Der fabelhafte Buchladen des Mr. Livingstone - Mónica Gutiérrez - E-Book
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Der fabelhafte Buchladen des Mr. Livingstone E-Book

Mónica Gutiérrez

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Beschreibung

Als die junge Archäologin Agnes Martí nach London zieht, um ein neues Leben zu beginnen, ahnt sie nicht, dass sie inmitten der schnelllebigen britischen Metropole eine Oase der Ruhe finden wird. Bei einem Erkundungsgang durch den Stadtteil Temple von einem plötzlichen Regenschauer überrascht, flüchtet sie sich in eine ganz besondere Buchhandlung namens Moonlight Books. Edward Livingstone, der Eigentümer, sucht gerade nach einer Aushilfe, und während Agnes bei einer Tasse Tee wieder trocken wird, haben beide den Eindruck, dass das Schicksal sie nicht zufällig an diesem Ort zusammengeführt hat. In den folgenden Tagen lernt Agnes nicht nur die Arbeit einer Buchhändlerin kennen und lieben, sondern auch ihren humorvoll-brummigen Chef, die eigenwillige Stammkundschaft und den Zauber des kleinen Buchladens, der seinen Namen einem kreisrunden Fenster verdankt, durch das in den Abendstunden der Mond scheint. Als eines Tages das wertvollste Buch von Moonlight Books verschwindet, tritt ein hilfsbereiter Polizeiinspektor in Erscheinung, um den Fall zu lösen und Agnes' beschauliches Leben durcheinanderzuwirbeln.

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Titel der spanischen Originalausgabe: La Librería del Señor Livingstone

Aus dem Spanischen übersetzt von Petra Zickmann

 

© 2017 by Mónica Gutiérrez Artero

© 2020 by Penguin Random House Grupo Editorial, S. A. U., Barcelona

Die Originalausgabe erschien bei Penguin Random House Grupo Editorial,

S. A. U., Barcelona

© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe

Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, Wien

Covergestaltung: Christina Krutz, Biebesheim am Rhein

Coverabbildung: Masson/Shutterstock und Rosanne de Vries/Shutterstock

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

1

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Epilog

Anmerkungen

 

Für meinen Ingenieur.Für alles.Immer.

1

Mr. Livingstone fand es abscheulich, dass Roberta Twist ihren einzigen Sohn auf den Namen Oliver hatte taufen lassen. Nicht weil er etwas gegen die presbyterianische Gemeinde oder die schauderhafte Kuppel der St.-Andrew-Kirche gehabt hätte, wo die Zeremonie damals stattgefunden hatte, sondern weil er der Meinung war, dass es einer gehörigen Portion Bosheit bedurfte, um von Montag bis Freitag ein Kind namens Oliver Twist vor seinem Buchladen auszusetzen.

Seine Jahre als Buchhändler konnte Edward Livingstone schon nicht mehr zählen. Dabei handelte es sich nicht etwa um Leidenschaft oder Berufung, vielmehr war es eine Frage des Überlebens: Mr. Livingstone, der mittlerweile auf die fünfzig zuging, verstand sich auf Bücher einfach besser als auf Menschen. Und auch wenn dieser letzte Satz vielleicht nicht hundertprozentig zutraf – selbst für den bärbeißigsten aller Buchhändler gibt es ja Ausnahmen –, drehte sich das Leben in einem Buchladen nun mal um viele Bücher und wenig Kundschaft.

Das Geschäft mit dem stolzen blauen Schild, auf dem in weißen Lettern der Name Moonlight Books prangte, befand sich in einem alten langgestreckten zweistöckigen Gebäude in einem der Gässchen des Stadtteils Temple. Es teilte sein bescheidenes Quartier mit einem Schuhladen, der seine besten Zeiten in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts erlebt hatte, und einem Herrenschneider, der eine frappierende Ähnlichkeit mit Mr. Magoo besaß und so betagt war, dass die Mehrheit seiner Kundschaft seine Dienste nie wieder in Anspruch nehmen würde. Mr. Livingstone störte die etwas versteckte Lage seines Ladens nicht, da er die feste Überzeugung vertrat, dass ein Leben ohne eine Prise Geheimnis uninteressant war.

Von außen betrachtet, bestand Moonlight Books ganz aus blau gestrichenem Holz und blitzblanken Schaufenstern, hinter denen ein Reigen von Romanen mehr oder weniger erfolgreich um die Aufmerksamkeit der Passanten warb. Um die Dekoration kümmerte sich Mr. Livingstone nicht persönlich, pflegte jedoch mit einem kurzen Knurren sein Einverständnis zur Auswahl der Titel kundzutun. Die Tür, ebenfalls aus blauem Holz, hatte einen originellen Knauf in Form einer Schreibfeder, und wer danach griff, den empfing ein seltsamer kleiner Glöckchenklang.

