Der Fall Scholl - Anja Reich - E-Book

Der Fall Scholl E-Book

Anja Reich

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Beschreibung

Der mysteriöse Mordfall Scholl: "True Crime"-Spannung auf höchstem Niveau Eine Frau wird brutal ermordet und im Wald verscharrt. Der Verdacht fällt auf ihren Ehemann — den ehemaligen Bürgermeister von Ludwigsfelde, einer Kleinstadt im Süden von Berlin. Sie waren fast fünfzig Jahre miteinander verheiratet. Und galten als perfektes Paar ... Anja Reich hat den Gerichtsprozess begleitet. Sie sprach mit Verwandten und Freunden des Opfers und des Angeklagten — und mit Heinrich Scholl selbst, der die Tat bis heute bestreitet.

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Das Buch

Am 30. Dezember 2011 wird die Polizei in einen Wald in der Nähe von Potsdam gerufen. Zwischen hohen Kiefern liegt eine Frauenleiche unter Moos versteckt, neben ihr ein toter Hund. Es erinnert an eine Grabstätte, eine rituelle Grabstätte, ein Märchengrab. Die Beamten, die später beschreiben sollen, wie sie Brigitte Scholl und ihren Hund vorfanden, benutzen das Wort »beerdigungsgleich«.

Tagelang suchen Polizisten den Wald nach Spuren ab, fliegen mit Hubschraubern über Ludwigsfelde, Eltern lassen ihre Kinder nicht mehr alleine aus dem Haus. Jogger ändern ihre Laufstrecke. Jedes verdächtige Auto wird gemeldet. Jede unbekannte Person.

Der Ehemann des Opfers, Heinrich Scholl, scheint am Boden zerstört. Er war der erfolgreichste Bürgermeister des Ostens, schuf nach der Wende Tausende von Arbeitsplätzen, wurde dreimal wiedergewählt. Er galt als zuvorkommender, warmherziger, ehrlicher Mensch. Und führte seit fast fünfzig Jahren eine scheinbar harmonische Ehe.Anderthalb Jahre später wird Heinrich Scholl in einem spektakulären Indizienprozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Bis zuletzt beteuert er seine Unschuld – und schweigt zu der schwerwiegenden Anklage. Mit Anja Reich hat er gesprochen. Sie führte lange Gespräche mit Heinrich Scholl im Gefängnis und hat sein Leben, seine Ehe und den Tod seiner Frau von Grund auf neu recherchiert: Kann dieser Mann ein Mörder sein?

Die Autorin

ANJA REICH wurde in Berlin geboren. Sie studierte Journalistik, arbeitete als Redakteurin der »Welt« und als Reporterin der »Berliner Zeitung«, für die sie aus Berlin und New York berichtete. 2012 erschien das Buch »Wo warst Du? Ein Septembertag in New York«, das sie gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Osang schrieb. Anja Reich wurde mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.

Anja Reich

Der Fall SCHOLL

Das tödliche Ende einer Ehe

ullstein extra

Der Großteil der in diesem Buch genannten Personen und Orte des Geschehens entspricht den Tatsachen. Nur in wenigen Fällenmussten Personen und Orte anonymisiert werden; diese sind mit einem Sternchen markiert.

Besuchen Sie uns im Internetwww.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-0704-6

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014Umschlaggestaltung: ZERO WerbeagenturUmschlagmotiv: Paulus Ponizak

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Alexander

Der letzte Tag

Brigitte Scholl verschwand am 29. Dezember des Jahres 2011, einen Tag nach ihrem siebenundvierzigsten Hochzeitstag. Die Blumen, die ihr Mann ihr geschenkt hatte, rote Rosen, standen noch auf dem Wohnzimmertisch, in der Ecke der Weihnachtsbaum, gerade gewachsen, üppig geschmückt. Alles musste stimmen.

Es sollte perfekt sein, bis zum Schluss.

Brigitte Scholl war siebenundsechzig Jahre alt und Kosmetikerin von Beruf. Ihr Studio befand sich im Erdgeschoss ihrer Wohnung. Nie war sie unpünktlich, nie unfreundlich, nie hörte man ein lautes Wort im Hause Scholl. Ihre Ehe galt als tadellos. Wenn um acht Uhr morgens die erste Kundin klingelte, stand Brigitte Scholl im weißen Kittel in der Tür, die Haare zurückgebunden. Aus der Küche grüßte ihr Mann, der Bürgermeister a. D.

