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»Einen Tag vor ihrem Tod rief mich Simone an. Das weiß ich genau, denn ich hatte keine Zeit.«
Berlin, Mitte der achtziger Jahre. Zwei junge Frauen feiern, tanzen, reisen, verlieben sich – und werden im Osten der Stadt erwachsen. Dann fällt die Mauer, und das Leben der Freundinnen verändert sich in rasender Geschwindigkeit. Simone wird zur Weltenbummlerin, Anja gründet eine Familie und arbeitet als Journalistin. Sie treiben auseinander und verlieren sich doch nicht. Bis zu dem Tag, an dem Simone für immer geht und Anja zurückbleibt. Wer war Simone? Und warum hat sie sich das Leben genommen?
Auf der Suche nach Antworten unternimmt die Autorin eine Reise zurück in das Leben der Freundin und in ihr eigenes. Sie spricht mit Angehörigen, Freunden und Experten, liest Briefe, Tagebücher und Dokumente – und macht daraus bewegende Literatur.
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Berlin, Mitte der achtziger Jahre. Zwei junge Frauen feiern, tanzen, reisen, verlieben sich – und werden im Osten der Stadt erwachsen. Dann fällt die Mauer, und das Leben der Freundinnen verändert sich in rasender Geschwindigkeit. Simone reist durch die Welt, Anja bekommt ein Kind, heiratet, beginnt zu arbeiten. Sie treiben auseinander und verlieren sich doch nicht. Bis zu dem Tag, an dem Simone für immer geht und Anja zurückbleibt. Aber sie kann nicht vergessen. Mit Macht drängen die Erinnerungen immer wieder hervor. Eines Tages stellt sie sich ihnen und klärt die Umstände von Simones Tod auf. Eine Spurensuche – und ein so bewegendes wie aufschlussreiches Buch.
Anja Reich, geboren in Berlin, ist Autorin und Journalistin. Seit 1996 arbeitet sie für die »Berliner Zeitung« und berichtete ab 2001 als Korrespondentin aus New York und von 2018 bis 2020 aus Tel Aviv. Für ihre Reportagen erhielt sie den Deutschen Reporterpreis und den Theodor-Wolff-Preis. Im Aufbau Verlag erschien zuletzt von ihr »Getauschte Heimat. Ein Jahr zwischen Berlin und Tel Aviv« (zusammen mit Yael Nachshon Levin). Sie lebt in Berlin.
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Anja Reich
Simone
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DANK
Impressum
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Einen Tag vor ihrem Tod rief Simone mich noch einmal an. Das weiß ich genau, denn ich hatte keine Zeit.
Ich stand im Flur unserer Wohnung, das Telefon in der Hand. Mein Sohn rutschte mit seiner Feuerwehr über den Boden, meine Schwester lief mit Getränken an mir vorbei, meine Mutter unterhielt sich mit meinem Vater. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
Es war im Oktober 1996, der vierte Geburtstag meines Sohnes und der achtundfünfzigste meines Vaters. Sie hatten am gleichen Tag Geburtstag, aber noch nie zusammen gefeiert. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich sechs war. Nach der Scheidung durfte ich meinen Vater kaum sehen. Lange wusste ich nicht einmal, wann er Geburtstag hat. Ich wusste vieles nicht über meine Familie. Es gab Dinge, über die man sprach, und Dinge, über die man nicht sprach. Über die Dinge, die mich interessierten, sprach man nicht.
Als mein Sohn geboren wurde, sagte meine Schwester zu mir: Unser Vater hat heute ja auch Geburtstag. Er kam ins Krankenhaus, noch am selben Tag, zum ersten Mal nach der Scheidung sah ich meine Eltern wieder zusammen. Sie standen an dem kleinen gläsernen Bett, in dem mein Sohn lag, und schauten ihn an. Ich dachte, dass es ein Zeichen war, Zeit, die Familie wieder zusammenzuführen.
An jenem Oktobertag sollte es so weit sein. Ich verließ die Redaktion früher als sonst, holte meinen Sohn aus der Kita ab. Um fünf klingelte es an der Tür. Mein Vater. Ich umarmte ihn. Seine Barthaare kratzten. Er roch nach Pfeifentabak.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte ich.
Er strich mir über die Wange.
»Wie geht es dir?«
»Gut, viel zu tun«, sagte ich und hätte es am liebsten sofort wieder zurückgenommen, weil mir einfiel, wie gerne er viel zu tun gehabt hätte. Sein Institut war vor Kurzem abgewickelt worden, mein Vater, ein leidenschaftlicher Chemiker, hatte seine Arbeit verloren und holte, um sich die Zeit zu vertreiben, meinen Sohn einmal in der Woche von der Kita ab, machte Ausflüge ins Naturkundemuseum mit ihm, wie früher mit meiner Schwester und mir.
»Opa, Opa!« Mein Sohn kam angerannt, mein Vater übergab ihm sein Geschenk. Es war eine Videokassette, die mein Sohn schon hatte. Er warf sich auf den Boden und schrie. Meine Schwester sagte, die Kassette könne man doch umtauschen. Meine Mutter nahm meinem Vater die Jacke ab. Ich hätte auch gerne geschrien.
»Alles in Ordnung?«, fragte mein Mann.
Das alles hat natürlich überhaupt nichts mit Simone zu tun. Ich erzähle es nur, weil ich nach Erklärungen suche, warum ich nichts bemerkte, warum mir nichts auffiel, als sie mich anrief. Ich war mit mir selbst beschäftigt, ich hing in der Vergangenheit fest und sah nicht, was in der Gegenwart passierte.
Das Telefon klingelte, kurz bevor wir mit dem Abendessen beginnen wollten, es war eines dieser alten Festnetztelefone, die durch eine Strippe mit dem Hörer verbunden waren. Ich ließ es klingeln, in der Hoffnung, der Anrufer gebe von allein auf. Es klingelte weiter.
Mein Mann verlor als Erster die Nerven. Er nahm den Hörer ab. Ich sah ihn reden und lachen. Er schien es zu genießen, die Pause vom Kindergeburtstag, von meinem Familienexperiment. Ich wollte mich gerade zu den Gästen setzen, da hörte ich ihn sagen: »Warte, ich hol sie schnell.« Er gab mir ein Zeichen. »Simone«, flüsterte er.
Simone!
Wir kannten uns seit unserer Jugend in Berlin-Lichtenberg. Ich war mal mit ihrem Bruder zusammen. Als mit ihm Schluss war, blieben seine Schwester und ich Freundinnen. Das war vor allem Simone zu verdanken. Sie schrieb mir Karten, kaufte mir Geschenke, besuchte mich, manchmal ohne Ankündigung. Stand einfach vor der Tür: groß, schlank, dunkle Haare, mandelförmige Augen, Brauen, die sich über der Nase fast berührten. Wie eine Statue. Ihre Mutter war Tschechin, Simone wurde oft für eine Spanierin oder Südamerikanerin gehalten, sie sprach fließend Spanisch, Russisch, Französisch, tanzte Tango und Salsa, ging zum Schaufrisieren, spielte Gitarre, fuhr mit ihren Eltern nach Ungarn in den Urlaub.
Ich kannte niemanden, dem es in der DDR so gut gegangen war wie Simone, ein Mädchen, das seine Talente ausleben konnte, dem es an nichts fehlte. Ein Ostberliner High-Society-Girl, für das die Mauer genau zum richtigen Zeitpunkt fiel. Simone war zwanzig und startete in ihr neues Leben, als habe sie auf nichts anderes gewartet. Wechselte von ihrer Ostberliner Hochschule an die Westberliner Freie Universität, reiste in den Semesterferien durch die Welt, am liebsten nach Lateinamerika, jobbte als Kellnerin in Cafés und Hotels, lernte ständig neue Leute kennen. Ihr bester Freund war Thomas, der Betreiber der Assel in der Oranienburger Straße, einer berühmten Szenekneipe in Ostberlin.
