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Es ist der 28. August 2022 gegen fünf Uhr morgens in St. Johann in Tirol, als Florian Apler auf der Uferpromenade der Kitzbüheler Ache aufgefunden wird. Neben dem bewusstlos geschlagenen Mann der Kinderbuggy seines Sohnes – umgestürzt und leer. Wenig später wird der Leichnam des sechsjährigen Leon flussabwärts geborgen. Mit diesem Buch tritt Florian Apler erstmals an die Öffentlichkeit und berichtet schonungslos und gestützt auf seine Tagebuchaufzeichnungen über jene Ereignisse, die nicht nur das eigene Leben, sondern das seiner Familie für immer verändert haben. Vom Verlust des Kindes, seinen Ängsten und Sorgen, dem unverbrüchlichen Vertrauen seiner Familie und engsten Freunde und wie es ihm gelang, die Zeit im Gefängnis zu überstehen. Vor allem aber zeigen er und seine Mitstreiter die Mängel in der Polizeiarbeit und die skandalösen Methoden der Justiz auf. Methoden, die Florian Apler 522 Tage seines Lebens geraubt haben. Tage, die er nie wieder zurückbekommen wird.
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2025
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DER FALL LEON
FLORIAN APLER
VOLKER SCHÜTZ
522 TAGE UNSCHULDIGHINTER GITTERN
EIN UNVORSTELLBARERJUSTIZSKANDAL
Ich widme dieses Buch meinen beiden geliebten Kindern, meiner Frau und meiner Familie, die mich auf ihren Schultern durch diese schwere Zeit getragen haben.
Es ist für die Träumer, die nie aufhören, an das Unmögliche zu glauben, für diejenigen, die lieben, ohne Kompromisse zu machen, und für alle, die den Mut haben, für ihre Meinung einzustehen.
COVER
TITEL
VORWORT VON FLORIAN APLER
VORWORT VON RECHTSANWALT VOLKER SCHÜTZ
AUSZÜGE AUS DEM VERNEHMUNGSPROTOKOLL VOM 31. MAI 2023
„SIE DÜRFEN DEN GERICHTSSAAL ALS FREIER MANN VERLASSEN“– TEIL 1
LEON – MEIN GELIEBTER SCHNUFFI
DER 28. AUGUST 2022 – EIN TAG DER TRÄNEN
DIE MEDIEN – DAS GROSSE DRAMA
IM TIEFEN LOCH – DIE TRAURIGE ZEIT OHNE UNSEREN LEON
DIE KONSTRUKTION EINES MORDFALLS
27. FEBRUAR 2023 – DIE VERHAFTUNG AUF DER LANDSTRASSE
DER ALBTRAUM BEGINNT – AUFWACHEN UNMÖGLICH
DIE MEDIEN – DER VATER WAR'S! RICHTEN ODER BERICHTEN?
DAS TAGEBUCH VON UNTERSUCHUNGSHÄFTLING 186554
INSIDE – OUTSIDE
MEIN WUNDERVOLLES MÄDCHEN
GUTACHTEN, GUTACHTEN, GUTACHTEN
NICHTS ALS DIE WAHRHEIT?
TAG 369 – DER ENTHAFTUNGSANTRAG SCHEITERT
UNTERSUCHUNGSHAFT UND KEIN ENDE IN SICHT
SURVIVAL MODE – ÜBERLEBEN HINTER GITTERN
DER ERSTE PROZESSTAG 17. JULI 2024 – TAG 507 IN U-HAFT
DER ZWEITE PROZESSTAG 18. JULI 2024 – TAG 508 IN U-HAFT
DIE MEDIEN – DIE PRESSESCHAR IM GERICHTSSAAL
DER DRITTE PROZESSTAG 1. AUGUST 2024 – TEIL 1 – FREISPRUCH ODER LEBENSLÄNGLICH?
DAS SCHLUSSPLÄDOYER DES STAATSANWALTS
„DER ANGEKLAGTE HAT DAS LETZTE WORT“
DER DRITTE PROZESSTAG 1. AUGUST 2024 – TEIL 2 – DER FREISPRUCH – MINUTEN DES WAHNSINNS
DIE MEDIEN – DER GROSSE KNALL
DER GANZ BESONDERE GLÜCKSFALL – DIE AUFDECKUNGEN DURCH DEN IT-EXPERTEN DR. MARCO BÜCHLER
STELLUNGNAHME MEINES VERTEIDIGERS DR. ALBERT HEISS
„SIE DÜRFEN DEN GERICHTSSAAL ALS FREIER MANN VERLASSEN“ – TEIL 2
IMPRESSUM
§ 3 StPO Objektivität und Wahrheitserforschung
(1) Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht haben die Wahrheit zu erforschen und alle Tatsachen aufzuklären, die für die Beurteilung der Tat und des Beschuldigten von Bedeutung sind.
(2) Alle Richter, Staatsanwälte und kriminalpolizeilichen Organe haben ihr Amt unparteilich und unvoreingenommen auszuüben und jeden Anschein der Befangenheit zu vermeiden. Sie haben die zur Belastung und die zur Verteidigung des Beschuldigten dienenden Umstände mit der gleichen Sorgfalt zu ermitteln.
„Herr Staatsanwalt, sollten Sie oder jemand, der Sie kennt, diese Zeilen irgendwann in die Hände bekommen, dann hoffe ich, dass Sie Ihren Zuarbeitern vom LKA nicht mehr blindlings vertrauen und selbst ein feines Gespür entwickeln, ob deren Ermittlungen tatsächlich sowohl belastende als auch entlastende Gedankengänge enthalten. Sie haben eine große vom Staat verliehene Macht, die Sie sehr sensibel einsetzen sollten. Recht von Unrecht zu unterscheiden, ist ganz bestimmt eine schwierige Aufgabe, ist eine Herausforderung mit unglaublicher Verantwortung, der Sie gewachsen sein müssen, denn Sie entscheiden über das Leben von Menschen und deren Familien und nicht über irgendwelches auf Papier fixiertes Vertragswerk, das zum Streitfall ansteht. Sie waren dieser Aufgabe leider nicht gewachsen, und das kostete mich 17 Monate meines Lebens!“
FLORIAN APLER, U-HAFT-TAGEBUCH, 27. JANUAR 2024, TAG 335
Als ich nach einigen Tagen im Gefängnis beschloss, das tagtäglich Erlebte in einem Tagebuch niederzuschreiben, ahnte ich nicht, dass es ein sehr langes Tagebuch werden würde, weil ich die nächsten 17 Monate unschuldig hinter Gittern verbringen würde. Ich hatte noch keinen Schreibblock, und so nutzte ich für meine Notizen zunächst das Werbegeschenk einer Versicherung, einen Tischkalender, den ich vom Gefängnisseelsorger geschenkt bekommen hatte.
