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Ein Milliardendeal – und ein System, in dem ein Menschenleben nichts wert ist: Der Thriller »Der Feuerdrache« von Lisa See als eBook bei dotbooks. Warum musste diese junge Frau sterben? Der mysteriöse Selbstmord einer Arbeiterin führt Inspektorin Liu Hulan in ein Dorf tief im Inneren Chinas: Hier hat die schwangere Frau in der Fabrik des internationalen Spielzeugkonzerns »Knight« gearbeitet, für die Hulans Freund, der amerikanische Staatsanwalt David Stark, gerade einen großen Verkaufsdeal überwachen soll. Hulan ist überzeugt, dass die Firma etwas mit dem Tod der Frau zu tun hat. Um mehr zu erfahren, beginnt die Inspektorin, undercover für »Knight« zu arbeiten – und findet heraus, dass die »Unfälle«, die hier täglich geschehen, das Werk eines eiskalten Killers sind. Doch je näher Hulan und David ihm kommen, umso klarer wird, dass er vor nichts zurückschreckt – auch nicht vor Brandstiftung, die hunderte Unschuldige töten könnte … »Gut recherchiert und ein nuanciertes Bild des heutigen China!« Washington Post Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Der Feuerdrache« von Lisa See ist der zweite Fall Fall für ihr amerikanisch-chinesisches Ermittlerteam Liu Hulan und David Stark. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 742
Über dieses Buch:
Warum musste diese junge Frau sterben? Der mysteriöse Selbstmord einer Arbeiterin führt Inspektorin Liu Hulan in ein Dorf tief im Inneren Chinas: Hier hat die schwangere Frau in der Fabrik des internationalen Spielzeugkonzerns »Knight« gearbeitet, für die Hulans Freund, der amerikanische Staatsanwalt David Stark, gerade einen großen Verkaufsdeal überwachen soll. Hulan ist überzeugt, dass die Firma etwas mit dem Tod der Frau zu tun hat. Um mehr zu erfahren, beginnt die Inspektorin, undercover für »Knight« zu arbeiten – und findet heraus, dass die »Unfälle«, die hier täglich geschehen, das Werk eines eiskalten Killers sind. Doch je näher Hulan und David ihm kommen, umso klarer wird, dass er vor nichts zurückschreckt – auch nicht vor Brandstiftung, die hunderte Unschuldige töten könnte …
»Gut recherchiert und ein nuanciertes Bild des heutigen China!« Washington Post
Über die Autorin:
Lisa See entstammt einer chinesisch-amerikanischen Familie. Sie wurde in Paris geboren und wuchs in Los Angeles in Chinatown auf. Dreizehn Jahre lang arbeitete sie als Journalistin für Publishers Weekly. Später betreute sie als Kuratorin mehrere große Ausstellungen, die sich mit interkulturellen Beziehungen zwischen Amerika und China beschäftigen. Bereits ihr erstes Buch, eine Biographie ihrer Familie, war ein internationaler Bestseller und erhielt die »Notable Book«-Auszeichnung der New York Times. Dieselbe Auszeichnung bekam sie auch für ihren bald darauf folgenden ersten Thriller »Die rote Klinge«. Sie wurde als »National Woman of the Year« ausgezeichnet, erhielt den »Chinese American Museum’s History Makers Award« und den »Golden Spike Award« in Kalifornien. Mit ihrem Roman »Der Seidenfächer« gelang ihr ein Weltbestseller, der auch verfilmt wurde. Heute lebt sie in Los Angeles.
Lisa See veröffentlichte bei dotbooks bereits die historischen Romane »Der Seidenfächer« und »Eine himmlische Liebe«, außerdem »Töchter aus Shanghai« und »Tochter des Glücks« aus ihrer Reihe um »Die Frauen von Shanghai«.
Zudem erscheint bei dotbooks auch ihre Thrillerreihe um die Polizistin Liu Hulan und den Staatsanwalt David Stark mit den Bänden »Die rote Klinge«, »Der Feuerdrache« und »Tod am Jangtse«.
