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DIE STILLE VOR DEM SCHUSS Bei einem morgendlichen Ausflug in die texanische Wüste findet Hobbyjäger Llewellyn Moss eine gespenstische Szenerie vor: mehrere Leichen, eine Pick-up-Ladefläche voller Heroin und am Ende einer Blutspur einen Koffer mit 2,4 Millionen Dollar. Er behält das Geld – sein erster Fehler. Der zweite: In der Nacht kehrt er zum Tatort zurück, um seine Spuren zu verwischen. Und gerät ins Visier des eiskalten Killers Chigurh. «Ein minimaler Western mit maximaler sprachlicher Präzision. Atemberaubend.» STERN
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Seitenzahl: 344
Cormac McCarthy
Kein Land für alte Männer
No Country for Old Men
Roman
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
DIE STILLE VOR DEM SCHUSS
Bei einem morgendlichen Ausflug in die texanische Wüste findet Hobbyjäger Llewellyn Moss eine gespenstische Szenerie vor: mehrere Leichen, eine Pick-up-Ladefläche voller Heroin und am Ende einer Blutspur einen Koffer mit 2,4 Millionen Dollar. Er behält das Geld – sein erster Fehler. Der zweite: In der Nacht kehrt er zum Tatort zurück, um seine Spuren zu verwischen. Und gerät ins Visier des eiskalten Killers Chigurh.
«Ein minimaler Western mit maximaler sprachlicher Präzision. Atemberaubend.» STERN
Cormac McCarthy wurde 1933 in Rhode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee, auf. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzer-Preis und dem National Book Award. Die amerikanische Kritik feierte «Die Straße» als «das dem Alten Testament am nächsten kommende Buch der Literaturgeschichte» (Publishers Weekly). Das Buch gelangte auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und verkaufte sich weltweit mehr als eine Million Mal. Mehrere von McCarthys Büchern wurden bereits aufsehenerregend verfilmt, «Kein Land für alte Männer» von den Coen-Brüdern, «Der Anwalt» von Ridley Scott und «Ein Kind Gottes» von James Franco.
Weitere Veröffentlichungen
Die Abendröte im Westen
All die schönen Pferde
Border-Trilogie
Grenzgänger
Die Straße
Draußen im Dunkel
Verlorene
Der Anwalt
Ein Kind Gottes
Land der Freien
Der Autor möchte dem Santa Fe Institute seinen Dank für die lange Verbundenheit und den vierjährigen Aufenthalt dort aussprechen.Ebenfalls danken möchte er Amanda Urban.
Einen Jungen hab ich in die Gaskammer von Huntsville geschickt. Nur einen einzigen. Meine Verhaftung, meine Zeugenaussage. Ich bin zwei-, dreimal hingefahren und hab ihn im Gefängnis besucht. Dreimal. Das letzte Mal war am Tag seiner Hinrichtung. Keiner hat mich dazu gezwungen, aber ich hab’s trotzdem getan. Gewollt hab ich’s ganz bestimmt nicht. Er hatte ein vierzehnjähriges Mädchen umgebracht, und ich kann Ihnen gleich sagen, ich hab nie groß das Bedürfnis gehabt, ihn zu besuchen, geschweige denn zu seiner Hinrichtung zu gehen, aber ich hab’s trotzdem getan. In der Zeitung hieß es, es wär ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen, aber mir hat er gesagt, mit Leidenschaft hätte das nichts zu tun gehabt. Das Mädchen war seine Freundin, obwohl sie noch so jung war. Er war neunzehn. Und er hat mir gesagt, er hätte schon ungefähr so lange, wie er zurückdenken kann, vorgehabt, jemand umzubringen. Hat gesagt, er würd’s wieder tun, wenn sie ihn rausließen. Und er wüsste, dass er zur Hölle fährt. Hat er mir wortwörtlich gesagt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich weiß es wirklich nicht. Ich hab gedacht, so einen Menschen würd ich nie zu Gesicht kriegen, und ich hab mich gefragt, ob sich’s vielleicht um eine neue Art handelt. Ich hab zugesehen, wie sie ihn auf dem Stuhl festgeschnallt und die Tür zugemacht haben. Er hat vielleicht ein bisschen nervös gewirkt, aber das war auch schon so ungefähr alles. Ich glaub wirklich, er hat gewusst, dass er in fünfzehn Minuten in der Hölle sein wird. Das glaube ich. Und darüber hab ich viel nachgedacht. Mit ihm zu reden war nicht schwierig. Hat mich Sheriff genannt. Aber ich hab nicht gewusst, was ich zu ihm sagen soll. Was sagt man zueinem, der nach eigenem Eingeständnis keine Seele hat? Warum soll man überhaupt was zu ihm sagen? Darüber hab ich ziemlich viel nachgedacht. Dabei war er noch gar nichts im Vergleich mit dem, was da auf uns zugekommen ist.
Es heißt, die Augen sind die Fenster der Seele. Ich weiß nicht, von was dem seine Augen die Fenster waren, und ich will’s auch gar nicht wissen. Aber da draußen gibt’s einen anderen Blick auf die Welt und andere Augen, die sie sehen, und darauf läuft es raus. Mich hat das in meinem Leben an einen Punkt gebracht, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich je dort hinkommen würde. Irgendwo da draußen gibt’s einen wahrhaftigen, lebendigen Propheten der Vernichtung, und dem will ich mich nicht stellen. Ich weiß, es gibt ihn wirklich. Ich hab seine Werke gesehen. Ich bin ein einziges Mal vor diese Augen hingetreten. Das tu ich nie wieder. Ich werd’s nicht drauf ankommen lassen und aufstehen und losziehen, um ihm entgegenzutreten. Das hat nicht bloß mit dem Älterwerden zu tun. Wenn’s nur so wär. Und damit, was man bereit ist zu tun, hat das auch nichts zu schaffen. Ich hab nämlich immer gewusst, dass man bereit sein muss zu sterben, wenn man diesen Job machen will. Das war schon immer so. Nicht, dass ich damit angeben will, überhaupt nicht, aber so ist es eben. Die merken es, wenn man’s nicht ist. Kriegen es ruck, zuck spitz. Ich glaub, es hat eher damit zu tun, was man bereit ist zu werden. Und ich glaub, dafür müsste man seine Seele aufs Spiel setzen. Und das tu ich nicht. Heute glaub ich, dass ich das vielleicht nie getan hätte.
