Der Feldhüter - Cormac McCarthy - E-Book

Der Feldhüter E-Book

Cormac McCarthy

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Beschreibung

Der erste Roman eines Meisters Die Geschichte von Arthur Ownby, Hüter eines verwilderten Apfelhains, dem jungen John Wesley Rattner und dem Schnapsschmuggler Marion Sylder spielt zwischen den Kriegen im gottverlassensten Tennessee. Marion hat vor Jahren in Notwehr Johns Vater getötet und in einer Mischgrube im Garten versenkt, ohne zu ahnen, dass Arthur sein stummer Augenzeuge war. Als Marion einen Autounfall hat, rettet John ihm das Leben. Der Junge, der den Tod seines Vaters rächen möchte, weiß so wenig, mit wem er es zu tun hat, wie umgekehrt Marion, und so entsteht eine Vater-Sohn-Beziehung zwischen den beiden in diesem vergifteten Garten Eden. Ein stimmungssatter, gewalttätiger, fast lyrischer Roman mit unvergesslichen Bildern voll düsterer Schönheit.

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Seitenzahl: 340

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Cormac McCarthy

Der Feldhüter

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Der erste Roman eines Meisters

 

Die Geschichte von Arthur Ownby, Hüter eines verwilderten Apfelhains, dem jungen John Wesley Rattner und dem Schnapsschmuggler Marion Sylder spielt zwischen den Kriegen im gottverlassensten Tennessee. Marion hat vor Jahren in Notwehr Johns Vater getötet und in einer Mischgrube im Garten versenkt, ohne zu ahnen, dass Arthur sein stummer Augenzeuge war. Als Marion einen Autounfall hat, rettet John ihm das Leben. Der Junge, der den Tod seines Vaters rächen möchte, weiß so wenig, mit wem er es zu tun hat, wie umgekehrt Marion, und so entsteht eine Vater-Sohn-Beziehung zwischen den beiden in diesem vergifteten Garten Eden.

 

Ein stimmungssatter, gewalttätiger, fast lyrischer Roman mit unvergesslichen Bildern voll düsterer Schönheit.

Über Cormac McCarthy

Cormac McCarthy wurde 1933 in Rhode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee auf. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award. Die amerikanische Kritik feierte «Die Straße» als «das dem Alten Testament am nächsten kommende Buch der Literaturgeschichte» (Publishers Weekly). Das Buch gelangte auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und verkaufte sich weltweit mehr als eine Million Mal. Mehrere von McCarthys Büchern wurden bereits aufsehenerregend verfilmt: «Kein Land für alte Männer» von den Coen-Brüdern, «Der Anwalt» von Ridley Scott und «Ein Kind Gottes» von James Franco.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Der Anwalt

Die Abendröte im Westen

Die Border-Trilogie

Die Straße

Draußen im Dunkel

Ein Kind Gottes

Kein Land für alte Männer

Verlorene

 

Die Border-Trilogie in Einzelbänden:

All die schönen Pferde

Grenzgänger

Land der Freien

Inhaltsübersicht

Der FeldhüterDer Baum war gefällt1. KapitelDie Straße war nun schonSamstagnachmittags kamDas Green Fly Inn brannte am 2. KapitelAuf dem unteren Ast einesTiefes Loch zwischen ihrenDurch das müde GleitenIm August hatte er den SperberLicht, bleich wie Milch,Ef Hobies Vater war schonIhr erstes hohes Kläffen3. KapitelAm einundzwanzigsten DezemberWeil das Auto weiter oben4. KapitelEin warmer Wind auf dem Berg,Sie kamen dreimal, um denJa, Sir, sagte der Ladenbesitzer.Warn pustete kleine TrichterLeise und mit gemächlicher AnmutEin junger Sozialarbeiter, derIm Frühjahr kann man sie überallDer Junge war schon fort,Die wenigen kleinen Fenster

Der Feldhüter

Der Baum war gefällt und zersägt, die Stücke lagen kreuz und quer auf der Wiese verstreut. Da war ein stämmiger Mann, um drei Finger einen schmutzigen Verband mit Schiene. Bei ihm waren ein Neger und ein junger Mann, alle drei standen um den Baumstrunk herum. Der Stämmige legte die Säge zur Seite, und er und der Neger packten das Stück Zaun und legten sich ächzend ins Zeug, bis sie den Holzklotz herumgedreht hatten. Der Mann ließ sich auf ein Knie nieder und spähte in den Einschnitt. Am besten gehen wir in die Richtung rein, sagte er. Der Neger hob die Schrotsäge auf, und er und der Mann begannen wieder zu sägen. Sie sägten eine Zeitlang, dann sagte der Mann, Halt. Verdammt noch mal, da ist es schon wieder. Sie hielten inne, hoben das Blatt aus dem Schnitt und spähten hinein. Mhm, sagte der Neger. Sieht ganz so aus, was?

Der junge Mann trat näher, um es sich anzusehen. Da, sagte der Stämmige. Du musst hier von der Seite schauen. Siehst du’s? Er schaute. Bis ganz rauf?, sagte er. Ja, sagte der Stämmige. Er packte das verbogene Schmiedeeisen, das verdrehte Stück Zaun, und rüttelte daran. Es rührte sich nicht. Es ist komplett durch den Baum gewachsen, sagte er. Wir können nicht weitersägen. Verdammte alte Ulme macht ’ner Säge auch so schon genug zu schaffen.

Der Neger nickte mit dem Kopf. Ja, sagte er. Kann man wohl sagen. Komplett durch den Baum gewachsen.

1

Die Straße war nun schon eine ganze Weile verlassen, noch immer weiß und glühend heiß, obwohl die Sonne schon den Himmel im Westen rötete. Er ging langsam durch den Staub, blieb von Zeit zu Zeit stehen und hüpfte wie ein gedrungener, unansehnlicher Vogel auf einem Bein, während er den Pfropf aus Klebeband betrachtete, der durch seine Schuhsohle kam. Er drehte sich erneut um. Weit hinten auf dem gleißenden Betonstreifen war eine kleine, formlose Masse aufgetaucht und mühte sich auf ihn zu. Sie rückte stetig näher, wabernd und grotesk wie etwas, das man durch minderwertiges Glas betrachtet, nahm kurz Form und Festigkeit eines Pick-ups an, sauste an ihm vorbei und löste sich wieder auf in die fließende Form, in der sie gekommen war.

Mit einer vagen Geste schwang er ihr den hochgereckten Daumen hinterher. Kleine Staubfächer wehten von der Bankette auf und setzten sich in seine Ärmel- und Hosenaufschläge.