All das Unfassbare Tag für Tag niederzuschreiben, war während meiner langen Untersuchungshaft für mich ein wichtiger mentaler Anker. Warum eigentlich? Es waren doch absolut keine schönen Erinnerungen, Gedanken oder Erlebnisse, die ich für mich bewahren wollte, so wie die Beschreibung von herrlichen Urlaubstagen in einem Urlaubstagebuch. Aber das war nicht der Sinn und Zweck. Ich wollte, dass alles, was sich zwischen den unüberwindbaren, mit Stacheldraht umzäunten Mauern ereignet hatte, irgendwann den Weg nach draußen, in die Öffentlichkeit finden sollte.
Für mich war es ein Es-darf-nicht-vergessen-werden-Tagebuch.
Der Impuls zum Niederschreiben und damit zum Konservieren des Erlebten kam durch unsere kleine Tochter. Wenige Wochen vor meiner Verhaftung am 27. Februar 2022 war sie fünf Jahre alt geworden, und mein Mäuschen sollte später alles aus meiner Perspektive lesen können, falls ich es nicht aus dem Gefängnis schaffen sollte, bevor sie eine erwachsene Frau ist. Sie sollte ihr Wissen über mich und den Tod ihres Bruders nicht aus Presseartikeln mit vielen Lügen und Halbwahrheiten beziehen müssen.
Nach einem glücklichen Ausgang der Geschichte, einem glatten Freispruch, sah es ja bis zum Prozessbeginn und eigentlich auch bis zu seinem Ende absolut nicht aus. Denn ich war bereits vorverurteilt als Mörder meines eigenen Kindes – von mehreren Gerichten bis hinauf zum Obersten Gerichtshof, von den meisten Medien und auch von vielen selbsternannten Richtern, die ihre Ansichten in Kommentaren zu Presseartikeln über den Fall verbreiteten.
Dieses Kapitel, das sich am frühen Morgen des 28. August 2022 in unserem Familienleben aufgetan hatte, hätte ich am liebsten niemals erlebt. Uns ist das Schlimmste passiert, was man sich als Eltern vorstellen kann, wir haben eines unserer Kinder verloren, mussten unseren geliebten Schnuffi zu Grabe tragen.
Und sechs Monate später, morgens auf dem Weg zur Arbeit, wurde ich unter dem ungeheuerlichen Vorwurf verhaftet, meinen eigenen Sohn kaltblütig ermordet zu haben.
All das, was mir danach in 522 Tagen Untersuchungshaft unter unwürdigen Haftbedingungen im Gefängnis und vor verschiedenen Gerichten widerfahren ist und was meine Familie draußen in Freiheit alles ertragen musste, habe ich niedergeschrieben. Aus dem spärlichen Lesestoff, der mir in der Untersuchungshaft zur Verfügung stand, habe ich mühsam Zitate gesucht, die mit wenigen Worten meine Gefühle zum Ausdruck brachten und dann Einzug in mein Tagebuch fanden. Die kraftvollsten beschließen nun die Kapitel in diesem Buch.
Es sind unglaubliche Dinge passiert, die ich vorher nie für möglich gehalten hätte. Ich selbst war acht Jahre lang in Deutschland als Zeitsoldat im Staatsdienst tätig und hatte als Teil des Systems großes Vertrauen in dieses System. Dieses Vertrauen schloss auch die Polizei mit ein, Ermittler, Staatsanwälte und Richter. Nur wurde dieses Vertrauen seit dem 28. August 2022 dem Erdboden gleichgemacht, planiert und pulverisiert.
Ich bin jetzt seit einiger Zeit wieder zu Hause, und wenn ich das jetzt schreibe, kommt mir das Geschehene schon fast unwirklich vor. Als sei es nie geschehen. Wie ein böser Traum. Ich wünschte, ich könnte aufwachen, und unser süßer kleiner Leon würde neben mir im Bett liegen und schlafen.
Die Zeit seit Ende August 2022 hat tiefe Wunden bei meiner ganzen Familie und auch bei mir hinterlassen. Es sind Wunden, die man nicht sieht, die sich aber so tief in die Seele gegraben haben, dass sie dort wohl für immer bleiben werden.
Am liebsten würde ich alles vergessen, ausradieren aus meinem Gedächtnis, doch es geht nicht. Nicht weil es nicht möglich ist, sondern, weil es nicht vergessen werden darf.
Der skandalöse Ablauf der Ermittlungen, der unserer Familie und unseren Freunden so viel Leid bereitet hat, der mich hinter Gitter gebracht hat, auf die Anklagebank und beinahe ins Grab, muss schonungslos durchleuchtet werden. Die Verantwortlichen sollen für immer und ewig auf Papier festgehalten werden, schwarz auf weiß. Das ist in meinen Augen die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, um Gehör zu finden und vielleicht einige Denkanstöße zu liefern.
Ich befürchte, es bleibt ein Kampf gegen Windmühlen im Rechtsstaat Österreich, wo Recht nicht immer gleichzusetzen ist mit Gerechtigkeit.
Seit meinem Freispruch haben wir der Tiroler Polizeispitze mehrfach Gespräche angeboten, um aufzuzeigen, was bei den Ermittlungen alles – bewusst oder unbewusst – schiefgelaufen ist. Bis heute gab es kein Gespräch und seitens des Staates nicht einmal ein „Entschuldigung“.
Aber eines ist gewiss: Meine Familie und ich werden nicht ruhen, bis der wahre Täter gefasst ist. Denn für uns ist es nicht einfach der „Fall Leon“, für uns ist es viel mehr, wir haben mit Leon unseren Sohn verloren. Aber es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als auf diese von der Presse geprägte Bezeichnung zurückzugreifen, weil jeder sofort weiß, um was es geht.