Heinrich Scholl war eine Legende in Ludwigsfelde. Er hatte nach dem Mauerfall die Sozialdemokratie im Ort mitbegründet, war bei der ersten freien Wahl seit Kriegsende zum Bürgermeister gewählt worden und hatte seiner Stadt einen einzigartigen wirtschaftlichen Aufschwung beschert. Er holte Daimler-Benz, Thyssen sowie Deutschlands führenden Triebwerkshersteller MTU nach Ludwigsfelde. Er schuf Tausende von Arbeitsplätzen und galt als der erfolgreichste Bürgermeister der neuen Länder, der Beweis, dass der Aufschwung Ost funktionierte, ein Symbol für die deutsche Einheit.

Seit drei Jahren war er Rentner, aber er konnte nicht aufhören zu arbeiten, genauso wenig wie seine Frau. Sie hatte heute eigentlich frei, ihr Salon war zwischen Weihnachten und Silvester geschlossen. Es war einer dieser Tage zwischen den Jahren, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Aber Brigitte Scholl konnte nicht stillstehen, sie musste immer etwas machen, sich immer um irgendetwas kümmern, immer jemandem helfen. Im Ort nannte man sie die Lady Di von Ludwigsfelde. Ihr Mann war Napoleon. Er war ein Meter fünfundsechzig groß und trug gerne Schuhe mit hohen Absätzen.

Heinrich Scholl schlief noch, als seine Frau wie jeden Morgen um halb sechs aufstand, um mit ihrem Hund vor die Tür zu gehen. Es handelte sich um den vierzehnjährigen Ursus, einen Cockerspaniel, der jeden anknurrte, seit er im vergangenen September bei einem Spaziergang auf dem Friedhof von einem anderen Hund ins Ohr gebissen worden war. Brigitte Scholl versorgte ihren Hund rund um die Uhr mit Hundekeksen, während der Kosmetik durfte Ursus unterm Behandlungsstuhl liegen. Ihm zuliebe hatte Brigitte Scholl in diesem Jahr sogar auf den Weihnachtsbesuch bei ihrem Sohn in Wiesbaden* verzichtet. Brigitte Scholl wollte Ursus die lange Fahrt nicht zumuten, und ihn ins Tierheim zu stecken kam für sie nicht in Frage.

Alles drehte sich um Ursus. Neuerdings übernachtete er sogar im Ehebett. Links neben ihr, da, wo früher ihr Mann gelegen hatte.

Es war noch dunkel, als Brigitte Scholl vor die Tür trat, ungeschminkt und unfrisiert, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. So wagte sie sich nur um diese Tageszeit auf die Straße. Sie war allein.

Die Luft fühlte sich kühl und feucht an, genau wie in den letzten Tagen. Sie hatten keine weiße Weihnacht gehabt, und für Neujahr war das gleiche graue Wetter vorausgesagt. Sie lief einmal die Walther-Rathenau-Straße hoch und wieder runter. Links und rechts reihten sich Holzhäuser aneinander, die alle gleich aussahen. Dunkle Fassaden, spitze Giebel, kleine Dachluken, Vorgärten, Beete, Rasen, Zäune, Garagen, Hecken. Die Holzhaussiedlung war kurz vor Kriegsende gebaut worden, 1944, genau in dem Jahr, in dem Brigitte Scholl auf die Welt kam. Sie war ein Kriegskind, das in einem Kriegshaus wohnte. Auf dem Dachboden hatten sie Zettel in kyrillischer Schrift gefunden. Sie stammten von den sowjetischen Kriegsgefangenen, die diese Häuser für die Arbeiter des Daimler-Werkes bauten. Das Daimler-Werk in Ludwigsfelde war im Zweiten Weltkrieg das größte und modernste Flugmotorenwerk Europas gewesen. Hier wurden dreitausend-PS-starke Motoren für deutsche Jagdbomber gebaut, die Montagehallen lagen gut versteckt im märkischen Kiefernwald und verfügten über einen direkten Anschluss an Hitlers Reichsautobahn. 1937 wurde der erste Motor gebaut, fünf Jahre später war aus dem Zweihundert-Seelen-Dorf eine Fünftausend-Einwohner-Stadt geworden, ein gesichtsloser Ort ohne Zentrum, ohne Rathaus, ohne Kirche. Ludwigsfelde war als Feldlager für Adolf Hitler und seine Welteroberungspläne geplant worden. Und so richtig hatte sich die Stadt nie davon erholt.

