Der Passagier - Cormac McCarthy - E-Book
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Der Passagier E-Book

Cormac McCarthy

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Beschreibung

Sechzehn Jahre nach seinem Weltbestseller Die Straße kehrt Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy zurück mit dem ersten Teil seines zweibändigen Meisterwerks. Der Passagier und Stella Maris:Zwei Romane ohne Vorbild. Die Wahrheit des einen negiert die des anderen. 1980, Pass Christian, Mississippi: Bobby Western, Bergungstaucher mit Tiefenangst, stürzt sich ins dunkle Meer und taucht hinab zu einer abgestürzten Jet Star. Im Wrack findet er neun in ihren Sitzen festgeschnallte Leichen. Es fehlen: der Flugschreiber und der zehnte Passagier. Bald mehren sich die Zeichen, dass Western in etwas Größeres geraten ist. Er wird von skrupellosen Männern mit Dienstausweisen verfolgt und heimgesucht von der Erinnerung an seinen Vater, der an der Erfindung der Atombombe beteiligt war, und von der Trauer um seine Schwester, seiner großen Liebe und seinem größten Verderben. Der Passagier führt – von den geschwätzigen Kneipen New Orleans' über die sumpfigen Bayous und die Einsamkeit Idahos bis zu einer verlassenen Ölplattform vor der Küste Floridas – quer durch die mythischen Räume der USA. Ein atemberaubender Roman über Moral und Wissenschaft, das Erbe von Schuld und den Wahnsinn, der das menschliche Bewusstsein ausmacht.

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Cormac McCarthy

Der Passagier

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

 

Über dieses Buch

1980, Pass Christian, Mississippi: Bobby Western, Bergungstaucher mit Tiefenangst, stürzt sich ins dunkle Meer und taucht hinab zu einer abgestürzten Jet Star. Im Wrack findet er neun in ihren Sitzen festgeschnallte Leichen. Es fehlen: der Flugschreiber und der zehnte Passagier. Bald mehren sich die Zeichen, dass Western in etwas Größeres geraten ist. Er wird von skrupellosen Männern mit Dienstausweisen verfolgt und heimgesucht von der Erinnerung an seinen Vater, der an der Erfindung der Atombombe beteiligt war, und von der Trauer um seine Schwester, seine große Liebe und sein größtes Verderben.

«Der Passagier» führt – von den geschwätzigen Kneipen New Orleans’ über die sumpfigen Bayous und die Einsamkeit Idahos bis zu einer verlassenen Ölplattform vor der Küste Floridas – quer durch die mythischen Räume der USA. Ein atemberaubender Roman über Moral und Wissenschaft, das Erbe von Schuld und den Wahnsinn, der das menschliche Bewusstsein ausmacht.

Vita

Cormac McCarthy wurde 1933 in Rhode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee auf. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award. Die amerikanische Kritik feierte seinen Roman «Die Straße» als «das dem Alten Testament am nächsten kommende Buch der Literaturgeschichte» (Publishers Weekly). Das Buch gelangte auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und verkaufte sich weltweit mehr als eine Million Mal. Mehrere von McCarthys Büchern wurden bereits aufsehenerregend verfilmt, «Kein Land für alte Männer» von den Coen-Brüdern, «Der Anwalt» von Ridley Scott und «Ein Kind Gottes» von James Franco. Cormac McCarthy starb im Juni 2023 in Santa Fe, New Mexico.

 

Nikolaus Stingl, geb. 1952 in Baden-Baden, übersetzte unter anderem William Gaddis, William Gass, Graham Greene, Cormac McCarthy und Thomas Pynchon. Er wurde mit dem Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart, dem Paul-Celan-Preis und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet.

Impressum

Der Übersetzer dankt Laura Feuerhake für physikalische Expertise, Rafael Mohr für Einblicke in die höhere Mathematik und Jens Orzol für Erläuterungen zur Funktionsweise von Ölbohrinseln.

 

 

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «The Passenger» bei Alfred A. Knopf, Inc., New York

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Passenger» Copyright © 2022 by Cormac McCarthy

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Rich Bowman

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01559-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

In der Nacht hatte es leicht geschneit, und ihr gefrorenes Haar war golden und kristallen, ihre Augen starr, kalt und hart wie Steine. Einer ihrer gelben Stiefel war vom Fuß gerutscht und stand unter ihr im Schnee. Ihre Jacke zeichnete sich weiß bestäubt im Schnee ab, wo sie sie fallen gelassen hatte, und sie trug nur ein weißes Kleid und hing zwischen den nackten grauen Stämmen der Winterbäume, den Kopf geneigt und die Hände leicht nach außen gedreht wie bestimmte christliche Statuen, deren Haltung dazu auffordert, ihre Geschichte zu bedenken. Den Urgrund der Welt zu bedenken, wo sie ihr Dasein im Leiden ihrer Geschöpfe hat. Der Jäger kniete sich hin, stellte sein Gewehr senkrecht neben sich in den Schnee, streifte die Handschuhe ab, ließ sie fallen und faltete die Hände. Er dachte, dass er beten müsste, doch für so etwas kannte er kein Gebet. Er neigte den Kopf. Du elfenbeinerner Turm, sagte er. Du goldenes Haus. Er kniete lange Zeit da. Als er die Augen öffnete, sah er eine kleine, halb im Schnee vergrabene Form, beugte sich vor, wischte den Schnee weg und hob eine goldene Kette auf, an der ein Stahlschlüssel und ein Ring aus Weißgold hingen. Er steckte sie in die Tasche seines Jagdmantels. Nachts hatte er den Wind gehört. Das Werk des Windes. Eine über die Ziegelsteine hinter seinem Haus scheppernde Mülltonne. Den draußen im Wald im Dunkeln wehenden Schnee. Er blickte zu den kalten, wie emaillierten Augen auf, die im schwachen Winterlicht blau schimmerten. Sie hatte ihr Kleid mit einer roten Schärpe geschürzt, damit sie gefunden wurde. Ein Farbfleck in der äußersten Trostlosigkeit. An diesem Weihnachtstag. Diesem kalten, kaum erwähnten Weihnachtstag.

I

Das wäre dann also Chicago im Winter ihres letzten Lebensjahrs. In einer Woche würde sie ins Stella Maris zurückkehren und von dort aus in die öden Wälder von Wisconsin gehen. Der Contergan-Zwerg fand sie in einem Wohnheim in der Clark Street. In der Nähe der North Side. Er klopfte an die Tür. Untypisch für ihn. Sie wusste natürlich, wer es war. Sie hatte ihn erwartet. Und eigentlich war es auch kein Klopfen. Eher so eine Art Klatschen.

Er tigerte am Fußende ihres Bettes auf und ab. Er blieb stehen, um etwas zu sagen, überlegte es sich anders, tigerte weiter und rieb sich dabei die Hände wie der Schurke in einem Stummfilm. Nur dass es natürlich keine richtigen Hände waren. Bloß Flossen. Wie bei einem Seehund. In die linke stützte er jetzt das Kinn, als er innehielt, um sie zu mustern. Auf vielfachen Wunsch wieder da, sagte er. In alter Frische.

Du hast ganz schön lange gebraucht, um hierherzukommen.

Ja. Die Ampeln waren die ganze Strecke über gegen uns.

Woher hast du gewusst, welches Zimmer es ist?

Simpel. Zimmer 4-C. Hab’s vorausgesehen. Womit zahlst du?

Ich habe noch Geld.

Der Zwerg blickte sich um. Gefällt mir, was du aus der Bude gemacht hast. Vielleicht können wir nach dem Tee einen Gang durch den Garten machen. Was hast du vor?

Ich glaube, du weißt, was ich vorhabe.

Ja. Sieht alles nicht so vielversprechend aus, wie?

Nichts ist für immer.

Hinterlässt du ein paar Zeilen?

Ich schreibe meinem Bruder einen Brief.

Ein freudloses Resümee, möchte ich wetten.

Der Zwerg stand am Fenster und blickte hinaus in die raue Kälte. Auf den verschneiten Park und den zugefrorenen See dahinter. Tja, sagte er. Das Leben. Was soll man sagen? Es eignet sich nicht für jeden. Gott, wie einen die Winter einengen.

War’s das?

War das was?

War das alles, was du zu sagen hast?

Ich überlege noch.

Er tigerte wieder auf und ab. Dann blieb er stehen. Wie wär’s, wenn wir zusammenpacken und einfach abhauen?

Das würde nichts ändern.

Und wenn wir bleiben?

Was, noch mal acht Jahre mit dir und deinen Groschenheft-Freunden?

Neun, du Rechenkünstlerin.

Dann also neun.

Warum nicht?

Nein danke.

Er tigerte auf und ab. Langsam, wobei er sich den kleinen, narbigen Kopf rieb. Er sah aus, als wäre er mit einer Eiszange auf die Welt geholt worden. Wir werden dir fehlen, sagte er. Wir haben es zusammen weit gebracht.

Klar, sagte sie. Es war einfach herrlich. Das alles ist irrelevant. Keiner wird irgendwem fehlen.

Wir hätten nicht kommen müssen, weißt du.

Ich weiß nicht, was ihr musstet. Ich bin mit euren Aufgaben nicht vertraut. Das war ich nie. Und inzwischen ist es mir egal.

Ja. Du hast immer mit dem Schlimmsten gerechnet.

Und ich bin selten enttäuscht worden.

Nicht jede ektromelische Halluzination, die an deinem Geburtstag in deinem Boudoir aufkreuzt, will dir was Böses. Wir haben versucht, in einer Welt voller Probleme für ein bisschen Sonnenschein zu sorgen. Was ist daran auszusetzen?