Wir haben die Website https://der-fall-leon.de/ eingerichtet, auf der wir alle Details veröffentlichen werden, verknüpft mit der Hoffnung, dass sich Zeugen an uns wenden, auch solche, die sich damals bereits ans LKA gewandt hatten. Leider haben wir spätestens seit den Aussagen des leitenden Beamten im Prozess die einhundertprozentige Gewissheit, dass viele Informationen gar nicht erst aktenkundig wurden, noch immer haben wir den Verdacht, dass uns Ermittlungsunterlagen vorenthalten und Ergebnisse noch immer gefiltert werden.
Vielleicht ist ja gerade bei den Beobachtungen, die nicht zum „gewünschten Bild“ passten, der entscheidende Hinweis dabei.
Auch deshalb gibt es dieses Buch.
Hier gibt es keine Ausreden, keine fehlenden Zuständigkeiten. Hier kann nichts vergessen oder gelöscht werden, fälschlich ausgewertet oder erst gar nicht untersucht werden. Es steht da, es bleibt, und es zeigt Dinge auf, die für die meisten wohl unvorstellbar sind.
Wie geht es für meine Familie und mich nun weiter? Unsere komplette Existenz ist zerstört worden, und wir haben so viele Schulden machen müssen, um Gutachter und Anwälte zahlen zu können, dass wir dafür aufkommen müssen, bis wir alt und grau sind.
Die Liebe meiner Frau und meiner Tochter, der enorme Rückhalt unserer Verwandten und Freunde haben mich durch diese Zeit getragen.
Diese Herzensmenschen waren, egal was über mich geschrieben wurde, an meiner Seite und haben für mich gekämpft. Ohne diese Menschen hätte ich niemals eine Chance gehabt und würde jetzt mit einer sehr langen Haftstrafe unschuldig im Gefängnis sitzen.
Neben meiner Löwen-Frau, die bis über die Grenzen des Machbaren gekämpft hat und sogar ihre Praxis für mich aufgegeben hat, hatte ich noch das unendliche Glück, einen absolut genialen IT-Experten in der Familie zu haben: meinen Cousin Marco, der in monatelanger akribischer Arbeit die unglaublichen Ermittlungsfehler des LKA aufdeckte. Dazu meine Anwälte Dr. Albert Heiss und Mag. Mathias Kapferer, die mich mit einem extremen Arbeitspensum und Engagement verteidigten. Und natürlich meine Schwiegereltern und mein Schwager, die sich rührend um meine Damen kümmerten und viele meiner Aufgaben übernahmen.
Dieses unerschütterliche Vertrauen meines Umfeldes berührt mich noch immer sehr. So viele weitere tolle Menschen sollten genannt werden, doch sprengt es den Rahmen und birgt die Gefahr, jemanden zu vergessen. Für die vielen Briefe, Besuche und die finanzielle Unterstützung werde ich euch für immer sehr dankbar sein.
Im Gefängnis habe ich einiges übers Menschsein und die Menschlichkeit dazugelernt, mir selbst strenge Regeln auferlegt, um gesund und fit zu bleiben. Ich musste sehr viel über mich ergehen lassen, um bei den Justizbeamten nicht in Ungnade zu fallen. Alles, angefangen vom Essen übers Schlafen, das Mentaltraining, die Gespräche mit den Psychologen, das Schreiben, bis hin zum sportlichen Training in der Zelle und dem Gefängnishof, alles, einfach alles habe ich dem einen Ziel untergeordnet: die Ermittler von meiner Unschuld zu überzeugen und wieder nach Hause zu meinen Liebsten zu kommen.
Das Leben hinter Gittern habe ich überstanden, meine Freiheit zurück erkämpft, und nun darf ich meine Frau und meine Tochter wieder jeden Tag in die Arme schließen, worüber ich unendlich dankbar und glücklich bin. Aber die Folgen dieser skandalösen Ermittlungen und der daraus resultierenden Anklage werden uns als Familie ein Leben lang begleiten.
Eines habe ich mir im Gefängnis geschworen: Ich möchte das Leben mehr durch die Augen unseres Schnuffis Leon betrachten. Er hat die Wunder gesehen, die unsere Welt täglich für uns bereithält. Er hat nur das gemacht, was ihm Freude bereitete, und nur die Menschen akzeptiert, die ihm guttaten. Er konnte zwar nicht sprechen und war in vielen Bereichen auf unsere Hilfe angewiesen, trotz allem aber war er mir und vielleicht auch vielen anderen Menschen meilenweit voraus. Er hat mit seinem Wesen so viele Menschen berührt und mit seinem Lachen, dem schönsten Lachen der Welt, angesteckt. Wir vermissen unseren großen Schatz so sehr und würden alles dafür geben, ihn wieder in die Arme schließen zu können.
FLORIAN APLER, IM DEZEMBER 2024
„UNSER LEBEN IST DAS WERTVOLLSTE BUCH, DAS UNS ÜBERREICHT WORDEN IST.“
(PAPST FRANZISKUS)
Der tragische Fall von Leon, dem mit einem seltenen Gendefekt zur Welt gekommenen sechsjährigen Jungen, der am Morgen des 28. August 2022 bei St. Johann in der Kitzbüheler Ache ertrank, hat die Gemüter der Menschen bewegt wie selten ein Geschehen zuvor. Das öffentliche Interesse verstärkte sich noch, als ein halbes Jahr später sein Vater Florian Apler unter dem dringenden Verdacht verhaftet wurde, seinen eigenen Sohn getötet zu haben, und die nächsten 522 Tage seines Lebens in Untersuchungshaft verbrachte.
Ich hatte die Familie Apler etwa zwei Jahre vor ihrem schrecklichen Verlust kennengelernt und mehrfach erlebt, wie geduldig und liebevoll Florian mit seinem „Schnuffi“ umging. Ich war entsetzt, als ich von seiner Verhaftung erfuhr, weil es für mich vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen mit dem Menschen Florian Apler völlig ausgeschlossen war, dass er eine solche entsetzliche Tat begangen haben könnte. Das, was man ihm unterstellte, passte einfach nicht in das Bild, das ich von ihm hatte. Während seiner gesamten Untersuchungshaft hatte ich die Hoffnung, die Ermittlungsbehörden würden diesen Eindruck auch irgendwann gewinnen, aber nein, der ermittelnde Staatsanwalt klagte Florian Apler schlussendlich an, und dieser musste wegen der Schwere der ihm vorgeworfenen Tat vor einen Schwurgerichtshof treten, wo acht zufällig ausgewählte Laienrichter allein über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu entscheiden hatten. Und offenbar korrigierten in diesem Prozess, wenn auch sehr spät, der gesunde Menschenverstand und die Menschenkenntnis dieser acht Laienrichter die bis dahin fast einhellige Meinung der Berufsjuristen über den des Mordes angeklagten Florian Apler. Denn am 1. August 2024 sprachen ihn alle acht Geschworenen einstimmig vom Vorwurf des Mordes frei. Was die Familie Apler in den zwei Jahren nach Leons Tod erleiden musste, wird sich ein Außenstehender nur schwer vorstellen können. Denn wenn es heißt, dass jemand in die Mühlen der Justiz geraten ist, dann trifft dies auf Florian Apler im wahrsten Wortsinn zu.