Fahr ruhig weiter, Idiot, sagte er zu dem flüchtigen Trugbild. Er zog seine Zigaretten aus der Tasche, zählte sie und steckte sie wieder ein. Er drehte den Kopf der Sonne zu. Wird nichts nützen, wenn es dunkel ist, sagte er. Windlose Stille, nicht einmal ein Rascheln von dem staubigen Zeitungs- und Bonbonpapier, das sich verstohlen gegen die braune Unkrautwand am Straßenrand drückte.

Weiter entfernt konnte er die Lichter einer Tankstelle und ein paar Gebäude sehen. Vielleicht eine Abzweigung, wo der Verkehr langsamer floss. Er reckte einem Sattelzug den Daumen entgegen, während dieser vorbeijaulte und in seinem Sog Staub und Papier hochriss, und sah ihn die Bäume weiter vorn an der Straße biegen.

Du würdest nicht mal Jesus Christus mitnehmen, stimmt’s?, fragte er, während er sich mit den Händen die Haare ordnete.

Bei der Tankstelle angekommen, trank er ausgiebig Wasser und rauchte eine der Zigaretten. Nebenan war ein Lebensmittelgeschäft, und er schlenderte hinein, durchstreifte mit schleifendem Geräusch die Gänge mit Schachteln und Dosen und füllte sich die Taschen mit kleinen Artikeln – Schokoladenriegel, ein Bleistift, eine Rolle Klebeband … Als er hinter einigen Kartons mit Toilettenpapier auftauchte, bemerkte er, dass der Ladenbesitzer ihn im Blick hatte.

Sagen Sie, sagte er, Sie haben nicht zufällig – seine Augen nahmen eine schnelle, letzte Bestandsaufnahme vor – Luftpumpen, oder?

Bestimmt nicht bei den Backwaren, sagte der Mann.

Er blickte auf einen ungeordneten Stapel Brote und Kuchen, von unscheinbarer Tödlichkeit in ihrem fliegendreckgesprenkelten Zellophan.

Da drüben – der Ladenbesitzer zeigte in die entsprechende Richtung. Eine Kiste am Ende des Tresens enthielt Wagenheber, Pumpen, Montiereisen und einen einzelnen Erdlochausheber.

Ah ja, sagte er. Ich seh schon. Er schlurfte hinüber und kramte eine Zeitlang darin herum.

Das ist nicht die Art, die ich suche, sagte er zu dem Ladenbesitzer und schob sich in Richtung Tür.

Was ist denn das für ’ne Art?, fragte der Mann. Soviel ich weiß, gibt’s nur eine Art.

Nein, nein, sagte er, blieb kurz vor der Tür stehen und rieb sich nachdenklich die Unterlippe. Er dachte sich eine neue Luftpumpe aus. Also, sagte er, es gibt da jetzt so eine neue Art, da muss man nicht mehr so auf und ab pumpen (er demonstrierte es), sondern die hat so ’ne Art Hebel, den man so betätigt (er pumpte mit einer Hand).

Ach ja?, sagte der Ladenbesitzer.

Klar doch, sagte er. Macht einem die Arbeit erheblich leichter.

Was für ’n Wagen fahren Sie denn?, wollte der Ladenbesitzer wissen.

Ich? Ich hab ’n neuen Ford. ’n nagelneuen Vierunddreißiger, mit Achtzylindermaschine. Kriegt man schon Respekt davor, wenn man sich bloß reinsetzt …

Aber viele Reifenprobleme, was?

Ach so … nein, bloß dieses eine Mal, das war das erste Mal, dass ich je Reifenprobleme gehabt hab … Na ja, ich muss dann mal … wie weit ist es eigentlich bis Atlanta?

Siebenundzwanzig Kilometer.

Tja, dann mach ich mich mal lieber auf den Weg. Bis die Tage.

Schauen Sie mal wieder rein, sagte der Ladenbesitzer. Ich hoffe jedenfalls, Sie kriegen Ihren Reifen aufgepumpt. Mit einer Pumpe wär das erheblich einfacher.

Aber das Fliegengitter klappte zu, und er war draußen. Auf der Ladenveranda stehend, versuchte er die Tageszeit zu schätzen. Die Sonne war bereits untergegangen. Man hörte eine Grille, und aus dem glimmenden Westen kam, hoch auf spitzen Flügeln, eine Schwadron Nachtfalken heran und jagte durch die Dämmerung.

An der Tankstelle hatte ein Wagen gehalten. Er verwünschte noch eine Zeitlang den Ladenbesitzer, dann ging er hinüber und trank noch einmal Wasser. Er zog einen Schokoladenriegel aus der Tasche und begann ihn zu essen.

Ein paar Minuten später kam ein Mann aus der Toilette und passierte ihn auf dem Weg zum Wagen.

’zeihung, sagte er. Fahren Sie in Richtung Stadt?

Der Mann blieb stehen, blickte sich um und entdeckte ihn, wie er an einem alten Ölfass lehnte. Ja, sagte er. Wollen Sie mitfahren?

Also, da wär ich Ihnen wirklich dankbar, sagte er und schlurfte auf den Mann zu. Meine Tochter, die ist dort im Krankenhaus, und ich muss heute Abend noch zu ihr …

Im Krankenhaus? In welchem denn?, fragte der Mann.

Na, in dem in Atlanta. In dem großen da …

Ach so, sagte der Mann. Also, ich fahr bloß bis Austell.

Wie weit ist das?

Fünfzehn Kilometer.

Sie könnten mich nicht vielleicht bis dahin mitnehmen, oder?

Klar, bis dahin nehm ich Sie gern mit, sagte der Mann.

 

Bei der Einfahrt nach Atlanta sah er oben an einem Gerüst mit Schildern eines, auf dem KNOXVILLE 197 stand. Der Name der Stadt, zu der er unterwegs war. Hätte man ihn nach seinem Namen gefragt, hätte er jeden anderen genannt, nur nicht Kenneth Rattner, denn das war sein richtiger.

 

Östlich von Knoxville, Tennessee, fangen die Berge an, kleine Grate und Höhenrücken in der Faltung der Appalachen, die die abgehenden Straßen nach Belieben krümmen. Der erste ist der Red Mountain; von seinem Kamm aus kann man an einem klaren Tag wie eine ferne Verheißung die kühle blaue Linie der Wasserscheide sehen.