Ich habe nicht Geburtstag. Und ich glaube, wir wissen, wofür ihr gesorgt habt. So kriegst du jedenfalls keinen Platz in meinem Herzen, also vergiss es.

In was für einem Herzen? Du hast doch gar keins.

Umso besser.

Der Zwerg blickte sich im Zimmer um. Herrgott, sagte er. Die Bude ist echt zum Kotzen. Hast du gesehen, was da gerade über den Boden gekrabbelt ist? Was, haben wir überhaupt kein Zyklon B mehr? Du warst ja nie direkt Mamas kleine Haushälterin, aber hier, finde ich, hast du dich selbst übertroffen. Es gab Zeiten, da hättest du dich in so einer Absteige nicht mal tot erwischen lassen. Achtest du auch auf dich?

Das geht dich nichts an.

Ein weiteres Beispiel aus einer langen Geschichte verlotterter Räume. Du weißt nicht, was im Anzug ist, oder? Wenn du das Wortspiel entschuldigst. Je daran gedacht, den Schleier zu nehmen? Okay. Hab gedacht, ich frage einfach mal.

Warum machen wir nicht einfach wieder gut, was gutzumachen ist, und lassen alles andere auf sich beruhen. Machen es nicht noch schlimmer, als es ist.

Ja, ja, klar, klar.

Du hast gewusst, dass es dazu kommt. Du tust nur gern so, als hätte ich Geheimnisse vor dir.

Hast du ja auch. Geheimnisse. Herrgott, ist das kalt hier. Man könnte glatt Fleisch aufhängen in dieser Scheißbude. Du hast mich als spektralen Operator bezeichnet.

Ich habe was?

Mich als spektralen Operator bezeichnet.

Ich habe dich nie als etwas Derartiges bezeichnet. Das ist ein mathematischer Begriff.

Ja. Sagst du.

Du kannst es nachschlagen.

Das sagst du immer.

Und du tust es nie.

Tja, nun. Das ist alles Schnee von gestern.

Ach ja? Was, hast du Angst vor einer schlechten Beurteilung im Arbeitszeugnis?

Nenn es, wie du willst, Prinzessin. Wir haben unser Bestes gegeben. Die Krankheit besteht fort.

Das macht nichts. Viel länger wird sie nicht mehr fortbestehen.

Ja, das vergesse ich immer wieder. Fort in das Land, von des Bezirk kein Wandrer was zum Geier auch immer.

Das vergisst du immer wieder?

Nur so eine Redewendung. Ich vergesse nicht viel. Allerdings hast du offenbar auch nicht allzu viele Erinnerungen, was den Zustand angeht, in dem wir dich vorgefunden haben, als wir zum ersten Mal aufgekreuzt sind.

Ich muss mich nicht daran erinnern. Ich befinde mich immer noch darin.

Ja, stimmt. Verbessere mich, wenn ich falschliege, aber ich meine mich an ein junges Mädchen zu erinnern, das auf Zehenspitzen durch eine hohe Öffnung späht, über die in den Archiven selten berichtet wird. Was hat das Mädchen gesehen? Eine Gestalt am Tor? Aber das ist gar nicht die Frage, oder? Die Frage ist, hat die Gestalt das Mädchen gesehen? Einen kleinen Lichtpunkt. Wer würde ihn bemerken? Aber die Höllenhunde passen auch durch das Öhr eines Rings. Habe ich recht oder was?

Mir ging es gut, bis du aufgetaucht bist.

Herrgott, du bist vielleicht ein harter Brocken. Weißt du das? So was habe ich noch nie gesehen. Wie die blinde Hure zum Freier gesagt hat. Sämtliche Geschöpfe der Hölle, geifernd und zähnefletschend, und sie versucht, ihnen über die Schulter zu blicken. Was ist da draußen? Keine Ahnung. Irgendein aus dem Regen reingekommener Atavismus aus der Psychose eines toten Ahnen. Und jetzt sitzt er rauchend da drüben in der Ecke. Ach, was soll’s. Ich mach dann mal Licht. Nützt nichts. Schalt den Projektor aus. Scheiße, wer hat das überhaupt angeordnet? Zieh die Leinwand hoch, und die Scheißdinger sind auf der Wand. Außerdem hast du mich noch als Pathogen bezeichnet.

Du bist ja auch ein Pathogen.

Siehst du?

Kommen sie rein oder nicht?

Kommt wer rein?

Lass den Quatsch. Ich weiß, dass sie da draußen sind.

Die Horte, meinst du wohl.

Ja, die meine ich.

Alles zu seiner Zeit.

Ich kann ihre Füße unter der Tür sehen. Ich kann die Schatten ihrer Füße sehen.

Füße und ihre Schatten. Genau wie in der wirklichen Welt.

Worauf warten sie?

Wer weiß? Vielleicht fühlen sie sich nicht willkommen.

Das hat sie noch nie abgehalten.

Der Zwerg wölbte eine mottenzerfressene Augenbraue. Ach ja?, sagte er.

Ja, sagte sie. Und zog sich die Decke um die Schultern. Niemand hat euch eingeladen. Ihr seid einfach aufgetaucht.

Okay, sagte der Zwerg. Jemand auf dem Flur, richtig? Na, dann sehen wir mal nach.

Mit einem langen Schleifschritt glitt er zu Tür, streifte den Ärmel zurück und packte mit seiner Flosse den Knauf. Fertig?, rief er. Er riss die Tür auf. Der Flur war leer. Er blickte über die Schulter zu ihr zurück. Sieht aus, als wären sie ausgeflogen. Es sei denn – wie soll ich sagen –, du hast dir das bloß eingebildet?

Ich weiß, dass sie da waren. Ich kann sie riechen. Ich rieche Miss Vivians Parfüm. Und auf jeden Fall rieche ich Grogan.

Ach ja? Könnte doch sein, dass jemand auf der Etage Kohl kocht. Sonst noch was? Sulfur? Schwefel?

Er schloss die Tür. Sofort war die Truppe draußen wieder da. Schlurfte mit den Füßen, hustete. Er rieb sich die Flossen. Wie um sie zu wärmen. Na schön. Wo war ich? Vielleicht sollten wir dich über den aktuellen Stand einiger Projekte informieren. Dein Zustand könnte sich ein bisschen stabilisieren, wenn du siehst, welche Fortschritte wir gemacht haben.

Stabilisieren?

Wir haben das Material, das wir von dir bekommen haben, ausgewertet, und bis jetzt sieht alles gut aus.

Welches Material? Ihr habt kein Material von mir bekommen.

Ja, schon gut. Wir kriegen immer noch hundert Leptonen auf die Drachme, und das ist insofern okay, als es nicht wirklich falsch ist, aber wir hoffen, dass sich dieses klassische Zeug größtenteils noch klärt und wir uns dann dem Renormalen zuwenden können. Man sieht jedes Mal anderen Scheiß, wenn man alles unters Licht hält. Man differenziert einfach, das ist alles. Schatten gibt’s bei dieser Größenordnung natürlich keine. Man hat da diese schwarzen Zwischenräume, die man betrachtet. Inzwischen wissen wir, dass die Kontinua gar nicht kontinuieren. Dass es kein Linear gibt, Lina. Ganz gleich, wie du es reduzierst, am Ende läuft es auf Periodizität hinaus. Auf dieser Ebene richtet das Licht natürlich nichts mehr aus. Reicht sozusagen nicht von Ufer zu Ufer. Also was ist da im Dazwischen, womit du gern herummachen würdest, was du aber wegen der eben erwähnten Schwierigkeiten nicht sehen kannst? Keine Ahnung. Wie war das? Das bringt uns auch nicht weiter? Wieso dies und wieso das? Ich weiß es nicht. Wieso laufen Schafe bei Regen nicht ein? Wir arbeiten hier ohne Netz. Wo es keinen Raum gibt, kann man nicht extrapolieren. Wo soll man denn hin? Man schickt irgendwelches Zeug da raus, weiß aber nicht, wo es gewesen ist, wenn man es zurückkriegt. Na schön. Nicht nötig, sich deswegen ins Hemd zu machen. Man muss sich einfach auf den Hosenboden setzen und ein paar ernsthafte Berechnungen anstellen. Und da kommst du ins Spiel. Du hast hier Material, das vielleicht bloß virtuell ist, vielleicht aber auch nicht, aber trotzdem müssen die Regeln da drin sein, oder du sagst mir, wo zum Geier sich die Regeln befinden. Denn auf die kommt’s uns natürlich an, Alice. Auf die gottgesegneten Regeln. Man steckt alles in ein Glas, und dann gibt man dem Glas einen Namen und macht von da aus à la Gödel- und Churchclique weiter, und in der Zwischenzeit macht sich reales Zeug in diformablen Geschwindigkeiten die Straße runter aus dem Staub, unter der Bedingung, dass etwas Masseloses kein Volumen hat oder sonst wie und daher auch keine Form, und was sich nicht abflachen kann, kann sich nach bewährter kommutativer Tradition auch nicht aufblähen und umgekehrt, und an dieser Stelle stehen wir – um eine Redewendung zu zitieren – auf dem Schlauch. Richtig?

Du weißt nicht, was du da redest. Das ist alles Geschwafel.