Edward Livingstone hatte seine Bücher nach einem ganz eigenen Kanon geordnet: die Klassiker im Erdgeschoss und oben die zeitgenössischen Autoren – zusammen mit Büchern über Philosophie, Theologie, Geschichte und andere Wissenschaften sowie Reiseliteratur und Landkarten, sodass sich nicht einmal die neuzeitlichsten Schriftsteller dem achtsamen Blick von Aristoteles, Plutarch, Thukydides, Voltaire, Rousseau und Kant als den würdevollen Wächtern der Moderne entziehen konnten. Mr. Livingstone fand, dass man, bevor man sich die neuzeitlichen Bücher im ersten Stock vornahm, erst einmal die Klassiker im Erdgeschoss zur Kenntnis nehmen sollte – daher seine ungewöhnliche Aufteilung. Die beiden Stockwerke mit den gebohnerten alten knarzenden Dielenböden und den hinter dicht gefüllten Bücherregalen fast verschwundenen Wänden, an deren Farbe sich längst niemand mehr erinnerte – vielleicht waren sie früher einmal fliederfarben gewesen –, verband eine einsame Wendeltreppe, ebenfalls aus Holz und herrschaftlich flankiert von einem mit verschnörkelten Rosen und Blättermotiven verzierten Geländer aus schwarzem Schmiedeeisen. Über das prachtvolle Jugendstilgeländer verlor der Besitzer der kleinen Buchhandlung zwar nie ein Wort, doch wären die scharfen Beobachter in diesem Jahrhundert nicht ausgestorben, wäre ihnen gewiss nicht die Zärtlichkeit entgangen, mit der Mr. Livingstones Fingerspitzen über das dunkle Metall strichen, wann immer er die wunderschöne alte Treppe hinauf- oder hinunterging.

Wenn man in einer sternenklaren Nacht den Blick zur Decke von Moonlight Books hob, verstand man sofort, warum der Inhaber seinem Laden diesen Namen gegeben hatte, der darüber hinaus seiner Meinung nach entschieden besser zu der Buchhandlung passte als »Oliver« zu Mrs. Twists einzigem Kind. Über dem Giebel des Obergeschosses erhob sich ein pryramidenförmiges Oberlicht aus Glas. Tagsüber fiel bei dem üblichen Londoner Regenwetter kaum Licht hindurch, doch wer in einer wolkenlosen Nacht nach oben schaute, wurde mit einem überwältigenden Himmelspanorama belohnt. Neben der alten Wendeltreppe war dieses Dachfenster wohl der kostbarste Schatz, den die alte Buchhandlung zu bieten hatte.

Edward Livingstone war entfernt verwandt mit jenem berühmten schottischen Arzt, Gegner von Sklaverei und Forschungsreisenden, der die Wasserfälle des Sambesi entdeckt und ihnen den Namen Victoriafälle gegeben hatte. Doch anders als sein viktorianischer Vorfahre widmete Mr. Livingstone sein Leben nicht Landkarten und Reisenotizen, sondern auf erheblich weniger abenteuerliche Weise seinen Lieblingsbüchern. Wie es sich für einen guten Buchhändler gehörte, war der Laden seine Welt, die Lektüre sein Land, und das alphabetische Verzeichnis aller Titel und Autoren, das er seit einigen Jahren in digitaler Form pflegte, obwohl er selbst an seinen schlechtesten Tagen imstande war, auf Anhieb jedes Buch zu finden, nach dem er gefragt wurde, entsprach seiner Verfassung.

Der Tag, an dem der kleine Oliver Twist mit der unbestechlichen Logik seiner acht Jahre Mr. Livingstones wohlsortierte Arbeitsroutine durcheinanderbrachte, von der er niemals abzuweichen pflegte, war ein Dienstag. Wie stets im Londoner November brach die Dämmerung rasch herein, in der Buchhandlung brannte bereits Licht, und im Erdgeschoss durchstöberten drei Kunden die Tische mit den Neuerscheinungen. Während sie hin- und hergingen, knirschten die alten Dielen unter ihren Füßen, und der exzentrische Buchhändler war noch unleidlicherals sonst.

An diesem Nachmittag war Edward Livingstone unzählige Male seine schöne Wendeltreppe rauf- und runtergestiegen und völlig außer Atem. Er hatte die frisch gelieferten Bücher eingeräumt – der Dienstagmorgen war den Lieferanten vorbehalten – und war so erschöpft, dass er sich oben einen Moment in einen der dunkelvioletten Sessel setzen musste.

»Sie sollten jemanden einstellen, der Ihnen hilft.«

Das naseweise Stimmchen von Oliver Twist, der sich auf der oberen Etage mit seinem Rucksack und einigen Astronomiebüchern an seinem Stammplatz in der Abteilung für Historisches niedergelassen hatte, ging Mr. Livingstone sofort auf die Nerven.