Nach dem Krieg wurden hier DDR-Lastkraftwagen hergestellt, heute befand sich in Ludwigsfelde das größte FKK-Thermalbad Deutschlands. Die Straßen, Bürgersteige und Radwege waren breit, die Autobahn inzwischen sechsspurig. Es gab Autohäuser, Tankstellen und Kreisverkehre, Schulen, Sportplätze, Einkaufszentren, Bahnhöfe, Parkplätze, Tennisplätze, ein Rathaus, ein Kulturhaus, ein Museum und eine Bibliothek. Wie ein Legomodell war die Stadt aus vielen kleinen Bausteinen zusammengesetzt worden. Hier noch ein Haus, hier ein Restaurant, hier eine Sparkasse, hier ein Altenheim, und immer wenn man dachte, es ginge nicht mehr weiter, begann ein neuer Gewerbepark. Große Schilder wiesen die Wege zum Friedhof, zum Bahnhof, Krankenhaus oder Preußenpark. An den Straßen warteten die Leute, bis die Ampel auf Grün sprang, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen war. Für Hundehalter standen Plastiktütenspender zur Entfernung der Hundehaufen zur Verfügung. Alles war ordentlich, sauber und zweckmäßig in Ludwigsfelde. Genau wie im Haushalt von Brigitte und Heinrich Scholl.

Sie waren in den siebziger Jahren in die Holzhaussiedlung gezogen. Ihre Doppelhaushälfte lag an einem kleinen Platz mit Klettergerüst und Blumenbeeten und sah nicht mehr wie ein Kriegshaus aus. Heinrich Scholl hatte Wände rausgerissen, Fliesen verlegt und zwei Kamine gebaut. Die Fenster waren neu, das Dach auch und der Garten ein Kunstwerk. Es kam vor, dass Besucher fragten, ob sie ihre Schuhe ausziehen sollten, bevor sie den Rasen betraten. Auch ihre Hecke wurde oft bewundert. So gerade gewachsen. Brigitte Scholl war vor allem wichtig, dass die Hecke hoch war. Es ging keinen was an, was sie so machte, ob sie alleine zu Hause war, ob es ihr gut oder schlecht ging. Sie war immer noch die Bürgermeisterfrau, eine Autorität im Ort. Nicht einmal ihren besten Freundinnen im Ort erzählte sie von ihren Problemen. Nur ihr Sohn Frank*, der seit zwanzig Jahren in Wiesbaden wohnte, und ihre Freundin Inge*, die 1961 aus Ludwigsfelde nach Anklam gezogen war, wussten Bescheid. Ihnen hatte sie auch erzählt, dass sie vor ein paar Jahren beim Beerdigungsinstitut Klotz ihr Grab bestellt hatte. Auch das gehörte zum Ordnungsverständnis der Bürgermeisterfrau. Um bestimmte Dinge sollte man sich nicht erst kümmern, wenn es zu spät ist.

Brigitte Scholl lief zum Haus zurück. Es war halb sieben, im Zimmer ihres Mannes unterm Dach brannte kein Licht, offenbar schlief er noch, was ihr die Möglichkeit gab, in Ruhe zu duschen, sich anzuziehen, aufzuräumen, Frühstück zu machen und ein paar Telefonate zu erledigen. Heinrich Scholl war im Gegensatz zu seiner Frau ein Langschläfer und blieb gerne lange auf. Bis weit nach Mitternacht konnte er im Wohnzimmer sitzen, Rotwein trinken und an irgendwelchen Papieren arbeiten, während sie schon lange schlief. Wenn sie gemeinsam zu Geburtstagen gingen, kam es vor, dass sie sich nach dem Abendbrot verabschiedete und er noch weiterfeierte. Sie waren sehr unterschiedlich. Sie liebte Hunde, er Katzen, er trank gerne Wein, sie verabscheute Alkohol, er kletterte auf sechstausend Meter hohe Berge, sie lag lieber am Ostseestrand, und am liebsten blieb sie zu Hause.