Ach ja? Vergiss bloß nicht, wer die Hand am NICHT-UND-Gatter hat. Nämlich nicht der Kerl, der die Wiege schaukelt, und auch nicht der Typ mit der Runenkutte. Wenn du verstehst, worauf ich hinauswill. Sekunde. Da ruft jemand an. Er wühlte in seinen Taschen, holte ein riesiges Telefon hervor und hielt es sich an sein kleines, schrumpeliges Ohr. Fass dich kurz, Kurt. Wir sind in einer Besprechung. Ja. Eine Passiv-Aggressive. Richtig. Basis zwei. Scheiße, wir sind hier oben auf Sauerstoff. Nein. Nein. Pech gehabt. Zweimal unrecht ergibt nicht einmal gerächt. Das ist ein Haufen dämlicher Flachwichser, richte ihnen ruhig aus, dass ich das gesagt habe. Ruf mich zurück.

Er beendete das Gespräch, schob mit dem Ballen seiner Flosse die Antenne zurück, steckte das Telefon wieder ein und sah sie an. Es gibt immer jemanden, was es nicht mitkriegt.

Der es nicht mitkriegt.

Richtig. Zurück zu den Tabellen. Ich weiß, was du denkst. Aber manchmal muss man sich einfach für Äquivalenz entscheiden. Eine Monte-Carlo-Simulation mit dem Drecksding durchziehen, und fertig. Wohl oder übel. Wir haben nicht bis Weihnachten Zeit.

Es ist Weihnachten. Jedenfalls kurz davor.

Ja, gut. Egal. Wo war ich?

Macht das einen Unterschied?

Deine wichtigste Laborvorrichtung wird der Servomechanismus. Master-Slave-Anordnung. Richte einen Pantografen ein. Steck den Griffel ins Dilemma und dreh. Zähl bis vier. Zeichen an Zeichen. Wiederhol das so lange, bis die Lemniskate erscheint.

Der Zwerg vollführte einen kleinen Stepptanz und einen weiteren langen Schleifschritt übers Linoleum, blieb stehen und begann wieder auf und ab zu tigern. Die sind auf den großen Kahuna aus. Bum-bum-Zeit auf dem Savannah, Hannah. Übrigens auch reichlich Bräute bei der ganzen Chose, da können die Wissenschaftsweiber noch so jammern. Ich habe das von meinen Leuten überprüfen lassen. Du hast deine Madame Curie. Deine Pamela Dirac.

Meine was?

Von anderen, einstweilen Namenlosen ganz zu schweigen. Herrgott, mach doch nicht so ein Gesicht! Du musst mehr an die frische Luft. Was hast du noch gleich immer gesagt? Nach der Mathe kommt die Hängematte? Ich sag dir was. Komisches Zwischenspiel. Unterbrich mich, wenn du den schon kennst. Der Richter sagt zur Angeklagten: Geben Sie zu, dass Ihr Haustier den Kanarienvogel Ihrer Nachbarin gefressen hat? Darauf sagt die Angeklagte: Das kann überhaupt nicht sein. Mein Kätzchen ist gut zu Vögeln.

Der Zwerg stampfte durchs Zimmer und lachte sein glucksendes Lachen.

Du verstehst immer alles falsch. Worüber lachst du denn?

Huuh, japste er. Was?

Du verstehst immer alles falsch. Es heißt Muschi. Nicht Kätzchen.

Wo ist denn da der Unterschied?

Ihre Muschi ist gut zu vögeln. Du kapierst es noch nicht mal.

Ja, gut. Schon verstanden. Jedenfalls geht es darum, dass du dich zusammenreißt. Was glaubst du denn? Das der kleine Bobby Shafto in letzter Minute von den Toten erwacht und dich retten kommt? Silberne Schnallen an den Schuhen oder was zum Geier? Er ist nicht mehr auf Sendung, Selma. Seit er sich in seiner Rennmaschine die Birne angeditscht hat.

Sie wandte den Blick ab. Der Zwerg beschattete sich mit einer Flosse die Augen. Schön, sagte er. Endlich hört sie mir zu.

Du weißt nicht, wovon du redest.

Ach ja? Wie lange pennt er denn jetzt schon? Ein paar Monate?

Er ist noch am Leben.

Er ist noch am Leben. Na, toll. Wenn er noch am Leben ist, was soll’s dann! Jetzt komm mal wieder runter. Wir wissen doch beide, warum du dich nicht mehr mit dem Gestürzten abgibst. Oder nicht? Was ist los? Hat es dir die Sprache verschlagen?

Ich gehe jetzt schlafen.

Wir wissen nämlich nicht, was da aufwachen wird. Falls es überhaupt aufwacht. Wir wissen beide, wie die Chancen stehen, dass er mit intaktem Verstand aus der Sache rauskommt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du munteres Mädchen dem, was da hinter dem trüben Auge und der sabbernden Lippe noch an Rest schlummert, ganz so tief zugetan sein wirst. Ach, was soll’s. Man weiß nie, was einem vorherbestimmt ist, oder? Wahrscheinlich wärt ihr wieder im Gekröseland. Bloß ihr beide. Würdet euch von Rückenspeck und Friede-Freude-Eierkuchengrütze ernähren, oder was zum Geier die da unten fressen im Land der Furchenkacker Ist nicht ganz das Gleiche, wie im Auto durch Europa zu juckeln, aber wenigstens hat man seine Ruhe.

Das wird nicht passieren.

Ich weiß, dass das nicht passieren wird.

Gut.

Also, wie geht’s weiter?

Ich schicke dir eine Postkarte.

Das hast du noch nie gemacht.

Diesmal ist es anders.

Das glaube ich dir gern. Rufst du deine Großmutter an?

Und was soll ich ihr sagen?

Ich weiß nicht. Irgendwas. Herrgott, Hermine. Es gibt noch viel zu tun, weißt du.

Vielleicht. Aber nicht von mir.

Was ist mit der Nachtpforte und der Höhle der Unaussprechlichen? Keine Angst davor?

Ich lasse es darauf ankommen. Vermutlich wird die Tafel schwarz, wenn ich den Trennschalter auslöse.

Wir haben uns wirklich ins Zeug gelegt für dich, weißt du.

Tut mir leid.

Und wenn ich dir Sachen erzähle, die ich dir eigentlich nicht erzählen darf?

Kein Interesse.

Sachen, die du wirklich gern wissen möchtest.

Du weißt gar nichts. Du denkst dir bloß Dinge aus.

Ja. Aber einiges davon ist ziemlich cool.

Einiges.

Wie wär’s zum Beispiel damit: Was ist überall schwarz, weiß und rot?

Ich habe nicht die leiseste Ahnung.

Trotski im Smoking.

Toll.

Okay. Wie wär’s mit dem hier: Was macht man, wenn der Pfarrer zum Kaffee kommt?

Den hast du mir schon erzählt.

Hab ich nicht.

Man gibt dem Pfaffen Zucker.

Ja. Okay. Hör zu. Ich stelle gerade ein paar neue Nummern zusammen. Ich habe einiges von dem alten Chautauqua-Kram vorbereitet. Du hast schon immer eine Vorliebe für die Klassiker gehabt. Ein bisschen Kostümreparatur. Ein paar Wochen Proben.

Gute Nacht.

Ich habe sogar noch mehr Acht-Millimeter-Film in Aussicht. Ganz zu schweigen von einem Schuhkarton voller Schnappschüsse aus den Vierzigern. Los-Alamos-Kram. Und ein paar Briefe.

Was für Briefe?

Familienbriefe. Briefe von deiner Mutter.

Du redest nur Blödsinn. Sämtliche Briefe sind gestohlen worden.

Ja? Vielleicht. Was wirst du jetzt tun?

Schlafen gehen.

Ich meine langfristig.

Ich rede von langfristig.

Na gut. Heb dir das Beste bis zum Schluss auf. Natürlich.

Mach dir keine Umstände.

Schon gut. Ist ja nicht so, als wüsste ich nicht, worauf das alles hinausläuft. Wer weiß? Vielleicht willst du ja sehen, wie du deine Zeit verbringen wirst. Die Vergangenheit ist die Zukunft. Mach die Augen zu.

Und wenn ich sie nicht zumachen will?

Tu’s mir zuliebe.

Ja, klar.

Na schön. Dann machen wir es auf die altmodische Art. Was weiß denn ich? Das müsste spaßig werden.

Er zog irgendwo aus seiner Kleidung ein viereckiges Seidentuch hervor, warf es hoch, fing es auf, spannte es und zeigte ihr die Vorder- und die Rückseite. Er hielt es an der ausgestreckten Hand und schüttelte es. Dann riss er es zur Seite. Auf einem Rohrstuhl saß ein alter Mann in einem staubigen schwarzen Frack. Gestreifte Hosen und graue Weste. Schwarze, knöchelhohe Ziegenlederschuhe und Englischleder-Gamaschen mit Perlmuttknöpfen. Der Zwerg verbeugte sich, trat zurück und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Schau an. Wo haben wir den denn ausgegraben? Har, har, har.

Er klopfte dem alten Mann auf den Rücken, und eine Staubwolke wallte auf. Der Zwerg wich zurück und wedelte mit seiner Flosse durch den Staub. Meine Güte. Ist eine Weile her, dass der da das Tageslicht gesehen hat, was? Na, Paps, wie sieht die Welt für dich aus? Wir könnten eine externe Meinung gebrauchen.

Der alte Mann hob den Kopf und blickte sich um. Fahle, eingesunkene Augen. Mit einer schlingernden Aufwärtsbewegung des Knotens rückte er sich die Krawatte zurecht, blinzelte und kniff die Augen zusammen.