»Und du solltest mal endlich nach Hause gehen.«

Oliver, der wusste, dass seine Mutter ihn aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vor Ladenschluss abholen würde, zuckte mit den Schultern und vertiefte sich wieder in einen dicken Wälzer über die Jupitermonde. Die brüske Art des Ladenbesitzers war ihm so vertraut wie diesem die stille Gegenwart des Jungen im Obergeschoss.

Jeden Tag wartete Clara, das Hausmädchen der Twists, vor der Schule auf ihn, um ihm etwas zu essen zu bringen und ihn dann schweigend zu Moonlight Books zu begleiten. Oliver wusste nicht genau, worin Claras vertragliche Aufgaben bestanden, war sich jedoch ziemlich sicher, dass eine Sache nicht dazu zählte: nämlich er. Die Angestellte seiner Eltern beeilte sich, die lästige Pflicht zu erfüllen, wenn irgend möglich, ohne ein Wort sprechen zu müssen. Oliver kam sich vor wie ein Paket, das Clara auszuliefern hatte. Kein vernünftiger Mensch unterhält sich mit Paketen.

Mr. Livingstone hatte nicht viel an Oliver auszusetzen. Der Junge schien ihm über eine erstaunliche Dosis gesunden Menschenverstandes zu verfügen – etwas, woran es den meisten Leuten, die in seinem Laden ein und aus gingen, nur allzu häufig mangelte –, und so ertrug er geduldig die Marotten des altklugen Kindes. Und obgleich er von Mrs. Twists zweifelhaftem Geschmack überzeugt war und diesen mitverantwortlich dafür machte, dass Schulkinder Charles Dickens von klein auf hassten – Mr. Livingstone hatte den Verdacht, dass in den Familien von heute Dickens zugunsten der Lektüre mieser französisierter Autoren diskriminiert wurde –, war die Rechtsanwältin Roberta Twist nicht nur ebenso schön wie die Schneekönigin, sondern auch ebenso wenig geneigt, in ihrem frostigen Herzen Mitleid mit ihrem ständig vernachlässigten Sohn zu empfinden. Olivers Intelligenzquotient interessierte den Buchhändler also nicht, auch das familiäre Drama versuchte er zu ignorieren, aber er wusste die Bemerkungen und Beobachtungen dieses Jungen gebührend zu würdigen.

Einmal, als er noch annahm, die Anwesenheit des Kleinen in der Abteilung für Historisches sei nur vorübergehend, fragte er ihn, warum er seine Nachmittage in der Buchhandlunge verbringe.

»Hast du denn keine Lust, mit deinen Freunden Quidditch zu spielen?«, fragte er.

»Ich habe keine Freunde«, entgegnete Oliver, der zwischen einem Stapel Bücher auf dem Boden saß.

»Spielkameraden müssen ja nicht unbedingt Freunde sein«, korrigierte sich Mr. Livingstone, dem einfiel, dass auch sein Adressbuch vor Freunden nicht gerade aus den Nähten platzte.

»Ich bin gern hier.«

Am selben Abend ermahnte der Buchhändler wieder einmal Mrs. Twist.

»Das hier ist kein Hort. Sie können Ihren Sohn nicht jeden Tag hier abgeben.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich zahle Ihnen pro Stunde, was Sie wollen«, gab die Schneekönigin, in der einen Hand die Aktentasche, in der anderen ihr Mobiltelefon, hoheitsvoll zurück.

Getreu dem Prinzip, dass alles auf der Welt seinen Preis hat, kam es der Anwältin überhaupt nicht in den Sinn, dass derartige Allgemeinplätze beim Besitzer von Moonlight Books nicht fruchteten.

»Das ist eine Buchhandlung. Wir nehmen keine Parkgebühr für Kinder.«

»Oliver ist ein Kunde. Er macht keinen Dreck, er belästigt keinen, er beißt nicht«, erklärte sie knapp, und schon war sie aus der Tür.

Ihr Sohn hatte den Kopf eingezogen und war ihr mit hochroten Ohren gefolgt. Am nächsten Tag hatte er Mr. Livingstone gestanden, es sei sein Wunsch gewesen, nachmittags zu Moonlight Books zu kommen, und nicht die Idee seiner Eltern.

»Sie haben mich zu einem Haufen Kurse im Anschluss an die Schule angemeldet, aber nichts davon hat mir gefallen. Ich hab dafür gesorgt, dass ich überall rausgeflogen bin.«

»Wie das?«

»Ich hab so getan, als ob ich im Unterricht einschlafen würde. Die Psychologen raten Eltern ab, ihren Kindern Bildungsmaßnahmen aufzuzwingen, zu denen sie keine Lust haben. Und das Einzige, was ich möchte, ist das Weltall erforschen.«

Edward, der den Glauben an die pädagogischen Theorien schon Jahre zuvor verloren hatte, wollte die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Erklärung nicht vertiefen. Aber es interessierte ihn, warum sich der Junge ausgerechnet für seinen Buchladen entschieden hatte.