Simone war nur ein Jahr jünger als ich, aber unsere Leben hätten unterschiedlicher nicht sein können. Sie war immer noch Studentin, immer noch Single. Ich arbeitete als Journalistin, hatte einen Mann, einen Sohn, eine Festanstellung, ein Au‑pair-Mädchen und seit Neuestem auch einen Kater, der meinem Sohn und dem Au‑pair-Mädchen Gesellschaft leisten sollte, wenn ich spät von der Arbeit kam.
Simone führte das Leben, von dem wir immer geträumt hatten, ich das, was mir vernünftig erschien. Sie war jung, ich war erwachsen. So kam es mir vor. Ich beneidete sie um ihre Schönheit, ihren Mut, ihre Unabhängigkeit. Sie sagte manchmal, sie hätte auch gern eine Familie wie ich.
Als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, vor vier, fünf Wochen, verkündete sie, nach Tschechien zu ziehen. Zu ihrem Bruder. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht wollte sie meinem Sohn gratulieren, dachte ich, während ich zum Telefon lief. Vor einem Jahr war sie noch vorbeigekommen, mit einer Kindertorte. Oder war das vor zwei Jahren gewesen?
Sie redete gleich drauflos, als hätten wir erst gestern miteinander gesprochen, erzählte mir, dass sie doch nicht zu ihrem Bruder nach Tschechien umziehen werde, sondern bereits neue Pläne habe: Wohnung fertig renovieren, Studium beenden, nebenbei jobben, im Interconti und in einem Bioladen in Schöneberg.
»Ich bringe mein Leben in Ordnung, Anja«, sagte sie.
Ich mochte es, wenn sie so war, so überschäumend, so voller Elan. Ich hätte ihr gerne weiter zugehört, aber ich hatte keine Zeit, ich musste mich um meine Gäste kümmern.
»Simone«, unterbrach ich sie, »wir feiern hier gerade Geburtstag.«
Für einen Moment war es still in der Leitung. Dann sagte sie: »Ach so.«
Sie könne ja später noch vorbeikommen, sagte ich, auf ein Glas Wein, wenn die Familie weg sei. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, jetzt, da ich weiß, dass sie nie mehr vorbeikommen wird.
Einen Tag später rief sie noch einmal an. Ich saß an meinem Schreibtisch in der Redaktion. Es war nachmittags gegen drei, halb vier. Ich musste einen Artikel fertig schreiben. Sie fragte, ob ich zu ihr kommen könne, sie wolle mir gern ihre frisch gestrichene Wohnung zeigen. Ob das vielleicht bis nächste Woche Zeit hätte, fragte ich.
Zwei Stunden später nahm sie sich das Leben
Ihr Bruder rief mich an, mit heiserer Stimme. »Mone ist tot.« Drei Worte nur, ein Satz. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt, was ich gedacht habe. Vielleicht habe ich »Nein« geschrien, vielleicht flüsterte ich es auch nur. Ich weiß nur, dass die Welt nach diesem Anruf eine andere war.
Ich konnte erst nicht weinen und dann konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen. Zur Beerdigung bin ich zu spät gekommen und zu früh gegangen und seitdem nie wieder auf dem Friedhof gewesen.
Ich machte weiter mit meinem Leben, arbeitete noch mehr, bekam noch ein Kind, zog mit meiner Familie nach New York, lernte neue Menschen kennen, schloss neue Freundschaften, versuchte, Simone zu vergessen, weil in meinen Erinnerungen an sie all die Fragen auftauchten, auf die ich keine Antworten wusste: Warum sollte ich zu ihr kommen an jenem Oktobertag des Jahres 1996? Was wollte sie mir sagen? Was wäre gewesen, wenn ich mir Zeit für sie genommen hätte? Würde sie dann noch leben? Hätte ich sie retten können?
Ich weiß inzwischen, dass das die typischen Fragen und Selbstbeschuldigungen Hinterbliebener sind, die nach Erklärungen suchen. Sie wollen nicht schuld sein oder brauchen die Gewissheit, dass sie schuld sind, weil sie dann wenigstens eine Antwort auf ihre Fragen haben, die ihnen vielleicht etwas Erleichterung verschafft. Ich weiß, dass es manchmal keine Antwort gibt, dass Menschen, die sich das Leben nehmen, oft psychisch krank sind, dass es genetische Ursachen geben kann, eine Familiengeschichte. Aber ich weiß auch, dass der Wunsch, sich das Leben zu nehmen, mit der Ausweglosigkeit in gesellschaftlichen Krisen und Umbrüchen zu tun haben kann. Und manchmal frage ich mich, ob Simone eher am Erbe des Sozialismus zerbrochen ist oder an den Zumutungen des Kapitalismus.
Zehn Jahre nach ihrem Tod beschloss ich, nach Antworten zu suchen. Ich verabredete mich mit ihrem Bruder in einem Café in Prenzlauer Berg. Ich war gerade aus New York zurück nach Berlin gezogen, ich dachte, es sei genug Zeit vergangen, um über seine Schwester zu reden.
André war kaum wiederzuerkennen. Früher, in der Schule, war er der Schwarm aller Mädchen gewesen, klug, lässig, schwarze Haare, schwarze Augen, lange Strickpullover, rotes Moped. Im Café saß mir ein gebeugter Mann mit verquollenen Augen gegenüber.
Wir begrüßten uns mit Handschlag. Er hatte alle Zelte in Berlin abgebrochen, ein Hotel im Riesengebirge aufgemacht, das schon wieder zu war, und handelte jetzt mit Salzkristallen. Die Beziehungen zu den Frauen, mit denen er Kinder hatte, waren in die Brüche gegangen. Wir redeten über die Familie, seine und meine, über Berlin, wie es sich veränderte. Irgendwann, nach einer Stunde etwa, nahm ich meinen Mut zusammen und fragte André, wie es ihm ergangen sei nach Simones Tod, ob er wisse, warum sie sich umgebracht habe. Er sah mich an, als erwache er aus einem Traum. Dann sagte er, er habe seit Jahren nicht mehr über sie geredet. Auch auf Familienfeiern spreche niemand über sie. Einmal im Jahr gehe er auf den Friedhof, sonst versuche er, das alles zu vergessen.
Das. Er redete über Simone wie über einen unangenehmen Vorfall. Er brachte nicht einmal ihren Namen über die Lippen. Er tat mir leid. Und stachelte meine Neugier an. Was versuchte André zu vergessen? Woher kam dieses Schweigen in der Familie? Gab es ein Geheimnis, von dem ich nichts wusste?
Ich hatte immer mehr Fragen, aber es war immer noch zu früh, sie zu stellen. Wieder vergingen Jahre. Die Zeit verwischte Simones Spuren und die des Landes, aus dem wir kamen. Berlin wurde hipper, internationaler. Überall wurde Englisch gesprochen, junge Leute zogen in die Stadt. Neue Restaurants, neue Clubs und Bars eröffneten, alte verschwanden. Das Café in der Warschauer Straße, in dem Simone und ich uns oft getroffen hatten, gab es nicht mehr, die Assel war verschwunden. Genau wie das Edwin in der Großen Hamburger, wo sie gekellnert hatte. Manchmal fuhr ich an dem Haus vorbei, in dem sie vor ihrem Tod gelebt hatte, aber ich ging nie hinein, sah meist nicht einmal zu ihm hinüber, wich auf Seitenstraßen aus, fuhr Umwege, als sei Simones Schicksal ansteckend, eine Krankheit, die auch mich befallen und mein Leben ins Rutschen bringen könnte.
