Der Exote - Ernst Wiechert - E-Book

Der Exote E-Book

Ernst Wiechert

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Beschreibung

"Der Exote" – ein überraschend heiteres Werk Wiecherts. Der Schüler Wiltangel kehrt nach zehnjähriger Abwesenheit von seiner Hazienda am La Plata in das enge Dorf Riechenberg zurück. Nicht nur die Tatsache, dass er eine Melone statt einem Bürgerhut trägt und diese auch noch saltoschlagend durch die Luft wirbelt, macht ihn für die Bewohner Riechenbergs zu einem Exoten. Doch mit der Ankunft des Rückkehrers verändert sich die Stadt...-

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Ernst Wiechert

Der Exote

 

Saga

Der Exote

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1951, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726927627

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

I

»Zweihundertfünfundsechzig!« seufzte der Stationsvorsteher und starrte auf die gelben Säulen der Zehnpfennigstücke, die sich vor ihm auf dem Kassenblech türmten. »Das war noch nie da!« Und da er ein ordentlicher Mann war, nahm er ein Lineal, legte es an jeden einzelnen der schwankenden Türme und richtete sie mit der linken Hand so vorsichtig und genau, daß sie wie kleine, halbgoldene Obelisken kerzengerade auf der Platte seines Schalters standen.

Der Zug hatte eine halbe Stunde Verspätung. Eine Kette an einer Bauholzlore war gerissen, und zwei Stämme lagen quer über den Schienen. Es war gerade Zeit genug, um die Münzen für die verkauften Bahnsteigkarten zu ordnen. Im ganzen Jahr verkaufte er nicht so viele Karten.

Er sah auf die Uhr, blickte durch das Seitenfenster nach dem schrägen Arm des Einfahrtsignals, setzte die neue rote Mütze auf und ging hinaus.

»Verrückt!« sagte er noch auf der Schwelle.

Der Raum vor den beiden Geleisen war eine einzige Menschenmauer. In den Linden des Vorplatzes, auf dem Zaun der Sperre, auf dem Dach des Güterschuppens saßen die Gymnasiasten mit ihren roten Mützen. Alle Gesichter waren nach Westen gewendet, wo das Signal vor dem rötlichen Abendhimmel stand.

»Augenblick, bitte!« sagte der Vorsteher und drängte sich durch die Sperre. Er sah sorgenvoll, fast leidend aus. Er trug die Verantwortung für diesen ganzen »Klamauk«. Es brauchte nur ein Kind überfahren zu werden, und es würde hundert Protokolle geben. »Zurücktreten, bitte!« rief er. Wie über einen Exerzierplatz.

»Antreten zum Zugempfang!« krähte eine Stimme vom Dach. Alle Gesichter wendeten sich um neunzig Grad wie die Scheibe eines Weichensignals. Alles lachte.

Kiekebusch droht mit dem Signalstab.

»Hurra für Kiekebusch!« kräht dieselbe Stimme.

»Hurra!« brüllte es von Zäunen, Dächern und Bäumen. Es waren natürlich die Gymnasiasten, Tertien und Sekunden, die Herren der Stadt.

Professor Boas, Ordinarius der Untersekunda, zog die Schultern unter Kaisermantel und Maurerhut ein. Aber er notierte. Jeden Namen, jede Gebärde, jedes Wort.

Der Stationsvorsteher bekam die Hand nicht von der Mütze. Riechenberg hatte dreitausend Einwohner, und er kannte jeden von ihnen. »Ja, eine Kette«, sagte er höflich zum zwölften Mal. »Immer bummeln sie beim Laden … Errungenschaften der Republik … Kommt gleich, schon gemeldet … Empfang wie ein Präsident, der Indianer … ja, was so aus Kindern werden kann … Kleinigkeit zurück, bitte …«

Nur Fräulein Bierkandt, »von der Post«, trat nicht zurück, auch nicht eine Kleinigkeit. Es war ihr Indianer und ihr Empfang. Sie hatte vor vier Wochen die Kabelnachricht aus La Plata aufgenommen – »La Plata, Herr Postmeister, hören Sie? ›adlerapotheke riechenberg stop eintreffe anfang juni stop wolf.‹ Mein Gott, wer ist das, Herr Postmeister?«