Die Website der Autorin: www.lisasee.com
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eBook-Neuausgabe März 2023
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »The Interior« bei Random House, New York.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1999 by Lisa See
Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 by Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Elfriede Peschel liegen bei Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgsgruppe GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-491-3
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Lisa See
Der Feuerdrache
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Elfriede Peschel
dotbooks.
Heute versprach es einer der heißesten Tage des langen Sommers im Landesinneren Chinas zu werden. Die schwere Hitze versengte die Erde mit allem, was darauf war, Ling Suchee klebten die Kleider schon nach dem kurzem Weg zu ihrem Stückchen Land, auf dem sie Gemüse für den Eigenbedarf anbaute, auf der Haut. Suchee entschied sich für eine Rübe und zwei grüne Zwiebeln und zog sie vorsichtig aus der roten Erde. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie sich um. Vor ihr erstreckten sich die Felder, die Luft flimmerte in wogenden Wellen. Kein Baum sorgte für Schatten oder bot Schutz.
Wo war ihre Tochter?
Suchee schielte zur Bruchsteinmauer hinüber, der Abgrenzung zwischen Feldern und Schweinestall. Letzte Nacht hatte sie gesehen, wie Miaoshan davor stehen blieb, als berge die Mauer ein Geheimnis. Jetzt war Miaoshan nicht mehr da, und Suchee ging wieder in ihr Häuschen. Sie schnitt Brötchen auf, legte auf jedes eine Zwiebel und ein Stück Rübe und drückte das Brot zusammen. Auf Miaoshan zu warten, wäre sinnlos, entschied Suchee und nahm den ersten Bissen ihres scharfen Frühstücks. Offenbar war Miaoshan unterwegs, um sich mit ihrem Verlobten Tsai Bing zu treffen. Gestern Abend hatten sie miteinander gesprochen, und heute Morgen trafen sie sich vermutlich wieder, um Pläne zu schmieden. Suchee biss wieder von ihrem Brötchen ab und versuchte nicht daran zu denken, welche Scham die Schwangerschaft ihrer Tochter bedeutete, wohl wissend, dass sie sich stattdessen auf die Freude konzentrieren sollte, die sie erwartete. Eine Hochzeit. Ein Baby. Und all dies schon in Kürze.
Aber der Angst Herr zu werden, war gar nicht so leicht. Während der Nacht war Suchee von beunruhigenden, verstörenden Träumen gequält worden, und auch jetzt schwitzte sie nicht nur wegen der sommerlichen Hitze, sondern aus blanker Furcht, die sie an das alte Sprichwort erinnerte: Fünfzehn Eimer, die Wasser aus dem Brunnen holen – sieben kommen nach oben, acht gehen nach unten. Letzte Nacht hatte sie mehr Eimer Schlaf verloren als gewonnen. Suchee schüttelte die unschöne Erinnerung ab. Sie sammelte die Krümel vom Tisch und streute sie draußen für die Hühner auf die Erde. Dann ging sie hinter das Haus, das nur aus einem Raum bestand und schalt sich dafür, dass sie ihren nächtlichen Träumen erlaubte, zu ihren Tagessorgen zu werden. Immer wieder beobachtete sie die Umgebung und machte bei ihrem Rundgang über die festgetretene Erde eine Bestandsaufnahme ihres Eigentums. Sie zählte ihren Reichtum – drei Hühner vor dem Haus, sechs Enten hinter dem Haus – alle gesund. Ihr Blick fiel auf das Schwein – wohlgenährt und lebendig. Aber wo war das Mädchen?
Wieder richtete Suchee ihren suchenden Blick über die Felder, diesmal auf den vor Hitze weißen Himmel. Es war keine Wolke zu sehen, also würde es auch keinen Regen geben, der Erleichterung von der Hitze brächte. Es war so, wie es sein sollte. Die meisten Bauern wussten, wann sie mit einem Unwetter rechnen mussten, denn wenn es regnete, würde es tagelang wie aus Kübeln schütten und manchmal eine ganze Ernte, einen ganzen Bauernhof, ein ganzes Dorf fortspülen. Hielt dieser Tag einen Sandsturm parat? War es das, was sie spürte? Im Frühling waren Sandstürme nichts Außergewöhnliches, und Suchee und Miaoshan hatten viele Male zugesehen, wie die Erde zum Land eines anderen Bauern in einem Nachbarbezirk geweht wurde. Spürte sie das? Eine Tragödie, die sich in der falschen Jahreszeit ereignete und am Ende des Tages ihre Ernte vernichten würde.