Der Deputy ließ Chigurh mit auf den Rücken gefesselten Händen in der Ecke des Büros stehen, während er selbst sich auf den Drehstuhl setzte, seinen Hut abnahm, die Füße hochlegte und mit dem Funktelefon Lamar anrief.
Bin gerade zur Tür reingekommen. Sheriff, der hatte so ein Ding auf dem Rücken, das sieht aus wie eine Sauerstoffflasche für einen Lungenkranken oder so. Und dann war da noch ein Schlauch, der hat durch seinen Ärmel zu so einem Bolzenschussgerät geführt, wie sie’s im Schlachthaus benutzen. Ja, Sir. So hat’s jedenfalls ausgesehen. Sie können es sich anschauen, wenn Sie kommen. Ja, Sir. Ich hab alles im Griff. Ja, Sir.
Als er vom Stuhl aufstand, hakte er den Schlüsselbund von seinem Gürtel und schloss die Schreibtischschublade auf, um die Schlüssel zum Zellenblock herauszunehmen. Er war leicht vornübergebeugt, als Chigurh in die Hocke ging und die Hände in den Handschellen unter dem Gesäß hindurch bis in die Kniekehlen gleiten ließ. In derselben Bewegung wiegte er sich auf dem gekrümmten Rücken zurück, schob die Kette unter den Füßen hindurch und stand augenblicklich und mühelos auf den Beinen. Es sah aus wie häufig geübt und war es vermutlich auch. Er warf dem Deputy die gefesselten Hände über den Kopf, sprang hoch, rammte ihm beide Knie in den Nacken und riss an der Kette nach hinten.
Sie gingen zu Boden. Der Deputy versuchte, die Hände zwischen seinen Hals und die Kette zu zwängen, schaffte es aber nicht. Im Liegen, die Knie zwischen den Armen und das Gesicht abgewandt, zog Chigurh an den Handfesseln. Der Deputy fuchtelte wild herum und hatte begonnen, sich wie seitwärtsgehend im Kreis über den Boden zu bewegen, trat den Papierkorb um und den Stuhl durchs Zimmer. Er trat die Tür zu und knäuelte den Läufer um sich und den Angreifer. Er röchelte und blutete aus dem Mund. Er erstickte an seinem eigenen Blut. Chigurh zog nur umso fester. Die vernickelten Handschellen schnitten bis auf den Knochen. Die rechte Schlagader des Deputys platzte, ein Blutstrahl schoss durch den Raum, klatschte an die Wand und rann daran herunter. Die Beine des Deputys erlahmten und standen still. Er zuckte. Dann rührte er sich gar nicht mehr. Chigurh lag ruhig atmend da und hielt ihn fest. Als er aufstand, hakte er den Schlüsselbund vom Gürtel des Deputys, schloss die Handschellen auf, steckte sich den Revolver des Deputys in den Hosenbund und ging auf die Toilette.
Er ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, bis sie zu bluten aufhörten, riss dann mit den Zähnen Streifen von einem Handtuch ab, die er sich um die Gelenke schlang, und ging ins Büro zurück. Er setzte sich an den Schreibtisch, befestigte die Handtuchstreifen mit Klebeband aus einem Spender und musterte dabei den Toten, der vom Boden zu ihm aufstarrte. Als er fertig war, zog er dem Toten die Brieftasche aus der Hosentasche, nahm das Geld heraus, steckte es in seine Hemdtasche und ließ die Brieftasche auf den Boden fallen. Dann hob er den Druckluftbehälter und das Bolzenschussgerät auf, ging zur Tür hinaus, stieg in den Wagen des Deputys, ließ den Motor an, stieß im Bogen zurück und fuhr auf die Straße hinaus.
Auf der Interstate griff er eine Ford-Limousine neueren Modells mit nur einem Insassen heraus, schaltete die Signallichter ein und ließ kurz die Sirene aufheulen. Der Wagen fuhr auf den Standstreifen. Chigurh hielt hinter ihm an, stellte den Motor ab, hängte sich den Druckluftbehälter über die Schulter und stieg aus. Der Mann beobachtete ihn im Rückspiegel, während er näher kam.
Was ist denn, Officer?, fragte er.
Würden Sie bitte aussteigen, Sir?
Der Mann machte die Tür auf und stieg aus. Worum geht es denn?, fragte er.
Würden Sie bitte vom Fahrzeug wegtreten.
Der Mann trat vom Fahrzeug weg. Chigurh sah, wie sich angesichts der blutbefleckten Gestalt vor ihm Zweifel in seinen Blick stahlen, aber es war zu spät. Wie ein Wunderheiler legte er ihm die Hand auf den Kopf. Das pneumatische Zischen und Klicken des Bolzens klang wie das Geräusch einer sich schließenden Tür. Der Mann glitt geräuschlos zu Boden, in der Stirn ein rundes Loch, aus dem Blut sprudelte, ihm in die Augen rann und mit sich nahm, was er von seiner langsam zerfallenden Welt noch wahrnehmen konnte. Chigurh wischte sich mit seinem Taschentuch die Hand ab. Ich wollte bloß nicht, dass Sie den Wagen vollbluten, sagte er.
Die Stiefelabsätze in das vulkanische Geröll des Höhenzuges gestemmt, saß Moss auf dem Boden und suchte mit einem deutschen Fernglas mit zwölffacher Vergrößerung die unter ihm liegende Wüste ab. Er hatte den Hut in den Nacken geschoben. Die Ellbogen auf die Knie gestützt. Die an einem Riemen aus Geschirrleder über seiner Schulter hängende Büchse war eine .270 mit schwerem Lauf, dem Schloss einer 98er Mauser und einem laminierten Schaft aus Ahorn- und Walnussholz. Aufmontiert war ein Unertl-Zielfernrohr mit derselben Vergrößerung wie das Fernglas. Die Antilopen waren etwa anderthalb Kilometer entfernt. Die Sonne war erst vor knapp einer Stunde aufgegangen, und der Schatten des Höhenzuges, der Palmlilien und der Felsen reichte weit hinaus auf das vor ihm liegende Schwemmland. Irgendwo da draußen war auch sein, Moss’, eigener Schatten. Er senkte das Fernglas und betrachtete die Landschaft. Weit im Süden die schroffen Berge Mexikos. Die Steilufer des Flusses. Nach Westen hin das Terrakotta-Terrain des verschwimmenden Grenzlandes. Er spuckte trocken aus und wischte sich den Mund an der Schulter seines Baumwollhemdes.