Nach der Erleichterung über den einstimmigen Freispruch begann ich – in meiner Anwaltslaufbahn überwiegend als Zivilrechtler tätig – über die Rolle und den Status eines Staatsanwalts in einem Ermittlungsverfahren nachzudenken. Ein Staatsanwalt hat es nämlich eigentlich leicht, die Strafprozessordnung gibt ihm seine Tätigkeit genauestens vor. Keimt in ihm – egal, ob in- oder außerhalb des Dienstes – aufgrund einer Strafanzeige oder durch eine Meldung in den Medien der Verdacht, es sei eine strafbare Handlung verübt worden, so muss er sich wegen des Legalitätsprinzips von Berufs wegen damit befassen. Nach positiver Prüfung des Anfangsverdachts anhand des Strafgesetzbuches wird er, weil es seine gesetzliche Pflicht ist, Ermittlungen einleiten, und zwar objektiv, neutral und unvoreingenommen.
Diese Ermittlungen, das heißt, die vollumfängliche Erfassung der in diesem Zusammenhang relevanten Fakten und Geschehnisse, vereinfacht auch „Tatbestand“ genannt, muss er nicht allein durchführen, denn dabei steht ihm die Polizei, genauer gesagt, die Kriminalpolizei, zur Seite. Nichtsdestotrotz bleibt der zuständige Staatsanwalt im gesamten Ermittlungsverfahren stets die zentrale Entscheidungsperson, bei ihm laufen alle Fäden zusammen, er ordnet bestimmte Schritte an, gibt Untersuchungen oder Gutachten in Auftrag und leitet beispielsweise – mit Zustimmung des Gerichts – sich daraus als notwendig ergebende Durchsuchungen von Objekten oder die Festnahme von Personen ein.
Nach Abschluss der Ermittlungen muss der Staatsanwalt diese einstellen, weil sich der Verdacht nicht erhärtet hat oder eine weniger als fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte in einem Strafprozess verurteilt werden wird. Anderenfalls muss er eine Anklageschrift fertigen und an das Gericht schicken, in der er den ermittelten Tatbestand schildert, dessen Rechtswidrigkeit durch „Subsumieren“ unter den in diesem Fall einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuches feststellt und vielleicht noch einige Sätze zur persönlichen Schuld des Beschuldigten anfügt.
Aber ist es wirklich so einfach?
Nein, natürlich nicht. Denn bei aller sachlichen und nüchternen juristischen Betrachtungsweise, die ein Staatsanwalt in Studium und Ausbildung gelernt hat, darf er den Beschuldigten, den Betroffenen, den Menschen, den er einer Straftat bezichtigt, nicht aus den Augen verlieren. Denn dieser Mensch gilt, das ist in allen Rechtsstaaten, in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in der Europäischen Menschrechtskonvention sinngemäß gleichlautend normiert, als unschuldig, bis seine Schuld von einem Gericht rechtskräftig festgestellt wurde. Die meisten werden diesen ehernen Grundsatz eines Ermittlungs- und Strafverfahrens aus den Medien kennen – als eher beiläufigen Satz am Ende eines reißerischen Artikels über eine geschehene Straftat. Für jeden Staatsanwalt und jeden Ermittler bei der Polizei hat der Grundsatz der Unschuldsvermutung allerdings über allem anderen zu stehen. Er bedeutet für diese Berufsgruppe praktisch das Gebot zur ständigen Kontrolle, ob sich eine Tat wirklich so zugetragen hat, ob die Ermittlungsergebnisse wirklich so stimmen (können) und ob das Ganze tatsächlich zu dem Menschen passt, der der Straftat beschuldigt wird.
Für Krimifreunde dürfte die vom Gesetz vorgeschriebene Art und Weise der Ermittlungen nichts Neues sein, dort nennt sich das Prinzip, im Verlauf des Buchs oder des Films einen bis dahin unbekannten Täter zu entlarven, „Who’s done it?“. Im Fall Leon scheint das Ganze allerdings nach dem aus den Columbo-Filmen bekannten Prinzip „How catch him?“ abgelaufen zu sein. Die Ermittler glaubten, Tatverlauf und Täter zu kennen, und es ging ihnen offensichtlich nur noch darum, ihn zu überführen – was ein klarer Gesetzesverstoß wäre.
Als Florian Apler nach seinem Freispruch mit der Bitte an mich herantrat, ihm bei der Verarbeitung seiner Erlebnisse in einem Buch zur Seite zu stehen, hatte ich nur eine geringe Ahnung davon, was auf mich zukommen würde. Nachdem ich mich dann durch über 3.000 Blatt Gerichtsakten und durch über 650 Seiten von Florians persönlichem U-Haft-Tagebuch gekämpft hatte, gewann ich immer mehr den Eindruck, dass es sich hier nicht etwa um einen bloßen Justizirrtum handelte, sondern um einen handfesten Justizskandal.
Und am Ende stand für mich eine große Frage im Raum:
Was, um Himmels willen, ist in der österreichischen Strafjustiz wann, wodurch und vor allem durch wen so in die falsche Richtung gelenkt worden, dass ein Vater der vorsätzlichen Tötung seines eigenen Sohnes bezichtigt wird, trotz turnusmäßiger Haftprüfungen 522 Tage in Untersuchungshaft festgehalten wird, schließlich wegen Mordes angeklagt und am Ende von acht juristischen Laien mit gesundem Menschenverstand einstimmig freigesprochen wird?