Als Suchee sich dem Schuppen näherte, überwältigte sie wieder das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie sah ihre Werkzeuge am schmutzigen Mauerbehang lehnen. Jemand hatte sie anders hingestellt. Sie gehörte nicht zu den dummen Landarbeitern, sie achtete auf ihr Werkzeug. Dank dieser hatte sie sich und ihre Tochter all die Jahre ernähren können. Hatte Miaoshan sie umgestellt? Das wäre nicht recht, denn die Mutter hatte der Tochter den Wert von Achtsamkeit und Ordnung gelehrt. Dann fiel Suchee auf, dass ihre Leiter fehlte. Offenbar waren Diebe in der Nacht gekommen und hatten sie gestohlen! Wenn sie schon die Leiter mitgenommen hatten, dann konnten sie auch ihren Ochsen geraubt haben.
Suchee eilte zum Schuppen, hob den Riegel an und stieß die Tür auf. Ehe ihre Augen sich an das düstere Innere gewöhnen konnten, betrat sie den kleinen Raum und stöhnte, als sie stolpernd zu Boden fiel. Sie versuchte aufzustehen, doch sie war zwischen den Sprossen der Leiter gefangen. Nachdem sie sich befreit hatte, rieb sie sich erst ihr Schienbein, dann einen Ellbogen und wunderte sich, was die Leiter hier zu suchen hatte, wo jeder darüber fallen konnte.
Als sie angestrengt ins Dunkel starrte, sah sie zwei Füße langsam hin und her baumeln. Mit wachsender Furcht folgten Suchees Augen diesen Füßen bis zu den Knien und weiter zu den Schenkeln, dem Oberkörper, schließlich bis zum Hals und Kopf ihrer Tochter. In Suchees Kehle formte sich ein Schrei, als sie Miaoshans Kopf sah, der sich in einem unnatürlichen Winkel neigte. Ein Teil des Stricks hatte sich in das gedunsene Fleisch ihres Halses gegraben, das andere Ende war über einen roh behauenen Stützbalken geschlungen. Ihre Zunge – violett und dick angeschwollen – hing ihr aus dem Mund. Die Augen traten hervor, als drücke jemand von innen dagegen. Sie blickten weit aufgerissen, gleichsam blind, blutunterlaufen. »Nei-ei-ein«, jammerte Suchee, als sie eine der Fliegen, die bereits den Kopf ihrer Tochter umsummten, sich aus dem Schwarm lösen sah, um herunter zu stoßen und sich im Winkel von Miaoshans reglosem rechten Auge niederzulassen.
Suchee mühte sich, auf die Beine zu kommen, verfing sich aber wieder in den Sprossen der Leiter. Als sie das Gleichgewicht gefunden hatte, griff sie nach ihrer Tochter. Kraftvoll legte Suchee ihre sehnigen Arme um Miaoshans Hüften und hob ihren Körper an, um ihren Hals von der Last zu befreien. Aber als sie dort stand – den Kopf an die kleine, harte Wölbung des Bauchs ihrer Tochter gedrückt –, wusste Suchee, dass es zu spät war. Miaoshan war tot wie das Enkelkind, das in ihr lag.
Die drei Generationen verharrten lange in dieser Position. Endlich ließ Suchee die Beine ihrer Tochter los und ging die Sense holen. Sie verspürte eine Leere, die weit über den fernen Horizont hinausreichte.
