres Vaterlandes ziehen unsere Söhne und Brüder in den Kampf.«

[<<30||31>>] Die Bilder und Worte aus Wien, Berlin, Paris, London, St. Petersburg und Belgrad decken sich über weite Strecken: Die Entfesselung des Kriegs wurde als befreiende Tat gesehen, und das in mehrfacher Weise. Sie beendete nach vier Wochen das Zuwarten und eine Spannung, der sich kaum jemand hatte entziehen können. In dieses Gefühl des »Endlich ist es soweit!« mischten sich aber auch aller Ärger, alle Enttäuschung, aller Frust über jahrelanges vergebliches Verhandeln.

Später, weit später sollte Hans Weigel von der »Schande des Geistes in Deutschland und Österreich« schreiben. Aber das, was Weigel anklagte, gab es im August 1914 in allen Ländern. [<<31||33>>]

Die Realität des Kriegs

[<<33||34>>] Einwaggonierung und Verabschiedung von Truppen der Wiener Garnison auf dem Ostbahnhof, 1914. Am 28. Juli 1914 begannen die Transporte der mobilgemachten k. u. k. Truppen an die serbische Grenze. Ab Anfang August rollten die Transporte nach Galizien. Mehr als eine Million Soldaten musste in die Aufmarschräume gebracht werden. Der Transport der Mannschaften erfolgte mit Güterzugwaggons mit der Aufschrift »Für 40 Mann oder 6 Pferde«. Offiziere wurden mit normalen Personenwagen befördert. [<<34||35>>]

 

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