Verlorene - Cormac McCarthy - E-Book
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Cormac McCarthy

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Beschreibung

Der Klassiker als Neuausgabe. «Der legitime Nachfolger Faulkners.» (Washington Post) Knoxville/Tennessee: Anfang der fünfziger Jahre. In einem Slum am Ufer des Tennessee-Rivers lebt auf einem Hausboot Cornelius Suttree. Er ist so verloren wie seine Freunde. Eine archaische Welt im Schatten der rigiden, rassistischen Gesellschaft des amerikanischen Südens, geprägt durch Armut und brutalen Überlebenskampf. Dort ist der Tod alltäglich. Aber eigentlich steht im Mittelpunkt des Buches der Fluss, Lebensader und Styx: Suttree lebt vom Verkauf der Fische, doch allzu oft treibt eine Kinderleiche im Wasser. Im Schlamm, halb verborgen unter Giftsumach, und an den Abstürzen des Steilufers vegetieren die Außenseiter, die heroischen Überlebenskünstler; auf der anderen Seite des Flusses, hell erleuchtet und unerreichbar fern, liegt die moderne, die reiche Stadt.

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Seitenzahl: 834

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Cormac McCarthy

Verlorene

Roman

Aus dem Englischen von Hans Wolf

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

DankLieber Freund, jetzt ...Spähende Blicke hinunter ...Er kam vom ...Der Deputy hielt ...Zur Mittagsstunde erwachte ...Er suchte das ...Gleich da vorn ...Mit dem ersten ...Am Sonntag fuhr ...Nachts konnte er ...Als er durch ...Es ist kurz ...Der alte Eisenbahner ...Sie dösten bibbernd ...Zu Frühlingsbeginn zog ...Es war das ...In den ersten ...Im Huddle waren ...Betrunken und entsprechend ...Der Lumpensammler kroch ...Im Sommer seines ...Suttree sah sie ...Ende Oktober holte ...Am späten Samstag ...Im Frühling seines ...Tagelang lag er ...Billy Ray Callahan ...Er verbrachte seine ...Eine Zeit voller ...Suttree klopfte an ...Sie schraubte die ...Im Irrenhaus stinken ...Er klapperte gerade ...Schläfrige Stadt, kalt ...In diesem Frühjahr ...
[zur Inhaltsübersicht]

Der Autor dankt der American Academy of Arts

and Letters, der Rockefeller Foundation

und der Guggenheim Memorial Foundation.

[zur Inhaltsübersicht]

Lieber Freund, jetzt in den staubigen zeitlosen Stunden der Stadt, wo die Straßen schwarz daliegen und im Kielwasser der Sprengwagen dampfen, jetzt, wo die Betrunkenen und Obdachlosen in den Gassen oder auf verlassenen Grundstücken im Schutz der Mauern gestrandet sind und Katzen hochschultrig und mager durch trostloses Gelände streunen, jetzt inmitten dieser rußschwarzen Ziegel und kopfsteinigen Durchgänge, wo die Schatten der Leitungsdrähte die Kellertüren in schauerliche Harfen verwandeln, wird keine Seele gehen außer dir.

Altes Mauergestein, unbeleckt vom Wetter, in seinen Schründen geborgen fossiles Gebein, Kalksteinkäfer zerdrückt auf dem Grund dieses einstigen Binnenmeers. Dürre dunkle Bäume hinter Schmiedeeisen, dort, wo die Toten ihre eigene kleine Hauptstadt haben. Seltsame Marmorgebilde, Stele und Obelisk und Kreuz und kleine regenverwaschene Steine, wo Namen mit den Jahren verblassen. Erde, gefüllt mit Proben des Sargtischlergewerbes, staubigem Gebein und vermoderter Seide, das Sterbekleid befleckt von Verwesung. Draußen unter dem blauen Lampenlicht laufen die Straßenbahnschienen weiter in die Dunkelheit, gebogen wie Hahnenfüße im unechten Dämmer. Der Stahl strahlt die Tageshitze ab, man spürt sie durch die Schuhsohlen. Hinter den Wellblechwänden von Lagerhallen entlang, an schmalen sandigen Straßen, wo ausgeschlachtete Autos auf Hohlblocksockeln vor sich hin dämmern. Durch ein Labyrinth von Sumachgewächsen, Kermesstauden und verwelktem Geißblatt, das zu den gewellten Lehmdämmen der Eisenbahn führt. Graue Weinranken, linksdrehend in der nördlichen Hemisphäre, was sie windet, formt auch die Schale der Meeresmuschel. Unkraut, aus Schlacke und Ziegelstein sprießend. Ein Löffelbagger, in einsamer Verlassenheit zum Nachthimmel ragend. Hier hinüber. An Gleiskreuzungen und Schienenlaschen entlang, wo Lokomotiven im Dunkel des Rangierbahnhofs wie Löwen fauchen. Einer dunkleren Stadt zu, vorbei an blindgesteinigten Lampen, an rauchenden windschiefen Hütten, Porzellanbunden und bemalten Reifen, wo schmutzige Blumen wachsen. Über das Straßenpflaster, rissig vom Verfall, schleichende Katastrophe der Vernachlässigung, die Drähte, die sich von Mast zu Mast bauchen, behängt mit Drachenschnüren, mit Rafflesiablüten aus aneinandergebundenen Flaschen oder dem Spielzeug von Kleinkindern. Lager der Verdammten. Gelände vielleicht, wo schleimende Aussätzige ohne Glöckchen umherstreifen. Über der Hitze und der unwirklichen Skyline der Stadt hat sich ein Messingmond erhoben, und die Wolken zerlaufen vor ihm wie wässrige Tinte. Die an die Nacht stoßenden Gebäude gleichen einem Wall gegen eine entlegenere Welt, verlassen und sinnentleert. Landbewohner kommen meilenweit mit erdverklebten Schuhen und hocken den ganzen Tag wie stumme Statisten auf dem Marktplatz. Die Stadt, nach keiner bekannten Vorlage konstruiert, ein Architekturbastard, der einen knappen Rückblick auf die bizarren und verrückten Abwege menschlichen Bauens bietet. Ein auf der Flussebene errichteter Karneval der Formen, der über Meilen hinweg der Erde den Saft entzogen hat.

Fabrikmauern aus altem dunklem Backstein, mit Unkraut bewachsene Schienen eines Nebengleises, ein faulig bläulicher Wasserkanal, wo dunkle Schlieren namenlosen Abfalls in der Strömung schaukeln. Blechplatten zwischen dem Glas in den rostigen Fensterrahmen. Im Leuchtkörper der Straßenlaterne, dort, wo ein Stein ihn getroffen hat, klafft ein mondförmiger Riss, und aus dieser Öffnung treibt, durch die ununterbrochene Spirale emporstrebender Insekten hindurch, ein feiner und stetiger Regen der gleichen Wesen, verbrannt und leblos.

Hier an der Bachmündung reichen die Felder bis an den Fluss, ein Schlammdelta, dessen schwerer Boden angeschwemmtes Gebein und Schreckensmüll freigibt, ein Chaos aus Lattenholz, Kondomen und Obstschalen. Alte Dosen, Gläser und kaputte Haushaltsgeräte, die sich aus dem kotigen Morast des Schwemmlands erheben wie Grenzmarken in den weglosen Tälern der Dementia praecox. Eine Welt jenseits aller Phantasie, feindselig, greifbar und losgelöst, durchgebrannte Glühbirnen; die, halb durchscheinend und Schädelfarben wie gekappte Polypen, blind stromabwärts trudeln, schillernde Ölaugen und dann und wann die stinkenden Schemen gestrandeter menschlicher Föten, gedunsen wie junge Vögel, mondäugig und bläulich oder stahlgrau. Dahinter in der Dunkelheit strömt der Fluss als faulige Brühe südlichen Meeren zu, vorbei an regenplattem Mais, magerem Getreide und Flusslehmgärten von Pächtern aus dem Hinterland, mahlend wie Knochenstaub, beladen mit der Vergangenheit, irgendwie im Wasser gelösten Träumen, niemals verloren. Hausboote wiegen sich an ihren Tauen. Der niedrige Uferschlamm liegt gerippt und glitschig da wie die poröse Schwarte eines tief eingesunkenen Tieres, und dahinter wellt sich die Landschaft dem Süden und den Bergen entgegen. Wo Jäger und Holzfäller einst neben der verglimmenden Glut ihrer tausend Feuer in den Stiefeln schliefen und dann weiterzogen, alte teutonische Vorfahren, die Augen glühend vom visionären Licht einer heftigen Habgier, Welle auf Welle von Gewalttätern und Verrückten, die Gehirne vollgestopft mit spurlosen Analogien all dessen, was war, hagere Arier mit ihrem ausrangierten semitischen Volksbuch, die Dramen und Gleichnisse darin neu inszenierend, besinnungslos und bleich von einer Sehnsucht, die allein durch die völlige Wiederherstellung des Dunkels zu stillen war.

Wir sind in eine Welt innerhalb der Welt gelangt. In diesen fremden Territorien, diesen feindseligen Kloaken und öden Zwischenreichen, die der Gerechte vom Waggon oder Auto aus sieht, träumt ein anderes Leben. Verwachsen oder schwarz oder gestört, jede Ordnung fliehend, Fremde im Jedermannsland.

Die Nacht ist ruhig. Wie ein Heerlager vor der Schlacht. Die Stadt belagert von einem Unbekannten, wird er aus dem Wald oder aus dem Meer kommen? Die Mauerwächter haben die Schanze befestigt, die Tore sind geschlossen, doch siehe, der Unbekannte ist schon drinnen, ahnt man seine Gestalt? Wo er sich verbirgt oder wie viele Gesichter er hat? Ist er ein Weber, der mit blutigem Schiffchen durch ein Kettfach der Zeit fährt, ein Kämmer von Seelen aus dem Florband der Welt? Oder ein Jäger mit Hunden? Oder ziehen beinerne Pferde seinen Totenkarren die Straßen entlang? Und nennt er jedem sein Gewerbe? Lieber Freund, man darf sich nicht lange mit ihm befassen, denn eben dadurch lockt man ihn herbei.