»Tscha, Fräulein Bierkandt, das ist nun wohl der Sohn von den Apothekers … sechs … warten Sie mal … zehn Jahre verschollen … kam an den Schalter und verlangte sechs Briefmarken zu sieben Mark achtzig … ›Gibt's nicht, Herr Wolf … Tut mir leid, mangelhafte Zustände bei der Reichspost …‹ Freche Kröte, der Herr Wolf …«

»Aber aus La Plata, Herr Postmeister!«

Nein, Fräulein Bierkandt trat nicht zurück. Sie war immer ein bißchen exaltiert gewesen, und als der Vikar sich mit der Tochter des Superintendenten aus der Kreisstadt verlobt hatte statt mit ihr, hatte sie Veronal genommen. Drei Tabletten, aber auf ihren Nachttisch hatte sie vier leere Glasröhren gelegt. Sie wachte nicht auf. Die Stadt sollte erfahren, was sie gelitten hatte. Und sie erfuhr es. Fräulein Bierkandt hörte den Jammer ihrer Wirtin, aber sie wachte nicht auf. Der Kreisarzt wunderte sich noch immer, wenn er sie traf.

»Tscha, sie wird wohl ein büschen geschwindelt haben«, meinte der Postmeister. »Wenn Sie 33 im Telefon verlangen, gibt sie Ihnen 333. So ist sie. Immer 'n büschen zulegen.«

»Nein, Herr Kiekebusch«, sagte sie und betrachtete die Spitzen ihrer Schlangenschuhe. »La Plata, das ist meine persönliche Angelegenheit. Die Stadt am Silberstrom. Fünfunddreißig Grad südlicher Breite. Entfernung von Ufer zu Ufer gleich der Strecke Hamburg – Lübeck. Haben Sie schon mal ein Kabeltelegramm aus der Silberstadt aufgenommen? Und das zweite? ›eintreffe morgen achtzehn fünfundvierzig. wolf.‹«

»Kommt!« schrie eine Stimme von den Dächern.

Die Lokomotive 89 507 Maffei München lief ebenso stöhnend, keuchend und widerwillig ein wie sonst, aber Hunderte von jungen Augen sahen die gebändigte Wildheit der Urkräfte in ihr, den donnernden Klang blankgeraster Weichen, den Atem der Kontinente, die bebende Brücke über dem Silberstrom.

Der Zugführer stieg aus. Der Schaffner stieg aus. Zwölf Milchkannen wurden ausgeladen, ein Faß Heringe für Adolf Oldekamp Nachf., eine Kiste mit »Vorsicht! Glas!« für Schramm & Seliger. Aber dahinter ein Ungetüm von Koffer, ein schwarzes Koffergebirge mit Messingbeschlägen, blauen, roten, grünen Zetteln, Fabellandschaften, fremden Namen, und dem hochmütigen Glanz, aus dem Erdteile zu lächeln schienen.

»Aaa…h!«

Und dann war es zu Ende. Aus den Fenstern starrten bestürzte Gesichter. Heizer und Lokomotivführer beugten sich tief aus ihrem berußten Stand. Zugführer und Schaffner fragten, ob Riechenberg auswandern wolle. Ob sie den Indianer nicht mit hätten? Indianer? Was für einen Indianer? Nun, der Koffer! Ja, der sei eingeladen worden, Abgangsstation Hamburg. Indianer seien nicht im Zug gewesen.

Fräulein Bierkandt weinte, ein Spitzentaschentuch vor den Augen. Man müsse den Zug durchsuchen, die zweite Klasse, ja! Vielleicht schlafe er! Wie ein Pampaswolf hinter den Gittern der Kultur …

Aber Kiekebusch zuckte die Achseln. Dasselbe taten Zugführer und Schaffner. Die Pfeife schrillte, einmal lang, zweimal kurz. Eine weiße Vulkansäule schoß aus dem hohen Schornstein empor, von unterirdischen Feuern rötlich erhellt. Unter ihr begannen die Räder sich zu bewegen, die Gelenke zu stöhnen, die toten Fenster öde hinauszugleiten, ein elender, erbärmlicher Provinzzug, der Milchkannen, Butterfässer und Kätner über die Piswethe kutschierte statt Pampaswölfe über den Silberstrom.