Die Büchse schoss einen Streukreis von einer halben Winkelminute. Auf neunhundert Meter ergab das einen Streukreis von knapp dreizehn Zentimetern. Die Stelle, von der aus er schießen wollte, lag knapp unterhalb einer langen Lavageröllhalde und damit sehr viel näher an seinem Ziel. Nur würde er bis dorthin fast eine Stunde brauchen, und die Antilopen entfernten sich beim Grasen von ihm. Ein Vorteil war immerhin, dass kein Wind wehte.
Am Fuß der Geröllhalde angelangt, richtete er sich langsam auf und hielt nach den Antilopen Ausschau. Sie hatten sich nicht weit von der Stelle wegbewegt, an der er sie zuletzt gesehen hatte, aber die Schussentfernung betrug noch immer sechs- bis siebenhundert Meter. Er studierte die Tiere durch das Fernglas. In der komprimierten Luft winzige Teilchen und Hitzeverzerrungen. Ein tiefliegender Dunst aus schimmerndem Staub und Pollen. Es gab keine andere Deckung, und zu einem zweiten Schuss würde er nicht kommen.
Er schob sich im Geröll zurecht, zog einen Stiefel aus, legte ihn auf die Steine, senkte den Vorderschaft der Büchse auf das Leder, entsicherte mit dem Daumen und visierte durch das Zielfernrohr.
Die Tiere hatten allesamt den Kopf gehoben und schauten in seine Richtung.
Verdammt, flüsterte er. Die Sonne stand hinter ihm, sodass sie keinen Lichtreflex im Glas des Zielfernrohrs gesehen haben konnten. Sie hatten schlicht und einfach ihn gesehen.
Die Büchse hatte einen auf knapp dreihundert Gramm eingestellten Abzug. Ganz behutsam zog er sie und den Stiefel zu sich heran, visierte abermals durch das Fernrohr und hielt ganz leicht über das Blatt des Tiers, das ihm am deutlichsten die Seite zukehrte. Er kannte den exakten Abfall der Geschossflugbahn pro hundert Meter. Unsicher war lediglich die Entfernung. Er legte den Finger in die Krümmung des Abzugs. Der Hauer, den er an einer Goldkette um den Hals trug, glitt auf die Steine an der Innenseite seines Ellbogens.
Trotz des schweren Laufs und der Mündungsbremse verriss die Büchse nach oben. Als er die Tiere wieder in die Optik des Zielfernrohrs holte, sah er sie dastehen wie zuvor. Die zehn Gramm schwere Kugel brauchte bis zu ihnen knapp eine Sekunde, der Schall dagegen doppelt so lang. Sie sahen zu der Staubfahne hin, die die einschlagende Kugel aufgewirbelt hatte. Dann gingen sie durch. Rannten aus dem Stand mit Höchstgeschwindigkeit hinaus auf den Barrial, während der langgezogene Knall des Büchsenschusses in der frühmorgendlichen Einsamkeit hinter ihnen herrollte, von den Felsen hin- und hergeworfen wurde und über das offene Land zurückhallte.
Er stand da und sah ihnen nach. Dann hob er das Fernglas. Eines der Tiere war zurückgefallen und zog ein Bein nach. Wahrscheinlich, dachte er, war die Kugel vom Boden abgeprallt und hatte es an der linken Hinterhand getroffen. Er beugte sich vor und spuckte aus. Verdammt, sagte er.
Er sah ihnen nach, bis sie jenseits der felsigen Vorhügel im Süden verschwunden waren. Der fahl orangefarbene Staub, der im windstillen Morgenlicht hing, verblasste und verschwand dann ebenfalls. Still und leer lag der Barrial in der Sonne. Als wäre dort überhaupt nichts geschehen. Er setzte sich hin, zog seinen Stiefel an, hob die Büchse auf, ließ die leere Patronenhülse herausgleiten, steckte sie in seine Hemdtasche und verriegelte das Patronenlager. Dann hängte er sich die Büchse über die Schulter und marschierte los.
Er brauchte ungefähr vierzig Minuten, um den Barrial zu durchqueren. Dahinter stieg er einen langgezogenen vulkanischen Hang hinauf und folgte dem Kamm des Höhenzugs bis zu einem Aussichtsspunkt oberhalb der Landschaft, in der die Tiere verschwunden waren. Mit dem Fernglas suchte er langsam das Terrain ab. Ein großer, schwanzloser Hund mit schwarzem Fell durchquerte das Gelände. Moss beobachtete das Tier. Es hatte einen riesigen Kopf mit gestutzten Ohren und lahmte schwer. Es verhielt. Es blickte hinter sich. Dann ging es weiter. Er senkte das Fernglas und sah ihm nach.
Den Daumen unter den Schulterriemen der Büchse gehakt und den Hut in den Nacken geschoben, marschierte er weiter den Höhenzug entlang. Sein Hemdrücken war bereits schweißnass. In die Felsen dort waren Zeichnungen eingeritzt, die etwa tausend Jahre alt waren. Von Männern, die Jäger gewesen waren wie er. Andere Spuren von ihnen gab es nicht.
Am Ende des Höhenzugs befand sich ein Felsrutsch, durch den ein holpriger Pfad abwärtsführte. Candelilla und Katzenklaue. Er setzte sich auf die Steine, stützte die Ellbogen auf die Knie und suchte mit dem Fernglas das Gelände ab. Etwa anderthalb Kilometer entfernt auf dem Schwemmland standen drei Fahrzeuge.
Er senkte das Fernglas und ließ den Blick über die Landschaft als Ganzes gehen. Dann hob er das Fernglas wieder. Es sah so aus, als lägen dort Männer auf dem Boden. Er stemmte die Stiefel in das Geröll und stellte das Fernglas schärfer. Bei den Fahrzeugen handelte es sich um allradgetriebene Pick-ups oder Broncos mit großen Geländereifen, Winde und aufs Dach montierter Scheinwerferleiste. Die Männer schienen tot zu sein. Er senkte das Fernglas, hob es wieder, senkte es erneut und saß einfach nur da. Nichts rührte sich. Er blieb lange Zeit sitzen.