Der Rest ist wahrhaft Schweigen. Es hat angefangen zu regnen. Leichter Sommerregen, man sieht ihn schräg fallen in den Lichtern der Stadt. Der Fluss liegt in einem Gral der Ruhe. Hier von der Brücke aus erscheint die darunter liegende Welt wie ein Geschenk der Einfachheit. Sonderbar, nichts weiter. Dort unten, in Grotten aus Licht, huscht eine Katze von Stein zu Stein, über die feuchtschwarzen, dicht an dicht gepackten Kopfsteine auf der regendunklen Straße hinweg, bis schließlich Katze und Katzenschatten im rissigen Mauerwerk dahinter verschwinden. Schwaches sommerliches Wetterleuchten weit flussabwärts. Ein Vorhang hebt sich über der westlichen Welt. Ein feiner Regen aus Ruß, toten Käfern, anonymen Knöchelchen. Das Publikum sitzt eingewoben in Staub. In den geleerten Schädelhöhlen des Gegenübers schläft eine Spinne, und die zerstörte Gliederpuppe des gehenkten Hanswurstes baumelt an den Soffitten, Knochenpendel im Narrenkleid. Vierfüßige Gestalten bewegen sich auf den Brettern hin und her. Gröbere Formen überleben.

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Spähende Blicke hinunter zum Wasser, wo die Morgensonne Lichträder formte, fächerig angeordnete Krönchen, die jeden Zweig, jedes Sedimentkorn in sich einschlossen, lange Splitter und Klingen aus Licht im staubigen Wasser, darüber hinhuschend wie Sekundenblitze, in denen Sonnenstäubchen rieselten und flirrten. Eine Hand gleitet über das Dollbord; er liegt quer im Skiff, die Spitze eines Turnschuhs lässt, wenn es leicht schaukelt, im Fluss ein Kräuseln entstehen, das Boot treibt unter der Brücke flussab, langsam an den schmutzigen Pfeilern vorbei. Unter den hohen kühlen Bögen und dunklen Nischen hindurch, wo Tauben plappern und ihr hohles Flügelschlagen als rauschender Beifall ertönt. Kurze Blicke hinauf zu diesen Gewölben mit den fossilen Knorren und pseudomorphen Nagelköpfen im grauen Beton, das Boot treibt weiter, der schräge Schatten der Brücke neigt sich über die Breite des Flusses, ein illusionäres Kopfüber wie bei alten, auf Fotoplatten verewigten Rennfahrern, deren Geschwindigkeit die Räder zu Ellipsen formt. Die Schatten legen sich über das Skiff, schmiegen sich der hingestreckten Gestalt an und wandern weiter.

Den Unterkiefer in die Armbeuge gebettet, beobachtete er müßig Oberflächenphänomene, leise zuckende Schmutzschlieren, graue Klumpen namenlosen Unrats und gelbe Kondome, die langsam aus dem Trüben herandümpelten wie ein riesenhafter Egel oder Bandwurm. Das Gesicht des Beobachters schwamm neben dem Boot, ein im Schaum waberndes Antlitz in Sepia mit flatternden Augen, eine wässrige Fratze. Ein träge gekräuselter Saum auf der Flussoberfläche, als hätte sich etwas Unsichtbares in den Tiefen gerührt und als seien kleine Gasblasen zu öligen Spektren zerplatzt.

Unter der Brücke richtete er sich vorsichtig auf, ergriff die Riemen und begann in Richtung südliches Ufer zu rudern. Dort wendete er das Skiff, steuerte das Heck in eine Weidengruppe, ging nach achtern und zog eine schwere Leine hoch, die von einem im Uferschlick steckenden Eisenrohr ins Wasser lief. Er führte die Leine durch eine am Heckbalken montierte freie Dolle. Dann setzte er das Boot, langsam rudernd, wieder in Bewegung, die Leine kam nass und glatt durch die Dolle nach oben und sank wieder zurück in den Fluss. Als er ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt war, tauchte die erste Köderfliege auf und winkelte die Leine, bis er sie aufnahm und den Köder losmachte. So ging es weiter, das Skiff drehte sich leicht gegen die Strömung, die Haken rutschten hintereinander nach oben in die Dolle, behängt mit ausgelaugten Fleischfetzen. Als er das Gewicht des ersten Fisches spürte, legte er die tropfenden Ruder ein, hielt die Leine fest und zog sie heran. Ein großer Karpfen durchbrach das Wasser, eine mattbronzen glänzende Flanke mit rauen Schuppen. Er stützte sich mit dem Knie ab, hob den Fisch ins Boot, kappte die Schnur, befestigte einen frischen Haken mit Fleischköder, warf ihn seitlich über Bord und holte, mit nur einem Riemen rudernd, die Leine weiter ein, während sich der Karpfen heftig auf den Planken wand.

Als er die Angelschnur vollständig abgefahren hatte, war er auf der anderen Seite des Flusses. Er beköderte den letzten Haken neu, ließ die schwere Leine los und beobachtete, wie sie ins trübe Wasser sank, durch eine flirrende Wolke von Sonnenstäubchen, eine gebrochene Korona, aus der einen Moment lang der letzte fahle Brocken ranzigen Fleisches aufglitzerte. Die Riemen einholend, streckte er sich wieder auf der Ruderbank aus und nahm ein Sonnenbad. Das Skiff trieb in der Strömung und schaukelte sacht. Er knöpfte sein Hemd bis zur Taille auf und legte den Unterarm vor die Augen. Unter sich hörte er das leise Schwatzen des Flusses, des behäbigen alten Flusses mit dem runzligen Gesicht. Unter dem gleitenden Wasser Geschütze und Lafetten, im Schlick steckende und vor sich hin rostende Schildzapfen, zu Schleim verfaulte Kielboote. Fabelstöre mit fünfeckigen Hornleibern, kupfermünzhelle Karpfen und Katzenwelse mit bleichen und nahtlosen Bäuchen, dicker Schlamm, durchzogen von Glassplittern, Knochen und rostigen Dosen, von Geschirrstücken mit schmutzschwarzen netzartigen Haarrissen. Jenseits des Flusses ragten grau und roh facettiert die Kalkklippen, ihre mit Gras bespannte Vorderseite zerteilte sich in schmale grüne Spalten. Wo sie über das Wasser hingen, warfen sie einen kühlen Schatten; die Oberfläche lag ruhig und dunkel da und reflektierte, wie einen kleinen Stern, die Gestalt eines Regenpfeifers, der vor der Kante des Steilufers im Aufwind schwebte. Unter der Ruderbank des Skiffes schwamm, stur und unbeirrt, ein Katzenwels und presste dabei sein breites Gesicht an den Spant.

Als er die Bachmündung passierte, hob er eine Hand und winkte bedächtig; die alten Schwarzen, geblümt und behaubt, kamen zum Vorschein wie ein vom Wind geneigter Garten, ihre Stöcke zuckten hin und her, ihre Arme stießen dunkel und ziellos in die Luft, ihre grelle exotische Tracht bauschte sich bei jeder Bewegung. Hinter ihnen stieg, verbraucht und ermattet wirkend, die Gestalt der Stadt empor, düster und qualmend vor einen Porzellanhimmel gemeißelt. Das schmutzige Ufergelände lag wellig und schimmernd in der Hitze; es herrschte völlige Stille an diesem einsamen Sommervormittag.

Unter dem Bahnviadukt machte er sich daran, seine zweite Leine einzuholen. Das Wasser fühlte sich warm an und hatte eine körnige Geschmeidigkeit wie Graphit. Genau zur Mittagsstunde war er fertig; er blieb einen Moment lang im Skiff stehen und begutachtete seinen Fang. Dann fuhr er, gemächlich rudernd, wieder flussaufwärts, während die Fische in einer schmalen grauen Bilge am Boden des Bootes zappelten, ihre weichen Bartfäden befühlten mit stumpfer Verwunderung die schlammigen Planken, und wo sie sich ins Sonnenlicht krümmten, verbleichten ihre Rücken bereits zu blutleerer Blässe. Die Messingdollen quietschten in ihren Scharnieren, das Flusswasser kräuselte sich klebrig am Bug entlang und bildete hinter dem Skiff eine Spur wie durchpflügter Morast.

Er ruderte unter den Schatten der Klippen hervor, am Kieswerk vorbei, dann an ödem und staubigem Gelände, wo Bahnschienen auf ihrem Schotterbett liefen und Güterwagen auf Abstellgleisen vor sich hin rosteten, vorüber an Lagerhallen aus verzinktem Wellblech, in flache Mulden gesetzt, die aus der ziegelfarbenen Erde herausgehauen waren; rhombische und spiralförmige Kalkbrocken ragten empor, über und über mit Schmutzflecken bedeckt, wie große ausgebleichte Knochen. Er hatte bereits zur anderen Flussseite eingeschwenkt, als er am Ufer die Bergungsboote sah. Sie kreisten im Kanal, eine kleine Menschenmenge schaute vom Flussrand aus zu. Zwei weiße Boote, leicht verschleiert von der Hitze und dem trägen blauen Rauch aus ihrem Auspuff, das leise Tuckern der Motoren drang durch die Stille über dem Fluss. Er fuhr hinüber und ruderte bis an den Rand des Kanals. Die Boote lagen inzwischen längsseits, eines hatte den Motor ausgeschaltet. Die Bergungsleute trugen Segelkappen und machten sich ernst an die Arbeit. Während der Fischer sie passierte, hievten sie einen Toten an Bord. Der Leichnam war völlig steif und sah wie eine Schaufensterpuppe aus, bis auf das Gesicht; es wirkte weich und aufgedunsen, ein irres Grinsen lag darauf, und in der Seite steckte ein Greifhaken. So zogen sie ihn an den Wangenknochen hoch, wie ein Stück Vieh. Eine bleiche unblutige Wunde. Der Tote schien hölzern zu protestieren, mit schiefgelegtem Schädel. Sie hoben ihn an Deck, wo er in seinem Kreppanzug und den zitronengelben Socken liegen blieb, mit dem Haken im Gesicht glasäugig zu den Bergungsleuten hinaufgrinsend wie ein gewaltiger, mit dem Schleppnetz eingeholter Wasserhomunkulus, den das Licht von Gottes Tag jählings getötet hat.