»Ich habe doch gar nicht viele Bücher über Astronomie.«

»Aber von hier aus kann man bei Nacht die Sterne sehen«, hatte Oliver geantwortet.

Edward seufzte. Wie hätte er es dem Jungen verübeln können, wenn er sich an dem einzigen Ort auf der Welt wohlfühlte, den auch er selbst als Zuflucht empfand.

Trotzdem war es weder diese Erkenntnis, welche Mr. Livingstone bewog, seine Beschwerden über Olivers regelmäßigen Aufenthalt im Laden einzustellen – Beschwerden, auf die Roberta Twist ohnehin nicht reagierte –, noch die Tatsache, dass die übrigen Kunden den Kleinen überhaupt nicht bemerkten. Auch lag es nicht an dessen respektvoller Liebe zu den Büchern, seiner Begeisterung für das Pyramidenfenster oder an der Zuneigung, die der Buchhändler mit der Zeit zu ihm fasste. Irgendwann gehörte Oliver Twist einfach zum Inventar von Moonlight Books. Jeden Nachmittag nach der Schule ließ er sich in der südlichen Ecke des Obergeschosses nieder, setzte sich auf den alten Holzfußboden, holte seine Schätze aus dem Ranzen (antike Sternkarten, Sextanten, Bücher, Papier und Buntstifte) und tauchte beglückt ein in die unermesslichen Weiten des Universums. Seine Rituale eines Weltraumreisenden wiederholte er so oft, dass sie zu einem festen Bestandteil von Mr. Livingstones Alltag wurden und ihm sogar etwas fehlte, als der Junge einmal wegen einer Grippe eine Woche lang zu Hause bleiben musste.

Edward spürte seine schmerzenden Lenden, bewegte die Füße, nur um festzustellen, dass seine Beine von der Anstrengung noch immer leicht zitterten, und verfluchte im Stillen die Verfallserscheinungen alternder Buchhändler. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, jemand Jüngeres zu engagieren, der ihm bei den Bestellungen zur Hand ging und die Schlepperei über die imposante Wendeltreppeabnahm.

»Ich hoffe, damit meinst du nicht dich selbst«, gab Mr. Livingstone zurück, als der Junge ihm seinen Vorschlag machte.

»Nein. Dazu habe ich keine Zeit, ich will nämlich …«

»… der jüngste Astronaut werden, den es je gab, ja, ja, ich weiß.«

»Nehmen Sie doch einen Studenten. Die sind kräftig und können Aushilfsjobs gut gebrauchen.«

»Von einer sechsjährigen Rotznase lasse ich mir normalerweise keine Ratschläge erteilen.«

»Ich bin acht Jahre, zwei Monate und drei Wochen alt.«

»Wie dem auch sei«, brummte Mr. Livingstone und warf einen Blick auf den Titel des Buches, das Oliver in den Händen hielt. »In dieser Buchhandlung bestimme ich und kein kleiner Astronaut von den Monden des Jupiters.«

Wenn einem der Klang einer Glocke die Stimmung verdüstern konnte, dann war es zweifellos die an der Tür von Moonlight Books. Ihr Läuten kündigte die Ankunft neuer Kundschaft an, und Edward Livingstone wusste, dass er hinuntergehen und an seiner Registrierkasse Position beziehen musste.

»Und damit eines klar ist«, sagte der Buchhändler, in dessen Wirbelsäule beim Aufstehen sämtliche Knochen knackten. »Wenn ich eine Teilzeitkraft einstelle, dann nicht, weil du das so beschlossen hast, sondern weil die neuen Ausgaben der Atlanten so schwer sind und ich einen ganzen Nachmittag lang schuften musste, um sie hier raufzuschaffen.«

Edward stieg seine geliebte Treppe hinunter, vergewisserte sich, dass unten alles in Ordnung war – schon vor langer Zeit hatte er alle unvorhersehbaren Ereignisse auf donnerstags verlegt –, und schaute sehnsüchtig zu seinem Lieblingstisch hinüber. Unter seinen hoch geschätzten Klassikern gab es im Erdgeschoss von Moonlight Books eine einzige Ausnahme: Bücher mit Bildern, Mr. Livingstones kleine, bunte Schwäche. Trotz seiner vielen Jahre als belesener und weiser Literaturliebhaber (oder vielleicht eben deswegen) schmolz er angesichts einer kunstvoll illustrierten Seite unweigerlich dahin. Ob in einem beliebigen, aufs Geratewohl herausgegriffenen Buch, in einem Katalog unter den Neuerscheinungen eines Verlages oder beim Blättern in einer antiken Rarität, deren Entdeckung für ihn mindestens so atemberaubend war wie die der Wasserfälle für den ursprünglichen Doktor Livingstone. Druckfrische, schöne Editionen von Benjamin Lacombe, Tim Burton, Iban Barrenetxea, Sara Morante, Charlotte Voake, Stephen Biesty oder Quentin Blake teilten sich einen großen, mehrstöckigen Tisch mit gut erhaltenen Ausgaben des grafischen Werkes von Maurice Sendak, George Barbier, Alphonse Mucha, Toulouse-Lautrec und Gustave Doré. Im Gegensatz zu der eisernen Ordnung, der Mr. Livingstone seine geliebten Bücher ansonsten unterwarf, war der Bereich der Illustration eine ungezähmte Wildnis, ein Niemandsland, das Maler, Zeichner, Kupferstecher, Publizisten, Designer und andere berühmte, gelehrte, aufgeklärte bildende Künstler beherbergte.