Im Spätsommer glüht der Berg unter einem Himmel von erbarmungslosem Blau. Der rote Staub der Obsthainstraße gleicht dem pulvrigen Rückstand eines Ziegelbrennofens. Man kann ihn nicht in der Hand halten. Heiße Winde wehen den Hang vom Tal herauf wie ein ranziger Atem, der nach Schwalbenwurz, Schweineställen, verrottender Vegetation riecht. Auf den roten Lehmböschungen entlang der Straße stehen verdorrtes Geißblatt und vertrocknete, in Staub gehüllte Staudenwicken. Ende Juli sind die Maisfelder ausgedörrt und welk, die Stängel kraftlos schief. Alles Grün blass und trocken. Lehm bricht und splittert in endlosem Mikrokataklysmus, und Kalkstein liegt auf dem ausgelaugten Land wie eine Horde sich sonnender Delfine, graue, gefurchte Rücken, dem infernalischen Himmel entgegengekrümmt.

In der relativen Kühle der Gehölze gedeihen mit zynischer Fruchtbarkeit Graurindenreben und Muskatellertrauben, und der Waldboden – übersät mit alten, bemoosten Stämmen, bevölkert mit Giftpilzen, die, fremd und ernst unter den Farnen und Kriechpflanzen, zur Seite geneigt ihre zarten, leberfarbenen Lamellen zeigen – hat etwas Uranfängliches, etwas von einem dampfenden, karbonischen Sumpf, wo in vorgetäuschtem Schlaf vorzeitliche Echsen lauern.

Auf dem Berg bildet der Kalkstein Gesimse und steigt in zerklüfteten Schichtstufen zwischen den sich anklammernden Wurzeln von Hickorys, Eichen und Tulpenbäumen empor, die sich selbst hier gegen die unsichere Schräglage stemmen, die der zufällige Fall eines Samenkorns ihnen beschert hat.

Am Fuß der Westwand des Berges liegt eine Gemeinde mit Namen Red Branch. 1913, als Marion Sylder dort geboren wurde, war es noch ein ganz anderer Ort, desgleichen 1929, als er von der Schule abging, um kurze Zeit als Zimmermannslehrling für Increase Tipton zu arbeiten, Patriarch eines Clans, dessen Wohlstand sich auf ein Dutzend schäbiger, an unwahrscheinlichen Orten über das Tal verstreuter Hütten erstreckte, die in ihrer von Rinnen durchzogenen Umgebung hockten wie große, brütende Tiere, starr vor Hartleibigkeit, zugleich aber ein Gepräge von Kurzlebigkeit und Zufälligkeit hatten, als hätte zurückgehendes Hochwasser sie dort abgesetzt. Auch die Geschwindigkeit, mit der sie errichtet wurden, konnte nicht mit dem Verfall Schritt halten, zu dem sie so sehr neigten. Brandiger Schimmel befiel die Fundamente, noch ehe die Dächer richtig festgenagelt waren. Schlamm kroch die Wände hinauf, und Farbe löste sich in langen, weißen Placken. Eine schreckliche Seuche schien sie eine nach der anderen dahinzuraffen.

Sie wurden an Familien von abgezehrten, hohläugigen und dunkelhäutigen Menschen vermietet, keine Mischlinge aus Schwarzen, Indianern und Weißen und auch sonst nicht klar definierbar, Menschen, die sich mit so furchterregender Fruchtbarkeit vermehrten, dass ihr ganzes Leben der Zeugung der ungleichmäßigen Linie von Nachkommen gewidmet zu sein schien, die, abgerissen und ohne Schuhe, ihrerseits den Opfern irgendeiner schrecklichen Katastrophe nicht unähnlich, stundenlang auf den Verandakanten saßen und ohne Hoffnung, Staunen oder Verzweiflung im Gesicht auf das heruntergekommene Land hinausstarrten. Sie kamen und gingen, unbelastet wie Wandervögel, jede folgende Familie eine Kopie der vorangegangenen, und nur die Namen an den Briefkästen änderten sich, wurden neu über hingeschmierte Pinselstriche eingefügt, die die früheren Bewohner in die Anonymität beförderten, aus der sie entsprungen waren.

Marion Sylder arbeitete in jenem Jahr bis Ende September mit Hammer und Säge, kündigte dann, in Dachpfetten und Kopfstreben bewandert, kaufte sich von seinen Ersparnissen etwas Kleidung und ein Paar Dreißig-Dollar-Stiefel, die er mit der Post aus Minnesota bestellte, und verschwand. Er blieb fünf Jahre weg. Welches Handwerk er in seinem Exil auch betrieb, er trug keine Latzhose, schwang keinen Hammer.

Damals gab es in der Kluft des Berges ein Lokal namens Green Fly Inn. Es war kastenförmig, mit einer hohen Fassade und einem Blechdach, das nach hinten abfiel, und es stand auf einem Gerüst aus Holzpfählen über einem Steilhang, wobei die Vordertür direkt auf die Straße ging. Eine Ecke war an einer Kiefer festgenagelt, die aus der Höhlung emporragte – einer Höhlung, die an windigen Abenden wie ein Kaminschacht wirkte und die Aufwinde aus dem Tal durch die Bergkluft sog. An solchen Abenden walzte der Boden unter den Gästen wie betrunken, wogte und bockte unter gewaltigem Ächzen. Zuweilen legte sich das Gebäude grotesk auf die Seite, als wollte es kopfüber zusammenstürzen. Dann hielten die Trinkenden inne, die Flüssigkeit in ihren Gläsern neigte sich, der Bau schütterte heftig, ein Besen fiel um, eine Flasche, dann richtete sich das Lokal langsam wieder auf und gewann sein normales, taumeliges Gleichgewicht zurück. Die Trinkenden hoben ihre Gläser, Gespräche setzten wieder ein. Bemerkungen, die auf die Verschrobenheiten der Kneipe anspielten, wurden nur außerhalb des Gebäudes gemacht. Wie jedes alte Schiff für seine Mannschaft war das Lokal für seine Gäste ein belebtes Wesen, und es erzeugte eine Atmosphäre, derer sich nur wenige rühmen konnten, eine Solidarität, die sich weitgehend eben seiner Unsicherheit verdankte. Das Schwanken, die unaufhörlichen leisen Schreie gequälten Holzes schufen eine Illusion von Seefahrt, sodass man nach jeder heftigen Verrenkung halb damit rechnete, einen bärtigen Maat zu sehen, der sich durch eine Luke in der Decke hereinhangelte, um zu melden, dass das gesamte Takelwerk gesichert sei.