Der Fischer fuhr vorüber und ruderte das Skiff ein Stück von der Menge entfernt ans Ufer. Er wälzte einen Stein auf die Leine und ging wieder zurück, um zuzuschauen. Das Bergungsboot drehte bei; einer aus der Mannschaft kniete über der Leiche und versuchte das Greifeisen loszuhebeln. Die Menge sah zu, wie er schwitzend den Haken bearbeitete. Schließlich stemmte er den Fuß gegen den Schädel des Toten und zerrte ruckartig mit beiden Händen, bis der Haken sich löste und dabei ein sehniges Stück gebleichten Fleisches mitriss.

Sie brachten den Leichnam auf einer Segeltuchtrage an Land und legten ihn ins Gras, wo er mit seinen leeren Augen und seinem Lächeln zur Sonne hinaufstarrte. Schon hatte sich aus der abgestandenen Luft ein surrender Fliegenschwarm formiert. Die Bergungsleute zogen eine grobe graue Decke über den Toten. Die Füße ragten heraus.

Der Fischer wollte gerade gehen, als ihn jemand aus der Menge am Ellbogen fasste. Hey, Suttree.

Er drehte sich um. Hey, Joe, sagte er. Hast du’s gesehen?

Nee. Angeblich isser heut Nacht gesprungen. Sie ha’m seine Schuhe auf der Brücke gefunden.

Sie standen da und blickten zu dem Toten. Die Bergungsleute wickelten die Taue zusammen und kümmerten sich um ihr Gerät. Die Zuschauer hatten sich herangedrängt wie Trauernde; der Fischer und sein Freund mussten an dem Toten vorüber, als wollten sie ihm die letzte Ehre erweisen. Eine Hand über das Gras gestreckt, lag er in seinen gelben Socken da; auf der Decke krochen die Fliegen. Die Uhr trug er, einer bis heute verbreiteten Mode gemäß, an der Innenseite des Handgelenks, und im Vorbeigehen stellte Suttree mit einem undefinierbaren Gefühl fest, dass sie nicht stehengeblieben war.

Blöde Art, den Löffel abzugeben, sagte Joe.

Gehn wir.

Sie marschierten über den Schotter am Rand der Gleise. Suttree rieb sich den nachdenklich vorgeschobenen Unterkiefer, wo ein Muskel leise pulsierte.

Wo willst’n hin?, sagte Joe.

Da lang. Ich hab das Boot dabei.

Gehste immer noch fischen?

Klar.

Wieso hast’n eigentlich damit angefangen?

Keine Ahnung, sagte Suttree. Ich fand’s damals ’ne gute Idee.

Biste manchmal auch in der Stadt?

Ab und zu.

Wieso kommste abends nicht mal raus zum Corner? Dann könnten wir zusammen ’n Bier trinken.

Ich schau demnächst vorbei.

Gehste heute noch fischen?

Ja, ’n bisschen.

Joe musterte ihn. Hör mal, sagte er. Oben bei ’n Millers kannste was werden. Brother sagt, die brauchen einen, wo ordentlich zupacken kann.

Suttree sah lächelnd zu Boden und wischte sich mit dem Rücken des Handgelenks über den Mund; dann blickte er wieder auf. Na ja, sagte er. Ich glaub, ich bleib dem Fluss noch ’ne Weile treu.

Trotzdem, lass dich abends mal sehn.

Mach ich.

Die beiden hoben zum Abschied die Hand; Suttree sah dem Jungen nach, wie er die Gleise entlang und dann querfeldein in Richtung Landstraße trottete. Dann ging er hinunter zum Skiff, zog die Leine herauf, warf sie ins Boot und stieß sich wieder ab in den Fluss. Der Tote lag noch immer unter seiner Decke am Ufer; die Menge hatte sich allmählich zerstreut. Suttree ruderte los.

Er steuerte das Skiff unter die Brücke, legte die Riemen ein und begutachtete im Sitzen seine Fische. Er klaubte sich einen blauen Katzenwels heraus und hob ihn an den Kiemendeckeln hoch, wobei er den Daumen in die glatte gelbe Kehle drückte. Der Fisch zuckte kurz auf; dann regte er sich nicht mehr. Von den Rudern tropfte es in den Fluss. Suttree stieg aus dem Skiff, machte es an einem Pflock fest und stapfte mühsam das glitschige graslose Ufer hinauf zu den Bögen, wo die Brücke das Land berührte. Unter dem Betongewölbe eine düstere Höhle mit aufgehäuften Felsbrocken um den Eingang herum; der Hinweis Zutritt verboten, mit gelber Farbe in unbeholfener Schrift auf einen Findling gepinselt. In einem Steinkreis auf dem schmierigen, sonnenlosen Lehm brannte ein Feuer; ein alter Mann hockte davor. Er sah auf zu Suttree, dann blickte er wieder ins Feuer.

Ich hab dir ’n Katzenwels mitgebracht, sagte Suttree.

Der Alte murmelte etwas und machte eine Handbewegung. Suttree legte den Wels hin; der Alte schielte nach dem Fisch und stocherte dann in der Asche des Feuers. Hock dich her, sagte er.

Suttree setzte sich.

Der Alte beobachtete die dünnen Flammen. Oben rumpelte langsam und gedämpft der Verkehr. Im Feuer brutzelten Kartoffeln; blasig durchbrachen sie ihre angebrannten Schalen, wie kleine Wesen, die in der Hölle ihr Leben aushauchen. Der Alte spießte sie aus der Asche, ein, zwei, drei schwarze qualmende Brocken. Dann legte er sie sich auf einer rostigen Radkappe zurecht. Nimm dir ’ne Krummbeere, sagte er.

Suttree hob ohne Antwort die Hand; er wusste, der Alte würde ihn dreimal auffordern, deshalb musste er sich seine ablehnenden Worte einteilen. Der Alte hielt eine dampfende Büchse schräg vor sich hin und spähte hinein. Eine Handvoll Bohnen kochte in Flusswasser. Er hob den stumpfen Blick, seine Augen waren überschattet von bebüschelten Knochenwülsten. Jetz weiß ich wieder, wer du bist, sagte er. Ich hab dich schon gekannt, da warst du noch ganz klein. Suttree glaubte das nicht, nickte aber. Der Alte war früher von Tür zu Tür gezogen; er hätte Puppen und Teddybären zum Sprechen gebracht.

Nu nimm dir halt eine, sagte er.

Danke, sagte Suttree. Ich hab schon gegessen.

Rauer Dampf stieg aus dem Inneren der mehligen Kartoffel, als der Alte sie mit den Händen auseinanderbrach. Suttree blickte hinüber zum Fluss.

Ich hab gern was Warmes zum Mittagessen, sagte der Alte. Du nich?

Suttree nickte. Gebogene Sumachzweige zitterten in der Mittagshitze; in den gerippten Spandrillen der Brücke gurrten und zankten Tauben. Die schattige Erde, auf der er hockte, verströmte den muffigen Geruch einer Gruft.

Du hast den Mann auch nicht springen sehn, oder?, sagte Suttree.

Er schüttelte den Kopf. Ein alter Lumpensammler, seine dürren Backen wabbelten. Ich habse mit dem Schleppnetz gesehn, sagte er. Ha’mse’n gefunden?

Ja.

Wieso isser’n gesprungen?

Das hat er wohl nicht verraten.

Ich würd so was nich machen. Du?

Ich will’s nicht hoffen. Warst du heut Morgen drüben in der Stadt?

Nein, war ich nich. Mir ging’s nich besonders.

Was hast du denn?

Lieber Gott, wenn ich das wüsst. Es heißt, der Tod kommt wie’n Dieb in der Nacht. Wo isser? Ich will’n umarmen.

Spring aber nicht von der Brücke.

Nie und nimmer.

Sie springen scheint’s immer bei Hitze.

Wir kriegen raues Wetter, sagte der Lumpensammler. Angeblich soll’s umschlagen.

War eigentlich das Mädchen schon bei dir?

Bei mir war niemand.

Der Alte aß mit einem Messinglöffel die Bohnen aus der Blechbüchse.

Ich werd noch mal mit ihr reden, sagte Suttree.

Gut. Jetz nimm dir endlich eine von den Krummbeeren da.

Suttree stand auf. Ich muss weiter, sagte er.

Mach doch nich so ’ne Hetze.

Ich muss los.

Schau ma’ wieder vorbei.

Mach ich.

Ein leichter Wind war aufgekommen; bei der Rückfahrt über den Fluss stemmte Suttree die Füße gegen die Heckspanten und legte sich in die Riemen. Durch die undichten Fugen war so viel Wasser gedrungen, dass es den Morgenfang überschwemmt hatte; die Fische glitten, stumpf aneinanderstoßend, über die gewölbten, von abblätternder Farbe bedeckten Bodenplanken. Ausgefranste Wergfetzen hingen aus den Ritzen und flatterten zwischen Köderstücken und Papierstreifen im schmutzigen Wasser. Die Riemen hoben und senkten sich, und unter dem Blech eines ausgebesserten Ruderblattes gluckerte ständig ein Rinnsal von Flusswasser hervor. Halbunterspült, schlingerte das Skiff mit bleierner Trägheit und ließ sich nur schwer vorwärts bewegen. Suttree drehte ab und fuhr in Ufernähe stromaufwärts. Familien von Schwarzen in heller Sonntagskleidung angelten am Flussrand und sahen dem Vorbeirudernden trübsinnig nach. Essnäpfe und Körbe zierten den Rasen; dunkelhäutige Säuglinge lagen auf Decken, deren Ecken zum Schutz vor dem Wind mit Steinen beschwert waren.