Auf diesem Tisch – von Edward augenzwinkernd »sein Bilderbüchertisch« genannt – thronte ein kleines Podest mit einer matt erleuchteten Vitrine, in der das aufgeschlagene Tagebuch von Mr. Livingstones abenteuerlustigem Vorfahren ausgestellt war: Aufzeichnungen zur Kartografie, Zoologie, Botanik und Geologie des afrikanischen Südens (1849–1851). Dabei handelte es sich um eine Originalhandschrift von Dr. David Livingstone, die dem Buchhändler etwa zehn Jahre zuvor von einer alleinstehenden Tante vererbt worden war. Auch wenn Edward seine historische Familienreliquie ganz unprätentiös in dem kleinen Glaskasten aufbewahrte, wusste doch jeder, der ihn kannte, wie viel sie ihm bedeutete. Aus Sorge um das Manuskript war er nicht einmal bereit, es Oliver zu zeigen, obwohl der sich beklagte, dass er das großartige Werk des Entdeckers nicht richtig betrachten konnte, weil die Vitrine zu hoch für ihn war.

Vielleicht lag es an dieser kleinen Insel der Anarchie mitten im Ozean seines streng geordneten Ladens, vielleicht auch daran, dass er dann doch nie den Scrooge-Preis für den grantigsten Buchhändler des Jahres gewonnen hatte (obwohl er dreimal nominiert gewesen war) – jedenfalls dauerte es nicht lange, bis sich Mr. Livingstones Zornesfalten glätteten und er seinen Grundsatz, nicht auf die guten Ratschläge eines Kindes zu hören, in den Wind schlug. Am selben Abend hängte er ein Schild an die Tür von Moonlight Books: Aushilfe gesucht.

2

Agnes Martí stieß einen Schmerzenslaut aus, als sie im Internet ihren Kontostand überprüfte. Sie war seit drei Monaten in London, und die gute Stelle, die zu finden sie sich geschworen hatte, als sie aus dem Flugzeug stieg, war noch immer nicht in Sicht.

»Ich haue ab«, hatte sie ihren Eltern gesagt, bevor sie ihre Geburtsstadt Barcelona verließ. »Ich habe diese prekären Arbeitsverhältnisse satt, die permanenten Kürzungen in der Forschung und immer bloß für vier Monate im Jahr ein Job. Ein paar Grabungen im Frühling, und wieder putze ich mit meinem Universitätsabschluss die Klinken dieser erbarmungslosen Stadt, mir reicht’s!«

Die Eltern wirkten eher traurig als beeindruckt von ihrem heroischen Vortrag und pflichteten ihr halbherzig bei. Sie wussten nicht, ob sie schon bereit waren für das Leeres-Nest-Syndrom, vor dem eine Tante, die Psychologin war, sie so oft gewarnt hatte.

»Was willst du in London denn machen?«, wollte ihre Mutter wissen.

»Ich würde gern in einem Museum arbeiten. In einem von den großen. Im British Museum.«

Bei den letzten beiden Worten wurde Agnes ganz leise. Es kam ihr vermessen vor, das British Museum auch nur in Betracht zu ziehen, und sie hatte noch nie zu denen gehört, die in Technicolor träumten. Wenn sie allerdings den Mut fände, ihre verrücktesten Sehnsüchte auszusprechen, würde sie womöglich auch die Kraft aufbringen, für deren Verwirklichung zu kämpfen. Agnes war keine Anhängerin der New-Age-Philosophie, aber ab und zu braucht jeder Mensch den Glauben, dass das Schicksal es gut mit ihm meint.