Der Anzug ist ein Klassiker, wie?, sagte der Zwerg. Hat unter der Feuchtigkeit des Bodens ein bisschen gelitten. Er hat in der Klamotte geheiratet. Das kleine Frauchen war sechzehn. Davor hatte er sie allerdings schon zwei Jahre lang gefickt, das heißt, seit sie vierzehn war. Hat es schließlich geschafft, sie anzubuffen, und hey, hier sind wir alle. Der Drecksack war älter als ihr Vater. Tja, die Hochzeitsglocken haben dann ganz fix gebimmelt. Achtzehn neunundsiebzig war das, glaube ich. Formelle Angelegenheit. Weiße Schrotflinten. Jedenfalls, das wär’s auch schon so ziemlich. Ich habe gedacht, der alte Furzer hätte vielleicht was zu sagen, aber er wirkt etwas verwirrt. Krängt er nicht ein bisschen nach Steuerbord?

Der Zwerg richtete den alten Mann auf dem Stuhl auf, trat zurück und maß ihn mit einem Auge auf Senkrechtstellung. Hielt eine ruderartige Flosse hoch und blinzelte. Vielleicht könnten wir eine Wasserwaage gebrauchen, was meinst du? Har, har, har. Ach, was soll’s. Ist eben keine Frohnatur. Moment mal. Es liegt an seinen Zähnen. Ihm fehlen seine gottverdammten Zähne.

Der alte Mann hatte seinen ledrigen Mund geöffnet, zog fleckige Wattepfropfen daraus hervor und stopfte sie in die Tasche seines Fracks. Er räusperte sich und starrte trübe um sich.

Was macht er denn jetzt?, sagte der Zwerg. Irgendwas in seiner Westentasche. Was ist das, seine Uhr? Du lieber Himmel. Sag bloß, er zieht sie auf. Er horcht daran? Scheiße, sie kann doch unmöglich laufen. Nein. Er schüttelt sie. Hübsche Uhr eigentlich. Half Hunter. Graham-Hemmung, keine Frage. So ist es recht. Schüttle sie kräftig. Nö. Tut sich nichts.

Der alte Mann schmatzte mit den Lippen. Aufgepasst, sagte der Zwerg. Jetzt kommt’s. Neuigkeiten von jenseits des Dingsbums. Wird mir verdammt wenig gedankt, der ganze Scheiß, den ich für dich veranstalte.

Wo, sagte der alte Mann mit pfeifendem Atem, ist die Toilette?

Der Zwerg richtete sich auf. Was zum Geier. Wo ist die Toilette? Das ist alles? Scheiß die Wand an! Wie wär’s, wenn du deinen Schimmelkäsearsch hier rausbeförderst? Wo ist die Toilette? Herr des Himmels. Den Flur runter, verflucht noch mal. Jetzt verpiss dich schon.

Der alte Mann stand vom Stuhl auf und schlurfte gebückt in Richtung Tür. Hinter ihm rieselte feiner Staub auf den Boden. Er fummelte am Türgriff, bekam die Tür auf, wankte auf den Flur hinaus und war verschwunden. Meine Fresse, sagte der Zwerg. Er ging zur Tür, schlug sie zu, drehte sich um und lehnte sich dagegen. Er schüttelte den Kopf. Tja. Was soll man machen? Schlechte Idee, ich geb’s zu. Scheiß drauf. Manche hauen eben nicht hin. Warum holen wir nicht ein paar von der alten Truppe? Heitert uns vielleicht ein bisschen auf.

Ich will keinen von der alten Truppe holen. Ich gehe jetzt schlafen.

Das hast du schon gesagt.

Gut. Dann achte mal drauf.

Hör zu, Entchen, ich will hier nicht auf irgendwas rumreiten, aber du bist im Schnellvorlauf unterwegs in die Scheiße.

Und du bist hier, um mich zu quälen.

Geht’s dir gut? Kein Fieber? Möchtest du ein Glas Wasser?

Sie rollte sich im Bett zusammen und zog sich die Decke über den Kopf. Mach das Licht aus, wenn du gehst.

Der Zwerg tigerte auf und ab. Dein Name ist nicht aus einem Hut gezogen worden, weißt du. Keine Ahnung, was du angeblich weißt und was nicht. Ich arbeite bloß hier. Ich bin ein Operator? Dann bin ich eben ein Operator. Und vielleicht weiß ja irgendwer, was auf uns zukommt, aber meine Wenigkeit ist es nicht. Nun hör schon auf. Ich kann nicht mit dir reden, wenn du den Kopf unter der verdammten Decke hast. Willst du nicht wenigstens auf Wiedersehen sagen?

Sie schob die Decke zurück. Mach die Tür auf, dann winke ich.

Der Zwerg ging zur Tür und öffnete sie. Sie waren alle da. Spähten ins Zimmer, winkten, einige auf Zehenspitzen. Auf Wiedersehen, rief sie. Auf Wiedersehen. Der Zwerg scheuchte sie mit einer wedelnden Bewegung weg. Wie eine Nonne Schulkinder fortscheucht. Er schob die Tür zu. Okay, sagte er.

Haben wir es jetzt?

Ich weiß nicht, Süße. Du machst es mir nicht gerade leicht. Ich komme nicht mit dir in die Klapsmühle, weißt du.

Gut.

Konzentrierte Gruppen von Gestörten entfalten einen bestimmten Einfluss. Das hat einen destabilisierenden Effekt. Verbring eine gewisse Zeit in einem Irrenhaus, dann wirst du schon sehen.

Ich weiß. Das habe ich. Ich kenne das.

Was du hast, nennt man Entscheidungsfreiheit.

Hör auf, mich zu zitieren.

Du willst nicht mit mir reden.

Nein.

Gar nichts mehr? Irgendwelche letzten Ratschläge an die Lebenden?

Ja. Lasst es bleiben.

Herrgott. Das ist ganz schön gefühllos.

Machen wir einfach die Lichter aus, und das war’s dann mit dem Leben.

Du wirst uns fehlen.

Wirst du dir selbst auch fehlen?

Wir werden da sein. Es gibt immer was zu tun.

Er stand mit hängenden Schultern da, riss sich dann aber zusammen. Okay, sagte er. Wenn es das war, dann war’s das. Ich verstehe schon.

Er klappte eine Flosse über seinen kleinen Bauch, vollführte eine Art Verbeugung und verschwand. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Dann hörte sie die Tür wieder aufgehen. Als sie hinsah, war der Zwerg erneut hereingekommen, trat leise mitten ins Zimmer, hob an einer Strebe den Rohrstuhl hoch, schulterte ihn, drehte sich um, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

 

Sie schlief, und dabei träumte sie, dass sie hinter einem Zug herrannte, und ihr Bruder rannte auf dem Schlackenweg mit, und am Morgen schrieb sie das in ihrem Brief. Wir sind hinter dem Zug hergerannt, Bobby, und er hat sich von uns entfernt ins Licht, und die Lichter im Dunkeln haben sich getrübt, und wir stolperten neben dem Gleis her, und ich wollte stehen bleiben, aber du hast meine Hand genommen, und im Traum wussten wir, dass wir den Zug im Blick behalten mussten, sonst würden wir ihn verlieren. Dem Gleis zu folgen würde uns nichts nützen. Wir hielten uns an den Händen, wir rannten, und dann bin ich aufgewacht, und es war Tag.

In eine der grauen Rettungsdecken aus der Notfalltasche gehüllt, saß er da und trank heißen Tee. Drum herum plätscherte die dunkle See. Das Boot der Küstenwache, das hundert Meter entfernt beigedreht hatte, wiegte sich mit eingeschalteten Positionslichtern in der Dünung, und fünfzehn Kilometer weiter im Norden konnte man die Scheinwerfer von Lkws sehen, die, aus New Orleans kommend, in östlicher Richtung auf der US 90 über den Fahrdamm nach Pass Christian, Biloxi und Mobile fuhren. Auf dem Tapedeck lief Mozarts zweites Violinkonzert. Die Lufttemperatur betrug sieben Grad, und es war drei Uhr siebzehn am Morgen.

Mit aufgesetzten Kopfhörern lag der Sicherungsmann, die Ellbogen aufgestützt, auf dem Bauch und beobachtete das dunkle Wasser unter ihnen. In zwölf Metern Tiefe, wo Oiler mit dem Schneidbrenner arbeitete, leuchtete das Meer ab und zu in sanftem, schwefelgelbem Schimmer auf. Western sah dem Sicherungsmann zu, pustete auf seinen Tee, trank in kleinen Schlucken davon und beobachtete die Lichter, die sich über den Fahrdamm bewegten wie langsam an einem Draht entlanggleitende Wassertropfen. Mit schwachem stroboskopischen Flirren, wenn sie hinter den Betonpfeilern dahinzogen. An der Spitze von Cat Island vorbei erhob sich auflandiger Wind, und das Wasser kabbelte leicht. Ölgeruch und von den Inseln her der kräftige Gezeitengestank von Mangroven und Salzgras. Der Sicherungsmann setzte sich auf, nahm die Kopfhörer ab und begann, in der Werkzeugkiste zu wühlen.

Wie kommt er voran?

Ganz okay.

Was will er?

Den großen Seitenschneider.

Er befestigte einen Karabiner an einer Zange, hakte den Karabiner an der Arbeitsleine fest und sah zu, wie die Zange ins Meer glitt. Er sah Western an.

Bis in welche Tiefe kann man mit Azetylen arbeiten?

Neun bis zehn Meter.

Und danach dann mit Sauerstoff.

Ja.

Der andere nickte und setzte die Kopfhörer wieder auf.