Am Hausboot angekommen, legte Suttree die Ruder ein; das Skiff schwenkte herum und trieb schwerfällig gegen die an den Anlegesteg genagelten Reifenmäntel. Die Leine in der Hand, schwang er sich nach oben und machte das Boot fest. Es schaukelte und schlingerte heftig; das Bilgenwasser schwappte. Die Fische glitten träge hin und her. Suttree streckte sich, rieb sich den Rücken und starrte in die Sonne. Es war bereits sehr heiß. Er ging übers Deck, stieß die Tür auf und trat ein. In der Kajüte schienen sich die Bohlen in der Hitze verzogen zu haben, und von den Balken unter dem Blechdach tropften Pechperlen.

Er ging durch die Kajüte und streckte sich auf der Koje aus. Schloss die Augen. Vom Fenster her strich ihm eine schwache Brise durchs Haar. Das Hausboot schwankte leise im Fluss, einer der Stahlzylinder unter dem Boden dehnte sich schwermütig dröhnend in der Hitze. Augen ruhend. Dieser stille und labyrinthische Sonntag. Das Pumpen des Herzens hinter dem Brustbein. Das Blut in seinen vorbestimmten Bahnen. Leben in der Enge, in schmalen Nischen. In den Blättern, im Puls der Kröte. Der zierliche Krieg der Einzeller in einem Wassertropfen. Eine Dextrokardie, hatte der lächelnde Arzt gesagt. Sie haben das Herz auf dem rechten Fleck. Wettergeschrumpft und lieblos. Die Haut gespannt und rissig wie eine überreife Frucht.

Er drehte sich schwerfällig auf der Koje zur Seite und legte das Auge an einen Ritz in der rauen Bretterwand. Draußen strömte der Fluss vorbei. Cloaca Maxima. Tod durch Ertrinken, das Ticken der Uhr eines Toten. Die alte Blechuhr auf Großvaters Tisch hämmerte wie ein Walzwerk. Wie er sich zum Abschied vorlehnte, in dem kleinen gelben Raum, wo es nach Lilien und Weihrauch roch. Er reckte den Hals, um mir etwas zu sagen. Ich habe es nicht verstanden. Er keuchte meinen Namen, sein Griff strafte seine Gebrechlichkeit Lügen. Sein ausgehöhltes und verbrauchtes Gesicht. Wenn sie könnten, würden die Toten die Lebenden mitnehmen, ich riss mich los. Saß in einem Efeugarten, wo es Eidechsen gab, ein ledernes Dahinhuschen ohne Ende. Geisterbleiche Hasen in einem Stall, im Schatten des Wagenschuppens. Steinplatten in einem Rosengarten, der terrassierte Rasenhang über dem Fluss, der Duft nach Buchsbaum, moosiger Erde und alten Ziegeln im Schatten des Kühlhäuschens. Unter der Brunnenkresse, in der klaren Strömung, von Immergrün überwucherte Steine. Ein Salamander, getüpfelt wie eine Forelle. Vornübergebeugt, um das kalte und moosige Quellwasser zu schlürfen. Angestarrt von einem gekräuselten Kindergesicht, einem wässrigen, aus den Ringen hervorglotzenden Isomer.

In seinem letzten Brief schrieb mein Vater, die Welt wird von denen beherrscht, die bereit sind, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Wenn es das Leben ist, was du zu versäumen glaubst, dann kann ich dir sagen, wo du es findest. In den Gerichten, im Handel, in der Regierung. Auf den Straßen läuft nichts. Nichts als eine Pantomime, aufgeführt von den Hilflosen und Ohnmächtigen.

Aus den greisen zerfurchten Mündern der Alten, aus verstaubten Büchern habe ich kein einziges Wort behalten. Einmal spazierte ich im Traum mit meinem Großvater an einem dunklen See, und die Rede des alten Mannes war voller Ungewissheit. Ich sah alles Falsche von den Toten abfallen. Wir sprachen ganz unbefangen, und es war mir eine bescheidene Ehre, mit ihm tief in jener Welt zu wandeln, wo er ein Mensch wie alle Menschen war. Vom schmalen Ende einer Schneise in den Herbstwäldern beobachtete er, wie ich mich wieder in die Welt der Wachen entfernte. Wenn unsere toten Verwandten heilig sind, dürfen wir sie mit Recht anbeten. Mutter Kirche sagt uns das. Sie sagt jedoch nicht, dass die Toten antworten, weder im Traum noch im Wachen. Oder in welcher Sprache man mit einem Totgeborenen redet. Ein noch häufigerer Besucher. Stumm. Das Gerippe des Säuglings, die dünnen und streifigen Knochen, deren gefurchte Oberflächen alte Fleischfetzen und das Leichentuch einer zerfledderten Windel durchdrangen. Knochen, die ohne weiteres in eine Schuhschachtel passten, ein wulstiger Schädel. Über der rechten Schläfe ein malvenfarbiger Halbmond.

Suttree drehte sich um und starrte im Liegen zur Decke; mit den Fingerspitzen berührte er sanft seine linke Schläfe, wo sich ein ähnliches Mal befand. Für den Zweitgeborenen ganz normal. Spiegelbild. Abklatsch. Es ruht in Woodlawn, was immer von jenem Kind übrig sein mag, mit dem du den Leib deiner Mutter geteilt hast. Es hat weder gesprochen noch etwas gesehen und tut es auch heute nicht. Vielleicht war sein Schädel voll Meerwasser. Tot und ohne Bewusstsein geboren, oder ein schaurig geformtes Teratom. Nein, denn wir glichen uns bis aufs Haar. Ich folgte ihm in die Welt, ich. Eine Steißgeburt. Hinteres Ende vorne, wie Wale und Fledermäuse, Lebensformen, für eine andere Umwelt als die Erde bestimmt und ohne Affinität zu ihr. Und einst gewohnt, für seine Seele zu beten. Im Glauben, dass dieser grässliche Zirkus sich anderswo einmal wiederholt und dann für immer und ewig da sein wird. Er im Limbus der ungetauften Gerechten, ich in einer irdischen Hölle.

Durch die dünne und rissige Wand die Geräusche der zappelnden Fische im sinkenden Skiff. Das Symbol des Glaubens. Zwölftes Haus des Himmels. In die abendländische Kirche führend. St. Petrus, Schutzpatron der Fischhändler. St. Fiacrus, Schutzpatron der Hämorrhoiden. Suttree legte den Arm vor die Augen. Einmal sagte er, in einer anderen Zeit hätte er ein Menschenfischer sein können, aber die Fische hier schienen ihm nun Arbeit genug zu sein.

Erst am späten Abend wachte er auf. Er blieb reglos auf der groben Armeedecke liegen und beobachtete, wie züngelnde Lichtschemen von der Flussoberfläche her über die Kabinendecke huschten und flatterten. Er spürte, wie die Kajüte leicht schwankte, hörte Schritte auf der Laufplanke und ein leises Rumpeln der Fässer. Kein Gespenst, das. Durch die Ritzen sah er jemanden über den Steg kommen. Ein zaghaftes, wiederholtes Klopfen.

Herein, sagte er.

Buddy?

Er drehte den Kopf. Im Eingang stand sein Onkel. Suttree sah wieder zur Decke, blinzelte, richtete sich auf und schwang die Füße auf den Boden. Komm rein, John, sagte er.

Der Onkel trat durch die Tür und blickte sich zögernd um. In der Mitte des Raumes blieb er stehen, festgebannt in dem quadratischen Balken staubigen Lichts, der sich davitförmig vom Fenster zu dessen verzerrtem Widerbild an der Hinterwand spannte, ein ausdrucksleeres, unbarmherzig beleuchtetes Antlitz, die Augen wässrig und halb geschlossen, schlaffe Fleischpendel hingen an den Wangen herab. Er brachte ein hölzernes Lächeln zustande, wobei seine Hände leicht zuckten. Hey, Junge, sagte er.

Suttree saß da und betrachtete seine Schuhe. Er verschränkte die Hände, löste sie wieder und sah auf. Setz dich, sagte er.

Der Onkel blickte sich um, zog einen Stuhl heran und ließ sich bedächtig nieder. Na, sagte er. Wie geht’s dir, Buddy?

Siehste ja. Und dir?

Gut. Gut. Und, wie läuft’s so?

Bestens. Wie hast du mich denn gefunden?

Ich hab John Clancy oben im Eagles getroffen; er hat mir gesagt, du wohnst in’nem Hausboot oder so was Ähnlichem. Da bin ich mal hier am Fluss entlang und hab dich auch gleich entdeckt.

Er lächelte unsicher. Suttree sah ihn an. Hast du ihnen erzählt, wo ich bin?

Der Onkel hörte auf zu lächeln. Aber nein, sagte er. Kein Wort. Das geht nur dich was an.

Du sagst es.

Wie lang bist’n schon hier?

Suttree musterte kalt die nachsichtig belustigte Miene, die sein Onkel aufgesetzt hatte. Seit ich wieder draußen bin, sagte er.

Aha, wir haben nämlich überhaupt nichts davon mitgekriegt. Wie lang ist das jetzt her?

Wer ist wir?

Ich hab nichts davon mitgekriegt. Ich hab ja nicht mal genau gewusst, ob du schon draußen bist oder nicht.

Ich bin im Januar rausgekommen.

Schön, schön. Und das hier, hast du das gemietet?

Gekauft.