Die Boa notierte, daß der erste Pfiff auf zwei Fingern aus der Linde am Güterschuppen kam, wo die Sekundaner hingen. Ein gellendes, verruchtes Signal, das Kennzeichen einer Jugend, die das Ausbleiben einer Sensation mit unflätigem Hohn quittierte. »Schiebung!« war ein beliebtes Wort in jenen Zeiten, und auf dieser Grundlage baute sich das Konzert der Enttäuschten auf. Der Bahnhof johlte wie zu den Zeiten der Revolution, als man den Bürgermeister auf einer Kieslore in die Verbannung geschickt hatte.

Aber auch das Johlen erschöpfte sich. Es zauberte keine Indianer aus den Hügeln und Roggenfeldern hinter den Geleisen. Der Signalarm vor dem rötlichen Himmel fiel klirrend in die horizontale Lage zurück, der Bahnsteig wurde leer, der Platz vor der Station, der Zaun, das Schuppendach, die Linden. Weißer Staub stand über dem Zug der Heimkehrer auf der Chaussee. Die Gymnasiasten schossen mit Katapulten nach den Spatzen im jungen Weizen, und auf Professor Boas Maurerhut landete aus dem Hintergrund eine vorjährige Eichel. »Wieder mal enttäuscht, der Schüler Wiltangel!« stellte eine spitze Stimme, für Boas Ohren in seiner bekannten Formel berechnet, fest.

Kiekebusch und der Mann von der Sperre standen einsam vor dem Koffergebirge. Es lag wie ein Sarg auf dem Kies des Bahnsteigs. »Da könnt' man fast wohnen in«, bemerkte der Knipser tiefsinnig.

»Könnte eine Schlange drin sein, Doligkeit«, erwiderte Kiekebusch ebenso. Es war dreißig Jahre her, seitdem er die Schule verlassen hatte.

»Tjawoll, Herr Vorsteher …«

Dann schleppten sie die exotische Fracht durch die Sperre.

Sie hatten die Tür des Güterschuppens noch nicht aufgeschoben, als der Milchwagen der Domäne von der Chaussee einbog. August, ohne besonderen Zunamen, hatte einen Gespannknecht mit Furunkeln in das Krankenhaus bringen müssen und war an der Station vorübergefahren, auf der die Kette über der Bauholzlore gerissen war. Und Wolf, der Indianer, hatte aus seinem Fenster gesehen – dritter Klasse, Raucher – und August wiedererkannt, mit dem er Iltisfallen gebaut und Äpfel gestohlen hatte. »Hello, August!« hatte er gerufen. Und August hatte gegrinst, die Pfeife aus dem Munde genommen und den rechten Zeigefinger gehoben, was in ihrer alten Sprache bedeutete, daß alles »all right« sei.

So kam es, daß Kiekebusch und sein Knipser neben der roten Melkerjacke Augusts einen jungen, sorglos-eleganten Herrn erblickten, in einem losen grauen Mantel, der gerade mit der rechten Hand eine Zigarette drehte, ohne Zuhilfenahme der Linken, eine Handlung, der August, die Leine hängen lassend, mit offenem Munde schweigend und andächtig zusah.

Die Pferde blieben von selbst vor dem Güterschuppen stehen. »Gotts Dunner!« sagte August ergriffen.

Der Indianer führte das Papier an die Lippen. »Na, Kiekebusch!« sagte er zwischendurch, als sei er vor einer Stunde vorbeigefahren. »Meine Kiste an Bord?«

»Das haben Sie mal wieder wie früher gedeichselt«, erwiderte der Vorsteher. »Zweihundertfünfundsechzig Bahnsteigkarten und ebenso viele Zaungäste … und der Exote kommt auf dem Milchwagen an.«

»Was für 'n Herr?«

»Der Herr Exote … so sagt Fräulein Bierkandt von der Post. Sie hat das Kabeltelegramm aufgenommen, und eben hat sie geweint.«

»Geht vorüber, Kiekebusch … Wissen Sie noch, als ich mich unter den Zug legte und dreißig Achsen über mich rollen ließ? Doligkeit bekam Krämpfe, was?«

»Ach, Herr Wolf, Sie waren schon ein Teufel …«

»Faß an, August …«

Dann drehte er für jeden eine Zigarette in der rechten Hand, und sie rauchten. »In memoriam«, sagte Wolf. Doligkeit legte seinen Anteil unter die Mütze. Wolf saß auf der Wagendeichsel, den Hut im Nacken, und hörte zu. Seine grauen Augen waren noch nicht zurückgekehrt. »Schön, August, wollen fahren«, sagte er, mitten in eine Kiekebusch-Erinnerung hinein.