Aus meinen Träumen aber ließ sich Simone nicht vertreiben. Die Träume ähnelten sich. Sie ruft an, will mir etwas sagen, etwas Wichtiges, ich habe keine Zeit.
Nach zwanzig Jahren nahm ich noch einmal Anlauf. Ich traf mich in Prag mit Simones Cousine und besuchte ihren Bruder im Riesengebirge. André ging es besser. Er hatte eine kleine Tochter, ein großes Haus, wollte in ein paar Monaten heiraten. Er nannte seine Schwester beim Namen, erzählte mir, dass er Simones Wohnung nach ihrem Tod ausgeräumt hatte, zeigte mir ihren letzten Brief und ein Fotoalbum, das sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.
»Hast du noch mehr Sachen von ihr?«, fragte ich. Nein, seine Eltern hätten alles, sagte er, wenn ich mich dafür interessiere, müsse ich mich beeilen. Sie seien gerade dabei, alles auszusortieren und wegzuwerfen. Aussortieren? Wegwerfen? Simones Sachen? Ich war entsetzt, bat André, seinen Eltern zu sagen, sie sollten warten. Zurück in Berlin rief ich seine Mutter an. Mein Herz raste. Ich hatte sie seit Simones Beerdigung nicht mehr gesehen. Sie hatte auf meinen Anruf gewartet und lud mich zu sich nach Hause ein.
Ein paar Tage später stand ich vor ihrer Haustür und drückte auf den Klingelknopf. Simones Eltern sind Rentner, sie wohnen in Berlin, nur ein paar Straßenbahnstationen von meiner Wohnung entfernt. Ihr Haus, ein Fünfgeschosser aus den Neunzigern, mit Eigentumswohnungen und Tiefgarage, steht inmitten einer DDR-Neubausiedlung, hebt sich ab von den anderen Häusern, ist ein bisschen besser, ein bisschen luxuriöser. Wie früher, dachte ich.
Wir tranken Kaffee und aßen Apfelkuchen. Nach einer Weile stand Simones Vater auf, ging in den Keller und kam mit einer Plastiktüte zurück, einem dieser Achtzig-Liter-Müllsäcke, in denen man Sachen verstaut, die in die Altkleidersammlung kommen oder in den Sperrmüll. Simones Mutter sagte, das seien Simones Unterlagen. Einiges sei vielleicht interessant für mich. Dann verließen sie das Zimmer, ließen mich allein mit dem Sack.
Ich setzte mich auf den Teppich, zwischen Fernseher und Bügelbrett. Draußen war es dunkel, im Flur still. Es war der Moment, auf den ich so lange gewartet hatte. Aber jetzt zögerte ich. Ich wusste: Wenn ich diesen Sack öffne, liegt Simones Leben vor mir, werde ich Dinge erfahren, die ich wissen will, und andere, die ich vielleicht nicht wissen will, werden die Erinnerungen zurückkommen, aber auch der Schmerz.
Der Sack war wie eine Zeitkapsel. Ein Blick in Simones Gedanken und Gefühle. In die Geschichte. Ihre und meine. Ich wartete noch ein paar Minuten, vielleicht waren es auch nur ein paar Sekunden, ich wusste, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: vergessen oder erinnern.
Dann riss ich den Sack auf.
Simones Geschichte beginnt mit ihrer Familie, Anfang des 20. Jahrhunderts, in einem tschechischen Dorf und einer norddeutschen Kleinstadt.
Das tschechische Dorf heißt Skrochovice, ein Grenzort an einem Fluss. Auf der einen Seite des Flusses lag Schlesien, auf der anderen das Sudetenland. Skrochovice gehörte zum Sudetenland. Hier wohnten deutsche Familien, deren Vorfahren einst als Siedler hergekommen waren. Sie besaßen die tschechische Staatsbürgerschaft, sprachen aber deutsch, schickten ihre Kinder auf die deutsche Schule, verheirateten ihre Söhne mit deutschen Frauen, sangen deutsche Volkslieder.
Vor hundert Jahren lebten die Leute im Ort vom Getreide- und Rübenanbau und von der Viehzucht. Es gab einen Bäcker, einen Fleischer, die deutsche Schule. In den zwanziger Jahren gab es auch eine tschechische, die schnell wieder zumachen musste, weil ihr immer wieder die Scheiben eingeworfen wurden.
Außer den deutschen Familien lebten noch zwei tschechische in Skrochovice und zwei sogenannte Mischehen, deutsche Männer, die tschechische Frauen geheiratet hatten. Sie waren die Außenseiter im Dorf. Ähnlich wie die jungen tschechischen Grenzer, die in einem Holzhaus am Ortsrand wohnten. Einer von ihnen hieß Martin Polach, war Mitte zwanzig, gelernter Kaufmann und für die Zollkontrolle zuständig. Er hatte sich zum Grenzdienst in Skrochovice gemeldet, nachdem seine Frau und sein Kind an Tuberkulose gestorben waren.
Martin Polach war Simones Großvater.
Im Oktober 1938 marschierte die Wehrmacht in Skrochovice ein. Großbritannien, Frankreich und Italien hatten im Münchner Abkommen zugestimmt, das Sudetenland dem Deutschen Reich zu überlassen, in der Hoffnung, dies sei Adolf Hitlers letzte Forderung nach mehr Territorium, ein Krieg so zu verhindern. Aber nur wenige Monate später annektierte Hitler auch die restlichen Gebiete der Tschechoslowakei. Im März 1939 Jahr nahmen die Nationalsozialisten Prag ein, im September überfielen sie Polen, der Zweite Weltkrieg begann.
Die Bevölkerung in Skrochovice begrüßte die Deutschen begeistert, aus den Fenstern wehten Hakenkreuzfahnen, in der Schule lernten die Kinder Nazi-Propaganda, in Opava, der nächstgrößeren Stadt, brannte die Synagoge. Wer sich den neuen Machthabern widersetzte, wurde festgenommen. Die Gefängnisse in der Umgebung füllten sich schnell, die alte Zuckerfabrik in Skrochovice wurde in ein Gefangenenlager umgewandelt, das erste Konzentrationslager auf tschechischem Boden. Aufständische Priester, Dichter, Juden wurden hier eingesperrt. Deutsche Bauern aus Skrochovice setzten die Häftlinge zur Arbeit ein. Priester mussten Rüben ernten, Juden Straßenwalzen nach Opava ziehen, dreizehn Kilometer hin, dreizehn Kilometer zurück. Wer nicht an Unterernährung oder Misshandlungen starb, wurde weitergeschickt, ins Gefängnis oder direkt ins Konzentrationslager, nach Buchenwald oder Sachsenhausen. Die Züge, die in die Lager fuhren, hielten direkt vor der Zuckerfabrik.
Martin Polach, der Grenzer, floh nach der Besatzung durch die Nazis ins Landesinnere nach Nový Jičín. Hier lernte er 1940 seine spätere Frau kennen, Jiřina, Simones Großmutter.
Jiřina kam aus einer wohlhabenden Familie, mit Ländereien und landwirtschaftlichen Betrieben. Sie war erst sechzehn, als ihr Vater beschloss, sie zu verheiraten. Er fürchtete, die Nazis könnten seine Tochter zur Zwangsarbeit nach Deutschland schicken wie alle unverheirateten Tschechinnen zu dieser Zeit. Jiřinas Mutter lebte nicht mehr, sie war bei einem Unfall mit dem Pferdewagen ums Leben gekommen, als ihre Tochter zwei war. In der Familie erzählt man sich, dass das Pferd vor dem Motor eines entgegenkommenden Autos scheute, der Wagen umfiel und die achtfache Mutter unter sich begrub. Jiřina, die jüngste der Geschwister, wuchs bei einer Tante auf, lernte nähen, kochen, bügeln. Ein schüchternes Mädchen, das sich mit sechzehn in einen Jungen ihres Alters verliebte, aber auf Anweisung des Vaters den elf Jahre älteren Zöllner heiratete. Im August 1940 gaben sich Martin Polach und Jiřina das Jawort, ein Witwer und eine Minderjährige.