Oho. Er blickte sich um. Nicht schlecht. Sogar mit Ofen.

Wie ist es denn dir so ergangen, John?

Oh, ich kann nicht klagen. Du weißt ja.

Suttree sah ihn aufmerksam an. Der Onkel wirkte wie auf alt geschminkt, das Haar mit Kreidesträhnen, das Gesicht eine Lehmmaske, zu einem Lakaienlächeln verzerrt.

Du siehst gut aus, sagte Suttree. Sein Mundwinkel zuckte.

Danke, danke. Versuch mich halt fit zu halten. Die alte Leber ist nicht mehr die beste. Er legte die Hand flach auf den Bauch, sah nach oben zur Decke und dann zum Fenster hinaus, wo die Schatten mit dem hereinbrechenden Abend länger geworden waren. Bin letzten Winter operiert worden. Hast du wohl nicht gewusst?

Nein.

Aber jetzt geht’s mir natürlich wieder besser.

Suttree konnte den Onkel in der Hitze des kleinen Raumes riechen, den muffigen Duft seiner Kleidung, untermischt mit schwachem Whiskeydunst. Fast schon der süßliche Geruch des Todes. Hinter ihm, in der Westwand, glommen die besonnten Astlöcher blutrot und schimmernd wie die Augen lauernder Teufel.

Ich hab nichts zu trinken da, sonst würd ich dir was anbieten.

Der Onkel hob die Hand. Neinein, sagte er. Ich will sowieso nichts, danke.

Er sah Suttree mit halb zugekniffenem Auge an. Ich hab deine Mutter getroffen, sagte er.

Suttree gab keine Antwort. Der Onkel fummelte an seinen Zigaretten herum und hielt ihm das Päckchen hin. Zigarette?, sagte er.

Nein danke.

Er schwenkte das Päckchen. Nu nimm schon.

Ich rauch nicht.

Du hast doch früher mal.

Hab’s aufgesteckt.

Der Onkel zündete sich eine an und blies eine dünne Rauchschlange zum Fenster. Sie bildete Kringel und breitete sich im gelben Licht aus. Der Onkel lächelte. Ich hätt gern ’n Dollar für jedes Mal, wo ich’s aufgesteckt hab. Jedenfalls, den anderen geht’s prächtig. Das wollt ich dir bloß sagen.

Ich hätt nicht gedacht, dass du noch mal hingehst.

Ich war bei deiner Mutter in der Stadt.

Das hast du schon gesagt.

Tja. Ich komm sonst natürlich nicht viel hin. An Weihnachten war ich halt mal dort. Sie haben im Eagles ’ne Nachricht für mich hinterlassen, ich soll mal vorbeischaun oder so. Mal zum Essen kommen. Du weißt schon. Eigentlich hatt ich gar keine Lust.

Kann ich dir nicht verdenken.

Der Onkel ruckte ein wenig auf seinem Stuhl. Na ja, nicht dass ich mit ihnen nicht klarkomme. Es ist nur so …

Es ist nur so, dass ihr euch überhaupt nicht riechen könnt.

Ein schiefes Lächeln huschte über das Gesicht des Onkels. Na ja, sagte er. Also, so weit würd ich nicht gehen. Natürlich, besonders freundlich waren sie zu mir noch nie.

Was du nicht sagst, sagte Suttree trocken.

Dochdoch, sagte der Onkel und nickte. Er nahm einen langen Zug aus der Zigarette und überlegte. Du und ich, wir haben da wohl’n bisschen was gemeinsam, Junge. Oder?

Das glaubt auch nur er.

Du hättest meinen Vater kennen sollen. War’n feiner Kerl. Der Onkel sah unsicher auf seine Hände hinunter. Ja, sagte er. ’n feiner Kerl.

Ich kann mich an ihn erinnern.

Er ist gestorben, wie du noch ein Baby warst.

Ich weiß.

Der Onkel versuchte es anders. Komm doch mal abends zum Eagles, sagte er. Ich könnt dich reinbringen. Samstagabends ist dort immer Tanz. Da kommen tolle Frauen hin. Du würdst Augen machen.

Glaub’s gern.

Suttree hatte sich an die raue Bretterwand zurückgelehnt. Blaue Dämmerung erfüllte die kleine Kajüte. Er blickte zum Fenster hinaus; draußen waren bereits Nachtfalken unterwegs, und Mauersegler huschten sirrend über den Fluss.

Du bist schon’n komischer Typ, Buddy. ’n größeren Gegensatz zu deinem Bruder gibt’s wohl nicht.

Zu welchem?

Was?

Ich hab gesagt, zu welchem.

Zu welchem was?

Zu welchem Bruder.

Der Onkel kicherte nervös. Wieso, sagte er. Du hast doch bloß den einen. Carl.

Ist ihnen für den anderen kein Name eingefallen?

Für welchen anderen denn? Von was zum Teufel redest du?

Von dem, der tot auf die Welt gekommen ist.

Wer hat dir das erzählt?

Ich weiß es halt noch.

Von wem hast du’s?

Von dir.

Von mir? Nie! Wann soll’n das gewesen sein?

Schon vor Jahren. Du warst betrunken.

Nie und nimmer.

Na schön. Dann eben nicht.

Und was soll das jetzt?

Keine Ahnung. Ich hab mich bloß gefragt, warum alle so’n Geheimnis draus gemacht haben. Woran ist er eigentlich gestorben?

Er war eine Totgeburt.

Das weiß ich.

Wieso, kann ich dir auch nicht sagen. Er war’s halt einfach. Ihr seid beide zu früh gekommen. Du bist ganz sicher, dass ich dir’s erzählt hab?

Spielt keine Rolle.

Du behältst es aber für dich, oder?

Klar. Ich hab nur drüber nachgedacht. Was zum Beispiel der Arzt dazu sagt. Man muss nämlich beide mit heimnehmen, den einen halt in einem Beutel oder Behälter. Wahrscheinlich gibt’s Leute, die sich um so was kümmern.

Trotzdem, sag’s niemand weiter.

Suttree beugte sich vor und sah zu seinen billigen und schadhaften Schuhen hinunter, die über Kreuz auf dem Fußboden lagen. Mein Gott, John, mach dir doch deswegen keine Sorgen. Ich halt schon dicht.

Okay.

Sag aber nicht, dass du hier warst.

Alles klar. Abgemacht.

Gut, John. Abgemacht.

Ich komm eh nicht mit ihnen zusammen.

Das hast du schon gesagt.

Der Onkel rutschte auf dem Stuhl hin und her; dann zupfte er sich mit dem langen gelben Zeigefinger am Kragen herum. Er hätt mir nämlich helfen können. Ich hab ihn nie um was gebeten. Weiß Gott; nie. Aber er hätt mir helfen können.

Tja, sagte Suttree. Er hat’s eben nicht getan.

Der Onkel nickte und sah zu Boden. Wir zwei beide, sagte er, wir sind uns halt doch ganz schön ähnlich.

Find ich nicht.

In mancher Beziehung jedenfalls.

Nein, sagte Suttree. Wir sind uns nicht ähnlich.

Na ja, ich meine … Der Onkel machte eine Handbewegung.

Das behauptet er. Aber ich bin ganz anders als du.

Trotzdem, du weißt schon, was ich meine.

Jaja, ich weiß, was du meinst. Aber ich bin nicht wie du. Ich bin nicht wie er. Ich bin nicht wie Carl. Ich bin ich. Erzähl mir nicht, wie ich bin.

Also jetzt hör mal, Buddy, du musst dich deshalb nicht …

Doch, ich muss. Ich will dich nämlich auch nicht hierhaben. Ich weiß, sie können dich nicht leiden, er jedenfalls nicht. Ich mach dir deswegen keine Vorwürfe. Du kannst nichts dafür. Aber ich kann’s nicht ändern.

Der Onkel kniff die Augen zusammen und blickte Suttree an. Du musst dich deshalb nicht so aufs hohe Ross setzen, sagte er. Immerhin war ich noch nie im Knast, verdammt noch mal.

Suttree lächelte. Im Arbeitshaus, John. Das ist ein kleiner Unterschied. Aber egal, ich bin ich. Ich erzähl ja auch nicht überall rum, dass ich mal in der TB-Klinik war.

Ach ja? Ich geb mich jedenfalls nicht als Abstinenzler aus, falls du darauf hinauswillst.

Du bist also Alkoholiker?

Nein. Was gibt’s da zu grinsen? Ich bin kein Alkoholiker, verdammt noch mal.

Er hat dich immer als Süffel hingestellt. Das ist ja wohl nicht ganz so schlimm.

Ist mir doch scheißegal, was er sagt. Er kann …

Nur raus damit.

Der Onkel sah ihn argwöhnisch an. Dann schnippte er seinen winzigen Zigarettenstummel zur Tür hinaus. Na ja, sagte er. Er weiß sowieso nicht alles.

Hör mal, sagte Suttree und beugte sich vor. Wenn ein Mann unter seinem Stand heiratet, dann sind auch seine Kinder unter seinem Stand. Falls so etwas für ihn überhaupt eine Rolle spielt. Wenn du kein Säufer wärst, dann würd er mich vielleicht mit anderen Augen sehen. Aber so war ich eben nie ganz hasenrein. Sie haben regelrecht drauf gewartet, dass ich auf die schiefe Bahn komme. Mein Großvater hat immer gesagt, Blut bricht sich Bahn. Das war sein Lieblingsspruch. Wo schaust du denn hin? Schau mich gefälligst an.

Ich weiß nicht, wovon du sprichst.

Doch, das weißt du. Ich behaupte, mein Vater verachtet mich, weil ich mit dir verwandt bin. Damit dürfte ich ja wohl nicht ganz schiefliegen, oder?

Ich weiß nicht, warum du ausgerechnet mich für deine Schwierigkeiten verantwortlich machen willst. Du mit deinen hirnrissigen Theorien.