Als er sich den Pick-ups näherte, hatte er die Büchse von der Schulter genommen und hielt sie entsichert auf Hüfthöhe in der Armbeuge. Er blieb stehen. Er musterte das Gelände, dann musterte er die Fahrzeuge. Sie waren völlig zerschossen. Zum Teil bildeten die Einschusslöcher im Karosserieblech regelmäßige, lineare Muster, was ihm verriet, dass sie von automatischen Waffen stammten. Die Scheiben waren größtenteils herausgeschossen, die Reifen platt. Er stand da. Lauschte.
Im ersten Fahrzeug war ein Mann tot über dem Lenkrad zusammengesunken. Dahinter lagen zwei weitere Leichen im schütteren gelben Gras. Getrocknetes Blut schwarz auf dem Boden. Er blieb stehen und lauschte. Nichts. Das Summen der Fliegen. Er ging um das Heck des Pick-ups herum. Dort lag ein großer, toter Hund von derselben Art wie der, den er das Schwemmland hatte durchqueren sehen. Der Hund hatte einen Bauchschuss. Dahinter lag mit dem Gesicht nach unten eine dritte Leiche. Durch das Fenster betrachtete er den Mann in der Fahrerkabine. Er war durch den Kopf geschossen worden. Überall Blut. Er ging zum zweiten Fahrzeug, aber es war leer. Er ging zu der Stelle, wo die dritte Leiche lag. Im Gras lag eine Schrotflinte mit kurzem Lauf, Pistolengriff und einem Trommelmagazin für zwanzig Schuss. Mit der Stiefelspitze stieß er den Mann am Fuß an und musterte die umliegenden flachen Hügel.
Das dritte Fahrzeug war ein Bronco mit hochgelegter Federung und dunklen Rauchglasscheiben. Er öffnete die Fahrertür. Auf dem Sitz saß ein Mann, der ihn ansah.
Moss stolperte zurück und hob die Büchse. Das Gesicht des Mannes war blutig. Er bewegte mühsam die Lippen. Agua, cuate, sagte er. Agua, por dios.
Auf seinem Schoß lag eine kurzläufige Heckler & Koch-Maschinenpistole mit einem Schulterriemen aus schwarzem Nylon, und Moss griff danach, nahm sie an sich und trat zurück. Agua, sagte der Mann. Por dios.
Ich hab kein Wasser.
Agua.
Moss ließ die Tür offen, hängte sich die Heckler & Koch über die Schulter und entfernte sich. Der Mann folgte ihm mit den Augen. Moss ging um den Kühler des Wagens herum und öffnete die Beifahrertür. Er löste den Entriegelungshebel und klappte den Sitz nach vorn. Der Stauraum dahinter war mit einer silbermetallicfarbenen Plane abgedeckt. Er zog sie zurück. Eine Ladung ziegelsteingroßer Päckchen, jedes in Plastik eingeschweißt. Ein Auge auf den Mann gerichtet, zückte er sein Messer und schlitzte eines der Päckchen auf. Ein loses braunes Pulver rieselte heraus. Er leckte den Zeigefinger an, steckte ihn in das Pulver und roch daran. Dann wischte er sich die Finger an der Hose ab, zog die Plane wieder über die Päckchen, trat zurück und blickte abermals in die Runde. Nichts. Er ging ein Stück weit vom Wagen weg, blieb stehen und suchte mit dem Fernglas die flachen Hügel ab. Den Höhenzug aus Lavagestein. Das Flachland im Süden. Er zog sein Taschentuch, ging zurück und wischte alles ab, was er angefasst hatte. Den Türgriff, den Entriegelungshebel des Sitzes, die Plane und das Plastikpäckchen. Er ging um den Wagen herum auf die andere Seite und wischte auch dort alles ab. Er überlegte, was er vielleicht sonst noch angefasst hatte. Er ging zurück zum ersten Pick-up, machte mit dem Taschentuch die Tür auf und schaute hinein. Er öffnete das Handschuhfach und schloss es wieder. Er musterte den Toten am Steuer. Er ließ die Tür offen und ging um den Wagen herum auf die Fahrerseite. Die Tür war voller Einschusslöcher. Die Windschutzscheibe. Kleines Kaliber. Sechs Millimeter. Vielleicht Viererschrot. Bildeten regelrechte Muster. Er öffnete die Tür und drückte den Fensterheber, aber die Zündung war nicht eingeschaltet. Er schloss die Tür, stand da und musterte die flachen Hügel.
Er ging in die Hocke, nahm die Büchse von der Schulter, legte sie ins Gras, nahm die Maschinenpistole und schob mit dem Handrücken den Zubringer zurück. In der Kammer befand sich eine Patrone, das Magazin enthielt jedoch nur noch zwei Schuss. Er schnupperte an der Mündung der Waffe. Er nahm das Magazin heraus. Hängte sich die Büchse über die eine und die Maschinenpistole über die andere Schulter, ging zu dem Bronco zurück und hielt das Magazin hoch, sodass der Mann es sehen konnte. Otra, sagte er. Otra.
Der Mann nickte. En mi bolsa.
Sprichst du Englisch?
Der Mann gab keine Antwort. Offenbar versuchte er, mit dem Kinn auf etwas zu deuten. Moss konnte zwei Magazine aus der Tasche der Segeltuchjacke ragen sehen, die der Mann trug. Er griff in die Fahrerkabine, nahm die Magazine an sich und trat zurück. Geruch von Blut und Fäkalien. Er führte eines der vollen Magazine in die Maschinenpistole ein und steckte die anderen beiden in die Tasche. Agua, cuate, sagte der Mann.
Moss suchte das umliegende Land ab. Ich hab’s dir doch gesagt, sagte er. Ich hab kein Wasser.
La puerta, sagte der Mann.
Moss sah ihn an.
La puerta. Hay lobos.
Hier gibt’s keine lobos.
Sí, sí. Lobos. Leones.
Moss stieß mit dem Ellbogen die Tür zu.