Man fragte sich, wie die beiden es so lange miteinander ausgehalten hatten, aber das fragte man sich ja bei vielen Paaren, die so lange wie die Scholls miteinander verheiratet waren und deren Ehe inzwischen weniger an eine Liebes- als an eine Geschäftsbeziehung zweier Menschen erinnerte, die sich miteinander arrangiert hatten. Zu den Arrangements des Ehepaares Scholl gehörte es, gemeinsam zu frühstücken, den Tag abzusprechen, Aufgaben zu verteilen, und danach ging jeder seiner eigenen Wege, bis man sich irgendwann wieder zu Hause traf.

So war es auch heute, an jenem Donnerstag im Dezember. Heinrich Scholl stand auf, trank Kaffee, las Zeitung. Sein Termin um neun Uhr war abgesagt worden, sein nächster erst um dreizehn Uhr in Berlin, ein Mittagessen mit einem alten Geschäftsfreund. So hatte er Zeit, für seine Frau ein paar Einkäufe zu erledigen, zur Sparkasse zu gehen und das Auto vollzutanken, bevor er bei der Therme nach dem Rechten sehen würde.

Die Therme war sein letztes großes Projekt als Bürgermeister gewesen, ein Zwanzig-Millionen-Bau, der ihn kurz vor Ende seiner Amtszeit fast noch den Kopf gekostet hätte. Zu groß, zu teuer, und dann noch FKK. Ein Luxusnacktbad in der Arbeiterstadt Ludwigsfelde. Sogar seine Genossen fürchteten, Heinrich Scholl habe den Verstand verloren. Aber sie hatten sich geirrt. Das Bad brummte, der Betreiber plante sogar einen Erweiterungsbau. Ein später Triumph für den ehemaligen Bürgermeister Heinrich Scholl, und deshalb wollte er sein Lieblingsprojekt nicht aus den Augen verlieren und beim Erweiterungsbau ein bisschen mithelfen. Er brauchte – genau wie seine Frau – eine Aufgabe im Leben. In dieser Beziehung verstanden sie sich prächtig.

Brigitte Scholl wollte heute das Haus und den Partykeller für die Silvesterfeier aufräumen, nachdem sie gestern, an ihrem Hochzeitstag, zur Kosmetik und zur Fußpflege gegangen war. Sie hatte vorgehabt, sich selbst einmal etwas Gutes zu gönnen, aber wer sie kannte, wusste, dass sie noch ein anderes Ziel hatte: Sie wollte die Konkurrenz auskundschaften. Ihr Kosmetikstudio lief immer noch gut, trotz Therme, trotz der anderen Salons im Ort und in der Umgebung, die sich Beauty- und Wellnessfarmen nannten und die sie im Stillen verachtete, weil Kosmetikerinnen heutzutage nicht mehr anständig ausgebildet wurden und billige Produkte viel zu teuer verkauften. Ihre alten Stammkunden wussten zum Glück, was sie an ihr hatten, dennoch begriff Brigitte Scholl, dass es langsam Zeit war, kürzerzutreten und sich eines Tages ganz zur Ruhe zu setzen. Das Stehen fiel ihr schwer, und ihre Hände schmerzten von den Hals- und Gesichtsmassagen, die zu ihrer Standardbehandlung gehörten. Sie hatte ihre Arbeitszeit bereits auf drei Vormittage in der Woche reduziert, und bevor sie ganz aufhörte, musste sie noch einen Salon finden, den sie ihren Kundinnen mit gutem Gewissen empfehlen konnte. Das war sie ihnen schuldig.

Erwartungsgemäß hatten die Behandlungen ihre hohen Ansprüche nicht erfüllt. Ihre Haut hatte geglänzt wie Speck, und die Preise waren viel höher als bei ihr. Das hatte sie geärgert und gleichzeitig gefreut. Zu wissen, gebraucht zu werden, unersetzbar zu sein, war ihr wichtig.

Ursus, ihr Hund, stand als Nächstes auf ihrer Tagesordnung. Um zwölf Uhr würde sie ihn ins Auto laden und mit ihm im Wald spazieren gehen. Das tat sie immer, jeden Tag, bei jedem Wetter, man konnte die Uhr danach stellen. Ihr Mann hatte sie schon oft gewarnt, es sei nicht ungefährlich, als Frau so ganz alleine im Wald herumzulaufen, zumal sie nicht einmal ein Handy besaß, aber sie lachte nur darüber. Brigitte Scholl hatte keine Angst. Sie war fast siebzig, wer sollte ihr schon etwas tun?