RECHTSANWALT VOLKER SCHÜTZ, IM DEZEMBER 2024
„JEDE JUSTIZ IST IMMER NUR SO GUT ODER SO SCHLECHT WIE DIE MENSCHEN, DIE DORT TÄTIG SIND.“
(RA VOLKER SCHÜTZ)
„Ich habe sicher alles gedreht, gewendet und durchleuchtet, um herauszufinden, was vorgefallen ist. Ich kam dabei zum1.000-prozentigen Schluss, dass mein Ehegatte absolut unschuldig ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, dass meine Kinder für mich an absolut höchster Stelle stehen. Egal, wer ihnen irgendetwas angetan hätte, egal, ob mein Mann, meine beste Freundin oder sonst wer, ich würde diesen auf jeden Fall ,ausliefern‘ und anzeigen. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass mein Ehemann unschuldig ist. Egal, wie ich die Sache drehe und wende, es gibt für mich auch nicht annähernd einen Zweifel an seiner Unschuld.“
„Nach der Festnahme habe ich meinen Mann heute zum ersten Mal wiedergesehen. Aus den Medien habe ich entnommen, dass er seine Unschuld beteuert. Ich habe mir diesbezüglich aber auch mein eigenes Bild gemacht. (…) Ganz egal, wie ich das auch immer drehe und wende, niemals komme ich zu dem Schluss, dass mein Mann für den Tod unseres Sohnes verantwortlich sein könnte. Sein letztes Hemd hätte er für Leon hergegeben und hätte sich für ihn auch vierteilen lassen.“
„Mein Mann war im Umgang mit Leon immer bewundernswert. Normalerweise sagt man, dass wir Frauen im Umgang mit solchen Kindern ,g’spüriger‘ wären. Ich habe auch bei anderen Eltern beobachtet, dass die Männer passiv danebensaßen. Das war bei meinem Mann ganz anders, Florian und Leon waren praktisch ein Team. (…) Er ging mit Leon liebevoll und warmherzig um.“
MEINE FRAU IN IHRER VERNEHMUNG NACH MEHR ALS DREI MONATEN KONTAKTSPERRE
Dieser an mich gerichtete Satz des Vorsitzenden Richters eines Innsbrucker Geschworenengerichts fiel am späten Nachmittag des 1. August 2024 und setzte den Schlusspunkt unter Geschehnisse, die die Menschen weit über die Grenzen Österreichs hinaus fast zwei Jahre lang beschäftigt hatten.
Mehr als 17 Monate lang hatte ich bis zu diesem zukunftsentscheidenden Moment unschuldig in Untersuchungshaft verbracht. Und plötzlich, um 17:13 Uhr an diesem Donnerstagnachmittag, verwandelten mich diese Worte buchstäblich von einer Sekunde auf die andere wieder zurück. Statt eines in einer engen Zelle eingesperrten Untersuchungshäftlings wurde ich wieder zu einem freien Menschen, der sich überall auf der Welt frei bewegen kann und hingehen darf, wohin er will. Immer wieder während dieser 17 langen Monate und sogar noch während der dreitägigen Verhandlung hatte es so ausgesehen, als würden diese befreienden Worte nie fallen, als würde man mich schlussendlich wegen einer Tat verurteilen, die ich nicht begangen hatte. Und plötzlich, nach diesem einen fast schon banalen Satz, war alles vollkommen anders.
Mit seinen Worten entfesselte der Richter einen Sturm der Emotionen im altehrwürdigen Saal des Geschworenengerichts, Zuhörer sprangen auf und applaudierten, meine Frau stürzte auf mich zu und umarmte mich, und beide konnten wir unsere Freudentränen nicht zurückhalten. Der Tumult war dem Richter offenbar zu viel, er mahnte vergeblich zur Mäßigung. Zu groß war die Freude bei meiner Familie, meinen Freunden und meinen Anwälten, bei allen jedenfalls, die mich die gesamte Zeit unbeirrt unterstützt hatten.
Freispruch!
Nach diesen schier endlosen 522 Tagen, in denen ich ständig um mein und meiner Familie Schicksal gebangt hatte, konnte ich kaum fassen, was das für mich bedeutete. Ich durfte den Saal, in dem gerade noch drei Prozesstage lang darüber verhandelt worden war, ob ich mein weiteres Leben in Freiheit oder in den engen Mauern einer Gefängniszelle verbringen würde, eigenständig verlassen. Ohne Handschellen, ohne Bewachung durch Justizbeamte.
Die ungeheuerliche Anschuldigung, ich hätte mein eigenes Kind ermordet, vom jungen Staatsanwalt noch in seinem Schlussplädoyer im Brustton der Überzeugung gegen mich vorgebracht, diese Anschuldigung war durch die einstimmige Entscheidung der acht Geschworenen zerplatzt wie eine Seifenblase. Nach 17 langen Monaten war ich wieder ein freier Mensch und Herr über mein eigenes Leben.
Ich durfte endlich das tun, wovon ich 522 Tage lang geträumt hatte: Ich durfte einfach nach Hause gehen, zu meiner Frau und meiner kleinen Tochter.
„UNGERECHTIGKEIT IRGENDWO IST EINE BEDROHUNG FÜR DIE GERECHTIGKEIT ÜBERALL.“
(MARTIN LUTHER KING)
In vielen Interviews in Presse oder TV wird immer wieder eine Frage gestellt, deren Beantwortung so einiges über den Befragten aussagen soll:
Wen würden Sie in Ihrem Leben gerne einmal treffen?
Für mich gibt es da nur eine Person, die ich gerne noch einmal treffen würde, mit der ich unbedingt jede Sekunde meines Lebens verbringen möchte und der ich so viel zu sagen hätte: unseren süßen Schatz Leon, unseren viel zu früh verstorbenen Sohn, meinen Schnuffi.
Warum um Himmels willen waren du und ich bloß in dieser Nacht zur falschen Zeit am falschen Ort? Es gibt tausend Möglichkeiten, wie diese Nacht hätte anders verlaufen können. Warum ist es so passiert, wie es passiert ist? Wer tut so etwas? Und wusste er, was er tat, oder hat er die entsetzlichen Folgen seines Tuns erst später erfahren? Kann er mit dem leben, was er ausgelöst hat? Welchem verdammten Feigling haben wir diesen Albtraum zu verdanken? Und warum gerade wir?
Ich weiß es nicht, und vielleicht bekommen wir niemals Antworten auf die vielen schmerzhaften Fragen. Aber was uns bleibt, sind die vielen wunderschönen Erinnerungen an dich, mein Sohn.
Du wirst mir auf ewig so in Erinnerung bleiben, wie du warst, als wir dich verloren haben: als der niedliche Sechsjährige mit dem samtweichen blonden Haar, mit den großen, braunen Kulleraugen und diesen unglaublich langen Wimpern, die regelmäßig Anknüpfungspunkt für Gespräche mit wildfremden Menschen waren. „Mei, hast du schöne Wimpern!“, so sprachen uns auf der Straße immer wieder Leute an.