Auf dem Hochzeitsfoto ist eine Frau mit dunklen Haaren, dunklen Augen und kindlichen Gesichtszügen zu sehen. Sie trägt ein langes weißes Spitzenkleid, auf dem Kopf ein Diadem, um den Hals eine Kette mit einem Kranz aus weißen Blüten und grünen Blättern. Der Mann auf dem Hochzeitsfoto trägt eine Uniform, die ihm zu groß ist, und einen Degen. An der Brusttasche ist der gleiche weiße Blätterkranz befestigt wie an der Kette seiner Frau. Simones Großeltern blicken ernst und so entschlossen in die Kamera, als hätten sie einen wichtigen Auftrag zu erfüllen.
Zehn Monate nach der Hochzeit, im Juni 1941, kam ihr erstes Kind auf die Welt. Ein Mädchen. Sie nannten es Dana.
Dana ist Simones Mutter.
Im Frühjahr 1945 wurde ihr zweites Kind geboren, in einem Luftschutzkeller, Jiřina, Simones Tante, nach der Mutter benannt. In Simones Tagebuch finde ich eine Notiz dazu, entstanden nach einem Besuch bei Babi, ihrer Großmutter:
Unterwegs erzählt Babi von Jiřinas Geburt in Louka im Keller ohne Arzt und Hebamme. Die Deutschen und Russen haben sich gerade bombardiert.
Im Mai 1945 war der Krieg vorbei. Die Tschechen holten sich das Land zurück, das die Nazis ihnen genommen hatten. Die Sudetendeutschen wurden enteignet, entrechtet, vertrieben. Martin Polach bekam den Auftrag, nach Skrochovice zurückzugehen und seinen Dienst wieder aufzunehmen. Die Hakenkreuzfahnen waren weg, als er dort ankam, die Deutschen auch. Sie waren in die alte Zuckerfabrik gesperrt worden. In ihre Häuser zogen nun tschechische Flüchtlinge ein, Familien, die im Krieg ihr Zuhause verloren hatten. Neusiedler wurden sie genannt.
Auch Martin durfte sich ein Haus für seine Familie aussuchen: eine Villa mit fünf Zimmern und einem großen Garten am Rand des Dorfes. Als er das Haus zum ersten Mal betrat, hörte er Geräusche aus einem Zimmer. Er öffnete die Tür und fand zwei verängstigte Mädchen vor, die Töchter der deutschen Familie, denen das Haus gehört hatte. Er sagte den Mädchen, sie bräuchten keine Angst zu haben, sie könnten hierbleiben. Dann holte er seine Familie nach. Sie kamen mit dem Güterzug. Dana war vier Jahre alt. Sie hat sich erst viel später gefragt, wer diese zwei deutschen Mädchen waren, die plötzlich in dem neuen Haus, in ihrem Leben auftauchten, die als Kindermädchen für sie arbeiteten und plötzlich wieder verschwanden. An den Namen eines der Mädchen erinnert sie sich noch: Elsa.
Sechshundertzwanzig Kilometer nördlich von Skrochovice, in einer mecklenburgischen Stadt namens Mirow, rettete in diesen Tagen ein Junge seine Familie vor dem Tod. Ulrich, fünf Jahre alt.
Ulrich ist Simones Vater.
Sein Vater, ein Landarbeiter, kam aus einer armen Mecklenburger Familie und kämpfte für die Wehrmacht in Frankreich. Seine Mutter kam aus Thüringen, eine strenge, harte Frau, und es ist schwer zu sagen, was sie härter gemacht hatte, die Abwesenheit ihres Mannes, der im Krieg war, oder seine kurzen Heimaturlaube, nach denen sie stets ein weiteres Kind zur Welt brachte, das versorgt werden musste. Inzwischen waren es fünf, das jüngste erst ein paar Wochen alt: Klaus, im Februar 1945 geboren.
Ulrich, der Älteste, war mit seinen fünf Jahren schon der Mann im Haus und musste die Aufgaben des Vaters übernehmen, Holz auf den Bahngleisen und im Wald sammeln, mit der Kanne zum Bauern laufen und um Milch betteln, auf die Geschwister aufpassen, der Mutter helfen.
Der Krieg kam spät nach Mirow, mit Bombenangriffen, Chaos und Angst. Flüchtlinge aus dem Osten zogen über die Straßen, Menschen flohen mit Handwagen vor der Front. In Demmin, einer Stadt nördlich von Mirow, hatten Nazi-Anhänger die Brücken über die nahen Flüsse gesprengt, die Rote Armee steckte im Ort fest, ihre Soldaten plünderten Geschäfte und Wohnungen, vergewaltigten Frauen. Aus Furcht vor den Russen nahmen sich Frauen das Leben, gingen mit ihren Kindern ins Wasser.
An einem Frühlingstag des Jahres 1945 fasste auch Ulrichs Mutter in Mirow den Plan: lieber sterben als dem Feind in die Hände fallen. Zum Mirower See, wo sie im Sommer mit den Kindern baden ging, war es nicht weit. Ulrich bekam den Auftrag, die Geschwister zusammenzutrommeln. Aber er, der sonst jeden Auftrag ohne Widerspruch erfüllte, weigerte sich, stellte sich vor seine kleinen Geschwister und verkündete, er komme nicht mit.
Er wusste nicht genau, was der Plan seiner Mutter war, aber er fragte sich, was sie an so einem kühlen Tag am See sollten, alle zusammen, und er spürte wohl, dass sie etwas Schreckliches vorhatte.
Seine Mutter war überrascht, dann erleichtert. Die Entschiedenheit ihres ältesten Sohnes übertrug sich auf sie. Sie packte ein paar Sachen zusammen und schmiedete einen neuen Plan, bei ihren Schwiegereltern Zuflucht zu suchen. Ihr Hof war zehn Kilometer entfernt, der Weg mit den kleinen Kindern beschwerlich, aber Ulrich, froh seine Mutter von ihrem Vorhaben abgehalten zu haben, übernahm wieder Verantwortung, trug seinen kleinen Bruder, ermunterte die Geschwister durchzuhalten. Irgendwann hielt ein Militärauto neben ihnen, lud sie ein und setzte sie bei den Großeltern ab. Ulrich weiß nicht mehr, wer in dem Fahrzeug saß, Russen oder Deutsche, aber an das Gefühl, gerettet worden zu sein, erinnert er sich gut. Dieser Tag am Ende des Krieges prägte den Jungen für sein weiteres Leben: Er hatte gelernt, dass er auf seine Familie aufpassen musste, weil sonst etwas Schlimmes passieren würde.
Die Großeltern packten Lebensmittel, Decken, Töpfe, Kannen, dicke Sachen ein, luden alles auf einen Wagen, fuhren los, über Felder, tief in den Wald. Auf einer Lichtung hielten sie an, bauten ein Lager auf. Tage oder Wochen harrten sie dort aus. Ulrichs Zeitgefühl verschwamm. In der Ferne hörte er die Schüsse der letzten Kämpfe und das Donnern der Panzer, die in die Dörfer rollten. Die Großmutter kochte dünne Suppe auf dem Feuer, nachts war es kalt, sie hatten Hunger. Aber sie lebten.