Suttree langte durch den kleinen Zwischenraum und fasste den Onkel beruhigend an den schlaffen Händen. Ich mach dir doch keine Vorwürfe, sagte er. Ich will dir bloß erklären, wie manche Leute so sind.

Ich weiß, wie die Leute so sind. Ich muss es schließlich wissen.

Wieso eigentlich? Du glaubst, mein Vater und seinesgleichen sind eine Rasse für sich. Du kannst zwar über ihre Großkotzigkeit lachen, stellst aber nie das Recht auf ihre eigene Lebensweise in Frage.

Der zieht sich die Hosen auch nicht anders an wie ich.

Blödsinn, John. Das glaubst du doch selber nicht.

Hätt ich’s sonst gesagt?

Wie steht er denn deiner Meinung nach zu seiner Frau?

Sie kommen gut miteinander aus.

So?

Ja.

John, sie ist doch bloß seine Haushälterin. Und dabei glaubt er noch nicht mal, dass sie was taugt. Merkst du denn nicht, dass er etwas von deiner Erbärmlichkeit in ihr wiedererkennt? Schon die harmloseste Geste erinnert ihn an dich.

Nenn mich nicht erbärmlich, sagte der Onkel.

Wahrscheinlich glaubt er, sie wär ohne seine gütige Hilfe längst im Bordell gelandet.

Du sprichst von meiner Schwester, Junge.

Sie ist meine Mutter, du sentimentaler Saufkopf.

Plötzliche Stille in der kleinen Kajüte. Der Onkel stand zitternd auf, seine Stimme war leise. Sie haben ganz recht, sagte er. Mit dem, was sie mir erzählt haben. Sie haben ganz recht mit dir. Du bist ein Lump. Ein gemeiner Lump.

Suttree saß da, die Stirn in die Hände gesenkt. Der Onkel bewegte sich vorsichtig zur Tür. Sein Schatten fiel auf Suttree; Suttree hob den Kopf.

Vielleicht ist das so was wie Farbenblindheit, sagte er. Die Frauen sind bloß Zwischenträger. Du bist doch farbenblind, oder?

Jedenfalls bin ich nicht verrückt.

Nein, sagte Suttree. Verrückt nicht.

Der verkniffene Blick des Onkels schien sanfter zu werden. Gott steh dir bei, sagte er. Dann drehte er sich um, trat auf den Steg und schritt die Planken hinunter. Suttree stand auf und ging zur Tür. Im letzten Tageslicht überquerte der Onkel die Felder und marschierte auf die dunkelnde Stadt zu.

John, rief Suttree.

Der alte Mann blickte sich um. Aber er wirkte wie eingeglast in seiner imaginären Welt und war schon so weit weg, dass Suttree nur noch die Hand hob. Der Onkel nickte, als habe er verstanden; dann ging er weiter.

In der Kajüte war es schon fast dunkel; Suttree spazierte auf dem schmalen Deck umher, zog mit dem Bein einen Hocker heran, nahm Platz und lehnte sich, die Füße auf die Reling gestützt, an die Kajütenwand. Vom Fluss her wehte eine Brise, durchsetzt mit einem schwachen Duft nach Öl und Fisch. Abendliche Geräusche und Gelächter drangen aus den gelben Hütten hinter dem Nebengleis, und zu Suttrees Füßen wälzte sich der Fluss vorüber, hochrückig in der Finsternis zischend wie das Sieden von Sand in einem Glas, Wind in der Wüste, die schwerfällige Stimme des Untergangs. Suttree drückte die Fingerknöchel in die Augenhöhlen und lehnte den Kopf an die Planken. Sie waren noch immer warm von der Sonne, wie ein schwacher Lufthauch im Nacken. Auf der anderen Flussseite, im schwarzen Wasser, lagen zerstreut und perspektivisch verkürzt die Lichter des Sägewerks; stromaufwärts hingen Brückenlampen an Schnüren, von Ufer zu Ufer eine Kette von Spiegelbildern, leise trudelnd unter den sanften Stößen des Winds. Die Turmuhr am Gerichtsgebäude schlug die halbe Stunde. Einsame Glocke in der Stadt. Da ein Leuchtkäfer. Und dort. Suttree stand auf, spuckte in den Fluss, schritt über den Steg zum Ufer und marschierte über das Feld auf die Straße zu.

Er ging die Front Street entlang und atmete die Abendkühle ein, der westliche Himmel vor ihm noch immer ein tiefes Zyanblau, durchzogen von Fledermausschemen, die ziellos dahinzuckten wie Sporentierchen auf einem Objektträger. Radiomusik begleitete ihn wie ein roter Faden von Haus zu Haus, und in der Dämmerung hing ein ranziger Duft nach gekochtem Gemüse. Er kam vorbei an Höfen und schlackigen Gärten, die nach dem Mist schlafender Hühner stanken, an dunklen Grotten zwischen den Hütten, wo die Musik aufplärrte und wieder erstarb, an matt erleuchteten Fenstern, wo Schatten über rissige und vergilbte Papierrouleaus huschten. Durch ein übelriechendes Gewirr von Schindelhütten, wo Kinder schrien und feige, halbkahle Wachhunde kläffend umherschlichen.

Er ging die Steigung zum Stadtrand hinauf, am Bethaus der Schwarzen vorbei, die Tür stand offen. Drinnen gedämpftes Licht. Ein Prediger, der mit seinem Anzug und der Goldrandbrille wie eine Märchenamsel aussah. Suttrees Aufstieg aus der heißen, dünstenden Unterwelt, begleitet von Gospelmusik. Dunkle Kehlen, schräg und geädert wie schwielige Pferdeflanken. An Sommerabenden hat er sie oft beobachtet, ein bleicher, draußen auf dem Bordstein hockender Heide. Einmal, in einer regnerischen Nacht, hatte er nahebei etwas in den Zahnplomben gespürt, etwas wie leise Musik. Friede hatte ihn umfangen und seine Gedanken geleert, denn ein falscher Anhauch aus der Welt des Geistes ist immer noch besser als gar keiner.

Die steilen Gehwege hinauf, ihre Rillen ein Halt für die Füße und freier Durchgang für Schaben. An die eingeklinkte schiefe Tür klopfen. Jimmy Smiths braune Nagezähne direkt hinter dem Fliegendraht. In der verrotteten Gaze ein Loch, entstanden vielleicht über die Jahre hinweg durch seinen Atem. Durch einen langen Flur, erleuchtet von einer schwefelgelben, an einem Kabel von der Decke hängenden Glühbirne. Smiths Pantoffeln schlurfen scharrend übers Linoleum. Am Ende des Flurs dreht er sich um und hält die Tür auf. Die schlaffe gelbe Haut seiner Schultern und seiner Brust ist so blutleer und faltig, dass er wie aus verschiedenen Fleischfetzen und -resten zusammengeflickt wirkt, mit überlappenden Säumen vernäht, sorgfältig in das dürftige und schmierig graue Gewebe seines Unterhemds gehüllt. In der kleinen Küche sitzen zwei Männer an einem Tisch und trinken Whiskey. Ein dritter lehnt an einem fleckigen Kühlschrank. Eine offene Tür führt zu einer Veranda, einem schmalen verbogenen Vorbau aus grauen Brettern, der in der Dunkelheit über dem Fluss hängt. Das Auf und Nieder von Zigaretten zeigt an, dass sich dort Leute aufhalten. Gelächter ertönt; eine aufgedunsene Nutte schaut zur Küche herein und verschwindet wieder.

Was soll’s sein, Sut?

’n Bier.

Der Mann am Kühlschrank rückt etwas zur Seite. Hallo, Sut, sagt er.

Hey, Junior.

Jimmy Smith hat eine Bierdose aufgemacht und hält sie Suttree hin. Suttree bezahlt; der Besitzer kramt Wechselgeld aus der schmuddeligen Hose, zählt Suttree die Münzen in die Hand und schlurft davon.

Wer ist denn alles hinten?

’n Haufen Besoffene. Und Brother.

Suttree kippte sich einen Schluck Bier in die Kehle. Es war kalt und gut. Tja, sagte er. Dann will ich mal zu ihm nach hinten gehn.

Er nickte den beiden Männern am Tisch zu, marschierte an ihnen vorbei durch den Flur und betrat einen riesigen alten Salon mit hohen Schiebetüren, die so oft gestrichen worden waren, dass sie längst in ihren Schienen festklebten. An einem Kartentisch saßen fünf Männer, keiner sah auf. Ansonsten war der Raum leer; ein blechverkleideter Kamin aus weißem Marmor, altes lackiertes Täfelholz, eine Rokokodecke mit Hochrelief aus Stuckschnörkeln und perlschnurförmigen Tropfen, beides bronziert; dazwischen die Gasdüse, wo nun eine Glühlampe brannte.

Inmitten dieser wirren Kargheit, umgeben von den Resten ehemaliger Pracht, wirkten die Pokerspieler ihrerseits wie Schatten aus früheren Zeiten oder wie grobe Betrüger auf einer hergerichteten Bühne. Sie tranken, legten ihre Einsätze auf den Tisch und murmelten vor sich hin, alles mit dem Anschein gespannter Flüchtigkeit; alte Männer mit Ärmelschonern, marmoriert von Sepiaflecken, sie saßen die Zeit, die ihrem dunkel geahnten Untergang voranging, beim Kartenspiel ab. Suttree zog weiter und durchquerte den Salon.

Im Vorderzimmer stand ein kaputtes Sofa auf Ziegeln, sonst nichts. Aus dem Rücken ragte eine wacklige Sprungfeder, in deren Spirale eine Bierdose steckte; auf dem mausgrauen glatten Polster fläzten sich ein paar Betrunkene.

Hey, Suttree, riefen sie.