Western trank den letzten Schluck Tee, schüttelte den Bodensatz aus dem Becher, verstaute diesen wieder in seiner Tasche, griff nach seinen Flossen und streifte sie sich über. Er ließ die Decke von den Schultern gleiten, stand auf, zog den Reißverschluss seines Neoprenanzugs zu, bückte sich, hob am Gurtwerk seine Druckluftflaschen hoch und legte sie an. Er schloss das Gurtwerk und setzte seine Maske auf.

Der Sicherungsmann schob den Kopfhörer zurück. Macht es dir was aus, wenn ich den Sender wechsle?

Western hob die Maske an. Das ist ein Tape.

Macht es dir was aus, wenn ich das Tape wechsle?

Nein.

Der Sicherungsmann schüttelte den Kopf. Fliegen uns um ein Uhr morgens in der Arschkälte mit dem Hubschrauber hier raus. Möchte mal wissen, warum das so eilig war.

Soll heißen, sie sind alle tot.

Ja.

Und woher weißt du das?

Ist doch logisch.

Western schaute zum Boot der Küstenwache hinüber. In der Kabbelung des dunklen Wassers verzerrte sich die Form der Lichter. Er sah den Sicherungsmann an. Logisch, sagte er. Genau.

Er zog seine Handschuhe an. Der weiße Strahl des Suchscheinwerfers huschte übers Wasser und wieder zurück und erlosch dann. Er legte seinen Gürtel an, hakte ihn zu, schob sich das Mundstück des Lungenautomaten in den Mund, zog die Maske herunter und stieg ins Wasser.

Sank durch die Dunkelheit langsam auf das unregelmäßige Aufflammen des Schneidbrenners unten zu. Er erreichte das Höhenleitwerk, ließ sich auf den Rumpf sinken, drehte sich und fuhr, während er langsam daran entlangschwamm, mit der behandschuhten Hand über das glatte Aluminium. Die kleinen Wülste der Nieten. Wieder flammte der Schneidbrenner auf. Die Form des Rumpfes verlor sich im Dunkeln. Mit leichtem Flossenschlag bewegte er sich an den wuchtigen Gondeln der Zweistromtriebwerke vorbei und ließ sich an der Seite des Rumpfs in den Lichtkreis hinabsinken.

Oiler hatte den Verriegelungsmechanismus weggeschnitten, und die Tür stand offen. Er befand sich knapp dahinter und kauerte an der Trennwand. Er machte eine auffordernde Kopfbewegung, Western schob sich in die Tür, und Oiler leuchtete mit seiner Lampe den Mittelgang entlang. Die auf ihren Plätzen sitzenden Menschen, ihr schwebendes Haar. Die Münder offen, die Augen bar jeder Spekulation. Der Arbeitskorb stand bei der Tür auf dem Boden, und Western griff hinein, nahm sich die andere Tauchlampe und zog sich in das Flugzeug.

Langsam schwamm er über den Sitzen durch den Passagierraum, seine Druckluftflaschen schleiften an der Decke entlang. Die Gesichter der Toten nur Zentimeter entfernt. Alles, was aufschwimmen konnte, hing an der Decke. Stifte, Kissen, Styropor-Kaffeebecher. Papierblätter, auf denen die Tinte zu hieroglyphischen Schlieren zerlief. Immer beklemmendere Klaustrophobie. Er vollführte eine Rolle, wendete und schwamm zurück.

Oiler schwamm mit seiner Lampe außen am Rumpf entlang. Das Licht bildete eine Corolla im Zwischenraum des Doppelglases. Western schwamm nach vorn und schob sich ins Cockpit.

Der Co-Pilot war noch auf seinem Sitz festgeschnallt, doch der Pilot schwebte wie eine überdimensionale Marionette mit herabhängenden Armen und Beinen oben an der Decke. Western ließ den Lampenstrahl über die Instrumente gleiten. Die Zwillings-Schubhebel in der Mittelkonsole waren ganz nach hinten in die Aus-Position gezogen. Die Anzeigen waren analog und aufgrund der vom Meerwasser ausgelösten Kurzschlüsse in ihre Ausgangsstellungen zurückgekehrt. Die Instrumententafel zeigte eine viereckige Lücke, wo ein Teil der Bordelektronik entfernt worden war. Wie an den Löchern erkennbar, hatten sechs Schrauben es festgehalten, und aus der Öffnung hingen drei Klinkenstecker herunter, wo man die Kabel abgezogen hatte. Western stemmte die Knie gegen die Rückenlehnen der Sitze zu beiden Seiten. Gute Heuer-Armbanduhr mit Stahlgehäuse am Handgelenk des Co-Piloten. Er musterte die Instrumententafel. Was fehlte?

Kollsman-Höhenmesser, Steig- und Sinkgeschwindigkeitsmesser. Treibstoff in Pfund. Fahrtmesser auf null. Ansonsten Collins-Avionik. Es war die Navigationsanzeige. Er schob sich rückwärts aus dem Cockpit. Die Luftblasen aus dem Lungenautomaten reihten sich über ihm an der Deckenwölbung auf. Er hatte an jeder nur denkbaren Stelle nach dem Pilotenkoffer gesucht, und er war sich ziemlich sicher, dass er nicht da war. Er schob sich zur Tür hinaus und sah sich nach Oiler um. Der schwebte über der Tragfläche. Er beschrieb mit einer Hand eine Kreisbewegung, zeigte nach oben und stieß sich in Richtung Wasseroberfläche ab.

Sie saßen an Deck des Schlauchboots, nahmen ihre Masken ab, spuckten das Mundstück ihrer Lungenautomaten aus, lehnten sich nach hinten gegen die Druckluftflaschen und lockerten das Gurtwerk. Auf dem Tapedeck lief Creedence Clearwater. Western holte seine Thermosflasche heraus.

Wie spät ist es?, fragte Oiler.

Vier Uhr zwölf.

Er spuckte aus und wischte sich mit dem Handrücken die Nase. Er beugte sich an Western vorbei und drehte die Ventile der Sauerstoffflaschen zu. Ich hasse so einen Scheiß, sagte er.

Was, Leichen?

Na ja, das auch. Aber nein. Scheiß, der keinen Sinn ergibt. Aus dem man nicht schlau wird.

Ja.

Die nächsten zwei Stunden kreuzt hier draußen niemand auf. Oder drei. Was willst du machen?

Was ich machen will, oder was ich glaube, was wir machen sollten?

Ich weiß nicht. Wie erklärst du dir denn das Ganze?

Gar nicht.

Oiler streifte sich die Handschuhe ab, öffnete den Reißverschluss seiner Tauchtasche und holte seine Thermosflasche heraus. Er nahm den Plastikbecher davon ab, schraubte den Deckel auf, goss etwas in den Becher und pustete hinein. Der Sicherungsmann zog die Arbeitsleine und den Korb herauf.

Man kann das verdammte Flugzeug nicht mal sehen. Und irgendein Fischer soll es gefunden haben? Das ist doch Quatsch.

Du glaubst nicht, dass die Lichter noch eine Zeit lang gebrannt haben könnten?

Nein.

Hast wahrscheinlich recht.

Oiler trocknete sich an einem Handtuch aus seiner Tasche die Hände ab, nahm seine Zigaretten und sein Feuerzeug heraus, klopfte eine Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie an und blickte auf das schwarze, kabbelige Wasser hinaus. Die sitzen alle einfach auf ihren Plätzen? Was zum Geier ist das denn?

Ich würde sagen, sie müssen schon tot gewesen sein, als das Flugzeug untergegangen ist.

Oiler rauchte und schüttelte den Kopf. Ja. Und kein Ölteppich.

In der Instrumententafel fehlt eine Anzeige. Und der Koffer des Piloten fehlt auch.

Ja?

Du weißt, wer das war, oder?

Nein. Wer denn?

Aliens.

Leck mich am Arsch, Western.

Western lächelte.

Was meinst du, was für eine Reichweite so ein Ding hat?

Die Jet Star?

Ja.

Wahrscheinlich so um die dreieinhalbtausend Kilometer. Wieso?

Weil man sich fragen muss, wo sie hergekommen ist.

Ja. Sonst noch was?

Ich glaube, die sind schon ein paar Tage da unten.

Scheiße.

Sie sehen nicht mehr allzu gut erhalten aus. Wie lange dauert es, bis Leichen nach oben kommen?

Ich weiß nicht. Zwei, drei Tage. Hängt von der Wassertemperatur ab. Wie viele sind es denn?

Sieben. Plus der Pilot und der Co-Pilot. Insgesamt neun.

Was willst du machen?

Nach Hause gehen und mich hinhauen.

Oiler pustete auf seine Tasse und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Ja, sagte er.

Der Sicherungsmann hieß Campbell. Er musterte Western und sah Oiler an. Muss ziemlich hässlicher Scheiß sein da unten, sagte er. Macht euch das nichts aus?

Willst du mal runter und es dir ansehen?

Nein.

Nur zu. Ich mache den Sicherungsmann für dich. Western geht mit, wenn du willst.

Du verscheißerst mich.

Ich verscheißere dich nicht.

Ich gehe jedenfalls nicht.

Das weiß ich. Aber wenn du nicht gesehen hast, was wir gesehen haben, solltest du dich vielleicht ein bisschen zurückhalten, ehe du uns erzählst, wie es uns dabei zu gehen hat.

Campbell sah Western an. Western hielt seinen Becher schräg. Mann, Oiler. So hat er es doch nicht gemeint.

Tut mir leid. Die Sache ist die, ich kann mir einfach nicht zusammenreimen, wie das Flugzeug da unten hingekommen ist. Und jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, was alles nicht stimmt, wird die Liste länger.