In Skrochovice, dem Grenzdorf, begannen die neuen Siedler ihr neues Leben. Immer mehr tschechische Arbeiter und Bauern zogen in die Häuser der Sudetendeutschen. Die kleine Dana hatte in der großen Villa ein Zimmer für sich allein. Sie war zu jung, um zu verstehen, was der Preis für den plötzlichen Besitz der Familie war. Wenn ihr Vater ihr verbot, in der Nähe der alten Zuckerfabrik zu spielen, fragte sie nicht warum. Es war ein unheimlicher Ort, das Haus neben der Bahnstrecke. Das war alles, was sie wusste.
Ihr Vater war eine Autorität im Ort, auch das gehörte zu dem neuen Leben. Martin Polach, ein gottgläubiger Mann, der eigentlich Pfarrer hatte werden wollen, erkannte die Zeichen der Zeit, trat aus der Kirche aus und in die kommunistische Partei ein. Die erteilte ihm den Auftrag, die Zwangsaussiedlung der Sudetendeutschen in Skrochovice zu organisieren.
Es gibt grausame Berichte aus dieser Zeit. In Krnov, einer Stadt, nur zehn Kilometer von Skrochovice entfernt, wurden im Juni 1945 dreitausend Sudetendeutsche auf einen Hungermarsch geschickt, bei dem dreihundert Menschen starben. Einen dieser Berichte finde ich im Internet, die Diplomarbeit einer Pädagogikstudentin aus Opava. Sie heißt Hana Mrosková und schreibt, dass ihr Großvater für die Vertreibung der Sudetendeutschen in Skrochovice zuständig war, dass sie das Thema deshalb sehr interessiert habe.
Ihr Großvater war Martin Polach. Hana ist seine Enkelin, Simones Cousine.
Ich kenne Hana noch als kleines Mädchen aus den Achtzigern. Simones Bruder André und ich besuchten die Großeltern in Skrochovice und fuhren auch bei Tante Jiřina in Opava vorbei. Jiřina hatte drei Kinder: zwei Jungs in Andrés Alter, Zwillinge, und Hana, die Nachzüglerin, von allen nur Hanka genannt. Ich erinnere mich an eine Wohnung in einem Neubaublock, an ein Wohnzimmer mit einem Sofa mitten im Raum, auf dem wir saßen, schwarzen Kaffee und Pepsi-Cola tranken, die es in der DDR nicht gab. Alle redeten tschechisch miteinander, André übersetzte für mich. Hanka rannte um uns herum.
Sie ist heute Anfang vierzig und hat selbst Kinder. Ich verabrede mich per Skype mit ihr und ihrer Mutter.
Jiřina raucht, sie sitzt neben ihrer Tochter in der Küche, beide sprechen gut Deutsch, beide sind Lehrerinnen von Beruf. Jiřina hat ihrer Tochter geholfen, die Geschichte von Skrochovice zu erforschen. Sie waren in Archiven, haben mit Zeitzeugen gesprochen. Vor allem zwei Frauen aus Skrochovice konnten viel erzählen, die Dorfälteste und Babi, die Großmutter.
Ihr Mann Martin, Simones Großvater, passte auf, dass es zu keinen Unruhen zwischen Deutschen und Tschechen, alten und neuen Siedlern, kam, dass sich die Menschen, die in der alten Zuckerfabrik hausen mussten, an die Regeln hielten, sich keine Krankheiten ausbreiteten. Sie bekamen Lebensmittelrationen zugeteilt, hatten, wenn sie das Gelände zur Arbeit verließen, ein »N« um den Arm zu tragen. N wie německy, deutsch.
Djeda, ihr Großvater, habe einen Befehl befolgt, sagt Hanka. Er sei dabei menschlicher vorgegangen als Beauftragte in anderen Dörfern. Sie berichtet von Krnov, dem Hungermarsch. So etwas habe es in Skrochovice nicht gegeben. Einige Dorfbewohner hätten den Gefangenen sogar Kuchen oder Eier in die Zuckerfabrik gebracht. Die tschechisch-deutschen Familien im Ort, die »Mischehen«, durften bleiben, obwohl nach den Dekreten auch ihnen die Aussiedlung gedroht hätte. Ihr Großvater sei ein Mann gewesen, der vermittelt habe. Hankas Mutter erinnert sich, dass manche der Bewohner, die vertrieben worden waren, Jahre später zu Besuch kamen. Sie hätten gut über ihren Vater gesprochen.
Ich frage Jiřina, ob sie sich an die beiden Schwestern erinnere, die im Haus als Kindermädchen beschäftigt gewesen seien. Nein, sagt sie, sie kenne die Geschichte nur aus Erzählungen. Sie sei zu klein gewesen und die Mädchen seien wohl nicht lange geblieben.
Im August 1946 wurden die Sudetendeutschen nach Opava in ein Sammelzentrum gebracht und von dort in Zügen nach Deutschland transportiert. Eines Morgens waren sie weg, die Zuckerfabrik leer. Martin Polach hatte seine Aufgabe erfüllt. Zur Belohnung wurde er Bürgermeister. Seine nächste Aufgabe war es, den Sozialismus aufzubauen, die Verstaatlichung der Landwirtschaft durchzusetzen. Das Brot wurde nicht mehr in der Dorfbäckerei, sondern in der Backfabrik von Opava gebacken. Der Fleischer bestellte sein Fleisch im Schlachthof der nächstgelegenen Stadt. Die Bauern arbeiteten für staatliche Genossenschaften, hielten nur noch ihr Vieh auf dem eigenen Hof.
Simones Großmutter überredete ihren Mann, die Villa mit Garten gegen einen Hof mit Haus, Stall, Scheune und Feldern zu tauschen. Sie wollte kein Fleisch vom Schlachthof essen. Sie wollte ihre eigene Kuh melken, ihre eigenen Hühner, Schweine, Gänse halten. Sie kam aus einer Großbauernfamilie, von der Verstaatlichung hielt sie nicht viel. Dana war sauer auf ihre Mutter. Sie wäre lieber in der Villa geblieben.
Dana genoss Privilegien, die ihren jüngeren Schwestern Jiřina und Liba nicht zugestanden wurden. Ihre Eltern hatten sich sehnlichst einen Jungen gewünscht, einen Stammhalter. Aber nach dem dritten Mädchen gaben sie auf. Das Kinderkriegen und auch das Bemühen, den Leuten im Dorf vorzuspielen, sie hätten aus Liebe geheiratet. Fast jeder im Ort wusste, dass Martin Polach, der bald wieder in seinem alten Beruf als Kaufmann unterwegs war, andere Frauen hatte. Auch seine Frau wusste es. Und nahm es hin. Sie kümmerte sich um den Hof und die Familie, teilte in der Dorfkneipe Essen für die Feldarbeiter aus, verdiente sich nebenbei Geld mit Nähen und Stricken für die Leute in Skrochovice. Ihre Töchter gingen in die Schule im Nachbardorf, später in Opava. Sie wurden streng erzogen und wussten schon in jungem Alter, welche Bestimmung die Eltern für sie vorgesehen hatten: Dana, die Älteste, sollte Medizin studieren, Jiřina, die Mittlere, Lehrerin werden, Liba, die Jüngste, auf dem Land bleiben und die Wirtschaft der Mutter weiterführen.
Dana nahm den Auftrag ernst, lernte den ganzen Tag, war die Beste in der Klasse und Schulsprecherin war sie auch. Zum Medizinstudium zog sie nach Olomouc, einer alten mährischen Stadt mit Palästen, Parks, Theatern, einer Burg und einem Universitätsklinikum. Wunderschön, aber auch groß, fremd, einschüchternd. Sie fühlte sich wie das Mädchen vom Land, fürchtete, den hohen Erwartungen ihrer Eltern und den Anforderungen ihrer Professoren nicht gerecht zu werden, entschied sich vorsichtshalber für Zahnmedizin als Fachrichtung. Das Studium war ein Jahr kürzer, und leichter sollte es auch sein.