Heute würde der Spaziergang etwas länger dauern als sonst, denn sie hatte vor, frisches Moos zu sammeln und später daraus Gestecke zu fertigen. Das war ihr Hobby. Ihre gesamte Terrasse war mit kleinen Kunstwerken aus Moosen, Zweigen, Tannenzapfen und getrockneten Beeren dekoriert. Und nicht nur ihre. Sie verschenkte ihre Moosgestecke an Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn und Bekannte. Heute wollte sie Maria*, einer ehemaligen Mitschülerin, die Blumenkästen herrichten. Seit Marias Mann im Sterben lag, hatte sie keine Zeit mehr, sich um diese Dinge zu kümmern. Da musste Brigitte Scholl ran.

»Bei dir sind ja noch die Osterhasen in den Blumenkästen«, hatte sie ausgerufen, als sie Maria vor ein paar Tagen besucht und festgestellt hatte, dass überall noch die alten vertrockneten Frühjahrsgestecke herumstanden. Maria waren ihre Blumentöpfe egal, aber sie widersprach nicht. Sie kannte Gitti, wie sie alle nannten, seit sechzig Jahren und wusste, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde sie es auch durchsetzen.

Am Morgen telefonierten die beiden Frauen noch miteinander. Brigitte Scholl klang wie immer, frisch, entschieden, unternehmungslustig. Sie kündigte an, nachmittags mit dem Moos vorbeizukommen. Auch einer anderen Freundin fiel nichts Besonderes auf, als Gitti vormittags anrief, um von einem Medikament gegen Gelenkschmerzen zu berichten, das sie ihrem Mann empfehlen könne. Brigitte Scholl kannte immer die neuesten Medikamente und die besten Ärzte und empfahl sie gerne weiter. Vor dem Haus plauderte sie ein bisschen mit ihrem Nachbarn, der seinen Weihnachtsschmuck vom Haus abnahm, und machte sich kurz vor zwölf Uhr auf den Weg zum Waldspaziergang. Eine Nachbarin sah, wie sie losfuhr und dann noch einmal zurückkam und ins Haus lief, als habe sie etwas vergessen. Das nächste Mal tauchte ihr Auto in der Nähe der Therme auf. Jeder im Ort kannte Brigitte Scholls silberfarbenen Mercedes mit dem Kennzeichen TF - BS700. TF stand für Teltow-Fläming. BS für Brigitte Scholl. Eine Frau, die gerade aus einem Fotogeschäft kam, fuhr kurz hinter ihr her.

Gegen zwölf Uhr kam Brigitte Scholl an der Siethener Straße am Ortsausgang von Ludwigsfelde an und stellte den Mercedes ab. Sie stieg aus, zog ihre Waldschuhe an, nahm den Hund an die Leine und lief tief in den Wald hinein, um Moos zu sammeln. Zwischen den hohen Kiefern verliert sich ihre Spur. Später an diesem Tag wurde nur noch ihr Auto gesehen. Es fuhr zurück in die Stadt.

Am Steuer saß ein Mann.

Heinrich Scholl sucht seine Frau

Heinrich Scholl hatte länger mit der Therme zu tun gehabt als geplant. Es war brechend voll. Die Reihe der wartenden Badegäste schlängelte sich durchs ganze Foyer. Mehr als eine Stunde war er zu spät zum Mittagessen nach Berlin gekommen und dementsprechend spät wieder in Ludwigsfelde gewesen. Seine Frau und er wollten um 16 Uhr zusammen Kaffee trinken. Um 16:15 Uhr parkte er sein Auto, einen Nissan, vor dem Haus. Der Mercedes seiner Frau stand nicht vor der Tür, auf dem Küchentisch lag kein Zettel. Sie war nicht da.

Er fragte Nachbarn, ob sie wüssten, wo sie sei, rief ihre Freundinnen an. Niemand wusste etwas, aber niemand machte sich ernsthaft Sorgen. Und so fuhr er weiter, in die Potsdamer Straße zu seinem Stammlokal Da Toni. Es befand sich im Erdgeschoss eines der fünfstöckigen Neubauten, die er in den neunziger Jahren als Bürgermeister eingeweiht hatte. Gegenüber war die Einkaufspassage, ebenfalls in seiner Zeit gebaut, und von hier waren es nur ein paar Meter bis zur dreihundertfünfzig Meter langen Autobahnbrücke, unter der er vor ein paar Jahren Prinz Charles herumgeführt hatte. Überall in der Stadt waren die Spuren seiner Bürgermeisterzeit zu sehen, Heinrich Scholl empfand immer noch Stolz darauf und lud Freunde und Bekannte gerne zu Stadtrundfahrten ein, die oft hier im Da Toni mit einem Glas Rotwein endeten.