Ganz deiner Meinung.

Vielleicht kann ja der gute Doktor Western hier so was wie eine Erklärung liefern.

Western schüttelte den Kopf. Der gute Doktor Western hat keine Ahnung.

Ich weiß noch nicht mal, was wir hier draußen eigentlich machen.

Ich weiß. Das Ganze stimmt hinten und vorne nicht.

Wie lange noch, bis es Tag wird, zwei Stunden?

Ja. Anderthalb vielleicht.

Ich hole die jedenfalls nicht rauf.

Ich auch nicht.

Überlebende. So ein Scheiß.

Die Gesichter beschattet, saßen sie auf dem Schlauchboot, das sich in der Dünung wiegte und neigte. Oiler bot die Thermosflasche an. Willst du was davon, Gary?

Nein, lass nur.

Komm schon. Es ist heiß.

Na gut.

Ich habe überhaupt keine Schäden gesehen.

Ja. Es sieht aus wie frisch aus der Fabrik.

Wer stellt sie her? Die Dings, die Jet Star?

Jet Star, ja. Lockheed.

Tja. Tolles Flugzeug. Vier Triebwerke? Wie schnell fliegt so ein Ding, Bobby?

Western kippte die Teeblätter aus und schraubte den Deckel wieder auf die Thermosflasche. Bestimmt so um die neunhundert Stundenkilometer.

Verdammt.

Oiler nahm den letzten Zug von seiner Zigarette und schnipste sie ins Dunkel. Du hast noch nie Leichen raufgeholt, oder?

Nein. Ich habe mir einfach gedacht, alles, was du nicht gern tust, mag ich vermutlich auch nicht.

Man holt sie mit einem Seil und einem Geschirr rauf, aber zuerst muss man sie mal aus dem Flugzeug rauskriegen. Sie wollen ständig die Arme um einen legen. Wir haben mal vor der Küste von Florida dreiundfünfzig aus einer Douglas-Linienmaschine raufgeholt, und das hat mir gereicht. Das war, bevor ich für Taylor gearbeitet habe. Die hatten schon ein paar Tage da unten gelegen, und das Wasser dort, das wollte man garantiert nicht in den Mund kriegen. Die waren alle in ihren Kleidern aufgebläht, und man musste sie von den Gurten losschneiden. Kaum hatte man sie los, sind sie mit ausgestreckten Armen aufgestiegen. So wie Zirkusballons.

Die hier sehen nicht wie Manager-Typen aus.

Meinst du? Sie haben Anzüge an.

Ich weiß. Aber nicht die richtige Art von Anzügen. Ihre Schuhe sehen europäisch aus.

Aha. Keine Ahnung. Ich habe seit zehn Jahren keine ordentlichen Schuhe mehr angehabt.

Was willst du machen?

So schnell wie möglich von hier verschwinden. Wir müssen duschen.

In Ordnung.

Wie spät ist es?

Vier Uhr sechsundzwanzig.

Die Zeit vergeht wie im Flug, wenn man Spaß hat.

Wir können uns auf dem Kai mit dem Schlauch abspritzen, wenn wir zurückkommen. Unsere Anzüge ausspülen.

Ich werde mich rarmachen, Bobby. Hierher komme ich nicht zurück.

In Ordnung.

Du glaubst, dass vor uns schon jemand da unten war, stimmt’s?

Ich weiß es nicht.

Ja. Aber das ist keine Antwort. Wie wären die in das Flugzeug reingekommen? Die hätten dazu genau wie wir einen Schneidbrenner gebraucht.

Vielleicht hat sie jemand reingelassen.

Oiler schüttelte den Kopf. Verdammt, Western. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit dir rede. Du jagst mir immer bloß einen Heidenschrecken ein. Gary, wirfst du mal den Motor an?

Alles klar.

Western verstaute die Thermosflasche in seiner Tauchtasche. Sonst noch was?

Ich sag dir, was sonst noch. Ich glaube, ich verspüre den tiefen und dauerhaften Wunsch, komplett unwissend zu bleiben, was diesen Scheiß angeht, der mir nichts als Schwierigkeiten bringen wird. Ich würde sagen, dieser Wunsch kommt einer Religion schon verdammt nahe.

Gary hatte sich ans Heck des Schlauchboots verfügt. Western und Oiler lichteten die beiden Anker, und Gary stemmte einen Fuß auf den Heckbalken und riss am Starterseil. Der große Johnson-Außenborder sprang sofort an, und sie tuckerten dahin, bis sie sich ein ganzes Stück von dem orangefarbenen Schwimmkörper entfernt hatten, dann gab Gary Gas, und sie hielten über das dunkle Wasser auf Pass Christian zu.

Flussabwärts vor Topp und Takel laufend ein alter Schoner. Schwarzer Rumpf, goldene Kiellinie. Unter der Brücke hindurch und weiter am grauen Flussufer entlang. Phantom voller Anmut. Vorbei an Lagerhaus und Pier, den hohen Portalkränen. Den am Algiers-Ufer festgemachten liberianischen Frachtern. Auf dem Fußgängerweg waren ein paar Leute stehen geblieben, um ihn sich anzuschauen. Ein Ding aus einer anderen Zeit. Western überquerte die Gleise, ging die Decatur Street hinauf zur St. Louis und dann die Chartres Street entlang. Beim Napoleon House begrüßte ihn von den kleinen, vor der Tür aufgestellten Tischen aus die alte Clique. Vertraute aus einem anderen Leben. Wie viele Geschichten beginnen so?

Squire Western, rief Long John. Aus den unergründlichen Tiefen aufgetaucht, nicht wahr? Komm und leiste uns bei einem Trunk Gesellschaft. Die Sonne steht schon über der Rah, wenn ich mich nicht grausam irre.

Er zog einen der kleinen Bugholzstühle heran und stellte seine grüne Tauchtasche auf den Fliesen ab. Bianca Pharaoh beugte sich zu ihm und lächelte. Was hast du da in der Tasche, Süßer?

Er geht auf Reisen, sagte Darling Dave.

Unsinn. Der Squire verlässt uns nicht. Ober.

Das ist bloß meine Ausrüstung.

Es ist bloß seine Ausrüstung, sagte Brat zum Tisch als Ganzes.

Count Seals wandte sich ihm träge zu. Es ist seine Tauchausrüstung, sagte er. Er ist Taucher.

Ooh, sagte Bianca. Das gefällt mir aber. Lass mich mal reinschauen. Irgendwas Abartiges dabei?

Der Mann arbeitet in Gummikleidung, was erwartest du denn? Hier, mein Guter. Eine Flasche vom Stärksten für meinen Freund.

Der Kellner entfernte sich. Auf dem Bürgersteig zogen die Touristen vorbei. Fetzen ihrer leeren Gespräche hingen in der Luft wie Codefragmente. Unter den Füßen das langsame, rhythmische Wummern einer Pfahlramme von irgendwo am Flussufer. Western betrachtete seinen Gastgeber. Wie ist es dir ergangen, John?

Mir geht es gut, Squire. Ich war eine Zeit lang fort. Ein kleines Missgeschick mit den Behörden bezüglich der Echtheit einiger ärztlicher Rezepte.

In zwanglosem Ton schilderte er seine Abenteuer. Blöcke mit gefälschten Rezepten aus einer Druckerei in Morristown, Tennessee. Echte Ärzte, die Telefonnummern allerdings ersetzt durch Nummern von Telefonzellen auf Supermarktparkplätzen. Die Freundin ein paar Meter entfernt in einem geparkten Wagen. Ja. Das ist richtig. Seine Mutter ist im Endstadium. Ja. Dilaudid. 16 Milligramm, 100 Stück. Das Ganze drei Wochen lang in den Kleinstädten der südlichen Appalachen, dann Auf-und-ab-Tigern in einem Zimmer im Hilltop Motel am Kingston Pike in Knoxville. Das Zimmer bezahlt mit einer geklauten Kreditkarte. Auf den Kontakt warten. Ein halber Schuhkarton voller Narkotika der Kategorie II mit einem Straßenverkaufswert von über hunderttausend Dollar. Wegen der Hitze hatte er sich nackt ausgezogen und trug beim Auf-und-ab-Tigern nichts als ein Paar Straußenlederstiefel und einen breitkrempigen schwarzen Borsalino. Rauchte seine letzte Montecristo. Es wurde fünf. Dann sechs. Endlich ein Klopfen an der Tür. Er riss sie auf. Wo zum Teufel habt ihr denn so lange gesteckt?, fragte er. Aber er starrte in den Lauf eines 38er-Dienstrevolvers, und gleich daneben stand eine Absicherung mit einer Repetierschrotflinte. Der TBI-Agent hielt seine Marke hoch. Musterte diesen großen und völlig nackten Straftäter von Kopf bis Fuß. Alter Kumpel, sagte er. Wir waren so schnell hier, wie wir nur konnten.

Du bist auf Kaution draußen, sagte Western.

Ja.

Ich dachte, dann dürftest du den Staat nicht verlassen?

Strenggenommen ja. Aber ich bin sowieso nur ein paar Tage hier. Falls dich das beruhigt. Das alte Kaff ging mir langsam auf die Nerven. Als sie mich endlich rausgelassen haben, bin ich nach Hause, habe geduscht und mich umgezogen und war auf dem Weg die Jackson Avenue runter, mal sehen, ob ich einen Drink schnorren konnte, und da bin ich einer alten Freundin in die Arme gelaufen. Nanu, John, sagt sie, bist du das? Dich habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wo hast du denn gesteckt? Und ich: Meine Liebe, ich habe im Kerker geschmachtet. Und sie: Wirklich? Weißt du, meine Schwester hat einen Jungen aus Winston-Salem geheiratet. Und da dachte ich bei mir: Ich muss wirklich raus aus dieser Stadt.