Drinnen gab es eine echte Bar, angeblich aus Mahagoni, die 1919 aus einem Saloon in Knoxville geborgen worden war und dann in einer Wäscherei, einer Eisdiele und für kurze Zeit in einem katakombenhaften Etablissement Dienst getan hatte, das mehrere Kilometer von Red Branch entfernt an der Straße nach Knoxville lag und aufgrund eines versuchten Kompromisses zwischen Bestechung und Gerissenheit frühzeitig scheiterte. Abgesehen von einer dorischen Säule aus Marmor auf beiden Seiten war die Bar von schlichter Konstruktion. Es gab keine Hocker, und entlang der Vorderseite verlief eine hohe Fußstange aus Holz, die zwischen zwei Wagenradnaben eingepasst war. Im Raum verteilt standen vier, fünf Tische, versehen mit einem Sortiment kaputter Stühle, Milchkästen, einem tückischen, zusammenklappbaren Campinghocker. Wenn das Lokal nachts schloss, öffnete der Eigentümer die Hintertür, fegte sämtlichen Müll in die gähnende Kluft und lauschte dem Zerklirren von Glas auf Glas weit unten. Der gesammelte Abfall stürzte den Berg hinunter bis in eine unbestimmte Tiefe, wo er, von unbeschreiblicher Vielfalt und Fülle, schleichend zunahm.

Eines Abends Ende März blinzelten die Gäste im Licht zweier durch die Kurve schwenkender Scheinwerferstrahlen und sahen auf der anderen Straßenseite ein glänzendes, schwarzes Ford Coupé anhalten. Es war nagelneu. Kurz darauf kam Marion Sylder durch die Tür des Lokals, eine glanzvolle Erscheinung in grauem Gabardine, die Hose mit messerscharfen Bügelfalten, das Hemd am Rücken nach militärischer Art dreifach geknifft, um die Taille einen Lederriemen, so breit wie ein Peitschenende. Zwischen die Zähne geklemmt war ein schlanker Stumpen. In seinem Nacken sah man eine narbenartige Lücke zwischen sonnenverbrannter Haut und Haaransatz, als er zur Bar hinüberging.

Dort stellte er einen genarbten Ziegenlederstiefel auf die Fußstange, zog eine Handvoll Silberdollars aus der Tasche und stapelte sie ordentlich vor sich. Cabe saß auf einem hohen Hocker bei der Kasse. Sylder betrachtete kurz die Münzen, dann blickte er auf.

Mach schon, Cabe, sagte er. Trinken wir was oder nicht?

Ja, Sir, sagte Cabe und kletterte von seinem Hocker. Dann dachte er: Cabe. Erneut musterte er den Mann. Geisterhaft schien das Gesicht des verlorenen Jungen durch die Züge des an der Bar stehenden Mannes hindurch. Sag mal, sagte er, Sylder? Du bist doch der Sylder … du bist Marion Sylder, stimmt’s?

Was hast du denn gedacht, wer ich bin?, fragte Sylder.

Na, so was, sagte Cabe, wenn das nicht … Wo hast du denn gesteckt? Hey, Bud. Schau mal her. Erinnerst du dich an den jungen Kerl hier? Na, so was. Das gibt’s doch nicht.

Bud schlurfte heran, blickte zu ihm auf, grinste und nickte.

Hier, sagte Sylder, gib diesen Gaunern was zu trinken.

Klar doch, sagte Cabe. Wem denn alles?

Sylder deutete in den düsteren, verqualmten Raum. Die trinken doch alle, oder?

Na, so was. Klar doch. Er blickte sich um, unsicher, wie er vorgehen sollte, dann plötzlich rief er in den winzigen Raum hinein: Alle mal herhören! Marion Sylder gibt euch Gaunern einen aus. Also kommt her und holt’s euch.

 

An der Straße angekommen, blieb Rattner stehen und zündete ein Streichholz an, um seine Haut zu untersuchen. In der kleinen Lichtblüte sah der tiefe Riss in seinem Bein wie quellender Teer aus. Blut tröpfelte in drei Rinnsalen an der schwarzen Schmierspur vorbei, die von seiner Hose stammte, verzweigte sich, floss wieder zusammen; eine dünne Linie lief geradewegs in seine Socke. Er ließ das Streichholz los und steckte sich den versengten Daumen in den Mund.

Abgesehen von dem Riss im Bein war sein Ellbogen aufgeschürft und brannte heftig. Ein niedriger Stacheldraht war sein Verderben gewesen. Jetzt rupfte er eine Handvoll verdorrtes Unkraut aus dem Boden, knüllte es zusammen und zündete es an. Es flammte knisternd auf, und er zog erneut sein Hosenbein hoch. Mit der Hand wischte er das Blut weg und verfolgte, wie rasch es floss. Zufriedengestellt, drückte er den klebrigen Stoff wieder auf die Wunde und zog eine Brieftasche aus seiner vorderen Hosentasche. Er hielt sie ans Licht, nahm ein dünnes Bündel gefalteter Geldscheine heraus und zählte sie. Dann riss er die Brieftasche auf, sodass Karten und Bilder herausfielen. Diese untersuchte er sorgfältig, ebenso das Innere der kaputten Brieftasche, dann stieß er alles mit dem Fuß zur Seite und steckte das Geld ein. Das Unkraut war zu einem Knäuel aus dünnen Fäden verbrannt, die noch immer wie feine heiße Drähte glühten. In einem Schauer verglimmender Funken stieß er es mit dem Fuß zur Seite. Weit vorn über der Straße hing wie der erste Anflug der Dämmerung ein fahler Schimmer in der Nacht. Er hatte Atlanta um zehn verlassen … es konnte noch nicht nach Mitternacht sein. Wieder betastete er sein Bein, saugte an seinem Daumen und marschierte in Richtung des Lichts los.

Jim’s Hot Spot stand in limonengrünem Neon auf dem Schild. Katzengleich schlich er zwischen den wenigen Autos hindurch, spähte in ihr schwarzes Inneres und hielt ein Auge auf die Tür gerichtet, wo in einer Kuppel aus gelbem Licht in endlosem Wirbel Insekten flirrten. Am letzten leeren Wagen vorbei kam er zur Tür, untersuchte in deren Licht noch einmal sein verletztes Bein und trat dann ein.