Er ging zum ersten Wagen zurück und betrachtete die offene Beifahrertür. Sie wies keine Einschusslöcher auf, aber es war Blut auf dem Sitz. Der Schlüssel steckte noch, und er griff hinein, drehte ihn und betätigte dann den Fensterheber. Langsam knirschte die Scheibe aus dem Schlitz nach oben. Sie wies zwei Einschusslöcher und auf der Innenseite ein feines Gesprüh getrockneten Blutes auf. Er stand da und dachte darüber nach. Er betrachtete den Boden. Blutflecken im Lehm. Blut im Gras. Er blickte die Fahrspur entlang nach Süden durch die Caldera, in die Richtung, aus der der Wagen gekommen war. Es musste noch einer übrig sein. Und das war nicht der um Wasser bittende cuate in dem Bronco.
Er ging hinaus auf das Schwemmland und schlug einen weiten Bogen, um festzustellen, wo die Reifenspur im dünnen Gras in der Sonne sichtbar war. Knapp dreißig Meter weiter südlich suchte er nach Hinweisen. Er nahm die Spur des Mannes auf und folgte ihr, bis er auf Blut im Gras stieß. Dann noch mehr Blut.
Du kommst nicht weit, sagte er. Du glaubst vielleicht, du schaffst es. Aber du irrst dich.
Er verfolgte die Spur nicht weiter, sondern steuerte, die Maschinenpistole entsichert unter dem Arm, den höchstgelegenen Punkt im Gelände an, den er sehen konnte. Mit dem Fernglas suchte er nach Süden hin das Terrain ab. Nichts. Er nestelte an dem Hauer auf seiner Hemdenbrust. Jetzt, sagte er, liegst du wahrscheinlich irgendwo im Schatten und beobachtest den Weg, den du gekommen bist. Und die Chancen, dass ich dich sehe, bevor du mich siehst, stehen praktisch bei null.
Er ging in die Hocke, stützte die Ellbogen auf die Knie und suchte mit dem Fernglas die Felsen am oberen Ende des Tals ab. Er setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, überprüfte das Terrain langsamer, senkte dann das Fernglas und saß einfach nur da. Lass dir hier draußen, sagte er, bloß nicht aus Dämlichkeit den Arsch wegschießen. Bloß nicht.
Er drehte sich um und schaute zur Sonne hin. Es war ungefähr elf Uhr. Wir wissen ja noch nicht mal, ob sich das Ganze gestern Abend abgespielt hat. Hätte auch vor zwei Tagen gewesen sein können. Vielleicht sogar vor drei.
Hätte aber auch gestern Abend gewesen sein können.
Ein leichter Wind war aufgekommen. Er schob sich den Hut in den Nacken, wischte sich mit seinem Halstuch die Stirn und steckte es wieder in die Hüfttasche seiner Jeans. Er blickte über die Caldera auf die niedrige Felsenkette am östlichen Rand.
Was verletzt ist, geht niemals bergauf, sagte er. Das passiert einfach nicht.
Der Anstieg zum Kamm des Höhenzugs war anstrengend, und als er oben ankam, war es fast Mittag. Weit im Norden konnte er die Silhouette eines Sattelzugs durch die schimmernde Landschaft gleiten sehen. Fünfzehn Kilometer. Vielleicht zwanzig. Der Highway 90. Er setzte sich auf den Boden und suchte mit dem Fernglas das neue Terrain ab. Dann hielt er inne.
Am Fuß eines Felsrutsches am Rand der Bajada sah er ein kleines Stück von etwas Blauem. Er beobachtete es lange Zeit durch das Fernglas. Nichts rührte sich. Er musterte das umliegende Land. Dann beobachtete er weiter das Stück Blau. Es verging fast eine Stunde, ehe er aufstand und sich an den Abstieg machte.
Der Tote lag an einem Felsen, zwischen den Beinen im Gras eine Government .45 Automatic mit gespanntem Hahn. Er hatte gesessen und war zur Seite gekippt. Seine Augen waren offen. Er sah aus, als studierte er etwas Kleines im Gras. Es war Blut auf dem Boden und Blut auf dem Felsen hinter ihm. Das Blut war immer noch dunkelrot, lag allerdings auch noch im Schatten. Moss hob die Pistole auf, drückte mit dem Daumen den Sicherungshebel am Griff und entspannte den Hahn. Er ging in die Hocke und versuchte, am Hosenbein des Mannes das Blut von den Griffschalen zu wischen, aber es war bereits zu stark geronnen. Er stand auf, steckte sich die Pistole hinten in den Hosenbund, schob seinen Hut zurück und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Er drehte sich um und musterte die Landschaft. Neben dem Knie des Toten stand aufrecht ein robuster Aktenkoffer aus Leder, und Moss wusste genau, was darin war, und es ängstigte ihn auf eine Weise, die er gar nicht verstand.
Als er den Aktenkoffer schließlich aufhob, ging er damit nur ein kurzes Stück, setzte sich ins Gras, ließ die Büchse von der Schulter gleiten und legte sie beiseite. Er saß mit leicht gespreizten Beinen, die Maschinenpistole im Schoß, den Aktenkoffer zwischen den Knien. Dann öffnete er die beiden Schnallen, ließ die Messingschließe aufschnappen, hob den Deckel und klappte ihn zurück.
Der Koffer war randvoll mit Hundertdollarnoten. Sie waren mit Banderolen, die den Aufdruck $ 10 000 trugen, zu kleinen Päckchen gebündelt. Er wusste nicht, wie viel es insgesamt war, hatte aber eine ziemlich gute Vorstellung davon. Er saß da, betrachtete das Geld, schloss dann den Deckel und verharrte mit gesenktem Kopf. Sein ganzes Leben lag da vor ihm. Tag für Tag, von morgens bis abends, bis zu seinem Tod. Alles konzentriert auf vierzig Pfund Papier in einem Aktenkoffer.
Er hob den Kopf und blickte hinaus auf die Bajada. Leichter Wind von Norden. Kühl. Sonnig. Ein Uhr nachmittags. Er betrachtete den Mann, der tot im Gras lag. Seine guten Krokodillederstiefel, die mit Blut vollgesogen waren und schwarz wurden. Das Ende seines Lebens. Hier an dieser Stelle. Die fernen Berge im Süden. Der Wind im Gras. Die Stille. Er ließ die Schließe einrasten, schloss die Schnallen, stand auf, schulterte die Büchse, hob den Aktenkoffer und die Maschinenpistole auf, orientierte sich anhand seines Schattens und marschierte los.