Western lächelte. Der Kellner brachte das Bier, stellte es auf den Tisch und entfernte sich. Salud. Sie tranken. Brat besprach sich mit Darling Dave. Suchte Rat. In diesem Traum, sagte er, bin ich durch ein Fenster eingestiegen und habe eine alte Frau, die im Bett lag, mit einem Fleischhammer bewusstlos geschlagen. Sie hatte ein Waffelmuster auf dem Kopf.

Dave wischte etwas Unsichtbares vom Tisch. Du brauchst Hilfe, sagte er.

Was?

Es kann sein, dass dein Körper etwas braucht, was er nicht kriegt.

Es geht immer um Freiheit, sagte Bianca. Dass man diesen ganzen Ballast abwirft. Zum Beispiel, wenn dein Papa im Sterben liegt.

Seals regte sich. Er war ein Vogelfreund. In seinem Badezimmer traten brütende Raubvögel mit Kapuzen wie Henker missmutig von einem Bein aufs andere. Ein Würgfalke. Ein Lannerfalke.

Dein Papagei?, fragte er.

Bianca tätschelte ihm das Knie. Ich liebe dich, sagte sie.

Einige von ihnen auf Arbeitssuche. John gestikulierte mit seinem Glas. Brat hätte um ein Haar eine Stelle bekommen, sagte er. Aber natürlich hat sich im letzten Moment alles zerschlagen.

Ich hab’s vermasselt, sagte Brat. Irgendwas ist über mich gekommen. Der Blödmann hat unentwegt von dieser Firmenpolitik und jener Firmenpolitik gequatscht. Schließlich hat er gesagt: Und noch etwas. Wir achten hier nicht auf die Zeit. Und ich habe gesagt: Also, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, diese Worte aus Ihrem Mund zu hören. Ich habe nämlich schon mein Leben lang die Angewohnheit, zu fast allem bis zu einer Stunde zu spät zu kommen.

Was hat er gesagt?

Er ist irgendwie still geworden. Er ist noch eine Zeit lang sitzen geblieben, dann ist er aufgestanden und rausgegangen. Dabei war es sein Büro. Nach einer Weile ist die Sekretärin reingekommen und hat gesagt, das Gespräch wäre vorbei. Ich habe sie gefragt, ob ich den Job gekriegt hätte, und sie hat gesagt, das glaubt sie nicht. Sie hat irgendwie nervös gewirkt.

Hast du schon eine andere Wohnung gefunden?

Noch nicht.

Was ist mit der Anklage wegen Brandstiftung?

Die haben sie fallenlassen. Sie haben welche von den Katzen gefunden.

Katzen?

Katzen. Ja. Das Problem war, das Feuer ist an ungefähr sechs verschiedenen Stellen ausgebrochen, und das hat die misstrauisch gemacht, aber dann haben sie eine Katze nach der anderen gefunden. Dann mussten sie nur noch zwei und zwei zusammenzählen.

Die Katzen haben eine Dose von meinem Farbverdünner umgeworfen, sagte Bianca. Dann haben sie sich darin herumgewälzt. Dann haben sie sich alle unter das Heizgerät verzogen und Feuer gefangen. Und dann sind sie durch das ganze Atelier gerannt.

Katzen.

Kätzchen. Du weißt schon, Katzenjunge. Mit beiden Händen verdeutlichte sie die Größe. Ich habe gesagt, warum sollte ich meine eigene Wohnung anzünden? Und wir haben sie doch sowieso bloß gemietet, Herrgott noch mal. Wie soll man denn da kassieren? Eigentlich hätte jeder darauf kommen müssen, dass die Katzen gebrannt haben. Was haben die denn gedacht, dass die Viecher einfach rumsitzen und darauf warten, dass es zu brennen anfängt, damit sie sich in die Flammen werfen können? Offensichtlich haben die Katzen zuerst Feuer gefangen, und damit ging das Ganze los. Die sind einfach so scheißdämlich.

Die Katzen?

Nein, nicht die Katzen. Die scheiß Versicherungsheinis.

Es war ziemlich lustig, sagte Brat. Als der Gerichtsdiener die Hand gehoben hat, um sie zu vereidigen, hat sie ihn abgeklatscht. Ich glaube nicht, dass die das schon mal erlebt haben.

Ich vermute, die genetische Veranlagung variiert je nach Rasse, sagte John, aber in jedem Fall scheint die Neigung zur Selbstverbrennung in der Tat ein bekannter Faktor der Felidengleichung zu sein. Vermerkt in den Schriften des Asklepius, neben anderen Klassikern.

Du lieber Himmel, sagte Seals.

Das scheint dann allerdings Unamuno zu widersprechen. Richtig, Squire? Seinem Diktum, dass Katzen mehr argumentieren, als sie jammern? Natürlich ist laut Rilke schon ihre bloße Existenz vollkommen hypothetisch.

Die der Katzen?

Die der Katzen.

Western lächelte. Er trank. Ein kühler, sonniger Tag in der alten Stadt. Das Mittags- und frühe Winterlicht matt auf der Straße.

Wo ist Willy V.?

Er hat seine Staffelei am Jackson Square aufgestellt. Hofft natürlich, sein Gekleckse an die Touristen verhökern zu können. Er und sein falber Hund.

Das Vieh wird irgendeinen Touristen in den Hintern beißen, und er landet vor Gericht.

Oder im Gefängnis.

Long John hatte sich darangemacht, eine große schwarze Zigarre auszuwickeln. Er biss das Ende ab, spuckte es aus, rollte die Zigarre über die Zunge, klemmte sie sich zwischen die Zähne und griff nach einem Streichholz. Ich habe einen Traum von dir gehabt, Squire.

Einen Traum, sagst du.

Ja. Ich habe geträumt, dass du in deinen mit Blei beschwerten Schuhen über den Meeresboden gewandert bist. In der Finsternis dieser bathypelagischen Tiefen Gott weiß was gesucht hast. Als du am Rand der Nazca-Platte angekommen bist, leckten aus dem Abgrund Flammen herauf. Die See kochte. In meinem Traum kam es mir vor, als wärst du auf den Schlund der Hölle gestoßen, und ich dachte, du würdest ein Seil zu deinen Freunden hinunterlassen, die dir vorausgegangen waren. Hast du aber nicht.

Er riss das Streichholz knisternd über die Unterseite des Tischs und widmete sich dem Anzünden seiner Zigarre.

Wo tauchst du denn so?, fragte Bianca.

Nicht da, wo du denkst, Liebling, sagte Dave.

Er taucht überall da, wo es geht, sagte Seals, rappelte sich ein Stück weit auf und legte eine Faust auf den Tisch. Überall.

Ich bin Bergungstaucher, sagte Western.

Und was birgst du so?

Alles, wofür wir angeheuert werden. Alles, was so untergegangen ist.

Schätze?

Nein. Eher kommerzielles Zeug. Frachten.

Was ist das Schrägste, was man je von dir verlangt hat?

Du meinst, in nichtsexueller Hinsicht?

Ich habe gleich gewusst, dass ich ihn mag.

Ich weiß nicht. Da muss ich drüber nachdenken. Bekannte von mir haben mal eine Ladung Fledermausscheiße raufgeholt.

Hast du das gehört?, sagte Seals. Fledermausscheiße.

Wie bist du denn dazu gekommen?

Frag lieber nicht, meine Liebe, sagte John. Das willst du nicht wissen. Dass er insgeheim hofft, in der Tiefe zu sterben, um für seine Sünden zu büßen. Und das ist erst der Anfang.

Oh, das wird ja richtig interessant.

Freu dich nicht zu früh. Vielleicht hast du eine gewisse Zurückhaltung bei unserem Freund bemerkt. Es stimmt zwar, dass er gegen hohe Bezahlung gefährliche Unterwasserarbeit verrichtet, aber es stimmt auch, dass er sich vor den Tiefen fürchtet. Na gut, sagst du. Er hat seine Ängste überwunden. Keineswegs. Er lässt sich in eine Dunkelheit sinken, die er gar nicht begreifen kann. Dunkelheit und lähmende Kälte. Ich rede gern über ihn, ganz im Gegensatz zu ihm selbst. Bestimmt möchtest du das mit der Sünde und der Buße genauer wissen. Allermindestens das. Er ist ein attraktiver Mann. Frauen wollen ihn retten. Aber da ist natürlich nichts mehr zu machen. Was sagst du, Squire? Wie weit liege ich daneben?

Phantasiere ruhig weiter, Sheddan.

Ich glaube, ich lasse es dabei bewenden. Ich weiß, was du denkst. Du siehst ein riesiges, unstrukturiertes und haltloses Ego in mir. Aber, und das sage ich in aller Offenheit, ich kann nicht im Entferntesten den Grad von Selbstüberhebung beanspruchen, über den der Squire verfügt. Und mir ist durchaus bewusst, dass das seinen Ansichten eine gewisse Gültigkeit verleiht. Immerhin bin ich lediglich ein Feind der Gesellschaft, er dagegen ist ein Feind Gottes.

Wow, sagte Bianca. Mit gierigem Blick wandte sie sich Western zu. Was hast du getan?

Sheddans hagere Wangen höhlten sich, als er an der Zigarre zog. Er blies den duftenden Rauch über den Tisch und lächelte. Eines hat der Squire nie verstanden, nämlich dass Vergebung ein Verfallsdatum hat. Während es für Rache niemals zu spät ist.