Du warst lebensfroh und an so vielem interessiert, du hast dich an für uns unbedeutenden Dingen wie Regen oder Schneefall erfreut und Sachen beobachtet, die anderen Menschen nicht einmal auffielen: Wasser, Lifträder und Drehtüren, Gegenstände, die blinkten oder Geräusche machten. Du hast Tiere geliebt, die Musik und gemeinsames Roller- und Radfahren. Und du hattest sehr genaue Vorstellungen von dem, was du wolltest und was nicht. Du bist umhergeflitzt und hast die Welt Tag für Tag interessiert und lebensfroh erkundet.
Wegen des Gendefekts, mit dem du auf die Welt gekommen warst, dem Syngap-Syndrom, konntest du zwar nicht sprechen, aber zu sagen hattest du trotzdem sehr viel. Wer dich kannte, konnte sich auf eine ganz besondere Art mit dir unterhalten. Wir haben sehr viel mit dir erlebt, und du warst eine absolute Bereicherung für unser Familienleben und für mich als dein Papa.
Für deine Mama und mich war es viele Jahre hindurch vollkommen normal, auch nachts mit dir spazieren zu gehen, weil du einfach keine Ruhe finden konntest. Wäre diese fürchterliche Nacht, in der die Zukunft mit dir abrupt endete, zwei Jahre zuvor gewesen, dann wäre vielleicht deine Mama mit dir unterwegs gewesen. Wir hatten uns die Nachtdienste damals aufgeteilt, weil es alleine nicht zu schaffen war, aber diese Zeiten waren lange vorüber. Du schliefst mittlerweile abends brav ein, und nächtliche Ausflüge waren die Ausnahme und nicht mehr die Regel.
So viel hatte ich noch mit dir vor, so viel wollte ich noch mit dir erleben, dir noch so viel beibringen von der Welt und vom Leben! Und so viel habe ich dir nicht gesagt, weil ich nicht ahnen konnte, dass mir das Schicksal keine Zeit mehr dazu ließ.
Wäre ich ein Superheld, dann hätte ich einen Schwachpunkt, eine Achillesferse: meine Familie, meine Liebsten, meine Tochter, meine Frau und, ja, natürlich meinen Leon, auch wenn er nicht mehr bei uns ist. Sie alle drei machen mich mit ihrer Liebe sehr stark, aber gleichzeitig auch sehr verletzlich. Es ist jetzt mehr als zwei Jahre her, dass wir dich verloren haben, und immer noch muss ich ständig an dich denken, und oft genug laufen mir dabei die Tränen die Wangen hinunter, so wie gerade jetzt wieder, während ich diese Zeilen an dich schreibe.
Unsere gemeinsamen Mahlzeiten waren besonders schöne Augenblicke. Besonders, wenn es Leons Leibspeisen gab, hatten wir oft viel Spaß und haben unbeschwert herumgeblödelt.
Es sind nicht nur daheim die vielen Dinge, die mich an dich erinnern: deine Fotos, deine Sachen, oder die vielen Erinnerungen an gemeinsame Situationen und an Orte, die ich mit dir verbinde. Egal, wo ich bin, habe ich dich in meinen Gedanken dabei, sehe ich dich vor mir und stelle mir vor, was du jetzt gerade machen würdest. Wie du stehst, wie du gehst, wie du lachst, wie du vor Freude in deine kleinen Hände klatschst, wie du mich an der Hand nimmst, um mir etwas zu zeigen, was dich gerade interessiert und dich begeistert. Es macht mich sehr traurig, dass ich dich nur noch in meiner Erinnerung bei mir habe, denn ich vermisse dich so unendlich.
Das war, das ist unser Bild von dir – und wird es immer sein. Aber andere haben ein völlig anderes, ein Zerrbild, von dir gezeichnet, das mit dir überhaupt nichts zu tun hatte. „Ein unheilbar Erkrankter, den es zu erlösen galt“ – diese Worte wurden tatsächlich von Chefermittler Huber in seinem Anlassbericht verwendet und dann aus Unwissenheit von den Medien übernommen.
Als mich eine unbarmherzige Justiz in Untersuchungshaft steckte, weil einige Menschen davon überzeugt waren, ich hätte dir das Schlimmste angetan, was Eltern ihrem Kind antun können, bekam ich nach einigen Wochen von meinem Anwalt die Ermittlungsakten ausgehändigt. Ich war schockiert, wie du darin von Menschen, die dich nie kennengelernt hatten und die nichts, aber auch gar nichts von dir wussten, dargestellt wurdest. Durch die Berichterstattung der Medien müssen ähnliche Bilder in den Köpfen der Leser entstanden sein, aber das wurde mir erst nach über einem Jahr in U-Haft bei einem Besuch meines Anwalts Mag. Mathias Kapferer schlagartig bewusst. Es war ein echtes Aha-Erlebnis für ihn – und ebenso für mich.
Denn Mag. Kapferer hatte von deiner Mama viele Fotos und Videos von dir bekommen, und er war vollkommen überrascht, dass dieser kleine, süße und fröhliche Junge, der umhersauste und so viel Lebensfreude verbreitete, der schwerbehinderte Leon aus der Ermittlungsakte sein sollte. Es waren Fotos dabei, die ein strahlendes und lachendes Kind zeigten, und Videos, die uns beide als Vater und Sohn zeigten, wie wir rumblödelten und gemeinsam Spaß hatten.
Später, während des Prozesses, war es uns eine Herzensangelegenheit, den Geschworenen zu zeigen, wie du wirklich warst. Ein einziges dieser Videos hätte gereicht, um allen Beteiligten im Gerichtssaal sofort die Augen zu öffnen. Aber warum wurden in der Verhandlung keine Videos zugelassen, die unser inniges Verhältnis gezeigt hätten? Das Landeskriminalamt und der Staatsanwalt hatten tausende Fotos und Videos von dir auf meinem Handy gesichert. Warum revidierten sie nicht ihre Ansicht über dich und mich? Hatten sie Angst, zugeben zu müssen, auf dem falschen Weg gewesen zu sein?