Er meinte zu wissen, wie er zu seinem Wagen kam, und dachte daran, bei Dunkelheit durch die Wüste zu gehen. In dieser Gegend gab es Mojave-Klapperschlangen, und wenn er nachts hier draußen gebissen wurde, würde ihn aller Wahrscheinlichkeit nach das gleiche Schicksal treffen wie die anderen Männer, und dann würden der Aktenkoffer und sein Inhalt an einen anderen Besitzer gehen. Gegen diese Überlegungen sprach, dass es ein Problem war, am helllichten Tag mit einer vollautomatischen Waffe über der Schulter und einem Aktenkoffer mit mehreren Millionen Dollar zu Fuß offenes Gelände zu überqueren. Abgesehen davon war er todsicher, dass irgendwer nach dem Geld suchen würde. Vielleicht sogar mehr als einer.
Er dachte daran, zurückzugehen und die Schrotflinte zu holen. Er hielt sehr viel von der Schrotflinte. Er dachte sogar daran, die Maschinenpistole dazulassen. Der Besitz einer solchen Waffe war eine Straftat, auf die Gefängnis stand.
Er ließ nichts da, und er kehrte auch nicht zu den Fahrzeugen zurück. Er setzte sich querfeldein in Marsch, nutzte die Einschnitte in den vulkanischen Höhenzügen und durchquerte das flache oder leicht gewellte Gelände dazwischen. Und erreichte spät am Tag den Viehweg, auf dem er am Morgen im Dunkeln, vor so langer Zeit, gekommen war. Etwa anderthalb Kilometer weiter kam er zum Pick-up.
Er öffnete die Beifahrertür und stellte die Büchse auf den Boden. Dann ging er um den Wagen herum, öffnete die Fahrertür, drückte den Entriegelungshebel, ließ den Sitz nach vorn gleiten und legte den Aktenkoffer und die Maschinenpistole dahinter. Die .45er und das Fernglas legte er auf den Sitz, stieg ein, schob den Sitz so weit zurück, wie es ging, und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Dann nahm er seinen Hut ab, lehnte sich zurück, legte den Kopf an das kalte Glas hinter ihm und schloss die Augen.
Beim Highway angelangt, bremste er ab, holperte über die Rundeisen der Viehsperre, fuhr dann auf den Asphalt und schaltete die Scheinwerfer ein. Er fuhr nach Westen in Richtung Sanderson und hielt sich dabei peinlich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Bei der Tankstelle am Ostende der Stadt machte er halt, um Zigaretten zu kaufen und ein großes Glas Wasser zu trinken, dann fuhr er weiter zum Desert Aire, hielt vor dem Wohnwagen an und schaltete den Motor aus. Drinnen brannte Licht. Und wenn du hundert Jahre alt wirst, sagte er, so einen Tag erlebst du nicht nochmal. Kaum hatte er es gesagt, bereute er es auch schon.
Er nahm seine Taschenlampe aus dem Handschuhfach, stieg aus, holte die Maschinenpistole und den Aktenkoffer hinter dem Sitz hervor und kroch unter den Wohnwagen. Im Dreck liegend, blickte er zur Unterseite auf. Billige Plastikrohre und Sperrholz. Isoliermaterial. Er zwängte die Maschinenpistole in einen Winkel, zog die Isolierung darüber und dachte nach. Dann kroch er mit dem Aktenkoffer darunter hervor, klopfte sich den Staub ab, stieg die Stufen hinauf und ging hinein.
Sie fläzte sich auf dem Sofa, sah fern und trank dazu ein Coke. Sie blickte nicht einmal auf. Drei Uhr, sagte sie.
Ich kann später wiederkommen.
Über die Sofalehne hinweg sah sie ihn an, dann kehrte ihr Blick zum Bildschirm zurück. Was hast du in dem Aktenkoffer?
Er ist voller Geld.
Bestimmt. Wer’s glaubt, wird selig.
Er ging in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank.
Kann ich die Schlüssel haben?, fragte sie.
Wo willst du denn hin?
Zigaretten holen.
Zigaretten.
Ja, Llewelyn. Zigaretten. Ich sitze schon den ganzen Tag hier rum.
Wie steht’s mit Zyanid? Haben wir davon noch genug?
Gib mir einfach die Schlüssel. Ich setz mich zum Rauchen in den verdammten Hof.
Er trank einen Schluck Bier, ging nach hinten ins Schlafzimmer, ließ sich auf ein Knie nieder und schob den Aktenkoffer unter das Bett. Dann kam er zurück. Ich hab dir Zigaretten mitgebracht, sagte er. Ich hol sie eben.
Er ließ das Bier auf der Frühstückstheke stehen, ging hinaus, holte die zwei Päckchen Zigaretten, das Fernglas und die Pistole, hängte sich die .270 über die Schulter, schloss die Tür des Pick-ups und ging in den Wohnwagen. Er gab ihr die Zigaretten und ging weiter ins Schlafzimmer.
Wo hast du die Pistole her?, rief sie.
Wo ich sie halt herhab.
Hast du das Ding gekauft?
Nein. Ich hab’s gefunden.
Sie setzte sich auf. Llewelyn?
Er kam zurück. Was denn?, fragte er. Schrei doch nicht so.
Was hast du für das Ding hingelegt?
Du musst nicht alles wissen.
Wie viel?
Ich hab’s dir doch gesagt. Ich hab’s gefunden.
Das nehm ich dir nicht ab.
Er setzte sich auf das Sofa, legte die Beine auf den Couchtisch und trank das Bier. Sie gehört mir nicht, sagte er. Ich hab keine Pistole gekauft.
Das will ich dir auch geraten haben.
Sie riss eines der Zigarettenpäckchen auf, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie mit einem Feuerzeug an. Wo warst du den ganzen Tag?
Zigaretten für dich holen.
Ich will’s gar nicht wissen. Ich will gar nicht wissen, was du so getrieben hast.
Er trank Bier und nickte. So ist es recht, sagte er.
Ich glaub, es ist besser, wenn ich’s gar nicht weiß.
Wenn du nicht bald die Klappe hältst, nehm ich dich mit nach hinten und vögle dich.
Sprüche.
Mach nur so weiter.
Ich hab’s ja gesagt.
Ich trinke nur eben das Bier leer. Dann werden wir sehen, was du gesagt hast und was nicht.