Western trank den letzten Schluck Bier und stellte den Krug auf den Tisch. Ich muss los, sagte er.

Bleib, sagte Sheddan. Ich nehme alles zurück.

Kommt nicht infrage. Du weißt doch, wie ich dein Geschwätz genieße.

Du bist nicht etwa unterwegs zu einem deiner Jobs in Übersee, oder?

Nein. Ich bin auf dem Weg nach Hause ins Bett.

Kommst gerade von der Nachtschicht, ja?

Das trifft es ziemlich genau. Bis dann.

Er griff nach seiner Tasche, stand auf, nickte der Gesellschaft zu und machte sich, die Tasche über der Schulter, die Bourbon Street entlang auf den Weg.

Dein Freund gefällt mir, sagte Bianca. Hübscher Hintern.

Da wirst du nicht fündig, meine Liebe.

Wieso? Ist er schwul?

Nein. Er ist verliebt.

Schade.

Es kommt noch schlimmer.

Inwiefern?

Er ist in seine Schwester verliebt.

Wow. Gehört er zu diesen feinen Pinkeln, die sonntagsmorgens immer hier aufkreuzen?

Nein. Er ist aus Knoxville. Und schon wieder kommt es noch schlimmer. Eigentlich ist er nämlich aus Wartburg, Tennessee.

Wartburg, Tennessee.

Ja.

So einen Ort gibt es nicht.

Leider doch. Er liegt in der Nähe von Oak Ridge. Der Job seines Vaters war die Konstruktion und Herstellung gewaltiger Bomben, die dazu dienten, ganze Großstädte voller unschuldiger Menschen zu verbrennen, während sie in ihren Betten schliefen. Ausgeklügelte und handgefertigte Dinger. Jede einzelne ein Unikat. Wie klassische Bentleys. Western selbst habe ich an der Universität kennengelernt. Das heißt, zum ersten Mal gesehen habe ich ihn eigentlich im Club Fifty-Two draußen am Asheville Highway. Er stand oben auf der Bühne und hat in der Band Mandoline gespielt. Bluegrass. Bis dahin war ich ihm noch nicht begegnet, aber ich wusste, wer er war. Er hat Mathematik studiert, mit Noten weit über dem Durchschnitt. Jemand an unserem Tisch hat ihn hergebeten, und wir sind ins Gespräch gekommen. Ich habe ihm gegenüber Cioran zitiert, und er hat zum gleichen Thema mit einem Zitat von Plato geantwortet. Und er hatte diese schöne Schwester. Vierzehn war sie, glaube ich. Und die hat er in diese Clubs mitgenommen. Sie waren ein Paar und haben kein Geheimnis daraus gemacht. Und sie war sogar noch klüger als er. Und ganz einfach umwerfend schön. Ein richtiger Feger. Er hat ein Stipendium für das Cal Tech bekommen, ist dorthin gegangen und hat Physik studiert, aber nie seinen Doktor gemacht. Er ist zu Geld gekommen und nach Europa gegangen, um Autorennen zu fahren.

Er hat Rennwagen gefahren?

Ja.

Was für welche?

Keine Ahnung. Diese kleinen Dinger, mit denen sie da drüben Rennen fahren. Als er auf der High School war, ist er auf dem Atomic Speedway in Oak Ridge Sandbahnrennen gefahren. Anscheinend war er ziemlich gut darin.

Er ist Formel zwei gefahren, sagte Dave. Er war gut, nur eben nicht gut genug.

Ja. Na ja. Eingebracht hat es ihm jedenfalls eine Metallplatte im Kopf. Einen Metallstift in einem Bein. Er humpelt leicht. Trotzdem, es kann natürlich auch einfach übles Pech gewesen sein. Ich glaube, er muss ein ziemlich guter Fahrer gewesen sein. Die schnallen dich nicht in so einem Ding fest, wenn du nicht fahren kannst, ganz egal wie viel Geld du hast.

Hat er das Geld immer noch?

Ich habe darauf gewartet, dass du das fragst. Nein. Er hat alles verjubelt.

Und die ganze Zeit seine Schwester gevögelt.

Das ist meine wohlerwogene Meinung.

Mich wundert, dass du ihn nie gefragt hast.

Ich habe ihn gefragt.

Und was hat er gesagt?

Er hat es nicht sehr gut aufgenommen. Hat es natürlich abgestritten. Er hält mich für einen Psychopathen, und damit könnte er durchaus recht haben. Die Geschworenen beraten noch. Aber er ist ein geradezu lehrbuchmäßiger Narziss von der heimlichen Sorte, und hinter seinem bescheidenen Lächeln verbirgt sich ein Ego, so groß wie die Innenstadt von Cleveland.

Mir kam er furchtbar brav vor. Ich habe mich gefragt, woher diese Bande hier ihn überhaupt kennt.

Der Lange sah sie an. Brav? Du machst wohl Witze.

Was hat er denn noch getan?

Was noch? Gott. Der Mann ist ein Verführer von Prälaten und ein Verderber des Richterstandes. Er ist ein gewohnheitsmäßiger Briefdurchleuchter und praktizierender Gelignitionär, ein mathematischer Platoniker und ein Schänder von Hausgeflügel. Vorwiegend der Glaubensrichtung der Dominikaner. Ein Hühnerficker, um es ohne Umschweife zu sagen.

John?

Was?

Du beschreibst dich gerade selbst.

Ich? Keineswegs. Das ist doch Unsinn. Eine Eiderente vielleicht. Ein einziges Mal.

Eine Eiderente?

Die sogenannte Brautente. Somateria mollissima, glaube ich.

Meine Güte.

Ein kleines Kavaliersdelikt verglichen mit den Ungeheuerlichkeiten, die man diesem Mann zu Recht vorwirft. Von Federviehklagen geplagte Träume. Unruhe auf der Stange, ein Gegacker. Dann das darauffolgende Flügelschlagen, das Gekreische. Es ist ernüchternd. Bloß seine Liste täglich zu erledigender Dinge. Wäsche von der Reinigung abholen. Mutter anrufen. Hühner ficken. Mich wundert, dass eine Frau von Welt wie du sich so leicht täuschen lässt.

Er zog nachdenklich an seiner Zigarre. Schüttelte fast traurig den Kopf. Trotzdem sind sie wohl möglicherweise bereit, diese Erniedrigungen zu ertragen, wenn das bedeutet, zur elften Stunde dem Ausbeinmesser des Geflügelhändlers entrissen zu werden. Und natürlich erhebt sich die Frage, ob es sich schickt, sie hinterher zu essen. Das islamische Recht ist in diesem Punkt ganz eindeutig, wenn ich mich nicht irre. Es wäre in der Tat Unrecht. Aber dein Nachbar darf sie essen. Angenommen, er hat Lust darauf. Die abendländische Kirche, glaube ich, schweigt sich zu der Frage aus.

Das kannst du unmöglich ernst meinen.

Und ob ich das ernst meine.

Bianca lächelte. Sie nahm einen Schluck von ihrem Drink. Verrate mir eins, sagte sie.

Natürlich.

Produziert Knoxville Verrückte, oder zieht es sie bloß an?

Interessante Frage. Anlage und Umwelt. Tatsächlich scheinen die stärker Umnachteten unter ihnen aus dem umliegenden Hinterland zu stammen. Gute Frage allerdings. Ich komme irgendwann darauf zurück.

Mir kam er jedenfalls sehr nett vor.

Er ist sehr nett. Ich bin ihm überaus zugetan.

Aber er ist in seine Schwester verliebt.

Ja. Er ist in seine Schwester verliebt. Aber es kommt natürlich noch schlimmer.

Bianca lächelte ihr eigenartiges Lächeln und leckte sich die Oberlippe. Okay. Er ist in seine Schwester verliebt und …?

Er ist in seine Schwester verliebt, und sie ist tot.

Er schlief bis zum Abend, dann stand er auf, duschte, zog sich an und ging aus dem Haus. Er spazierte die St. Philip Street hinunter zum Seven Seas. Auf der Straße parkte mit laufendem Motor ein Krankenwagen, am Bürgersteig zwei Streifenwagen. Leute standen herum.

Was ist passiert?, fragte Western.

Irgendein Typ ist abgekratzt.

Was ist passiert? Jimmy?

Es ist Lurch. Er hat den Gashahn aufgedreht. Sie bringen ihn jetzt runter.

Wann? Letzte Nacht?

Keine Ahnung. Wir haben ihn seit ein, zwei Tagen nicht mehr gesehen.

Harold Harbenger schaute Jimmy über die Schulter. Wir haben ihn nicht gesehen, weil er tot war. Deswegen hat er sich nicht blicken lassen.

Zwei Sanitäter kamen mit der Trage heraus. An der Schwelle hoben sie sie an und rollten sie auf die Straße. Sie hatten eine graue Decke über Lurch gebreitet.

Hier kommt er, und da geht er, sagte Harold.

Er liegt ganz bestimmt da drunter. Da kannst du Gift drauf nehmen.

Wir haben das Gas gerochen. Heute Morgen war der Geruch richtig stark.

Er hatte sämtliche Türen und Fenster abgeklebt.

Er hat seine Socken unter die Tür gestopft. Man konnte sie draußen im Flur rausstehen sehen. Das hat ihn verraten.

Ihr habt nicht daran gedacht, mal nach ihm zu schauen?

Scheiß auf ihn. Leben und leben lassen, sage ich immer.

Da geht er, sagte Harold.