Sie erreichten den Zug der Heimkehrer auf der letzten Anhöhe vor der Stadt. Unten lagen die beglänzten Dächer, Kirchturm und Schornstein der Schneidemühle, See und Wald. Die Pappeln standen hoch und schmal an der Brücke, die Schwalben glänzten im rötlichen Licht. Wolf bekam Falten im Gesicht, zwei scharfe graue Linien zu den Mundwinkeln hinunter. »Home, sweet home …«, sagte er mit harten Augen.

August sah ihn von der Seite an, aber er fragte nicht. Er nahm die Peitsche auf und fuhr im Trabe hinunter. Alle Milchwagen fuhren dort im Trabe bergab.

Als der erste Zweifingerpfiff erklang, lächelte Wolf. Das war wohl noch seine Schule. Er nahm die Zigarette aus dem Mund, steckte zwei Knebel in die Lippenwinkel und erwiderte die Begrüßung. Es klang wie eine Torpedopfeife, die sich aus der Brandung erhob. Es eroberte alle noch nicht zwanzigjährigen Seelen. Es war wie der erste Blitz über den Pampas.

Fräulein Bierkandt lauschte mit strahlenden Augen. Alle Vikare der Welt mit allen zehn Fingern im Munde würden das nicht fertigbringen.

Der Wagen war neben der Mitte des Zuges. Die beiden Schimmel scheuten zum ersten Mal seit zehn Jahren. »Hoch!« heulte eine sich überschlagende Stimmbruchstimme.

»Hurra!« brüllte das Gymnasium.

Wolf sah Kameraden von den dumpfen Bänken der Schulzeit. Ihre Gesichter waren stehengeblieben in den zehn Jahren wie faulendes Wasser. Er sah Frauen, die er als Mädchen, und Mädchen, die er als Kinder gekannt hatte, und unbeschriebene Gesichter, wie frischgeschnittenes Holz. Die Abendsonne machte sie glatt und froh. Er sah Freunde seines Elternhauses, die Zeugen dumpfer Jahre, und er roch die Luft ihrer Stuben.

Er sah seine Eltern nicht, aber er sah den Maurerhut … »Wieder einmal der Schüler Wiltangel …« Er sah von oben hinein in das vor der Abendsonne zusammengekniffene Gesicht, das bis in die Träume der Campfeuer ihm nachgeschlichen war … »der Schüler Wiltangel ist … sozusagen … ein Seuchenherd in dieser Stadt …«

»Eheu!« rief Professor Boas. Es war weithin zu hören mit der quäkenden Stimme, die Wolf nachzuahmen gepflegt hatte, unter der Bank, in der linken Ecke am Ofen.

Und hier geschah als Antwort die erste Äußerung des Heimgekehrten nach seinem Torpedopfiff. Er zog plötzlich die Schultern ein und stieß sie wieder in die Höhe, nicht unähnlich einem Kiebitz, der, im Ufergras sitzend, einen unbekannten Feind erblickt. Und bei dieser zweiten Bewegung flog die schwarze Melone von seinem Kopf plötzlich empor, überschlug sich einmal mit einem ruhigen Salto in der Luft und kehrte gehorsam, als sei nichts geschehen, auf das dunkle Haar zurück. Eine Fertigkeit, die in den Varietés am Silberstrom so gut zu Hause war wie in irgendeiner Zirkusarena der alten Welt.

Aber in Riechenberg war sie nicht zu Hause und am wenigsten angesichts einer wohlgekleideten Menge, auf der Höhe eines Milchwagens, über dem erblassenden Gesicht eines Gymnasialprofessors, dessen Lippen noch gerundet waren unter dem feierlichen Wort einer klassischen Sprache.