 

Man konnte das kleine Coupé zu seltsamen Zeiten von Sylders Grundstück wegfahren oder dort ankommen oder in der Tageshitze schimmernd vor dem Haus stehen sehen, ein Fremdkörper, schnittig, muskulös und unruhig wirkend wie ein angebundenes Rennpferd. Samstagabends sammelte er Pulks von stadtwärts laufenden Jungs in neuen Latzhosen vom Straßenrand ein, wie man am Morgen nach einer Jagd die Hunde zusammenholt – und sie stiegen ungelenk ein und fuhren mit ernsten Gesichtern oder unter heiserem Getuschel mit, bis der Wagen Tempo aufnahm. Sylder konnte ihren Atem im Nacken spüren – den der hinten Sitzenden, zusammengepfercht wie Hühner in einer Kiste –, während sie ihm über die Schulter lugten. Langes Schweigen, während sie zusahen, wie die Nadel in langsamem Bogen die Zahlen auf der Anzeige hinter sich ließ, um schließlich auf der letzten langen Geraden vor der Stadtgrenze kurz bei 130 zu verharren. Manchmal wagte einer von ihnen eine Frage. Er belog sie jedes Mal. Die Firma weiß selber nicht, wie schnell die Karre fährt, sagte er etwa. Die wollen damit in die Sahara, um es rauszufinden.

In der Gay Street oder auf dem Market Square hielt er an, rief: Ein Stopp!, und sah sie aus dem Wagen stürzen wie Zirkusclowns – fünf, sechs, manchmal bis zu acht, alle unterwegs ins Kino, Farmerjungs, die als Farm nicht mehr als ein paar schrumpelige Tomatenpflanzen und zwei gefräßige Schweine hatten. Im Rückspiegel konnte er sehen, wie sie dem davonsausenden Wagen nachschauten, auf dem Bürgersteig tänzelnd und hüpfend wie ein Schwarm neugieriger Vögel.

Sonntags waren die Bierkneipen von Knoxville geschlossen, ihre Glasfronten in Feiertagsruhe verdunkelt und verstummt, und Sylder fuhr in Richtung Berg, um sich denen zuzugesellen, die dort jenseits der Herrschaft bürgerlicher wie geistlicher Gesetze zusammenkamen.

 

Der Mund von Jack the Runner war blau, seine Zunge blauschwarz wie die eines Chow-Chows. Am Tisch bei der Tür des Green Fly Inn süffelte er Brombeerwein aus einer Linimentflasche.

Wo hast du sie gelassen?, fragte Sylder.

Arrr, gurgelte Jack. Drüben auf’m Berg.

Du bist jetzt auf dem Berg, sagte Sylder.

Drüben, sagte Jack mit Betonung. Hen’son Valley Road.

Henderson Valley Road? Wo denn ungefähr?

Oben auf’m Berg, hab ich doch gesagt …

Meinst du, das stimmt?, fragte June.

Sylders Blick ging von ihm zu dem Schmuggler. Jack musterte eine riesige, übel aussehende Zigarre, die er in seiner Hemdentasche gefunden hatte, und ging dazu über, sie mit betrunkener Unbeirrbarkeit drehend zu belecken. Ja, sagte Sylder. Höchstwahrscheinlich schon.

Und ob, sagte Jack, der die Zigarre inzwischen auf Armeslänge von sich hielt. An ihrer Unterseite baumelte schleimig ein Speichelfaden. Und ob.

 

Vom gelben Gleißen der Scheinwerfer erfasst, wirkten sie vorübergehend bewegungsunfähig wie Wildtiere, Rotwild vielleicht, erstarrt in überraschten Haltungen, die an unmittelbar bevorstehende Flucht denken ließen. Sylder fuhr an ihnen vorbei den Berg hinauf.

Willst du nicht anhalten?, fragte June.

Ich komm gleich zurück, sagte Sylder. Von hinten, als würd ich in ihre Richtung fahren. Ich hätt nie gedacht, dass die den falschen Weg nehmen. So wie die gehen, durch Sevierville, sind es fast fünfzig Kilometer.

Zwischen ihnen, im Spalt der Sitzbank, klemmte ein Weckglas mit Whiskey. Sylder hörte das blechern knirschende Geräusch, mit dem der Deckel abgeschraubt wurde, und streckte die Hand aus, um sich von June das Glas reichen zu lassen. Weißlich zeichneten sich Motten vor der Windschutzscheibe ab, leuchteten auf, bestäubten das Glas mit Glimmer. In den Scheinwerferstrahlen wimmelte ein Ballett von Mücken. Er trank und reichte das Glas zurück. Unter der schwarzen Haube gab der Motor sein kehliges Brummen von sich.

Sylder dachte daran, wie der alte Tipton gesagt hatte, es wäre nicht vernünftig, und jeder Idiot würde kapieren, dass sich die Kolben, wenn sie schief stünden – arschlastig, hatte er gesagt –, zwangsläufig auf einer Seite abnützten. Kolben müssten senkrecht rauf- und runtergehen. Die Straßen sind voll davon, hatte er gesagt, wenn’s dich tröstet zu wissen, dass du nicht als Einziger reingefallen bist.

Beim Steinbruch drehten sie um und kamen den Berg wieder herunter, in leisem Leerlauf, bei dem die Reifen auf den Rissen im Asphalt ein sanft klatschendes Geräusch machten. Als die Scheinwerfer sie erfassten, drängten sie sich zusammen und wichen zum Graben hin aus, wie es Kühe tun. Sylder brachte das Coupé langsam neben ihnen zum Stehen.

Tag, sagte June direkt ins Ohr des Mädchens draußen. Braucht ihr eine Mitfahrgelegenheit?

Die andere stand neben ihr. Sie sahen einander an, und die Erste sagte, Danke, aber ich glaub, wir schaffen es schon. Der Junge war hinter ihnen zurückgeblieben. Über Junes Schulter hinweg konnte Sylder erkennen, dass er nicht sie und auch nicht die Frauen, sondern das Auto ansah.

Wie weit wollt ihr denn?, erkundigte sich June.

Wieder wechselten die beiden einen Blick. Diesmal ergriff die Größere das Wort. Bloß ein Stück die Straße runter, erklärte sie.

Sag ihr, wir können doch alle zusammen ein Stück die Straße runter, schlug Sylder vor.

Was?, sagte die Kleinere. Dann meldete sich der Junge, und sie drehten sich beide zu ihm um und funkelten ihn an.

Wie weit ist es bis Knoxville? So lautete seine Frage.

Knoxville? June konnte es nicht fassen. Knoxville, sagst du? Aber ihr könnt doch nicht bis Knoxville laufen. Das sind dreißig Kilometer oder noch mehr – stimmt’s, Marion?