Es war im Frühjahr während der Grabungen in den sanften Hügeln der dämmrigen Landschaft um Oxyrhynchos gewesen, als ihr die Idee kam, auf der Suche nach neuen beruflichen Chancen nach London auszuwandern. Sie hatte ihr Archäologiestudium mit Bravour beendet und arbeitete seit fünf Jahren in unregelmäßigen Abständen an dem Fundort, den Prof. Dr. Josep Padró betreute. Oxyrhynchos oder Al Bahnasa lag südwestlich von Kairo und war einst die oberägyptische Stadt Per-Medjed gewesen, eine kulturell und kommerziell florierende Enklave in der hellenistischen Epoche, seit der arabischen Invasion im siebten Jahrhundert aber ein vergessener Winkel. Seit dem Jahr 2000 betrieben die Universität von Barcelona, die Katalanische Gesellschaft für Ägyptologie und der Antikendienst von Ägypten ein gemeinsames historisch-archäologisches Forschungsprojekt in dieser Gegend. Die Fundorte, der Erhalt der freigelegten Bauten, die archäologischen Neuentdeckungen und die Erforschung der hellenistischen Epoche im alten Ägypten, das waren die Sirenengesänge, die Agnes Jahr für Jahr in ihren Bann schlugen. Bei Sonnenuntergang, wenn ihr Arbeitstag zu Ende war, spazierte die Archäologin durch die Ruinen und ließ die einmaligen Farben Afrikas auf sich wirken, während der Staub sacht auf die Konturen der ausgegrabenen Reste herabsank. Ihr gefiel die Vorstellung, dass Flinders Petrie in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts über dieselben steinigen Pfadegewandert war.

Es war leicht, sich mitreißen zu lassen von der Romantik der Archäologie, der Kameradschaft unter den Wissenschaftlern und der Begeisterung des Professors. Doch wenn die Arbeiten vor Ort im Sommer ausgesetzt wurden und sie nach Barcelona zurückkehrte, erlitt Agnes unweigerlich den Schock ihrer unbefriedigenden Realität: Sie hatte ihr Englisch verbessert, war aber nach wie vor ohne festen Job, wohnte bei ihren Eltern, und alle ihre Archäologenfreunde hatten das Land verlassen oder überlebten dank ausbeuterischer Arbeitsverträge, sogenannter Müllverträge. Sie widerstand der Versuchung, in den Schuldienst zu gehen, weil sie fürchtete, in den Klassenzimmern Platzangst zu bekommen, und hielt ihr sommerliches Unbehagen in Schach, indem sie Abhandlungen über die Fortschritte in Oxyrhynchos verfasste. Bisher hatte sie drei Aufsätze veröffentlicht und für einen davon lobende Erwähnungen von Prof. Dr. Josep Padró und anderen renommierten Archäologen eingeheimst. Sie wusste, das genügte nicht, um ihr die Türen zum British Museum zu öffnen, hätte sich aber niemals verziehen, es nicht wenigstens probiert zu haben.

Seit sie nach London gezogen war, hatte sie sämtliche Kontakte angezapft, bis sie überall lästig wurde, sie wusste die Adressen von einem halben Dutzend Arbeitsagenturen auswendig und hatte ihre Bewerbungsunterlagen in allen Museen persönlich abgegeben. Es schien keinerlei Bedarf an Archäologinnen und Altertumsforscherinnen zu bestehen. Nicht einmal in den entlegensten Ecken der geheiligten englischen Kulturtempel.

»Es gibt keine Grabungen hier in Stratford-upon-Avon«, sagte sehr ernsthaft die weißhaarige Dame mit der Schildpattbrille in der zweiten Etage der British Library, die sich freundlicherweise die Mühe gemacht hatte, Agnes’ Referenzen zu überfliegen.

»Es muss nicht unbedingt eine Grabung sein.«

»Verzeihen Sie, aber ich verstehe nicht, warum Sie bei uns arbeiten wollen. Ihnen ist schon klar, dass das hier The Shakespeare Society ist, oder?«

»Vielleicht ist ja mal irgendein Manuskript zutage zu fördern. Oder das Alter einer Schrift zu bestimmen.«

»Wir arbeiten mit Linguisten und anderen seltsamen Leuten, nicht mit Archäologen.«

»Sie werden doch aber Historiker haben.«

»Wie aus den Annalen zu ersehen sein sollte.« Die Dame lachte über ihre eigene Schlagfertigkeit.

»Archäologen sind Historiker mit schmutzigen Händen.«

»Hier werden sie höchstens staubig von den Büchern.«

»Ich könnte den Staub wegmachen …«

In diesem Augenblick wurde sich Agnes Martí ihrer Verzweiflung bewusst, und sie begriff, dass die Erfolglosigkeit ihres Unterfangens sie allmählich um den Verstand brachte.