Kein Wunder, daß junge und ältere Kehlen von neuem johlten, daß würdige Gesichter zu lächeln und andere sich zu verfinstern fortfuhren, lange nachdem der Wagen mit den beiden seltsamen Gestalten hinter dem Koffergebirge in einer weißen Staubwand verschwunden war. Es war ein Debüt von bemerkenswerter Haltung. Ein Pfiff und ein Salto. Nichts weiter. Kein Wort, kein Lächeln, keine Begrüßung, nur die verwirrende Stummheit einer Pantomime, wie eine Maske aus einer fremden Welt.

»Gotts Dunner!« sagte August zum zweiten Mal, als er die Zügel vor der Apotheke am Markt anzog.

Sie schleppten die Koffer auf die Steintreppe. Es war noch dasselbe Geländer. Gußeisen, an dem die Zunge bei zwanzig Grad Frost anfror. »Morgen abend an der Halbinsel«, sagte Wolf. »Tabak für dich mit. Navy cut.«

Erst als der Wagen abfuhr, öffnete der Apotheker die Tür. Die Blechglocke klirrte. Der leise Jenseitsduft der Offizin, gedämpft und von zurückhaltender Fremdheit, zog über die Schwelle.

»Na, Junge …« sagte der alte Wiltangel und hob die etwas zitternden Hände.

»Ja, Vater …«, erwiderte Wolf.

Mehr wurde nicht gesprochen nach zehn Jahren, und noch auf der Schwelle, als sie den Koffer hineinzogen, wußte der Heimgekehrte, daß es dies war, wonach er Sehnsucht empfunden hatte: diese schöne Wortkargheit der Gefühle, das stille Geltenlassen, der gütige Blick, der über die Etiketts der Menschen wie über die der Phiolen und Gläser ging, nichts verlangend, wenig sich verwundernd, alles wissend.

Ein Blick über die stille Feierlichkeit der Schränke, die strenge Ordnung der Helfer zu Leben und Tod. Schalen, Mörser, Tiegel. Alles wie ein gebändigter Zauber, der auf seine Stunde wartete.

»Oben?«

»Ja.«

Da war das Geländer, auf dem er heruntergesaust war. Derselbe Kokosläufer, braun mit grün. Dieselbe Schale, die oben unter den dunklen Balken brannte. Und darunter die aufrechte, strenge Gestalt im schwarzen Kleid. Dieselben Augen, dieselben Falten zu den Mundwinkeln wie bei ihm, nur bitterer, weil sie in einen weicheren Untergrund geschnitten waren. Derselbe Blick wie früher, der nach abgerissenen Knöpfen, schmutzigen Fingernägeln, blutigen Schrammen suchte, nach dem Unbürgerlichen, nach der Revolution.

»Komischer Hut«, sagte sie von oben, mit nüchterner Feststellung.

Ein Junge kam wieder die Treppe hinauf, der erschrak, wie Kinder erschrecken, weil er vergessen hatte, den Hut abzunehmen. »Ja, Mutter, so trägt man ihn da … guten Tag … hoffe, daß du gesund bist …«

Er küßt ihre Hand, und sie ist hart wie früher. Sie betrachtet ihn lange, jede Falte seines Gesichtes. Ihre Augenbrauen sind streng: zwei Striche wie von einer Schreibmaschine. Dann neigt sie sich und küßt seine Stirn. Die Lippen brennen, und die Haut erschrickt, weil sie Kälte erwartet hat.

»Sei willkommen«, sagte sie. »… Der Milchwagen erschien dir das Passendste?«

»August war passend«, erwiderte er, flüchtig lächelnd. »Du mußt dich an einiges gewöhnen … sonst hat es wenig Zweck … Ich bin nicht zurückgewachsen, sondern vorwärts … laß mich ein wenig Gast sein.«