Diese ersten Augenblicke, nachdem sie Miaoshan gefunden hatte, sollten sich unauslöschlich in Suchees Gedächtnis einbrennen: wie sie die Leiche abschnitt und auf den gestampften Boden des Schuppens legte, dann entlang der erhöhten Fußpfade zwischen den Feldern bis zum Land ihrer Nachbarn rannte. Die Familie Tsai – Mutter, Vater und der einzige Sohn – arbeitete bereits, vornüber gebeugt jäteten sie Unkraut zwischen ihren Getreidepflanzen. Beim Klang von Suchees Schreien blickten sie gleichzeitig auf, wie ein kleines Rudel Wild, das von einem Raubtier aufgeschreckt wird. Dann fingen auch sie an zu schreien und rannten auch zum Hof der Lings zurück.
Angesichts dieses Vorfalls setzte Tsai Bing, Miaoshans Verlobter, endlich seinen Kopf ein. Mit dem Versprechen zurückzukommen rannte er los, die rote Staubstraße hinunter, die zuerst zur Autostraße und dann ins Dorf Da Shui führte. Eine Stunde später kehrte er mit Polizisten aus dem Amt für öffentliche Sicherheit zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits einige andere Nachbarn hinzugesellt, um den Lauf der Katastrophe zu verfolgen. Der verantwortliche Beamte stellte sich förmlich als Hauptmann Woo vor, obwohl sie ihn alle von Kindheit an kannten. Er bestand darauf, dass die Nachbarn auf ihre eigenen Höfe zurückkehrten. Im Vorbeischlurfen murmelten sie ihre Beileidsbekundungen. Tang Dan, der reichste von Suchees Nachbarn, blieb vor ihr stehen und sprach sie höflich an: »Es tut uns so Leid, Ling Taitai. Solltest du irgendetwas benötigen, dann vergiss nicht, dich an mich zu wenden. Ich werde dir auf jede nur erdenkliche Weise helfen.« Dann ging auch er, und nur die Polizei, Suchee und die Tsais blieben zurück.
»Tante Tsai, Onkel Tsai«, sagte Woo unter Verwendung der höflichen Anredeform, »ihr habt viel Arbeit zu erledigen. Wir werden uns hier um alles kümmern. Und du, Tsai Bing, hilf deinen Eltern. Wir kommen vorbei, wenn wir euch brauchen.«
Madame Tsai richtete ihren fragenden Blick erst auf Suchee, dann auf Hauptmann Woo und wieder auf Suchee. Aber alle waren sich in einem Punkt einig: Die Tsais waren unbedeutende Leute. Sie mussten einem Polizisten Gehorsam leisten. Also trotteten die Tsais davon, nur Tsai Bing warf gelegentlich einen Blick über die Schulter.
Jedes Mal, wenn er sich umsah, wurde Suchee von der Erinnerung an das junge Paar aufgerüttelt. Sie musste daran denken, wie gern Miaoshan und Tsai Bing über die erhöhten Fußpfade gelaufen waren, die die Felder abteilten. Ihr Lachen hatte in der Luft geschwebt, es klang so süß in den ersten Frühlingsmonaten. In letzter Zeit hatten sie so glücklich ausgesehen, wie sie es als kleine Kinder gewesen waren, nicht der übliche Argwohn, mit dem sie einander in der Anfangsphase ihrer Verlobungszeit begegnet waren.