Als sie der weißhaarigen Dame mit der Schildpattbrille den Rücken kehrte, hätte ihr dramatischer Abgang die Bewunderung so mancher Julia-Darstellerin erregt. Mit Tränen in den Augen trottete sie zum Bahnhof Saint Pancras. Nicht dass sie eine spezielle Vorliebe für Bahnhöfe hegte, Saint Pancras aber, mit seinen roten Ziegelmauern, den Spitzbögen und der herrlichen Dachkonstruktion, hatte ihr Herz erobert. Die spektakuläre gotische Fassade war in den Harry-Potter-Filmen zu sehen, wo sie für die erheblich unscheinbarere Nachbarstation King’s Cross ausgegeben wurde. Agnes hatte sich immer gefragt, warum J. K. Rowling Gleis 9 ¾, von wo der Express nach Hogwarts abfuhr, nicht ins Innere von St. Pancras verlegt hatte.

Literarische Kriterien waren es allerdings nicht, die dazu geführt hatten, dass sich die arbeitslose Archäologin bereits in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in diesen Bahnhof verliebt hatte. Wenn sie dort ein wenig inneren Frieden fand, so lag das nicht allein an der Architektur von St. Pancras, sondern vor allem an zwei Gestalten, die der Bahnhof beherbergte – eine aus Metall und eine aus Fleisch und Blut. Das eine war die Statue des Dichters John Betjeman, die direkt am Haupteingang stand, und das andere ihre Vermieterin Jasmine, die als Kellnerin in der kleinen Filiale von Fortnum & Mason direkt am Bahnsteig arbeitete. Ersterer erinnerte Agnes an den romantischen Geist der Freiheit und mahnte sie zugleich, unbeirrbar der Stimme des Herzens zu folgen. Letztere war ihr sympathisch und servierte ihr Earl Grey mit einem Tropfen Milch zu einem Stück vom köstlichsten Carrot cake in ganz London.

John Betjeman hatte unermüdlich um den Erhalt des Bahnhofs von St. Pancras gekämpft, als man in London nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs ernsthaft über einen Abriss oder kompletten Umbau nachdachte. Unverdrossen wiederholte er, St. Pancras sei zu »schön und zu romantisch, um in einer Welt aus Beton zu überleben«, und müsse eben darum bewahrt werden. Sein leidenschaftlicher Appell hatte schließlich den Ausschlag gegeben, dass das Gebäude in seiner ursprünglichen Form wiederhergestellt wurde und nun, im 21. Jahrhundert, als eines der Schmuckstücke Londons, erschöpften Archäologinnen einen flüchtigen Moment der Zuversicht erlaubte.

Agnes liebte das Betjeman-Denkmal, eine Skulptur von Martin Jennings, die den Kopf in den Nacken legt, mit einer Hand den Hut festhält und in das lichtdurchflutete Gewölbe emporblickt. Ihr erschien diese Figur so tröstlich wie die Begegnung mit einem alten Freund. Im Kreis um seine Füße stand eingraviert ein Ausschnitt aus seinem Gedicht Winter Seascape:

Here where the cliffs alone prevail

I stand exultant, neutral, free,

And from the cushion of the gale

Behold a huge consoling sea.

An jenem Frühlingsnachmittag grüßte Agnes, die sich wie ein Häufchen Elend fühlte, still den Dichter und eilte dann weiter zu Fortnum & Mason. Sie betrat den Laden und setzte sich in den hinteren Teil, wo die runden Tische zur Tea Time gedeckt waren, auch wenn sie noch immer nicht herausgefunden hatte, wann genau das war, denn soweit sie bisher beobachten konnte, tranken die Londoner den ganzen Tag über Tee. Jasmine, eine füllige schwarze Frau mit lebhaften braunen Augen und einem großzügigen Lächeln, freute sich, sie zu sehen. Dank der Vermittlung einer gemeinsamen Freundin hatte sie Agnes eines der größten Zimmer in ihrem Haus überlassen und war heilfroh, endlich einmal eine Untermieterin gefunden zu haben, die sie wirklich mochte.

»Das Übliche?«

»Ja, bitte.«

Jasmine entging der bekümmerte Ton ihrer Mitbewohnerin nicht, doch stellte sie ihr erst einmal Tee und Kuchen hin, ehe sie sich nach dem Grund für ihre Leichenbittermiene erkundigte.

»Bei der Shakespeare Society haben sie mich gleich wieder hinauskomplimentiert.«

»Hast du etwa Marlowe erwähnt?«

»Ich habe gesagt, dass ich Archäologin bin und Arbeit suche.«

Agnes rührte in ihrem Tee und betrachtete unglücklich das zarte Muster aus roten und grünen Blümchen auf der Porzellantasse.

»Wenn ich nicht bald etwas finde, muss ich zurück nach Hause. So schwierig habe ich es mir nicht vorgestellt, und allmählich geht mir das Geld aus.«

»Wie kommst du darauf, dass man hier leichter einen guten Job findet als in Barcelona?«, fragte Jasmine.

»Weil es London ist, die Stadt der Wunder. Und der Museen, von denen keines Verwendung für mich hat.«

»Oh, meine liebe Alice«, spottete Jasmine, »wir sind hier nicht im Wunderland des Weißen Kaninchens.«

»Ich könnte ja auch hier arbeiten«, hörte sich Agnes zu ihrem eigenen Erstaunen plötzlich sagen.