»Wie lange bleibst du?«

»Ich kann ein halbes Jahr fortbleiben, höchstens.«

»Zeit genug für Dummheiten … Bist du reich?«

»No.«

»Dann komm, du Gast aus Amerika … aber möchtest du bitte deutsch sprechen hier.«

Der alte Wiltangel sah unten um die Tür der Offizin. Ja, das Essen sei fertig. Vater und Sohn standen am Fenster und blickten auf den Markt, während das Mädchen auftrug. Frau Wiltangel war in der Küche. Das Bild der toten Schwester hing über dem Nähtisch. Wolf sah es am Rande seines Gesichtsfeldes. Lieselott, ja … fast hatte er den Namen vergessen … ein Kinderbett mit weißen Stäben … ein zarter Körper, der sich in Krämpfen wand … »Das Pulver, schnell!« Seine Hände zitterten und verschütteten das Wasser über den Nachttisch … eine Ohrfeige, hart wie die Hand, die sie gibt … Auf ihrem Totenbett, denkt er, würde sie mich noch schlagen …

Vorbei … Da stehen die Häuser des Marktes. Gras wächst zwischen den Steinen. Spatzen lärmen um die Pumpe. Er kommt vom Notabitur in der Schule … morgen ist der Krieg, auch für ihn … er trägt den roten Zylinder als der Jüngste, obwohl sie es verboten hat – »Ich wünsche keinen Hanswurst zum Sohn!« – Sie tritt aus einer Ladentür … Menschen sehen aus allen Fenstern … vor aller Menschen Augen rollt der rote Zylinder in den Schmutz der Straße, und seine Wange brennt unter ihrer Hand … vor aller Menschen Augen hebt er den Hut auf, setzt ihn auf sein Haar und geht an einer fremden Frau, die seine Mutter ist, vorbei in sein Haus …

»Alles stehengeblieben, Wolf …«

»Ja, Vater, Häuser, Menschen … es ist gut bei dir.«

Dann setzen sie sich zu Tisch. Es ist so sauber, blank und geordnet wie in einem Operationssaal, immer noch. Eine Tasse umwerfen wäre soviel wie eine Flasche Salzsäure auf die Wunde fallen lassen, die der Professor soeben zu nähen beginnt. Er achtet auf seine Hände.

Ihm gegenüber sitzt die Gestalt des Vaters, klein, schmal und geräuschlos, als esse er in einem Löwenkäfig. »Wie ist es, Wolf?« fragte er leise.

»Oh, es ist auskömmlich, du weißt ja. Und viel Raum. Zwanzigtausend hat die Hazienda. Preußische Morgen. Der Verwalter ist gut. Ein Kavallerieoffizier. Graf. Reitet gut und hat gute Umgangsformen. Das übrige ist etwas verschüttet worden im Kriege. Ahnen, Geld, Rang und so weiter. Aber er spielt herrlich Handharmonika …«

»Nein, das andre meine ich … die Sonne, das Pampagras, die Indianer …«

Er sieht über die Brille zu ihm herüber. Mit den braunen Augen eines sanften Tieres, die hinter einem Gitter stehen. Es ist Wolf, als könne man durch sie hindurchsehen, bis an das Ende der Welt.

»Es ist schön, Vater. Raum. Viel Raum. Es atmet sich leicht. Du riechst nicht, was der Nachbar kocht und denkt.«

Der Apotheker lächelt, nur mit den Augen, und die Mutter rückt an der Teekanne, bis der Henkel rechtwinklig zur Längsseite des Tisches steht.

»Wer wirtschaftet dir in deinem ›Raum‹?«

Er lächelt. »Eine Kreolin. Sie trägt sieben Ringe und Seidengewänder.«

»Stiehlt natürlich?«

»Nicht mehr als üblich.«

»Raucht?«

»Fünfzig täglich, schätze ich.«

»Das kommt von dem leichten Atem dort …«

»Die Welt ist groß, Mutter, und Riechenberg ist nicht ihre Hauptstadt.«

»So … und was willst du hier anstellen?«

»Ein bißchen wiedersehen … Menschen, Lehrer, Singvögel … die Boa war auf der Chaussee. Hat ihren Hut noch nicht waschen lassen seither.«

Ein Löffel klirrt leise an der Tasse, aber es erfolgt nichts.

»Und hier? Die Gesichter waren säuerlich, die ich sah. Nur August ist all right. Ein Kleinkaliberkommunist. Will einen Anteil an der Sahne, die er zur Molkerei fährt … Und der Stammtisch?«

»Ja, bißchen kümmerlich, Wolf.«

Er spielt schon wieder mit Brotkugeln, ohne es zu merken. »Einen Honoratiorentisch gibt es immer noch?«

»Hoffentlich!« erwidert die Mutter. Es geht wie ein Scherenschnitt durch das Tischtuch.