Die drei gaben ein Stöhnen von sich. Sylder bedeutete June bereits auszusteigen.

Hier, sagte June und stieg aus dem Wagen. Rein mit euch. Wir fahren nach Knoxville, wir nehmen euch gern mit.

Sylder bedachte jeden von ihnen mit einem einladenden Lächeln, während sie einstiegen und ihrerseits nacheinander sein Gesicht im Licht der Innenbeleuchtung musterten.

Er bog ohne zu bremsen in den Hopper – die steile Straßengabelung – ein. Die Kleine zwischen ihm und Tipton quiekte einmal und verstummte dann, die Hand vor den Mund geschlagen, während sie über die Straße schlingerten und in die Schwärze hinausschossen, sodass die Scheinwerferstrahlen über die Spitzen der Bäume hieben, die sich scharf am Rand der Höhlung abzeichneten. Das Coupé sackte durch, setzte einen kurzen Moment lang im Schotter der unteren Straße auf, federte wieder hoch und schlitterte schräg davon, wärend die Abgase aus der Auspuffklappe splodderten und Schotter wie Vogelschrot im Unterholz knallte und prasselte.

Die auf dem Rücksitz gab leise, schluchzende Geräusche von sich. Ein paar Minuten lang sagte niemand etwas, dann fragte die Kleine, Wohin geht es da?

Da geht’s zum …

In die Stadt, unterbrach June. Da geht’s in die Stadt. Ist ’ne Abkürzung. Er hatte den Eindruck, sie hatte sich näher an Sylder herangeschoben, obwohl sie sich umdrehte und mit ihm redete. Er sah Sylders Hand, die von der Armaturenbeleuchtung grünlich schimmerte, den Choke ziehen.

Sie erreichten die erste Brücke, ehe der Motor so zu stottern anfing, dass es ihr auffiel. Ab hier begann die Straße wieder anzusteigen, und Sylder ließ den Wagen ein –, zweimal bocken, ehe er in den Zweiten schaltete. Sie bewegte ihr Bein nicht. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel, wie sie auf dem Sitz nach vorn rutschte und angestrengt in die unvertraute Nacht hinausspähte. Eine Motte huschte unter der Windschutzscheibe hindurch, streifte ihre Wange. Er kurbelte die Scheibe etwas dichter heran. Als der Wagen erneut bockte, zuckte sie zusammen und fragte, was los sei.

Er fing an, ihr zu erzählen, dass der Generator kein Wasser mehr hätte, doch dann fiel ihm der Junge auf dem Rücksitz ein. Von ihm kein einziges Wort. Die Große auf dem Rücksitz hatte sich vorgebeugt, atmete Tipton in den Kragen und fixierte mit düsterem, gequältem Blick die Windschutzscheibe, als erwöge sie einen verzweifelten Sprung in die schwarz vorbeiziehende Nachtlandschaft.

Dampfblasenbildung, sagte er schließlich. Überhitzt in den Hügeln hier, und dann muss man anhalten und ihn abkühlen lassen.

Sie sah ihn an und wandte dann den Blick ab, ohne ein Wort zu sagen. Im Scheinwerferlicht erstarrte ein geisterhaftes Kaninchen, verdrehte ein weißes Auge, verschwand. June redete mit leiser Stimme auf sie ein, sie sah immer noch geradeaus, sagte nichts. Die auf dem Rücksitz hatte sich zurückgelehnt. Von ihr kein Laut. Im Rückspiegel konnte Sylder als Silhouette die Hälfte eines Kopfes sehen, dunkel und buschig wie der eines Bären. Da erkannte er den Geruch. Ein lauer Uringeruch, muffig-süß, lag in der Luft, während sie langsamer wurden.

Sie ruckelten um die letzte Kurve unterhalb des Kieferndickichts und kamen vor der Olive Branch Negro Baptist Church schütternd zum Stehen. Sylder schaltete die Zündung aus. Das war’s dann wohl, sagte er.

Er machte die Tür auf und wollte aussteigen, als er ihre Hand auf seinem Bein spürte. Er hielt inne und drehte sich um.

Er nicht, sagte sie. Nicht der andere.

Nein, sagte er. Okay. Komm.

Er schaltete die Scheinwerfer aus, und dann waren sie verschwunden, in der plötzlichen Dunkelheit negiert.

Marion, flüsterte June heiser. Hey, Marion?

 

Von seiner Veranda aus hatte Arthur Ownby sie vorbeikommen sehen, und nun hörte er weiter oben an der Straße, wo sie angehalten hatten, die Wagentür zuschlagen. Es hatte zu regnen begonnen. Ein gelber Dunst im Wald erlosch. Er konnte leise Stimmen hören, die in der warmen Nachtluft ganz nah wirkten. Mit einem Fuß klopfte er am Eckpfosten der Veranda den Takt einer alten Ballade. Unter der Dachkante hervor betrachtete er die Bewegungen der Sterne. Heute war eine Nacht für Meteore. Sie nahmen den emporragenden Höcker des Red Mountain unter Beschuss. Regen fiel aus einem makellosen Himmel. Auf der Straße das Lachen eines Mädchens. Er erinnerte sich, wie sie hoch auf dem Bock des Wagens gesessen hatte, am Sonntagmorgen, als das Maultier ihm ins Ohr furzte, während er die Deichsel losmachte, und er ihm zwei Finger in die Rippen stieß und das Vieh nicht mal zuckte. Spät geworden für ’nen alten Mann. Arthur Ownby hatte von seiner Veranda aus zugesehen. Er döste.

Als der Junge auf der Straße vorbeikam, blickte er zu dem Haus am Hang hinauf, das dunkel und verlassen wirkte. Er konnte den alten Mann nicht sehen, und der alte Mann schlief.

 

Es war kurz vor Tagesanbruch, ein fahles, kaltes Ergrauen im Osten, als sie von Knoxville aus zurückfuhren.

Wo bist du mit ihr hin?, fragte Sylder.

June griff nach den Zigaretten, die hinter die Sonnenblende geklemmt waren. Verdammt noch mal, die war vielleicht hässlich, sagte er. Weißt du, was sie zu mir gesagt hat?

Was denn, sagte Sylder grinsend.

Ich wär der netteste Junge, der sie je genagelt hat. Genagelt, Herrgott noch mal.

Wo denn jetzt?

Hä?

Wo bist du mit ihr hin? Du bist von der Kirche gekommen, aber ich hab dich nicht raufkommen hören. Wo seid ihr hin?

Ach so. Hintenrum.

Hintenrum?

Na, ins Scheißhaus.