Himmelarsch, sagte J-Bone, fuhr aus seiner Sitzkuhle und legte Suttree den Arm um die Schultern. Da’ss ja mein alter Kumpel, sagte er. Wo’ss’n der Whiskey? Gib ihm doch ma’ einer was von der Katzenpisse.

Wie läuft’s, Jim?

Immer vorne raus. Und bei dir? Wo bleibt’n der Whiskey? Na, da kommt er ja. Nimm dir’n Schluck, Bud.

Was ist das denn?

Early Times. Bestes Söffchen, wo gibt. Nimm dir’n Schluck, Bud.

Suttree hielt das Getränk ins Licht. Kleine Klumpen, Rückstände, Schlieren trieben in der öligen Flüssigkeit. Er schüttelte die Flasche. Vom gelben Boden stieg es trübe auf. Allmächtige Scheiße, sagte Suttree.

Bestes Söffchen, wo gibt, johlte J-Bone. Jetzt mach schon, Bud.

Suttree knaupelte die Kappe ab, schnüffelte, schauderte zusammen und trank.

J-Bone drückte den Trinkenden an sich. He, schaut ma’ her, der alte Suttree gießt sich ein’ auf die Lampe.

Suttree kniff die Augen zu und hielt die Flasche in die Runde. Donnerscheiße. Was ist denn das für ’ne Brühe?

Early Times, rief J-Bone. Bestes Söffchen von Welt. Kipp’s runter; am nächsten Tag spürste nix mehr davon.

Oder überhaupt nichts mehr.

Ach was, gib her. Hallo, Early, komm zu deinem alten Daddy.

Hier, tu mal was in die Tasse da rein; ich mach Coca-Cola dazu.

Geht nich, Bud.

Wieso?

Ha’m wer schon versucht. Ätzt den Boden weg.

Pass bloß auf, Suttree. Schütt nichts auf deine Latschen.

Hey, Bobbyjohn.

Wann kommt’n der alte Callahan wieder raus?, sagte Bobbyjohn.

Keine Ahnung. Irgendwann in diesem Monat. Hast du Bucket mal gesehn?

Der’ss nach Burlington gezogen. Lässt sich hier nicht mehr blicken.

Komm, hock dich her, Sut.

J-Bone nahm Suttree am Arm. Na los, Bud. Setz dich.

Suttree machte es sich auf der Sofalehne bequem und nippte an seinem Bier. Dann gab er J-Bone einen Klaps auf den Rücken. Die Stimmen schienen leiser zu werden. Suttree wies lächelnd die Whiskeyflasche zurück. In diesem langen Raum, der rissige Putz schmutzig gestreift vom durchschimmernden Lattenwerk, diese Leere, diese Geselligkeit der Verlorenen. Während das Leben schamlos fruchtbar pulsierte. Im Stimmengewirr und Gelächter und im Dunst des abgestandenen Biers versickerte die sonntägliche Einsamkeit.

Stimmt’as eigentlich, Suttree?

Was denn?

Dass es unter der Stadt überall Höhlen gibt.

Ja, stimmt.

Und was iss’n da drin?

Ein Haufen Dreck. Genau wie oben. Suttree zuckte die Achseln. Mehr weiß ich auch nicht, sagte er. Sind halt einfach so Höhlen.

Eine soll direkt unterm Fluss durchlaufen.

Ja, die kommt drüben im Chilhowee Park raus. Im Bürgerkrieg ist da angeblich irgendwelches Zeugs versteckt worden.

Was da wohl noch alles unten iss?

Weiß der Geier. Frag Suttree.

Was meinste, Suttree? Kommt man noch rein in die Bürgerkriegshöhlen da?

Keine Ahnung. Ich hab zwar gehört, dass eine unterm Fluss durchläuft, aber noch nie, dass einer mal drin war.

Vielleicht sind da unten wirklich noch Überbleibsel vom Bürgerkrieg.

Da kommt ja grad eins, sagte J-Bone. Wie schaut’s, Nigger?

Suttree blickte zur Tür. Ein grau wirkender Mann mit Brille sah in die Runde. Weiß nich, sagte er. Na, Jungs? Was trinkt ihr’n da?

Early Times, behauptet Jim.

Nimm dir’n Schluck, Nig.

Der Mann schlurfte in Richtung Flasche und nickte den Anwesenden zu; die kleinen Augen hinter der Brille huschten hin und her. Er griff sich den Whiskey und trank; seine schlaffe Gurgel hüpfte. Dann ließ er, das Gesicht eine verzerrte Maske, die Flasche mit geschlossenen Augen sinken. Puh! Er pustete den grinsenden Zuschauern einen feinen Sprühregen entgegen. Herrgott, was iss’n das für’n Fusel?

Early Times, Nig, rief J-Bone.

Schmeckt eher nach frühem Tod.

Gottchen, ich weiß, normal wird so’n Sprit in der Badewanne gemacht, aber der hier kommt halt aus der Kloschüssel. Nigger betrachtete die Flasche und schüttelte sie. Ölige Blasen, groß wie Gänseschrot, trieben durch die Schlieren nach oben.

Wirste schön blau von, sagte J-Bone.

Nig schüttelte den Kopf, schnaufte, trank noch einen Schluck und reichte dann die Flasche mit schmerzvoll abgewandtem Gesicht weiter. Als er wieder sprechen konnte, sagte er: Also Jungs, ich hab ja schon so manchen lausigen Whiskey runtergewürgt, aber ich lass mich dreckiger Nigger schimpfen, wenn der hier nich schon fast zu mies zum Trinken iss.

J-Bone winkte mit der Flasche zur Tür; dort stand Junior und grinste. Brother, willst auch’n Schluck?

Junior schüttelte den Kopf.

Jungs, rutscht ma’ rüber und macht dem alten Nig Platz.

Komm, Nig, setz dich her. Nu rutsch doch’n Stück, Bearhunter.

Weiß Gott, Jungs, ich bin fix und fertig. Nigger nahm die Brille ab und rieb sich die feuchten Augen.

Was war’n los, Nig?

Ich versuch grad, wegen Bobby ’n bisschen Geld aufzutreiben. Er drehte sich zur Seite und musterte Suttree. Kenn ich dich nich?, sagte er.

Wir haben mal ’n paar Biere zusammen gekippt.

Bist mir gleich bekannt vorgekommen. Du hast Bobby doch auch gekannt, oder?

Wir haben uns ’n paar Mal getroffen.

Nigger schüttelte nachdenklich den Kopf. Vier Jungs hab ich großgezogen, und bis auf Ralph sindse durch die Bank im Knast gelandet. Klar, in Jordoma waren wir alle. Einmal ha’mse mich hier ins Arbeitshaus gesteckt, da bin ich aber wieder ausgebüchst. Der alte Blackburn, wo damals Wärter war, hat’s gewusst, aber nie was gesagt. Warste auch in Jordonia? Clarence sagt, heut isses da bloß noch halb so wild. Jungs, zu meiner Zeit war das kein Zuckerschlecken. Klar, fürs Chorsingen ha’mse dich ja auch nich eingelocht. Ich hab drei Jahre wegen Diebstahl abgerissen. Wollt dann in die TSI, wode’n richtigen Beruf lernen kannst, aber um da reinzukommen, mussteste zurückgeblie’m sein, und die ha’m gesagt, das wär ich nich. Mit Achtzehn war ich dann wieder draußen, das war neunzehnhundertsechzehn. Wenn ich bloß wüsst, was mit meinen Jungs los ist. Ha’m mich schon einiges gekostet. Ihr Großvater hat nie Scherereien gehabt, siebenundachtzig isser geworden. Der würd jetzt bestimmt gern einen trinken. So wie ich auch. Aber der hat nie Ärger mit’m Gesetz gehabt.

Nimm noch’n Schluck, Sut.

Nigger fing die Flasche ab. Kennst du Jim? Iss’n prima Junge, das kannste glauben. Wär schön, wenn’s in McAnally Flats mehr von der Sorte gäb. Hab seinen Daddy gekannt. Der war noch’n Stück kleiner wie Junior da drüben. Sekunde mal. Puh. Meine Fresse, das’ss vielleicht’n Whiskey. Irish Long hat sich von keinem auf’n Kopf scheißen lassen, der nich. Ich kann mich noch erinnern, einmal isser rübergekommen zu Woolen Mill Corners, wie’s seinerzeit hieß. Du weißt schon wo, Jim. Wo heut’s Workers Café iss. Also einmal isser hinter so’nem Knaben hergewesen und sonntags rübergekommen. Damals war dort ’n Schuppen, ihr Jungs wisst das vielleicht nich mehr, und drunter hat’n Haufen Schweinebacken rumgestanden, die waren Freunde von dem Knaben und ha’m Whiskey getrunken. Irish Long hat sich vor sie hingestellt und gefragt, wo er steckt. Na ja, sie wollten nich damit raus, aber keiner von den Schweinebacken hat sich erkundigt, was er mit dem Knaben vorhat. Irish Long, der konnt dir mordsmäßig den Arsch aufreißen, wennde ihm blöd gekommen bist. Und dabei hat’s in McAnally keinen gegeben, der großzügiger war. Der hat sein letztes Hemd verschenkt. Wenn ihm danach gewesen wär, hätt er reich sein können. War nämlich Ladenbesitzer. Keiner hat Geld gehabt, nich mal für Lebensmittel. Ihr Jungs wisst’as nich mehr, das mit der Wirtschaftskrise. Irish Long hat den Leuten gesagt, sie soll’n sich einfach nehmen, was sie brauchen. Mehl und Kartoffeln. Milch für die Babys. Irish Long hat nie einen weggeschickt, der nich. Heut lebense hier in großen Häusern; die wären damals glatt verhungert, wenn er nich gewesen wär, aber gedankt ha’mse’s ihm nie.

Nimm lieber noch’n Schluck, Sut, bevor Nigger alles wegsäuft.

Lass Bearhunter auch noch was, sagte Suttree.