Er begrüßte den Wirt und setzte sich auf seinen Stammplatz neben der Theke. Es war nachmittags, das Lokal war fast leer. Heinrich Scholl bestellte Rotwein und bat den Wirt um eine Zigarette. Er rauchte eigentlich nicht, Scholl war Sportler: Turner, Fußballer, Ruderer, Bergsteiger. Er hatte den Kilimandscharo und den Mont Blanc erklommen. Aber manchmal machte er eine Ausnahme. Wenn seine Frau nicht dabei war.

Ihr Leben folgte einem klaren Rhythmus und rigiden Regeln. Sie bestimmte, wie sie Weihnachten feierten, wer zu Silvester kam, wann das Laub geharkt und die Hecke geschnitten wurde, wie viele Gläser Wein er trinken durfte und wann es Zeit war, nach Hause zu fahren. Als er Bürgermeister war, hatte sie ihn mitten in wichtigen Sitzungen angerufen, um ihm Aufträge zu erteilen, und auch jetzt, da er Rentner war, hielt sie ihn auf Trab. Ständig hieß es, Heiner, hol mal dieses, bring mal jenes. Er erledigte die Einkäufe, brachte ihr Auto in die Werkstatt, mähte den Rasen, begrüßte ihre Kundinnen. Wenn ihre Freundin Inge aus Anklam anrief, holte seine Frau ihn ans Telefon, damit er Inge »Guten Tag« sagen konnte. Wie ein Kind. Vor zwei Tagen, als ihre Schulfreundin Maria vorbeigekommen war, hatte Brigitte Scholl ihren Mann gezwungen, seine morgendliche Zeitungslektüre zu unterbrechen und für Maria ein Gedicht über eine Kerze aufzusagen.

Umso mehr genoss Scholl diese kleinen Momente der Ruhe und Freiheit im Da Toni. Hier nahm ihm der Wirt den Mantel ab und fragte: »Ein Glas Rotwein wie immer, Herr Bürgermeister?« Hier achtete man ihn.

Heinrich Scholl blieb etwa eine Stunde, unterhielt sich mit dem Wirt, der eigentlich aus Mazedonien kam, aber die Feinheiten der italienischen Küche gut beherrschte, wie Scholl fand. Sie dachten über eine Terrasse nach und einen Wintergarten, in dem man rauchen konnte. Gegen achtzehn Uhr bezahlte er und stieg wieder in sein Auto.

Draußen war es inzwischen dunkel. Die Tagesgäste der Therme kehrten in ihre Wohnzimmer zurück. In den Fenstern flimmerten Fernseher. Es war die Zeit im Jahr, in der alte Märchenfilme gezeigt wurden. Die Straßen wirkten noch ruhiger als sonst. Ab und zu knallte eine vorzeitige Silvesterrakete. In Heinrich Scholls Haus brannte immer noch kein Licht, das Auto seiner Frau stand weder vor der Tür noch in der Garage. Scholl machte sich wieder auf die Suche, diesmal entschiedener. Klingelte bei den Nachbarn, fuhr bei der Freundin vorbei, für die seine Frau das Moos sammeln wollte, und fragte einen Bekannten, der bis zur Rente als Kriminalkommissar gearbeitet hatte, ob es zu früh sei, die Polizei einzuschalten.

Der Kommissar sagte, das Beste sei, mal zu fragen, ob es irgendwo einen Unfall gegeben habe und Gitti womöglich im Krankenhaus liege. Er rief alte Kollegen an, konnte aber niemanden erreichen. Gegen zwanzig Uhr erschien Heinrich Scholl auf der Polizeiwache der Stadt, einer Baracke, die sich nur wenige Meter neben der Autobahn befand und nicht unbedingt zu den Vorzeigeobjekten Ludwigsfeldes gehörte. Der diensthabende Polizist war ein junger Mann mit Brille und Kinnbart, der nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte. Heinrich Scholl musste ihn erst darauf aufmerksam machen, dass er bis vor drei Jahren noch Bürgermeister gewesen war. Die Sorgen um seine Frau nahm der Beamte auch nicht besonders ernst. Nach drei, vier Stunden mache man noch keine Vermisstenanzeige, sagte er. »Ihre Frau ist ein freier Bürger in einem freien Land und kann machen, was sie will.« Vielleicht sei sie ja bei einer Freundin oder einem Freund. Wie denn das Verhältnis der Eheleute so sei?