Im ersten Jahr wohnte sie zur Untermiete, im zweiten zog sie ins Wohnheim, teilte sich ein Zimmer mit Studentinnen ihres Alters, die selbstbewusster und erfahrener waren als sie, vor allem, was Männer betraf. Dana hatte bis dahin noch nie einen Freund gehabt, war von ihren Eltern nicht aufgeklärt worden, eine Medizinstudentin, die keine Ahnung hatte, wie das geht mit der Liebe, dem Sex, dem Kinderkriegen. Ihre Mitbewohnerinnen erzählten es ihr, zeigten, wie man sich Augen und Lippen schminkt, Petticoats trägt, nahmen sie abends mit zum Tanzen. Sie lernte Josef kennen, einen Slowaken, ihre erste Liebe.
Ihre Eltern waren entsetzt, dachten, Dana, die Auserwählte, würde ihr Studium aufgeben, um zu heiraten und Kinder zu bekommen, ihre Zukunft wegwerfen. Ihr Vater erklärte, der Slowake sei viel zu alt für sie, verlangte einen Beweis, dass er weder Frau noch Kinder hatte. Dana durfte Josef nicht mit nach Skrochovice bringen, traf sich heimlich mit ihm, hoffte, ihr Vater würde seine Meinung eines Tages ändern. Bis im sechsten Semester eine Gruppe von DDR-Studenten an ihr Institut kam, fünfundvierzig Mädchen, sieben Jungs. Sie stammten aus allen Teilen der DDR, wirkten weltgewandter als die tschechischen Studenten. Vor allem einer fiel auf. Ralf. Er war groß und blond, konnte Tschechisch sprechen, und wenn sie abends ausgingen, war er der wildeste Tänzer. Dana verliebte sich in ihn.
Sie war jetzt zweiundzwanzig, eine Frau, nach der sich die Männer auf der Straße umdrehten, schwarze schulterlange Locken, schwarze Augen, elegante Blusen und Kleider. Auf einem Foto aus dieser Zeit posiert sie im Sommermantel und auf hohen Absätzen zwischen ihren jüngeren Schwestern. Eine Frau aus der Stadt zwischen zwei Mädchen vom Land.
Der Student aus der DDR gefiel ihrem Vater. Nicht einmal, dass er Deutscher war wie die Nazis, die Martin Polach einst aus seinem Dorf vertrieben hatten, störte ihn. Der Zweite Weltkrieg war noch nicht lange vorbei, aber es gab ja nun zwei Deutschlands, und Ralf kam aus dem Teil, in dem man die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen hatte. Wie die ČSSR. Sie waren Verbündete, das machte Ralf zum passenden Kandidaten für die Tochter.
Mit dreiundzwanzig wurde Dana schwanger. Sie hatte gerade ihr Studium abgeschlossen und absolvierte ihr praktisches Jahr im Krankenhaus von Opava. Ralf und sie beschlossen zu heiraten. Es war der Wunsch ihres Vaters. Er hatte zwar seine Religion zugunsten des Kommunismus aufgegeben, nicht aber seine Prinzipien. Das Kind kam zu früh. Im siebten Monat platzte die Fruchtblase. Dana war gerade in Skrochovice, Ralf zurück an der Universität in Greifswald. Sie lief zu einer Tante, die sie ins nächste Krankenhaus brachte. Als sie dort ankamen, war nur noch ein Notkaiserschnitt möglich. Das Kind wurde auf die Intensivstation gebracht und starb nach wenigen Tagen. Dana hat ihren ersten Sohn nie gesehen, aber einen Namen hat sie ihm gegeben: Peter.
Das tote Baby wurde auf dem Friedhof von Opava beigesetzt. Seine Großmutter, Jiřina, war die Einzige auf der Beerdigung, Dana lag noch im Krankenhaus, Ralf war weit weg.
Sie heirateten trotzdem. Über Peter, ihren Sohn, sprach niemand mehr. Dana hatte bereits ein neues Ziel: zu Ralf in die DDR zu ziehen.
Der Junge im Mecklenburger Wald hatte sein Zeitgefühl verloren. Er wusste nicht, ob er seit Tagen, Wochen oder Monaten in seinem Versteck saß, er wusste nicht, ob er es jemals würde verlassen können. Irgendwann erreichte ihn und seine Familie die Nachricht: Der Krieg ist vorbei, die Russen sind da, sie tun uns nichts. Sie bauten ihr Lager ab, packten ihr Hab und Gut zusammen, kehrten in ihre Häuser zurück.
Sein Vater befand sich in amerikanischer Gefangenschaft in Frankreich. Ulrich nahm weiter seine Rolle ein. Schickte ihn seine Mutter mit der Milchkanne los, lief er nun zur Kaserne, wo die Rote Armee ihr Quartier bezogen hatte. Wenn er Glück hatte, füllte ihm einer der Soldaten Suppe in die Kanne, manchmal steckte ihm einer Schokolade zu, manchmal scheuchten sie ihn weg, und er musste mit leerer Kanne zurück nach Hause gehen, wo seine Mutter ihn mit den Worten empfing, dass er für gar nichts gut sei, und die Russen, die seien alle Verbrecher.
Die Mutter schimpfte oft, aber Ulrich hatte keine Angst vor ihr. Er hatte sie davor bewahrt, in den See zu gehen, er hatte ihr und seinen Geschwistern das Leben gerettet, er trug die Verantwortung. Bat er seine Mutter doch mal um einen Rat, sagte sie, wieso er sie überhaupt frage, er würde doch sowieso immer alles besser wissen.
Als er eines Tages aus der Schule kam, lief ihm seine Mutter entgegen und rief: »Dein Vater ist da, er ist gerade bei deiner Tante, na los, sag ihm Guten Tag.« So aufgekratzt hatte er sie noch nie gesehen. Er rannte los, so schnell er konnte. Seine Tante öffnete ihm die Tür, ihr Gesicht war gerötet, sie hatte Tränen in den Augen. Im Wohnzimmer saß ein Mann mit langen Haaren und einem langen schwarzen Bart. Er sagte etwas auf Englisch zu ihm. Ulrich blieb stehen, starrte den Mann an.
Seine Tante gab ihm einen Schubs. »Na los, willst du deinen Vater nicht begrüßen?« Ulrich sagte: »Das ist nicht mein Vater«, drehte sich um und lief nach Hause.
Sie gewöhnten sich schnell aneinander. Der Vater nahm seinen ältesten Sohn mit zum Angeln und zum Bootsschuppen, wo er sich vor den Befehlen seiner Frau versteckte. Beide versteckten sich dort. Der Vater trank Schnaps, der Sohn machte seine Hausaufgaben. Die Mutter war nach der Rückkehr des Vaters wieder schwanger geworden, hatte noch ein Mädchen und zwei Jungen auf die Welt gebracht. Sie waren jetzt acht Kinder. Zu wenig Platz, zu wenig zu essen, zu viel Geschrei.
Ulrich beschloss, die Sache in die Hand zu nehmen, ging mit seiner Mutter zum Arzt, teilte ihm mit, acht Kinder seien genug, seine Mutter dürfe nicht mehr schwanger werden. Der Arzt sah den Jungen erstaunt an, schickte ihn nach Hause und behielt die Mutter da. Von nun an bekam sie keine Kinder mehr.
In der Schule war Ulrich gut. Seine Lehrer fragten ihn, ob er nicht selbst Lehrer werden wolle, aber seine Eltern erlaubten nicht, dass er studierte, er war der Älteste, er sollte einen richtigen Beruf lernen, schnell Geld verdienen, um seine große Familie zu ernähren.