Als er aufwachte, zeigte die Digitaluhr auf dem Nachtschränkchen 1:06. Er lag da und blickte zur Decke auf, während das grelle Gleißen der Neonlampe draußen das Schlafzimmer in ein kaltes, bläuliches Licht tauchte. Wie ein Wintermond. Oder irgendein anderer Mond. Das Licht hatte etwas Stellares, Fremdartiges, mit dem er sich wohl zu fühlen gelernt hatte. Alles, nur nicht im Dunkeln schlafen.
Er schwang die Beine unter der Bettdecke hervor und setzte sich auf. Er betrachtete ihren nackten Rücken. Ihr Haar auf dem Kissen. Er zog ihr die Decke bis über die Schulter hoch, stand auf und ging in die Küche. Er nahm die Wasserflasche aus dem Kühlschrank, schraubte den Deckel ab und trank im Licht des offenen Kühlschranks. Dann stand er einfach nur da, in der Hand das kalt beschlagene Glas, und schaute durch das Fenster den Highway entlang zu den Lichtern hin. Er blieb lange so stehen.
Ins Schlafzimmer zurückgekehrt, hob er seine Boxershorts vom Boden auf, schlüpfte hinein, ging ins Bad und schloss die Tür. Dann ging er weiter ins zweite Schlafzimmer, zog den Aktenkoffer unter dem Bett hervor und klappte ihn auf.
Den Koffer zwischen den Beinen saß er auf dem Boden, fuhr mit beiden Händen zwischen die Banknoten und wühlte sie auf. Die Bündel waren zu je zwanzig aufeinandergestapelt. Er schob sie in den Koffer zurück, den er auf dem Boden hin- und herschüttelte, damit sie sich setzten. Mal zwölf. Das konnte er im Kopf ausrechnen. Zwei Komma vier Millionen. Alles gebrauchte Scheine. Er saß da und betrachtete das Geld. Du musst das ernst nehmen, sagte er. Du kannst das nicht als glücklichen Zufall behandeln.
Er klappte den Koffer zu, schloss die Schnallen, schob ihn unter das Bett, stand auf und blickte zum Fenster hinaus auf die Sterne über dem felsigen Steilhang nördlich der Stadt. Totenstille. Nicht einmal ein Hund. Aber er war nicht des Geldes wegen aufgewacht. Bist du tot da draußen?, sagte er. Ach was, du bist nicht tot.
Sie wachte auf, während er sich anzog, drehte sich im Bett um und sah ihm zu.
Llewelyn?
Ja.
Was machst du?
Ich zieh mich an.
Wo willst du hin?
Raus.
Wo willst du hin, Baby?
Hab was vergessen. Ich bin bald wieder da.
Was hast du vor?
Er zog die Schublade auf, nahm die .45er heraus, ließ das Magazin herausschnappen, überprüfte es, führte es wieder ein und steckte sich die Pistole in den Hosenbund. Er drehte sich um und sah sie an.
Was ich vorhab, ist so dämlich, dämlicher geht’s nicht, aber ich tu’s trotzdem. Wenn ich nicht wiederkomme, sag Mutter, dass ich sie liebe.
Deine Mutter ist tot, Llewelyn.
Dann sag ich’s ihr eben selber.
Sie setzte sich im Bett auf. Du machst mir richtig Angst, Llewelyn. Bist du in irgendwelchen Schwierigkeiten?
Nein. Schlaf weiter.
Ich soll weiterschlafen?
Ich bin bald wieder da.
Zum Teufel mit dir, Llewelyn.
Er trat zurück in die Tür und sah sie an. Und wenn ich nun nicht zurückkäme? Sind das deine letzten Worte?
Sie schlüpfte in ihren Bademantel, während sie ihm den Flur entlang in die Küche folgte.Er holte einen leeren Vierliter-Plastikkanister unter der Spüle hervor und füllte ihn am Wasserhahn.
Weißt du, wie spät es ist?, fragte sie.
Ja. Ich weiß, wie spät es ist.
Baby, ich will nicht, dass du gehst. Wohin willst du überhaupt? Ich will nicht, dass du gehst.
Tja, Liebling, da sind wir völlig einer Meinung, ich will nämlich auch nicht. Ich bin bald wieder da. Warte nicht auf mich.
An der Tankstelle hielt er unter den Lichtern, stellte den Motor ab, nahm die Übersichtskarte aus dem Handschuhfach, entfaltete sie auf dem Sitz und studierte sie. Schließlich markierte er die Stelle, wo er die Pick-ups vermutete, und zeichnete eine querfeldein verlaufende Route zu Harkles Viehgatter. Er hatte gute Geländereifen aufgezogen und zwei Reserveräder auf der Ladefläche, aber das war schwieriges Gelände. Er betrachtete die Linie, die er gezeichnet hatte. Dann beugte er sich vor, studierte das Terrain und zeichnete eine zweite Linie. Danach saß er einfach nur da und betrachtete die Karte. Als er den Motor anließ und auf den Highway hinausfuhr, war es Viertel nach zwei Uhr morgens, die Straße war verlassen, und das Autoradio war in diesem entlegenen Landstrich so tot, dass von einem Ende des Bandes bis zum anderen nicht einmal atmosphärische Störungen zu hören waren.
Er hielt am Gatter, stieg aus, öffnete es, fuhr hindurch, stieg aus, schloss es wieder und lauschte einen Moment lang der Stille. Dann stieg er wieder ein und fuhr auf dem Viehweg Richtung Süden.
Er beließ es beim Zweiradantrieb und fuhr im zweiten Gang. Das Licht des nicht aufgegangenen Mondes vor ihm beschien die dunklen Hügel wie Rampenlichter einen Theatervorhang. Ein Stück vor der Stelle, an der er am Morgen geparkt hatte, bog er auf einen alten Fuhrweg ab, der ostwärts über Harkles Land führte. Als der Mond schließlich aufging, hing er fahl, geschwollen und verformt zwischen den Hügeln und erleuchtete das ganze umliegende Land, sodass Moss die Scheinwerfer ausschalten konnte.
Eine halbe Stunde später hielt er an, ging den Kamm einer Erhebung entlang und blickte nach Südosten über das Land. Der Mond hoch am Himmel. Eine blaue Welt. Sichtbare Wolkenschatten glitten über das Schwemmland. Wurden an den Hängen schneller. Die Beine vor sich gekreuzt, setzte er sich in das Lavagestein. Keine Kojoten. Nichts. Nicht mal für einen mexikanischen Rauschgifthändler. Ja. Tja. Jeder ist halt irgendwas.