Wolf knetet ein Götzenbild aus Brot. »Waren vier Tramps in Arizona«, sagte er nachdenklich. »Waren aus dem Zuge geflogen und aßen am Bahndamm in einem Loch. Grimmig kalt. Die Sonne reichte nur für zwei. ›Leute ohne Schuhe in die Sonne!‹ sagte Jimmy. ›Leute mit Schuhen sind unecht. Nicht honorable!‹ Wolf Wiltangel saß im Schatten, weil er noch Schuhe hatte. Die Honourables waren ein irischer Strolch und ein Müllkutscher aus Köln am Rhein. Auch Jimmy hatte Schuhe.«

Die Mutter hebt die Tafel auf und führt Wolf in sein Zimmer. Sie müsse noch zur Frau Amtsrichter, zu einer Parteisitzung.

»Olala«, meint Wolf. Der Koffer steht wie ein Sarg neben dem Ofen. Er schließt ihn schnell auf, wirft ein paar Anzüge auf das Bett und hebt einen gewebten indischen Vorhang in das Licht. Die fremde Welt leuchtet seltsam in dem schmalen Knabenzimmer.

Frau Wiltangel nimmt ihn mit spitzen Fingern. »Komisch …«, sagt sie. »Danke.«

»Ein paar Kleinigkeiten kann ich erst morgen auspacken«, setzt er hinzu.

»Ja … Bügel für die Anzüge sind im Schrank«, sagt sie mit leiser Betonung und streift die verstreuten Kleider auf dem Bett mit einem Blick, als seien es falsche Wechsel.

Der Vater steht noch immer auf der Schwelle und starrt auf den Vorhang, den die fremden Hände gewebt haben.

Dann sitzen sie in dem kleinen Raum hinter der Offizin. Das Fenster geht auf eine Gartenecke mit seltsamen Blüten und Pflanzen. Die Regale der Wände sind mit Herbarien gefüllt. Käfer und Schmetterlinge liegen in den flachen Kästen mit der Wirrheit ihrer Formen und ihrer leuchtenden Farben. Ausgestopfte Vögel, fremd in Form und Gefieder, schimmern aus den dunklen Nischen. Eine große Karte von Amerika hängt an der freien Wand, und eine rote Linie, vielfach gewunden, läuft quer durch die Erdteile, von den großen Seen nach Alaska, über die Prärien nach Florida, fließt wie eine dünne Blutbahn von den Aztekenstädten bis zu den Quellen des Amazonas, ins Land der Inka, zum Orinoko zurück und hinunter bis zu den Nebeln des Feuerlandes. Zahlen stehen dabei, Buchstaben, Pfeile, geheimnisvolle Zeichen.

Eine andre hängt daneben, selbstgezeichnet: Sie stellt die Umgebung von Riechenberg dar, und sie ist mit farbigen Punkten übersät, mit Kreissektoren, schwarz und weiß, mit Liniennetzen und Pfeilen, die in den leeren Raum vorstoßen.

Wolf sieht sie an. »Ja, siehst du, das ist die Apotheke. Ausdehnung, Rückgang, Sieg oder Niederlage von Medikamenten, Sterblichkeit und Geburten. Hier kann ich lesen, wie lange ich noch brauche, um verkaufen zu können und …«

»… und von der Hazienda in die Urwälder zu gehen.« Der Apotheker lächelt und gießt den Wein in die Gläser. Der Tisch ist bedeckt mit den Schätzen des schwarzen Koffers, mit Käfern, Schmetterlingen, Pfeilgift, Matten, Kürbisflaschen, Halbedelsteinen, Schildkrötenschalen, Herbarien und Blasrohren. »Erfüllt hast du es, Wolf«, sagt der Apotheker mit zitternden Lippen. »Meine schwache Leiter hast du hinausgebaut über die Ozeane …!« Er hält die schwarze Brasil-Zigarre feierlich in der erhobenen Hand, und wenn sein Sohn ein Vagabund wäre, würde er ihn als einen König an seinen Tisch setzen.