Mit vierzehn begann er eine Lehre zum Forstarbeiter, zog in ein Internat im Wald an einem See, mit dreißig anderen Jungen. Die Tage waren durchgeplant, Lernen, Arbeit, Sport, Ordnung, Disziplin. Das Gegenteil vom Chaos bei sich zu Hause. Das gefiel ihm. Er wurde Mitglied der Freien Deutschen Jugend, lernte, dass nur der Sozialismus den Frieden auf der Welt sichern konnte, las Stalins Reden und sang zusammen mit den anderen Lehrlingen beim Morgenappell ein Lied zu dessen Geburtstag. Einmal kamen Männer in Anzügen ins Lehrlingswohnheim und erzählten von den Möglichkeiten, die der sozialistische Staat ihnen bieten konnte. Landarbeitersöhne wie Ulrich sollten die Ingenieure, Lehrer und Forscher der Zukunft werden, die neue Elite des Landes.
Ulrich wechselte auf die ABF, die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, in Greifswald, um Abitur zu machen und Forstwirtschaft zu studieren. Seinen Eltern versprach er, anschließend nach Mirow zurückzukehren, um die Familie zu versorgen. Aber dann wurden gar keine Förster gebraucht, sondern Ärzte. Er erfuhr es bei einem sogenannten Lenkungsgespräch. Wieder waren es Männer in Anzügen, die ihm erklärten, was gut und richtig für ihn sei. Wieder versicherte er den Eltern, die Familie zu versorgen. Als Arzt könne er das sogar noch besser, sagte er. Aber dann, ein paar Wochen später, beim nächsten Lenkungsgespräch, erwartete ihn die nächste Überraschung: Er sollte im Ausland studieren. Moskau, Prag oder Budapest. Aussuchen konnte er sich die Stadt nicht. Sie wurde ihm mitgeteilt, per Post: Studienbeginn 1. Oktober 1959, Budapest. Treffpunkt in Berlin.
Es war ein Auftrag des Staates, der jungen DDR, die dringend Mediziner brauchte, weil viele im Krieg ihr Leben gelassen hatten und von denen, die es noch gab, immer mehr in den Westen gingen, wo sie mehr verdienten. Die Grenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik waren offen. Noch. Für Ulrich, den Landarbeitersohn, war der Ärztemangel eine Chance, aus seinen Verhältnissen auszubrechen. Sein Vater erzählte stolz in der Kneipe herum, sein Sohn werde Arzt, ein feiner Mann, und ins Ausland gehe er auch. Seine Mutter schimpfte, wie sie denn bitte schön mit den Kindern klarkommen solle ohne ihren Ältesten, aber sie hielt ihn nicht auf.
Ulrich ging nach Budapest. Die Stadt hatte sich gerade von den Folgen des Volksaufstands 1956 erholt. Hunderttausende Ungarn, darunter viele Studenten, waren gegen die kommunistische Führung für Meinungsfreiheit, Demokratie, Parlamentarismus auf die Straße gegangen. Die Sowjetarmee hatte den Aufstand mit Panzern und Waffen niedergeschlagen. Ihr Anführer, Imre Nagy, wurde wegen Volksverrates hingerichtet.
Ulrich interessierte sich nicht für ungarische Politik. Er war nach Budapest gekommen, um zu studieren, und Budapest war eine umwerfende Stadt. Die Donau, die Brücken, die Märkte, die Häuser. Eine Metropole. Die Professoren an der Universität sprachen ungarisch, aber auch deutsch, französisch, englisch. Ihre Ansprüche an die Studenten waren hoch. Ulrich bestand die Prüfungen mit Bestnoten, konnte nach dem zweiten Studienjahr zwei Semester überspringen. Ein Musterstudent, der nebenbei Ungarisch lernte, im Chor der Universität sang, an Studentenreisen teilnahm und manchmal mit Frauen ausging. Meist ging die Initiative von ihnen aus, Ulrich wollte sich nicht binden, bevor er mit dem Studium fertig war und Geld verdiente.
Aber dann verliebte er sich, in Maria, eine ungarische Katholikin. Sie wurden ein Paar. Ihre Eltern wollten, dass sie heirateten, und Maria wollte das auch. Ulrich versprach ihr, dass sie seine Frau werden würde, aber nicht hier, nicht jetzt. Er musste in die DDR zurück, sein Studium in Greifswald fortsetzen. Unter Tränen nahmen sie Abschied voneinander, schickten sich Briefe und Fotos. Mitte der sechziger Jahre riss der Kontakt plötzlich ab. Maria bekam keine Antwort mehr. Kurz entschlossen setzte sie sich in den Zug, fuhr in die DDR, nach Mirow. Es war zu spät. Ulrich hatte eine andere Frau, eine andere Familie.
Dana, die junge tschechische Zahnärztin, hatte sich ihre Ankunft in der neuen Welt oft vorgestellt. Vor allem diesen einen Moment, wenn sie aus dem Zug steigen und Ralf, ihr Ehemann, sie am Bahnhof abholen würde. Sie hatten sich kaum gesehen, seit er wieder in Greifswald studierte. Und sie fuhr nicht direkt dorthin. Ralf hatte ihr vorgeschlagen, auf dem Weg in den Norden in Staßfurt Halt zu machen, seiner Heimatstadt. Dana sollte seine Eltern kennenlernen.
Sie war noch nie in der DDR gewesen, stellte sich das Land reicher, die Städte größer und bunter vor als die in der ČSSR. Die Tschechen schauten zu den Deutschen auf, seit vielen Generationen, daran hatte auch der Krieg nichts geändert. Hier zu leben war ein Privileg für Dana, das Mädchen vom Dorf.
Sie hatte sich ihren besten Mantel angezogen und viel zu hohe Schuhe, die sie in Opava gekauft hatte. Die ganze Familie hatte sie zum Bahnhof gebracht, sogar ihre Schwestern waren mitgekommen. Nach zehnstündiger Fahrt, mehrfachem Umsteigen, langem Warten auf Anschlusszüge war sie da.
Staßfurt lag in der Nähe von Magdeburg, eine Kleinstadt, weder bunt noch reich. Die größte Attraktion war ein Werk, in dem Fernseher hergestellt wurden. Als der Zug hielt, stieg sie aus, eine junge Dame mit Mantel, Koffer und zu hohen Schuhen. Der Bahnsteig leerte sich schnell. Am Ende blieben nur noch zwei Menschen übrig, sie und eine ältere Frau.
Ralfs Mutter hatte von ihrem Sohn den Auftrag bekommen, seine Frau abzuholen. Sie nahm Dana mit nach Hause, stellte sie ihrem Mann vor. Freundliche Leute, die sie bewirteten, ihr das Bett in Ralfs altem Kinderzimmer herrichteten, die Stadt zeigten. Sie sprachen deutsch mit ihr, sie antwortete auf Tschechisch. Irgendwann kam ein Brief. Ralf teilte seiner Frau mit, dass er bei der Hochzeit eines Freundes sei und in Greifswald auf sie warte. Dana zog wieder ihren Mantel und die hohen Schuhe an, nahm ihren Koffer, stieg in den Zug, hielt, in Greifswald angekommen, wieder Ausschau nach ihrem Mann. Wieder vergeblich. Diesmal holte sie ein junger Mann ab, den sie aus Olomouc kannte, Ralfs bester Freund, sie gingen erstmal in die Studentenkneipe.
So begann die Ehe von Dana und Ralf, und es wurde nicht einfacher. Ralf schob es auf die Umstände. Er war noch Student, Dana schon Assistenzärztin. Seine Universität befand sich in Greifswald, ihr Ambulatorium in Strasburg, einer brandenburgischen Stadt, die so ähnlich hieß wie die, in der Ralfs Eltern wohnten, aber noch kleiner war, noch weiter von ihrem Traum entfernt. Und von Ralf. Zwischen Greifswald und Strasburg lagen hundert Kilometer. Sie sahen sich am Wochenende. Wenn überhaupt. Ralf hatte immer zu tun, war immer unterwegs, in der Universität, mit Freunden, auf Partys.