Aber der Vorsitzende Richter entschied anders. Er wies in seiner Entscheidung alle Anträge auf Vorführung der Videos ab. Alle! Wir durften nicht ein einziges zeigen, nicht einmal eines von der Tatnacht aus der Gerichtsakte. Die Videos mit einem fröhlichen Leon gehörten zum Motiv, so erklärte er seine Entscheidung – und ein Motiv sei für ihn nicht tatrelevant. Wie kann das Motiv in solch einem Fall nicht tatrelevant sein? Aber der Staatsanwalt, der durfte „sein“ Video sehr wohl präsentieren – darauf kommen wir noch zurück.
Lieber Schnuffi, der Richter erlaubte uns auch nicht, ein einziges Foto von dir vorzuzeigen. Die geladenen Zeugen durften nicht einmal über deine tolle Entwicklung befragt werden und schon gar nicht über unser Vater-Sohn-Verhältnis aussagen. War das nicht erwünscht?
Aber wir werden dich nie vergessen und dich immer, egal, wo wir sind, im Herzen bei uns tragen. Du warst ein so toller Junge, ein Kämpfer und unser Sonnenschein. Niemand konnte so sehr im Moment leben und die kleinsten Dinge bewundern wie du.
Mein Schnuffi, du warst einzigartig, und es gibt keinen Tag, an dem ich dich nicht vermisse.
„DIE TRAUER IST DER PREIS, DEN WIR FÜR DIE LIEBE ZAHLEN.“
(KÖNIGIN ELIZABETH II.)
Der 27. August 2022, ein schöner, sonniger Sommertag, bricht an. Der Tag, der unser Leben für immer verändern sollte, beginnt wie jeder andere Samstag. Die Morgensonne strahlt durch das Fenster und taucht die Küche in ein warmes Licht. Ich stehe am Herd und bereite für Leon sein Lieblingsfrühstück zu: Spaghetti mit Sahne und Parmesan. Der Duft steigt mir in die Nase und erinnert mich an unseren schönen Urlaub vor wenigen Wochen in Jesolo. Der kleine Mann sitzt schon hungrig in seinem Stuhl im Wohnzimmer und wartet auf die Essenslieferung von Papa. Leon hat gut geschlafen, ich genieße die ruhigen, unbeschwerten Minuten mit ihm, während wir beim Frühstück lachen und blödeln.
Danach machen wir uns auf den Weg zu unseren Nachbarn, die einen Bauernhof bewirtschaften, nur wenige Meter von unserem Zuhause entfernt. Das ist immer Leons erster Weg, wenn wir das Haus verlassen – einer seiner Lieblingsorte, oft verbringen wir Stunden hier. Besonders die Kühe haben es Leon angetan. Ich beobachte, wie seine Augen leuchten, wenn er die Tiere sieht, muss aber gleichzeitig zu jeder Sekunde aufpassen, weil er die Gefahren, die hier lauern, nicht abschätzen kann. Schnuffi findet in den unscheinbarsten Augenblicken Freude und entdeckt Schönheit in Dingen, die andere Kinder gar nicht wahrnehmen oder langweilig finden.
Heute ist ein besonderer Tag, weil unsere Damen vom Kurzurlaub mit Oma und Opa aus Ungarn zurückkommen. Ich habe mir fest vorgenommen, den Küchenumbau, den ich nach ihrer Abreise begonnen habe, heute abzuschließen, um meine Frau mit dem Ergebnis zu überraschen. Unsere alte Küche war zu klein und unpraktisch für ein Frühstück mit Leon. Ich erinnere mich daran, wie wir Leon als Baby dort gefüttert haben. Doch bald machte seine Epilepsie die Geräusche in der Küche für ihn unerträglich, jedes noch so leise Klimpern löste bei ihm einen Anfall aus. Inzwischen ist seine Epilepsie medikamentös sehr gut eingestellt, und so war der Frühstücksumzug in die Küche möglich. Jeden Morgen kochen wir frisch für Leon. Mal gibt es Omelette oder Grießbrei, momentan sind Milchreis und Spaghetti ganz oben auf seiner Hitliste. Die unpraktische Raumaufteilung zwang uns bisher aber, oft zwischen Küche und Wohnzimmer hin- und herzulaufen, ohne ihn im Blick zu haben.
Ich träume davon, dass wir bald wieder gemeinsam in der neuen Küche frühstücken können. Leon wird dann durchs Fenster von dort die Kühe und die Wanderer beobachten, und während wir kochen, haben wir ihn in unserer Nähe und können mit ihm blödeln. Morgen, am Sonntag, soll unser erstes gemeinsames Frühstück in der umgebauten Küche stattfinden – doch dieser Sonntag wird für uns alle anders verlaufen.
Leons Onkel, Gödi Markus, kommt vorbei, um einen Ausflug mit ihm zu unternehmen, damit ich weiter an der Küche arbeiten kann. Die Zeit geht schneller um, als mir lieb ist; die beiden sind zurück, denn es ist Mittagszeit, und ich bin noch nicht fertig mit dem Umbau. Markus füttert Leon mit seinen heißgeliebten Gnocchi, die ich nebenher gekocht habe. Danach löse ich Markus ab und setze mich zu Leon.
Anschließend machen Leon und ich uns auf den Weg nach Salzburg und unternehmen einen Ausflug. Als wir abends nach Hause zurückkehren, parke ich ein und hebe Leon aus dem Auto. Er saust wie gewohnt zum Bauernhof. Es ist mittlerweile Teil unseres Einschlafrituals: Noch ein Besuch beim Traktor und bei den Kühen und dann ab nach Hause, schlafen.
Ich bringe Leon ins Bett, und recht bald schläft er friedlich ein. Ich nutze die ruhige Zeit, um die Küche nach dem Umbau zu putzen und ihr den letzten Feinschliff zu verpassen. Meine Damen kommen kurz nach 22:00 Uhr zurück und schleichen die Treppe hinauf. Mäuschen hängt über Mamas Arm, sie ist im Auto eingeschlafen. Leon schläft unruhig und wird kurz wach, als die Mädels nach Hause kommen. Meine Frau legt unsere Prinzessin ins Bettchen, und als sie zu mir kommt, präsentiere ich ihr noch die neue Küche. Wir quatschen noch ein wenig und schauen noch eine Folge unserer Lieblingsserie, bevor wir gegen 23:15 Uhr zu Bett gehen.