Wie wär’s ma’ mit Bobbyjohn?, sagte Bobbyjohn.

Aha, noch so einer, der keinen stehnlässt, sagte Nigger.

Ganz meinerseits, sagte J-Bone.

Jawoll verdammt, ganz meinerseits, sagte Nigger.

Jimmy Smith ging wie ein dressierter Riesenmaulwurf durch den Raum und sammelte die leeren Bierdosen ein. Dann schlurfte er mit blinzelnden Äuglein wieder hinaus. Im Türrahmen stand Kenneth Hazelwood und betrachtete die Anwesenden mit sardonischem Lächeln.

Komm rein, Worm, rief J-Bone. Gieß dir was von dem Spitzenwhiskey hier runter.

Hazelwood trat lächelnd ein und griff sich die Flasche. Er hielt sie hoch und schnüffelte; dann gab er sie zurück.

Wie ich’s letzte Mal von der Brühe getrunken hab, wär ich beinah krepiert. Hab aus allen Löchern gestunken. War dann’n geschlagenen Tag in der heißen Wanne, und wie ich wieder raus bin und trocken war, hat’s immer noch gerochen. Hab meine Klamotten verbrennen müssen. Alles Mögliche hab ich gekriegt, ’s große Reihern, Dünnschiss, Schüttelfrost und ’n lahmes Bein. Mir wird heut noch schlecht, wenn ich dran denke.

Blödsinn, Worm; iss doch’n Spitzenwhiskey.

Vergiss es.

Worm macht meinen Whiskey runter, Bud.

Immer noch besser, als wenn der Fusel dich selber runtermacht. Eines schönen Morgens hängt dir die Leber in der Socke.

Aber J-Bone hatte sich bereits grölend weggedreht. Early Times, rief er. Bringt die Leber ins Schleudern.

Hazelwood grinste und wandte sich Suttree zu. Kannst du nich besser auf ihn aufpassen?, sagte er.

Suttree schüttelte den Kopf.

Ich fahr mit Katherine ins Trocadero. Kommste mit?

Ich geh lieber heim, Kenneth.

Jetzt komm schon. Wir bringen dich auch wieder zurück. Ich weiß noch, wie ich’s letzte Mal mit dir los bin. Du hast uns in drei Schlägereien verwickelt, ’ner Frau die Tür eingetreten und bist dann im Knast gelandet. Ich bin durch’n paar Höfe gewetzt, hätt mich beinah an’ner Wäscheleine erhängt, hinter mir ’ne Hundemeute und um mich rum Suchscheinwerfer, überall Cops, und zum Schluss bin ich in’nem Kanalrohr gelandet und hab die Nacht mit’ner Katze verbracht.

Worm grinste. Na, komm schon. Wir wollen uns ja bloß einen genehmigen und schaun, was dort so alles los iss.

Geht nich, Kenneth. Bin eh abgebrannt.

Ach was, wer fragt denn nach Geld.

Hey, Worm, haste heut Morgen den alten Crumbliss in der Zeitung gesehn?

Was hat er’n jetzt schon wieder angestellt?

Heut früh um sechs ha’mse’n unterm Baum gefunden, auf’m großen Luzernenacker. Der hat den einzigen Baum auf’m ganzen Acker angepeilt und iss reingerumst. Wie dann die Cops gekommen sind und die Tür aufgemacht ha’m, da iss der alte Crumbliss angeblich rausgeplotzt und einfach liegen geblieben. Dann hat er nach oben gelinst und die blauen Uniformen gesehn, und da isser mit einem Satz hoch und hat gebrüllt: Wo steckt’n der Kerl, der mich hätt heimfahren soll’n?

Suttree stand grinsend auf.

Bleib doch noch, Sut.

Ich muss los.

Wohin denn?

Brauch was zu essen. Bis dann, allerseits.

Jimmy Smith begleitete Suttree hinaus, und sie gingen, Maulwurf und Gast, zusammen durch den langen Flur; ein Aufklinken der Fliegendrahttür und dann in die Nacht.

Es ist inzwischen bedeckt, Regen kündigt sich an, und die Lichter der Stadt fluten gegen den geronnenen Himmel, liegen pfützig auf den nassen schwarzen Straßen. Der Sprengwagen entfernt sich die Locust hinunter, und die Arbeiter in ihrem ramponierten Ölzeug ziehen Besen durch die überschwemmten Rinnsteine; ein Geruch nach feuchtem Asphalt hängt in der Luft. Die wenigen Geräusche, die in der mitternächtlichen Leere ertönen, klingen amphorisch hohl; in ihrer Stille wirkt die Stadt so, als sei über sie der Ausnahmezustand verhängt worden. Die Gebäude neigen sich über die düsteren und stummen Durchgänge, wo die Absätze des Nachtwächters die Minuten fortklacken. An schwarzen, mit Vorhängeschlössern verriegelten Ladenfronten vorbei. Das Schaufenster eines Geflügelhändlers, wo halbnackte Junghähne im gleichbleibend blauen Dämmerlicht auf Stangen ruhen. Einsamer Glockenklang und Stundenschlag in der brütenden, tief schlafenden Stadt. In der Market Street die ausgeräumten, rostenden Lastwagen, deren plattfüßige Reifen sich breit auf den Teer pressen. Keine Blumen, kein Obst mehr; die Kanalgitter ziert verwelktes Gemüse. Unter dem Lichtkegel einer Straßenlaterne der weiße Henkel einer Porzellantasse, gekrümmt wie eine schlafende Schnecke.

In den Eingangshallen der schmuddeligen Hotels sind die Portiers und Pagen auf den Stühlen und Sofas eingenickt, dunkle Gesichter zucken im Schlaf über den abgewetzten weinroten Plüsch. In den Zimmern liegen Soldaten, betrunkene Heimkehrer, in schmerzloser Kreuzigung ausgestreckt auf zerwühlten Tagesdecken; die Nutten schlafen bereits. Kleine tropische Fische huschen stockend durch die moosgrünen Tiefen im Schaufenster des Augenoptikers. Ein drohend aufgerichteter Luchs mit wächsernem Zähnefletschen. Holzwolle sprießt klumpig aus den Nähten seines ledernen Bauches, und seine Glasaugen treten gequält hervor. Finstere Kneipe, ein Gassenschlund, wo Mülleimer aufklaffen und wo sich mir einmal im Traum ein Mann, den ich für meinen Vater hielt, in den Weg stellte, eine dunkle Gestalt vor den schattigen Ziegeln. Ich wollte vorbei, aber er hielt mich fest. Ich hab dich gesucht, sagte er. Der Wind war kalt, Traumwinde sind so, ich hatte es eilig. Ich wollte los von ihm und seinem knöchernen Griff. Das Messer in seiner Hand durchtrennte das fahle Lampenlicht wie ein schmaler blauer Fisch, und unsere Schritte verstärkten sich in der Leere der Straßen zum Trittschall einer gejagten Menschenmenge. Doch es war nicht mein Vater, sondern mein Sohn, der mich so arglos ansprach.

In der Gay Street sind die Verkehrsampeln bereits ausgeschaltet. Die Straßenbahngleise schimmern in ihrem Bett; ein spätes Auto fährt vorüber und hinterlässt eine lange Reifenspur. In der langen Arkade der Busstation hallen die Schritte wie Gelächter wider. Er marschiert dunkel auf seine dunkel marschierende Gestalt im Glas der Bahnhofstür zu. Sein Spiegelbild nähert sich von der anderen Seite des Lebens wie eine autoskopische Halluzination, Suttree und Gegensuttree, Hand greift nach Hand. Die Tür schwang auf, und er trat in den Wartesaal. Die auf den Holzbänken schlafenden Gestalten lagen da wie Schmutzwäsche. In der Herrentoilette ein ältlicher, an der Wand lehnender Päderast.

Suttree wusch sich die Hände, ging wieder hinaus und marschierte an den Flippern vorbei ins Schnellrestaurant. Er setzte sich auf einen Hocker und studierte die Speisekarte. Die Bedienung stand da und klopfte mit dem Bleistift auf den Bestellblock in ihrer Hand.

Suttree blickte auf. Käsetoast und Kaffee.

Sie notierte. Er sah zu.

Sie riss den Zettel vom Block, legte ihn mit der Vorderseite nach unten auf die Marmortheke und entfernte sich. Suttree musterte die Umrisse ihrer Unterwäsche, die sich durch die dünne weiße Kluft abzeichnete. Im Hintergrund arbeitete ein junger Schwarzer im Geklapper dampfenden Geschirrs. Suttree rieb sich die Augen.

Die Bedienung kam mit dem Kaffee und stellte ihn klirrend ab; er schwappte über den Rand der rosa Plastiktasse und floss auf den Unterteller. Suttree goss ihn zurück und nippte. Bitter wie verbrannte Socken. Sie kam mit Serviette und Löffel wieder. Ein Ring aus goldenen Orangenblüten schloss sich eng um ihren feisten Finger. Suttree nippte noch einmal am Kaffee. Ein paar Minuten später brachte sie das Sandwich. Suttree hielt eine Ecke davon kurz an die Nase, kräftiger Duft nach Toast, Butter und geschmolzenem Käse. Dann nahm er einen gewaltigen Bissen, lutschte die Gurke vom Zahnstocher und schloss kauend die Augen.

Als er fertig war, zog er einen Vierteldollar aus der Tasche, legte ihn auf die Theke und erhob sich. Die Bedienung stand hinter der Kaffeemaschine und beobachtete ihn.

Noch Kaffee?, sagte sie.

Nein danke.

Schaun Sie mal wieder rein, sagte sie.

Suttree stieß die Tür mit der Schulter auf, die eine Hand in der Tasche, die andere mit dem Zahnstocher beschäftigt. Über einer nahen Sitzbank tauchte ein Gesicht auf, äugte schlaftrunken zu ihm herüber und versank wieder.