Zum Glück hatte sie ihre Arbeit, ihren Beruf. Im Ambulatorium von Strasburg wartete man schon auf die neue Assistenzärztin. Auch Zahnärzte wurden in der DDR dringend gebraucht.
Danas Arbeitstag begann um sieben Uhr, in der Mittagspause lief sie nach Hause, um ihren Ofen zu heizen, damit es warm war, wenn sie zurückkam. Sie machte viele Überstunden. Einen Deutschkurs besuchte sie nicht. In Strasburg gab es eine Kirche, einen Wasserturm, eine Kneipe, einen Bahnhof, aber keine Volkshochschule. Um Deutsch zu lernen, hätte sie mit dem Zug in die nächste Stadt fahren müssen. Dafür hatte sie keine Zeit. Ihre Kollegen brachten ihr die nötigsten Vokabeln bei.
Ein Jahr vor Simones Tod, im Juni 1995, hat Dana ihrer Tochter von der schweren ersten Zeit in Strasburg berichtet. Simone hat danach in ihr Tagebuch geschrieben:
Ich erzähle Mutti von den Sorgen, dass keiner mehr richtig Zeit hat für mich. Sie sagt, wenn du wüsstest, wie es mir ging, als ich so weit weg von meiner Familie war und Liba und Jiřina beneidet habe, die sich wenigstens noch ab und zu gesehen haben. Und jetzt in diesem Dorf, wo wir niemanden kannten und niemand rief an.
Am schönsten waren die Wochenenden, wenn Ralf aus Greifswald kam. Puso nannte er sie, Liebling, stürzte in die Wohnung, drehte sie im Kreis, erzählte ihr von seiner Woche und den Wochenendplänen. Ralf hatte immer Pläne, selten kam er allein nach Hause, brachte Freunde und Freundinnen mit, lud sie ein, mit ihnen zu feiern, bei ihnen zu übernachten, manchmal schliefen sie zu viert in einem Bett. Weil sie für so große Feiern eigentlich kein Geld hatten, spendete Ralf Blut, wenn Alkohol knapp war, besorgte er Morphium aus dem Krankenhaus. Dana liebte ihren verrückten Mann. Und wenn er Puso zu ihr sagte, verzieh sie ihm alles. Am Ende ließ sie sich sogar von ihm verkuppeln.
Es war Mitte der sechziger Jahre. Ralf war endlich mit dem Medizinstudium fertig, aber zusammen sein konnten sie noch immer nicht. Die Universität schickte ihn aufs Land. Ein halbes Jahr sollte er dortbleiben. Dana litt unter Migräne, wie so oft in letzter Zeit. Ralf bat einen Kommilitonen, sich in seiner Abwesenheit ein wenig um seine Frau zu kümmern.
Der Kommilitone war Ulrich.
Er nahm die Bitte ernst, setzte sich beim Mittagessen neben die junge tschechische Zahnärztin, brachte sie nach der Arbeit nach Hause, übte mit ihr Deutsch. Er mochte Dana. Mit ihren schwarzen langen Haaren und schwarzen Augen erinnerte sie ihn an Maria, die Ungarin.
Sie verbrachten mehr Zeit miteinander, als sie jemals mit Ralf in Strasburg verbracht hatte. Der aber schien gar nicht eifersüchtig zu sein, das wunderte Dana. Einmal, als er von seinem Landeinsatz zu Besuch nach Strasburg kam, sagte er zu ihr: »Pussko, ich muss dir was sagen.«
»Wo musst du denn jetzt wieder hin?«, fragte sie.
»Nirgendwohin«, sagte er, »es ist was anderes. Ich bin homo.«
Er sagte es auf Tschechisch.
Jsem homo.
Sie sah ihn an, dachte, er habe einen Scherz gemacht. Aber Ralf lachte nicht.
Es war ein Schock. Dana hatte von Homosexualität gehört, von Männern, die Männer lieben. In der Bundesrepublik waren gleichgeschlechtliche Beziehungen verboten, in der DDR war das Verbot Mitte der fünfziger Jahre aufgehoben worden. Aber für sie, das Mädchen vom Dorf, war es etwas, was man nicht tat, worüber man nicht sprach. Ralf war ihr Ehemann, er hatte sie geheiratet. Die Vorstellung, er könnte einen Mann anfassen, fand sie unerträglich. Sein Satz hatte alles kaputtgemacht. Ihre Pläne, ihre Träume, ihre Zukunft.
Jsem homo.
Nachts, wenn sie schlaflos in ihrem Bett lag, dachte sie darüber nach, nach Skrochovice zurückzugehen. Aber ihren Eltern den Grund für ihre Rückkehr zu sagen, schien ihr unmöglich. Sie glaubten, sie, die Ärztin, führe in der DDR ein rauschendes Leben. Eine Bekannte hatte neulich, als sie zu Besuch in Skrochovice war, zu ihr gesagt: »Na, du gehörst ja jetzt zu den oberen Zehntausend.« Sie hatte nicht widersprochen. Sie war die Auserwählte, das war ihre Rolle in der Familie, das würde sie bleiben. Wie hart sie arbeiten musste, wie selten Ralf zu Hause war, davon wusste niemand etwas. Es war ihr Geheimnis, und nun kam noch eins dazu.
Mit niemandem sprach sie darüber. Nur einer Freundin, die Ralf vom Studium in Olomouc kannte, vertraute sie sich an. Die Freundin war nicht überrascht. Sie sagte, der Ralf sei doch schon immer anders gewesen, wie eine Balletttänzerin sei er gelaufen, ob sie das nicht gemerkt habe.
Das machte es noch schlimmer. Dana hatte das Gefühl, auf einen Hochstapler hereingefallen zu sein. Alle schienen gewusst zu haben, was mit Ralf los war, nur sie hatte nichts gemerkt. Zum Glück war da noch Ulrich. Er war stiller und ernsthafter als Ralf, und besorgter war er auch, wollte immer wissen, wie sie, die junge Tschechin in dem ihr fremden Land zurechtkam, ließ sie nicht aus den Augen. Sie fühlte sich beschützt und aufgehoben, wenn sie mit ihm zusammen war. Sie führte jetzt eine Art Doppelleben. Der stille Ulrich umsorgte sie in der Woche, der wilde Ralf kam am Wochenende, und zu Familienbesuchen in die ČSSR kam er auch mit, trank Sliwowitz mit ihren Verwandten, hielt Reden auf Tschechisch, tanzte mit seiner Frau und ihren Schwestern. Als wäre der Satz nie gefallen.
Im Frühjahr 1966 wurde sie schwanger. Von Ulrich, das wusste sie genau, ließ aber ihre Eltern weiter im Glauben, sie führe eine glückliche Ehe mit Ralf.
Ulrich spricht heute noch nicht darüber, erwähnt seinen Vorgänger mit keinem Wort. Auf die Frage, wie er Dana kennengelernt hat, wie sie zusammengekommen sind, sagt er, sie hätten im selben Ambulatorium gearbeitet. Man habe sich eben oft gesehen, auch auf Versammlungen.
Im November 1966 brachte Dana einen Sohn auf die Welt, André. Wenige Wochen später, kurz vor Weihnachten, packte sie ihre Sachen und zog zu Ulrich nach Mirow. Er hatte alles organisiert, mit seinen Eltern gesprochen und einen Fahrer aus dem Ambulatorium gebeten, Danas Transport zu übernehmen. Als Ralf am Wochenende nach Hause kam, war die Wohnung leer.