Allerdings informierte der junge Polizist später doch noch seinen Dienstgruppenleiter. Der kannte Scholl. Er ließ das Stadtgebiet nach Brigitte Scholl absuchen, untersuchte ihren Kleiderschrank nach fehlenden Sachen, guckte, ob die Zahnbürste da war. Zurück im Revier gab er eine Suchanzeige auf: »Vermisst wird Brigitte Scholl, geb. Knorrek, 67 Jahre alt, 165 Zentimeter groß, leicht untersetzt, dunkelblonde Haare, Ohrlöcher, bekleidet mit einer dunklen Wetterjacke und Stiefeln, mitgeführte Gegenstände: silbergrauer Mercedes-Benz mit dem Kennzeichen TF - BS700 sowie ein graubrauner Cockerspaniel mit Gespann.«

Wenige Stunden später, kurz vor Mitternacht, kreiste ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera über dem Wald. Die Ludwigsfelder, an das gleichmäßige Rauschen der Autobahn gewöhnt, fragten sich, ob etwas passiert sei, ein Verkehrsunfall vielleicht.

Heinrich Scholl lief mitten in der Nacht mit einer Taschenlampe zwischen den Bäumen umher, der Wald war dunkel und tief. Der pensionierte Kommissar, dem die Sache ebenfalls keine Ruhe mehr ließ, sah Heinrich Scholl, lud ihn ein, gemeinsam fuhren sie die Straßen ab, vom Auto keine Spur. Der Kommissar setzte Heinrich Scholl zu Hause ab und leistete ihm noch ein wenig Gesellschaft. Scholl trank Rotwein, noch mehr Rotwein, und er rauchte wieder. Gegen halb drei schlief er ein.

Drei Stunden später wurde er vom Klingeln des Telefons geweckt. Sein Sohn wollte wissen, ob seine Mutter inzwischen aufgetaucht sei, und kündigte an, sich auf den Weg nach Ludwigsfelde zu machen. Heinrich Scholl legte sich wieder hin und versuchte weiterzuschlafen. Es war kurz nach sechs, die Zeit, um die Brigitte Scholl normalerweise mit Ursus von ihrem morgendlichen Spaziergang zurückkehrte. Im Haus war es still.

Der nächste Vormittag verging mit Telefonaten und Besuchen. Ein weiterer Polizist kam vorbei und befragte Heinrich Scholl nach den Gewohnheiten seiner Frau, was sie so mache, wo sie ihre Wochenenden verbringe. Scholl erzählte von ihrem Sohn, von ihren Freundinnen, davon, dass sie an Wochenenden gerne in die Bleiche fahre, eine Wellnessfarm im Spreewald, aber in letzter Zeit kaum noch, wegen des Hundes. Der Polizist schlug vor, ihre EC-Karte sperren zu lassen und mal in der Bleiche anzurufen. Eine Streife fuhr das Waldgebiet und die Innenstadt ab.

Heinrich Scholl bat den Tierarzt, Horst Singer*, einen Freund der Familie, zusammen mit ihm nach Gitti zu suchen. Singer war Jäger, er kannte sich aus im Wald. Er wollte gleich losfahren, Heinrich Scholl lieber noch auf Frank, den Sohn, warten. Gegen zwei fuhren sie zu dritt mit dem Pick-up-Truck des Tierarztes zum Wald, an der Friedhofseinfahrt vorbei, die Landstraße Richtung Siethen entlang, bis kurz vorm Spargelfeld, genau den gleichen Weg, den Brigitte Scholl gestern auch gefahren war. Inzwischen waren mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, der Himmel grau wie am Tag zuvor, die Luft feucht. Die Männer trugen festes Schuhwerk und Wetterjacken, suchten links und rechts der Waldwege nach Spuren, nach irgendeinem Zeichen, riefen ihren Namen. Gitti. Brigitte. Mutti.

Keine Antwort. Nichts.