Die Luft ist blau um sie wie von Rauch der Lagerfeuer. Dem Apotheker ist, als ständen seltsame Rufe über ihnen in der Nacht, als glänzten die Sterne anders im Viereck des Fensters, und als töne die Stimme des Wanderers ruhig und nachtgedämpft aus den riesigen Räumen zwischen den Ufern des Bärenflusses und denen des Silberstromes.

Bis die Blechglocke schrill in ihre Träume klirrt. Sie gehen beide in die Offizin. Die Tür ist wie eine Tür zwischen zwei Erdteilen.

Fräulein Bierkandt ist da und möchte Aspirintabletten. Sie trägt ihre Schlangenschuhe, und ihre etwas ekstatischen Augen umfangen das Gesicht des Mannes vom Silberstrom. Der Apotheker macht sie bekannt, und Wolf fragt, ob sie es sei, die ihn über die Taufe gehalten habe. Sie wird glühend rot und schüttelt den Kopf. Bis er Kiekebusch und den »Exoten« erwähnt. Ja, es habe sie so wahnsinnig erschüttert. Ein Kabeltelegramm aus La Plata. Und nach Riechenberg! Ob es ihm nicht wahnsinnig komisch hier vorkomme? Dort ginge doch wohl alles nackt?

Ja, sagt er ernst, die Mädchen trügen nur ein Feigenblatt. Es wirke wahnsinnig vornehm.

Sie lacht sehr viel. Sie läßt das Markstück fallen, schreit leise auf wie ein erschreckter Vogel und bückt sich schnell, um ihm zuvorzukommen. Aber er beeilt sich nicht sonderlich. Trotzdem äußert sie, ihn von unten anblickend, daß er stahlgehärtete Glieder haben müsse. Wie ein Panther bewege er sich.

Der Panther habe genug Blut geleckt, erwidert er und kehrt ohne besondere Höflichkeit durch die Tür in den tropischen Erdteil zurück.

»Welch ein Sohn!« flüstert sie in der Offizin, preßt des Apothekers Hand wie mit einem Schwur, drückt das Aspirin an ihre Brust und geht auf Zehenspitzen zur Tür, als schlafe ein König im Nebenraum.

Oben, im dunklen Treppenhaus, legt Wolf die Hand auf die Hand seines Vaters, die nach dem Schalter sucht. »Und … Barbara?« fragt er.

»Ja … sie ist ja nun sechs Jahre verheiratet … sie sieht nicht sehr gut aus … Aber es ist besser, Wolf, die Finger nicht zwischen die Elemente zu stecken …«

»Macht nichts«, sagt Wolf. »Gute Nacht.«

Er sieht noch einmal aus dem Fenster seines Knabenzimmers auf den Markt. Der Mond hängt gelb über den Dächern. Eine Katze klagt, und ein einsam schlürfender Schritt ertrinkt in den Gassen am See. Aber ein leiser Wind kommt über das Wasser, und es riecht nach Schilf und großen, verlassenen Wäldern.

Er dreht sich langsam um und betrachtet die Dinge seiner Kinderzeit. Da ist der Schrank mit dem Spielzeug. Eine entgleiste Eisenbahn, ein zusammengestürzter Steinbaukasten, Kasperlefiguren wie vom Aussatz zerfressen, Bogen mit zerrissenen Sehnen, entfiederte Pfeile. Er nimmt sie einzeln in die Hand und legt sie langsam zurück. Da ist der Tisch, an dessen Fuß die Mutter ihn anzubinden pflegte, wenn – »wieder einmal« – der Schüler Wiltangel zu Klagen Anlaß gegeben hatte. Da ist der gebrannte Haussegen über dem Bett. – »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.«

Der Vater … ja … das kleine Postfräulein … August … die Boa constrictor … der Mond … Barbara … und alles andere …

Ein Pferd muß ich mir besorgen, denkt er, … und durch die Wälder reiten … Es war unvorsichtig, von einem halben Jahr zu reden …

Es klopft noch einmal leise. »Wolf«, sagt der Apotheker und steckt den Kopf durch die Tür, »gestern war Boas hier. Er leidet an der Leber. ›La Plata, Herr Apotheker‹, sagte er, ›Wo der Schüler Wiltangel ja einige Fortschritte gemacht haben soll, liegt in??‹ ›In Südamerika, Herr Professor.‹