Ich lege mich wie immer zu Schnuffi ins Schlafzimmer, während meine Frau zu unserer Tochter schlafen geht. Die Nacht verläuft sehr unruhig. Leon wird ein paar Mal wach, und ich gebe ihm wie gewohnt den Schnuller, doch er spuckt ihn aus. Als ich ihm etwas zu trinken anbieten möchte, merke ich, dass er aus dem Bett klettern will. Plötzlich bin ich hellwach, denn ich habe Angst, dass er im Dunkeln hinausstürzt. Der Strizzi hat vor einigen Tagen herausgefunden, wie er vom Bett aus den Lichtschalter erreicht. Zack! Das Licht geht an, das Schlafzimmer ist plötzlich taghell, und mir ist klar, dass es ab jetzt keine Chance mehr gibt, Leon schnell wieder zum Einschlafen zu bringen. Es fühlt sich an, als wäre die Nacht fast herum. Beim Blick auf die Uhr erschrecke ich allerdings, es ist erst kurz nach 1:00 Uhr.
Ich nehme ihn auf den Arm, und wir schleichen die Treppe hinunter in unsere Physiopraxis im Erdgeschoss, um die Mädels nicht zu wecken. Leon ist voller Energie und rennt in unseren Turnraum, wo er am Fenster entdeckt, dass es draußen regnet. Er liebt Regen, Pfützen und Wasser in allen möglichen Formen, egal, ob es fließt, spritzt oder irgendwo heruntertropft. Voller Tatendrang düst er zur Haustür. Ich kann ihn gerade noch erreichen, bevor er im Schlafanzug hinausläuft in den Regen.
Wir ziehen uns an, ich packe ihn ein in seinen knallgrünen Regenoverall, er schaut so niedlich aus wie ein kleiner Frosch. Wir gehen nach draußen, der Regen hat inzwischen etwas nachgelassen. Leon ist überglücklich, juchzt und klatscht. In diesen Momenten geht mein Herz auf, auch wenn ich jetzt mitten in der Nacht gerne noch im Bett liegen würde. Diese nächtlichen Ausflüge sind mittlerweile, mit der passenden Medikation und unserem Umgang mit der Erkrankung, sehr selten geworden. Leon düst wie immer los zum Bauern gegenüber, von der Dunkelheit lässt er sich nicht aufhalten. Ich bin ein wenig im Stress, weil ich den Kinderwagen ins Auto laden möchte, ihm aber auch möglichst schnell nachlaufen muss, weil nachts am Bauernhof viele Gefahrenstellen lauern. Also: den Kinderwagen, der vorm Haus lagert, in den Kofferraum und dann Leon nachsprinten.
Am Bauernhof ist alles finster, und die Kühe sind im Stall nicht zu sehen. Leon ist enttäuscht und findet es nicht annähernd so spannend wie sonst. Nach ein paar Minuten schon machen wir uns auf den Weg zurück zum Auto. Ich überlege, wohin wir fahren könnten, wo es für ihn nachts am spannendsten ist. Vor einigen Wochen waren wir nachts in Lofer, nur geht Leon momentan mit seiner Betreuerin Elisabeth täglich in Lofer spazieren, was es für ihn viel weniger interessant macht. Ich entscheide mich also für St. Johann. Es sollte ein fataler Fehler sein.
Bei unserem letzten Nachtausflug hatte ich die Idee, ein Video für unsere Social-Media-Plattformen rund um unseren Verein „Leon & Friends“ zu drehen, um unsere Follower virtuell auf einen Ausflug mitzunehmen. Leider hatte ich damals mein Handy zu Hause vergessen. Der letzte Post von einem nächtlichen Spaziergang liegt schon Jahre zurück. Heute habe ich das Handy dabei, und so drehe ich gleich mal das erste Video im Auto.
Wir fahren nach St. Johann, Leon freut sich, als ich ihm sage, dass wir zum Sportgeschäft Hervis fahren, weil er diese Läden mit den vielen Lichtern so gerne mag. Ich war nicht auf den Ausflug eingestellt und habe keine Jause vorbereitet. Normalerweise habe ich immer ein Survival-Pack dabei, Essen, Trinken und Windeln. Wir machen einen kurzen Stopp in Fieberbrunn, um an einem Automaten Wasser und einen Riegel zu kaufen. In St. Johann parke ich schließlich in einer offenen Garage bei einem Supermarkt. Hätte ich bloß im Zentrum geparkt, wie ich es zunächst überlegt hatte! Dann wären wir in dieser Nacht nicht an der Ache entlangspaziert.
Ich hole den Buggy aus dem Auto, während Leon schon zum Lift losrennt. Er kennt sich hier aus. Eilig klappe ich den Buggy auf, schnappe mir noch den Regenschirm und folge ihm. Wir spazieren in Richtung Stadtzentrum, es regnet wieder etwas stärker. In einer Unterführung, vor dem Regen geschützt, mache ich unser nächstes Video. Leon saust umher und erfreut sich an den bunten Graffitis.
Weiter geht es, vorbei an einer Fahrschule und direkt dahinter über eine hell beleuchtete Holzbrücke. Leon hört das laute Wassergeräusch unter der Brücke und möchte, dass ich ihn aufhebe, weil er nichts sieht. Wir gehen weiter, und über die rauschende Ache hinweg gelangen wir in einen Park. Es ist finster, und rechts von uns wird der Spazierweg von einer Baumreihe gesäumt. In einiger Entfernung entdecken wir die nächste hell beleuchtete Brücke. Wir gehen auf die Brücke zu, die mit einem Stahlnetz verkleidet ist, sie scheint die perfekte „Spielbrücke“ zu sein. Plötzlich tritt von rechts aus der Finsternis hinter den Bäumen ein Mann heraus, und ich erschrecke mich. Er hat seine Kapuze auf dem Kopf, spaziert zügig dahin, ohne sich zu uns umzudrehen, und biegt noch vor uns auf die Brücke ein. Als wir an der Brücke ankommen, ist er schon in der Dunkelheit verschwunden. Leon hat die größte Gaudi und läuft hin und her, weil er durch das Stahlnetz einen perfekten Blick auf den Fluss hat, der unter ihm durchrauscht. Er spielt eine Zeit, und dann setzen wir unseren Weg durch den Park fort und gelangen auf die Achenpromenade, die schnurstracks in Richtung St. Johanner Stadtzentrum führt. Ein perfekter Spazierweg für uns, denn er ist mit Straßenlaternen beleuchtet, und durch das Geäst kann man hin und wieder sogar den Fluss sehen, was Leon so gerne mag.