Eine Stunde suchten sie. Der Tierarzt und der Sohn wollten schon wieder umkehren, aber Heinrich Scholl wollte noch bis zum Einsetzen der Dämmerung durchhalten und in einem anderen Waldstück suchen, in dem sie auch gern unterwegs war. Sie hatten gerade damit angefangen, da blieb Frank stehen wie vom Blitz getroffen und starrte auf den Waldboden, wo sich zwei Schuhe befanden, schwarze Frauenschuhe, ordentlich nebeneinandergestellt wie im Flurregal seiner Eltern.

»Hier ist etwas«, rief er. »Hier sind Schuhe.« Heinrich Scholl und der Tierarzt kamen näher. Zu dritt starrten sie auf die Schuhe. Der Tierarzt sondierte die Umgebung und entdeckte nicht weit von den Schuhen zwei Mooshügel. Der eine war klein und rund, der andere groß und lang. Aus dem großen schauten zwei Fußspitzen heraus, aus dem kleinen kupferfarbenes Fell.

Als Erstes war der Krankenwagen vor Ort, dann kamen die Polizei und die Spurensicherung. Heinrich Scholl musste sich übergeben und bat um ein Beruhigungsmittel. Das Gebiet wurde großflächig abgesperrt, die Spurensicherung nahm ihre Arbeit auf, die Polizei begann mit ihren Befragungen. Es gab keine Zweifel mehr – und bald wusste es die halbe Stadt: Brigitte Scholl, die Bürgermeisterfrau, war tot, beim Waldspaziergang ermordet, am helllichten Tag.

Ein Sexualmord, dachten die Leute. Ein Triebtäter geht um. Tagelang suchten Polizisten den Wald ab, flogen mit Hubschraubern über Ludwigsfelde. Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr alleine vor die Tür, Jogger änderten ihre Laufstrecke, Gerüchte über osteuropäische Banden, die russische Mafia und Raubmörder machten die Runde. Jedes verdächtige Auto wurde gemeldet, jede unbekannte Person. Das Silvesterfeuerwerk, so schien es, fiel in diesem Jahr ein wenig leiser aus.

Heinrich Scholl wirkte abwesend, wie erstarrt. Sein Sohn war in den ersten Tagen noch bei ihm, sie besprachen die wichtigsten Dinge. Am 31. Dezember klingelte es. Ein befreundetes Ehepaar kam zur Silvesterfeier, mit Sekt und Pfannkuchen. Brigitte Scholl hatte sie eingeladen, vor einer Woche, als alles noch gut war. Sie wussten von nichts, sie standen wie Besucher aus einer anderen Zeit vor der Tür. Heinrich Scholl erklärte: Gitti ist tot und der Hund auch. Mehr könne er nicht sagen, die Polizei ermittle noch. Ein paar Tage später erschien eine Todesanzeige in der Regionalzeitung des Landkreises, die im Wesentlichen die Bitte ausdrückte, von der Öffentlichkeit in Ruhe gelassen zu werden: »In stiller Trauer. Die Urnenbeisetzung findet im engsten Familien- und Freundeskreis statt.«

Dass Brigitte Scholl ihre Beisetzung noch zu Lebzeiten vorbereitet hatte, überraschte Heinrich Scholl, seine Frau hatte ihm nichts davon gesagt. Sie wollte eine bescheidene Urnenbestattung und eine schlichte Grabplatte mit ihrem Namen darauf. Nur die engsten Freunde und Verwandten sollten kommen, Frank sollte die Rede halten. Die Anweisungen der Verstorbenen brachte ihm Herr Klotz, der Bestatter von gegenüber, vorsichtig bei. Es war eine letzte Botschaft seiner Frau, und es war keine Liebesbotschaft. Brigitte Scholl hatte darauf bestanden, die Grabstelle für sich allein zu haben, auch nach seinem Tod. Siebenundvierzig Jahre lang hatten sie Tisch und Bett geteilt, am Ende stieß sie ihn weg.

Die Trauerfeier war klein und bedrückend. Vor mehr als drei Wochen hatten sie Brigitte Scholl im Wald gefunden, und noch immer gab es keine Klarheit, was passiert war und warum. Die Polizei schien mit ihren Ermittlungen nicht weiterzukommen, die Gerüchte wurden immer wilder. Es war die Rede von einer verstümmelten Leiche, von der thailändischen Mafia, polnischen Banden und politischen Verschwörungen. Der Mörder lief frei herum, während sie hier auf dem Friedhof standen.