Sylder sah ihn mit verblüffter Fassungslosigkeit an, zunächst außerstande, das zu verarbeiten oder zu glauben, noch es sich vorzustellen. Er hatte eine weitere Frage:

Im Stehen?

Nein, also … sie hat sich irgendwie hingesetzt und zurückgelehnt, und ich … sie … Doch das überstieg seine Beschreibungsfähigkeit, von Sylders Vorstellungskraft ganz zu schweigen.

Willst du damit sagen, du – um eine Zusammenfassung der Fakten bemüht, hielt Sylder einen Moment inne – hast sie in einem Nigger-Scheißhaus gevögelt, während sie auf dem …

Jedenfalls bin ich verdammt noch mal nicht mit ihr in ’ne Kirche, verdammt, unterbrach June.

Schwankend kam das Coupé am Straßenrand zum Stehen, und Sylder sackte, sich vor Lachen schüttelnd, gegen die Tür. Nach einer Weile nahm er sich zusammen und sagte:

War sie diejenige, die …

Ja, verflucht, das war sie.

Huiii!, schrie Sylder, wälzte sich zur Tür hinaus und lag lautlos bebend im feuchten Morgengras.

 

Der Raum war trübe erleuchtet und scheunenartig. Eine gebohnerte Tanzfläche, in der sich drüben die Lichter der Musikbox und der Bar spiegelten. Hinter dem Tresen ein langer Spiegel, in dem er zu seiner Überraschung sich selbst als Silhouette im Türrahmen sah, geschickt auf einer Reihe Gläser balancierend. Er stieg herunter, überquerte leicht humpelnd den Boden und kletterte auf den Eckhocker.

Der Barkeeper saß auf einem Kapitänsstuhl und las in einer Zeitschrift. Er klappte sie sorgfältig zu und schlurfte zu der Stelle hinüber, wo der Mann saß.

Bier, sagte Rattner. Seine Zunge glitt voller Vorfreude über die Unterlippe. Der Barkeeper ging zum Fass, zapfte ein großes Glas, strich mit einem Holzstab den Schaum ab und brachte es ihm. Rattner griff danach, hob es schräg an und senkte ihm das Gesicht entgegen; seine Lippen suchten den Glasrand und hefteten sich weiß und fett wie Blutegel daran, während sein Hals krampfhaft arbeitete, um das Bier in seinen Magen zu befördern. Er trank alles, kippte das Glas schließlich, um es zu leeren, und schob es wieder dem Barkeeper zu, der fasziniert und angewidert zugesehen hatte, wie man etwa Schweinen bei der Paarung zusieht.

Mann, das war vielleicht gut. Ja, Sir, ich glaub, ich nehm noch eins.

Zehn Cent, sagte der Barkeeper.

Er wühlte in seiner Tasche und förderte einen Dime zutage. Klar doch, sagte er.

Der Barkeeper nahm mit spitzen Fingern das Glas und füllte es nach.

 

Diesmal war Rattner ein Jahr lang fort gewesen. Er war von Maryville nach Red Branch gezogen, hatte mit seiner Frau und seinem Sohn in einem aufgegebenen Blockhaus Quartier genommen und war von dort vier Tage später mit sechsundzwanzig Dollar in der Tasche in einem leeren L&N-Kühlwagen allein in Richtung Süden weggefahren. Sein unverhoffter Gewinn verdankte sich einem Vorfall im Green Fly Inn:

Die Hintertür, durch die Cabe den nächtlichen Abfall hinausfegte, war einmal auf eine Veranda hinausgegangen, die über die ganze Breite des Gebäudes verlief, getragen von Verlängerungen der Bodenbalken und äußerst sparsam gestützt von fünf mal zehn Zentimeter dicken Streben, die in schrägem Winkel darunter angebracht waren. Dort versammelten sich die Trinkenden an Sommerabenden, nahmen ihre Stühle oder Kisten mit hinaus oder hockten riskanterweise auf dem schmalen Geländer wie Vögel auf der Stange. Witterung und Termiten verschworen sich gegen diesen Rückzugsort und waren sein Verderben. Es geschah 1933, an einem heißen Sommerabend, dass Ef Hobie ins Green Fly Inn kam. Die Rückkehr eines verlorenen Sohns (Zuchthaus Brushy Mountain in Petros – achtzehn Monate wegen illegalen Besitzes von Alkohol), die eine große Anzahl von Gratulanten anzog. Einer nach dem anderen verfügten sie sich durch die Hintertür, um ihre Plätze auf der Veranda einzunehmen. Hobie war beliebt und hielt einen ununterbrochenen Monolog aus Anekdoten. Er erzählte gerade, wie seine Alte den Familien-Suppenknochen an Mrs. Fenner ausgeborgt und wie diese ihn mit Erbsen gekocht und deshalb verdorben hatte, als von irgendwo aus dem Boden ein scharfes, trockenes Knacken heraufdrang. Es war eine ruhige, windstille, brütend heiße Nacht, und das Geräusch hatte etwas Unheilvolles. Die Gespräche verstummten einen Moment und gingen dann weiter.

Er kam durch die Tür auf die Veranda, vorsichtig, und sein zurückhaltendes Nicken ging über sie alle hinweg, als wäre da, jenseits des Geländers und geheimnisvoll in der Dunkelheit schwebend, jemand, den er kannte, under lehnte sich an den Türrahmen und führte die Flasche zum Mund, seine Augen huschten von einem zum anderen, schlossen sich, wenn sie hersahen oder suchten erneut jenes Wesen draußen im Dunkel, mit dem nur er in Verbindung stand, und er lächelte versonnen, der Zuschauer, der Fremde. Die Unterhaltung war mal lebhaft, mal stockend, doch er steuerte weder Bemerkung noch Frage bei, und nach einer Weile ignorierten sie ihn. Er löste sich von der Tür und setzte sich am nähergelegenen Ende der Veranda auf das Geländer.

Man hörte ein langgezogenes Knirschen, wie wenn ein Nagel herausgezogen würde, und abermals das scharfe Krachen von überlastetem Holz, das nachgibt. Es folgte tote, reglose Stille, während der die Gesichter unsicher forschend von einem zum anderen gingen. Einige standen auf und liefen herum, immer noch wortlos. Schon hatten sie begonnen, die schmale Tür, den einzigen Ausgang, zu beäugen, wogen gedanklich weniger die Zahl als vielmehr Tonnage und Last von Menschen ab und berechneten mit der Besorgtheit von Verkehrsexperten Geschwindigkeit und Stau.