Zum Wagen zurückgekehrt, bog er von der Fahrspur ab und orientierte sich am Mond. Am oberen Ende des Tals fuhr er am Fuß eines vulkanischen Vorsprungs entlang und wandte sich wieder Richtung Süden. Er hatte ein gutes Gedächtnis für Landschaften. Er durchquerte Gelände, das er früher am Tag von dem Höhenzug aus erkundet hatte, dann hielt er erneut an und stieg aus, um zu lauschen. Zum Wagen zurückgekehrt, entfernte er die Plastikkappe der Innenbeleuchtung, nahm die Birne heraus und legte sie in den Aschenbecher. Mit der Taschenlampe studierte er abermals die Karte. Als er das nächste Mal anhielt, stellte er einfach den Motor ab und blieb bei heruntergekurbeltem Fenster sitzen. Lange Zeit saß er da.
Er parkte den Wagen knapp einen Kilometer vor dem oberen Ende der Caldera, hob den Plastikkanister mit Wasser aus dem Fußraum und steckte die Taschenlampe in seine Hüfttasche. Dann nahm er die .45er vom Sitz, schloss, den Daumen auf dem Verriegelungsknopf, leise die Tür, drehte sich um und marschierte in Richtung der Pick-ups los.
Sie standen da, wie er sie zurückgelassen hatte, auf ihre plattgeschossenen Reifen gekauert. Er näherte sich mit der gespannten .45er in der Hand. Totenstille. Konnte am Mond liegen. Sein eigener Schatten war mehr Gesellschaft, als ihm recht war. Hässliches Gefühl hier draußen. Ein Eindringling. Bei den Toten. Nun fang bloß nicht an zu spinnen, sagte er. Du bist keiner von denen. Noch nicht.
Die Tür des Bronco war offen. Als er das sah, ließ er sich auf ein Knie nieder. Er stellte den Wasserkanister auf den Boden. Du Blödmann, sagte er. Da hast du’s. Zu blöd, um am Leben zu bleiben.
Er drehte sich langsam um, suchte das Land bis zum Horizont ab. Das Einzige, was er hören konnte, war sein Herz. Er schob sich auf den Pick-up zu und verhielt geduckt an der offenen Tür. Der Mann war seitwärts auf die Mittelkonsole gesunken. Noch immer vom Gurt gehalten. Überall frisches Blut. Moss zückte die Taschenlampe, beschirmte das Glas mit der gewölbten Hand und schaltete sie ein. Der Mann war durch den Kopf geschossen worden. Keine Lobos. Keine Leones. Mit der abgedeckten Lampe leuchtete er in den Stauraum hinter den Sitzen. Alles weg. Er knipste die Lampe aus und blieb einen Moment lang stehen. Dann ging er langsam zu der Stelle, wo die anderen Leichen lagen. Die Schrotflinte war weg. Der Mond hatte bereits ein Viertel seiner Bahn zurückgelegt. Es war fast taghell. Er kam sich vor wie auf dem Präsentierteller.
Er hatte die Hälfte des Rückweges durch die Caldera zu seinem Pick-up hinter sich, als irgendetwas ihn veranlasste, stehenzubleiben. Er duckte sich, die gespannte Pistole auf dem Oberschenkel. Im Mondlicht sah er den Pick-up oben auf der Erhebung stehen. Um ihn besser erkennen zu können, richtete er den Blick auf einen Punkt seitlich davon. Jemand stand daneben. Dann war er verschwunden. Es gibt keine Definition eines Idioten, sagte er, der du nicht entsprichst. Und jetzt wirst du sterben.
Er schob sich die .45er hinten in den Hosenbund und hielt in leichtem Laufschritt auf den Höhenzug aus Lavagestein zu. In der Ferne hörte er einen Motor anspringen. Auf der Erhebung näherten sich Scheinwerferlichter. Er begann zu rennen.
Als er bei den Felsen ankam, war der Pick-up schon ein gutes Stück in die Caldera hineingefahren, die Scheinwerfer hüpften über den unebenen Boden. Moss sah sich nach einem Versteck um. Keine Zeit. Mit dem Gesicht nach unten, den Kopf zwischen den Unterarmen, legte er sich ins Gras und wartete. Entweder hatten sie ihn gesehen oder nicht. Er wartete. Der Pickup fuhr vorbei. Als er fort war, stand Moss auf und begann den Hang hinaufzuklettern.
Auf halbem Weg blieb er nach Atem ringend stehen und versuchte zu lauschen. Die Lichter waren irgendwo unterhalb von ihm. Er kletterte weiter. Nach einer Weile konnte er die dunklen Umrisse der Fahrzeuge unten sehen. Dann kam der Pick-up mit ausgeschaltetem Licht zurück.
An den Boden gepresst, lag er bei den Felsen. Der Strahl eines Suchscheinwerfers huschte über die Lava und kam zurück. Der Pick-up bremste ab. Moss hörte den Motor leerlaufen. Das langsame Blubbern des Auspuffs. Großer Blockmotor. Wieder strich der Strahl des Suchscheinwerfers über die Felsen. Schon in Ordnung, sagte er. Man muss dich von deinem Elend erlösen. Ist für alle Beteiligten das Beste.
Der Motor drehte leicht hoch und ging dann wieder in den Leerlauf über. Der Auspuff hatte einen tiefen, gutturalen Klang. Sportauspuff, ausgebauter Schalldämpfer und Gott weiß was sonst noch. Nach einer Weile fuhr der Wagen im Dunkeln weiter.
Auf dem Kamm des Höhenzuges angelangt, kauerte Moss sich nieder, zog die .45er aus dem Hosenbund, entspannte sie, steckte sie wieder zurück und hielt nach Norden und Osten Ausschau. Kein Anzeichen von dem Pick-up.
Wie würde es dir gefallen, mit deiner alten Kiste zu versuchen, diesem Ding davonzufahren?, sagte er. Dann ging ihm auf, dass er seinen Pick-up nie wiedersehen würde. Tja, sagte er. Es gibt ’ne ganze Menge, was du nie wiedersehen wirst.
Am oberen Ende der Caldera tauchte der Suchscheinwerfer wieder auf und bewegte sich über den Höhenzug. Moss lag auf dem Bauch und behielt ihn im Auge. Er kam wieder zurück.