»Bei der Nicht-Geburtstagsparty des Verrückten Hutmachers?«

Das behagliche Licht, die warmen Farben, die Einrichtung aus hellem Holz und der Duft des frisch aufgebrühten Tees, das alles hatte Agnes verleitet, diese Möglichkeit zu erwägen.

Jasmine schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre dunklen Locken flogen.

»Du würdest keine Woche durchhalten.«

»Ich bin Expertin in der Rekonstruktion von Gefäßen. So groß wird der Unterschied zwischen euren Tassen und Terra Sigillata wohl kaum sein.«

Der Geschäftsführer, ein dünner blasser Belgier, der aufpassen musste, dass man ihn nicht mit einem Besenstil verwechselte, machte Jasmine ein Zeichen und deutete auf einen anderen Tisch, an dem sich soeben ein Paar niedergelassen hatte. Während ihre Freundin die neuen Gäste bediente, verspeiste Agnes mit großem Appetit den ganz vorzüglichen Karottenkuchen und träumte von einer Anstellung als Vorkosterin für Desserts.

»Mir ist etwas eingefallen«, unterbrach die zurückgekehrte Jasmine ihre Fantasien, »als ich dich vorhin Alice genannt habe. Es gibt hier nämlich einen Ort …«

»Einen Kaninchenbau?«

»Nein, ein Stadtviertel, Temple. Ich glaube, das ist genau das Richtige gegen deine Weltuntergangsstimmung heute.«

»Gibt es da viele Museen und historische Institutionen?«

»Nein.«

»Warum soll ich dann da hin?«

»Weil … na ja, das wirst du schon sehen.«

»Und was mache ich da? Der Herzkönigin widersprechen, bis sie kreischend meinen Kopf fordert? Nicht mal enthauptet würde ich aufhören, über mein Unglück zu lamentieren.«

Missmutig reichte sie ihrer Freundin den Teller und die leere Tasse.

»Was, meinst du, finde ich da, Jasmine?«, seufzte sie, ein wenig gereizt.

»Kommt darauf an, was du suchst.«

Agnes verließ St. Pancras mit schwerem Herzen und in der Gewissheit, dass ihr der gelbe Staub in Oxyrhynchos, der einst auch Flinders Petries Stiefel bedeckte, das Hirn vernebelt haben musste, als sie sich entschlossen hatte, ihr Glück ausgerechnet in London zu versuchen. Sie würde die traurigen Überreste ihres Girokontos in ein Rückflugticket investieren und Jasmines Vorschlag als eine hübsche Art des Abschiednehmens von dieser außergewöhnlichen Stadt betrachten. Während sie die Treppen zur Tube hinunterging und anschließend zur Station Temple fuhr, betrauerte sie bereits ihre gescheiterte Mission. Zwischen dem Themse-Ufer und der Fleet Street, unweit der Waterloo Bridge, erstreckten sich die Grünanlagen von Middle Temple Gardens wie ein üppiger Teppich, wie ein Willkommensgruß an diesem friedvollen Fleckchen Erde, in den kleinen Gassen, den Hinterhöfen und Gärten des Temple-Bezirks. Agnes durchquerte den Park, bezaubert vom herbstlichen Zauber der blühenden Beete und der Farbenpracht der hohen Bäume, und mit einem Mal ließ ihr Pessimismus ein wenig nach. Als sie unter dem Bogen herging, durch den man den Temple-Bezirk vom Victoria Embankment aus betrat, wurde ihr klar, dass sie eine völlig andere Vorstellung von der Londoner Innenstadt gehabt hatte. Diese nahezu menschenleeren, sauberen, ruhigen Straßen entlangzuschlendern, versöhnte sie mit der Welt. In ihrem Reiseführer hatte sie gelesen, dass die meisten Rechtsanwälte der City – die Mitglieder der Inns of Courts – und andere privilegierte Zeitgenossen in diesen pittoresken Häusern wohnten, die sich fast alle um entzückende bepflanzte Hinterhöfe gruppierten.

Jasmine hatte recht gehabt, als sie meinte, dass ein Bummel durch dieses Viertel mit seinem englischen Charme wie Balsam auf die Seele ihrer niedergeschlagenen Freundin wirken würde. Agnes kümmerte es nicht, dass sich die rosa Wölkchen in Richtung Themse verzogen hatten, während über ihr der Himmel grau geworden war. Ihre Unternehmungslust war wiedererwacht, und sie erkundete voller Neugierde die ihr unbekannten Wege. Wagemutig versuchte sie sogar, in die Temple Church zu gelangen. Dreimal. Bis zum vierten Vorstoß fand sie den Eingang nicht, aber sie genoss den orientierungslosen Streifzug ohne Stadtplan und Uhr.