Mit dem dritten Knall neigte sich ein Teil der Fußbodendielung sichtlich.

Jungs, begann Ef und erhob sich, ich glaub, das hier … Doch das war alles, was er sagte oder was jedenfalls irgendwer hörte. Es folgte ein Ansturm wie von lauter Marionetten, die an einer einzigen Schnur in heftiger Beschleunigung in Richtung Tür gezogen wurden, während über dem Lärm ihres Rückzugs die Balken wie Gewehrfeuer knallten und in turbulenter Folge abknickten und der Boden hinter ihnen in langen und zunehmenden Wellenbewegungen absackte.

Sie trafen in dichter Masse auf die Öffnung undklemmten dort wie ein Pfropfen im gleichen Augenblick fest, in dem sich das entferntere Ende der Veranda von der Wand löste und in einem langen und nicht uneleganten Abwärtsbogen vom Gebäude fortschwang.

Nun wurden aus dem an der Tür krallenden Menschenknäuel einzelne Gestalten in Haltungen stummen Flehens eine nach der anderen die baumelnde Schräge der Veranda hinuntergezogen, nahmen zwischen kullernden Dosen und Flaschen Fahrt auf und fielen schließlich unter wilden Schreien in die Senke darunter. Einige bekamen das Geländer zu fassen, baumelten dort und blickten verstört ihren in die Nacht sausenden Freunden hinterher.

Vom Inneren des Gebäudes aus versuchten Cabe und ein paar andere verzweifelt, die in der Tür klumpende Masse zu entwirren, packten schließlich jede sich zeigende Gliedmaße und zogen daran, bis etwas nachgab. So kamen die Überlebenden ohne einen oder beide Schuhe, ohne Hose oder, wie im Fall von Hobie selbst mit nichts als einem Stück Hemd, fast nackt an Bord. Bis der Türrahmen zusammen mit einem Gutteil der Wand nach innen barst und sie in einem Durcheinander von Leibern und zerkrachendem Holz hereinpurzelten.

Die Veranda hatte sich in einem Bogen nach außen und nach unten bewegt und schwankte nun noch einen Moment lang, von einem einzigen, fünf mal fünfzehn Zentimeter dicken Balken gehalten, ehe auch dieser brach und die gesamte Geschichte mit einem gewaltigen, splitternden Geräusch wegknickte. Die sich ans Geländer klammernden Gestalten begannen den Halt zu verlieren und lösten sich eine nach der anderen wie von einem Ast geschüttelte Käfer, und das ganze Wrack sackte langsam als ein Tableau von Zerstörung ab und schlug donnernd in der Senke auf.

Die Atmosphäre drinnen brodelte von richtungsloser Gewalttätigkeit. Verschreckte Männer, zerschrammt, halb entkleidet und zerschlagen, atmeten laut und schwitzten den Schweiß nachlassender Panik, und ihre Entrüstung und Empörung nahmen zu. Einer nach dem anderen kamen die Heruntergefallenen zur Tür herein, rot von Blut und Lehm, wie die Besiegten in einem mit Säbeln und ohne Pardon geführten Gefecht. Während von unten immer mehr kamen, bildeten sich zwei Parteien heraus, die wie die Wilden übereinander herfielen und sich bis tief in die Nacht prügelten.

Kenneth Rattner hielt sich die zerschnittene Hand, während er in einem Brombeergesträuch unterhalb der Kneipe hockte und mit stiller Verwirrtheit dem wilden Gezappel und Gefluche der Opfer lauschte. Jemand hatte eine Lampe geholt; durch die Wand aus Gestrüpp konnte er ihr flackerndes Hin- und Herstreichen sehen. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche, schlang es sich um die Hand, zog mit den Zähnen den Knoten fest. Dann arbeitete er sich vorsichtig bis zur Straße hinauf und machte sich auf den Heimweg. Kleine Gruppen von Männern rannten mit Laternen und unter heiserem Geflüster den Berg hinauf zum Schauplatz der Katastrophe.

Ich hab Arbeit, sagte er zu ihr.

Gelobt sei Gott, sagte sie. Wo denn?

Greenville, in South Carolina, und nun zeigte er ihr das Geld. Fahrgeld, sagte er. Aber er gab ihr fünf von den einunddreißig Dollar, und sie gingen in den Laden. Er kaufte dem Jungen eine Orangenlimonade und hob ihn auf die Getränketruhe, wo er saß, das Getränk mit beiden Händen festhielt und sich umschaute. Mrs. Eller erzählte davon.

Dieser Coy Tipton ist heute Morgen hier aufgetaucht,hat ausgesehen, als wär er in ’nen Mähdrescher gefallen. Hat gesagt, drei oder vier von ihnen hätten ihre Hosen verloren – also, wie sie das angestellt haben, möchte ich gern mal wissen –, und wie sie in die Senke runtergestiegen sind, um sie zu holen, da war ihnen schon jemand zuvorgekommen und hatte ihnen die Brieftaschen gestohlen. Sie saß schief in ihrem Schaukelstuhl und fächelte sich mit einem Kirchenblättchen zu. Diebe und Säufer gesellen sich eben gern, denk ich mir, sagte sie. Die haben alle nur gekriegt, was sie verdient haben.

Mildred Rattner drückte einen Laib nach dem anderen auf dem Brotregal. Wenn die, die der Sünde frönen, glauben, sie kommen damit davon, sagte sie, genau dann schlägt Er sie in Seinem heiligen Zorn. Er wartet bloß den richtigen Augenblick ab.

 

Kenneth Rattner strich sich über das steif werdende Bein, bewegte den Fuß. Es war nach Mitternacht, und inzwischen kamen Leute. Der Barkeeper hatte seine Zeitschrift weggelegt, bewegte sich nervös hinterm Tresen hin und her und füllte Gläser für die Neuankömmlinge.

Er trank den letzten Schluck Bier und stellte das Glas auf den Tresen. Hey, Kumpel, rief er. Gib uns noch eins. Hey, alter Kumpel.

Samstagnachmittags kam Marion Sylder wie frisch gewaschen, in gestärkter Khaki- oder Latzhose, in den Laden, ging zu der Vitrine und zeigte Mr. Eller die Socken, die er haben wollte. Dann stellte Mr. Eller die Schachtel auf den Ladentisch, und Sylder hielt ein Paar hoch und fragte: Was kosten die?

Einen Quarter, sagte Mr. Eller dann. Keine Preisänderung, immer noch einen Quarter. Alle einen Quarter, hab keine anderen.