Als Tsai Bing nicht mehr zu sehen war, blieb Suchee schweigend stehen, während die schwitzenden Polizeibeamten in ihren Khaki-Uniformen im Schuppen herumliefen und mit ihren groben Fingern in Miaoshans gequetschten Hals bohrten. Als sie sagten, Selbstmord sei etwas Schreckliches, wiederholte sie hartnäckig, dass sie sich irrten, Miaoshan sich niemals selbst das Leben genommen hatte und auch nicht so dumm gewesen war, ihren eigenen Tod durch einen Unfall herbeizuführen. Wieder und wieder sagte sie es ihnen, aber sie wollten nichts davon hören. »Mädchen«, meinte Hauptmann Woo, »können sehr launisch sein. Sie werden zu stark von ihren Gefühlen geleitet. Und Miaoshan ... Ich kenne sie, seit sie ein kleines Kind war. Tut mir Leid, aber sie war ein wildes Kind. Du hattest sie nie unter Kontrolle.«
Dann steckten die Polizeibeamten ihre Notizbücher ein und stiegen in ihre Autos. Kurz bevor sie die zerfurchte rote Sandstraße hinunterfuhren, kurbelte Hauptmann Woo sein Fenster herunter. Er war durchaus ein mitfühlender Mensch und rief ihr höflich zu: »Ling Taitai, du brauchst mir nicht zu sagen, dass es heiß ist. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Man muss sich um Miaoshan kümmern und zwar bald. Wir fahren zurück ins Dorf. Möchtest du mit uns mitfahren?«
Aber Suchee schüttelte den Kopf, ging zurück in ihren Schuppen, setzte sich neben die Leiche ihrer Tochter und nahm das Mädchen sanft in ihre Arme. Sie betrachtete Miaoshans lebloses Gesicht und musste daran denken, wie starrköpfig sie gewesen war. Als sorgende Mutter hätte Suchee schon längst darauf bestehen müssen, dass ihre Tochter Tsai Bing heiratete, aber Miaoshan hatte sich mit den Worten geweigert: »Eine arrangierte Hochzeit ist altmodisch. Außerdem liebe ich Tsai Bing nicht. Er ist viel zu sehr wie ein Bruder zu mir.« Doch die Mütter waren hartnäckig geblieben, und vor zwei Jahren hatten sich beide Seiten auf den Brautpreis geeinigt, obwohl die Kinder noch nicht das für den Trauschein erforderliche Alter hatten.
Trotz der Verlobung hatte Miaoshan ihre Mutter immer und immer wieder angefleht, in der neuen amerikanischen Spielzeugfabrik arbeiten zu dürfen, die in ihrer Nähe entstanden war. »Als Arbeiterin verdiene ich mehr Geld, und ich werde keine so große Belastung mehr für dich darstellen«, hatte Miaoshan erklärt. Dies war zum Teil richtig. Geld verdienen konnte sie tatsächlich mehr, aber Suchee brauchte Miaoshans Hilfe, um das Land zu bewässern und zu beackern. Doch Miaoshan hatte sich mit derselben Willensstärke durchgesetzt, die sie schon mit drei Jahren gezeigt hatte – ein Alter, in dem alle chinesischen Kinder ihre wahre Persönlichkeit zu zeigen beginnen. »Der einheimische Ingwer ist für Miaoshan nicht würzig genug«, pflegten die Nachbarn oft zu sticheln und wollten damit zum Ausdruck bringen, dass sie ihren Blick immer auf den Horizont gerichtet hatte, weil sie dachte, jenseits seiner unsichtbaren Grenze seien die Dinge besser. Und so hatte Suchee, als Miaoshan ihre Bitte, in die Fabrik gehen zu dürfen, wiederholte, trotz ihres Bedauerns, ihre Tochter als Hilfe und Gefährtin zu verlieren, sie vor sechs Monaten im dunkelsten Monat des Winters ziehen lassen. Niemals, niemals, niemals hätte sie das zulassen dürfen.
Als Miaoshan zu ihrem ersten Besuch nach Hause kam, war sie verändert. Unter ihrer alten Jacke trug sie einen im Laden gekauften Pullover und amerikanische nu zai ku – auch »Cowboyhosen« genannt. Aber was Suchee wirklich entsetzte, war das Gesicht ihrer Tochter. Für eine Schönheit hatte man Miaoshan nie gehalten. Wenn andere Mütter sie als Baby gesehen hatten, hatten sie mitleidig den Kopf geschüttelt, was einer der Gründe für Suchees Erleichterung war, als Tsai Bings Mutter den Ehestifter schickte. Doch bei ihrer Rückkehr von ihrer Arbeit waren Miaoshans Wangenknochen, die immer eckig und blass neben den perfekten runden Gesichtern der Nachbarskinder gewirkt hatten, rosa angemalt. Ihre Lippen waren in kräftigem Rubinrot nachgezogen. Ihre Augen waren schwarz umrandet, und ihre Lider wirkten schwer unter dem dunklen Grau. Sie sah wie der berühmte Filmstar Gong Li aus. Nein, sie sah wie ein amerikanischer Filmstar aus. Selbst im Tod erkannte Suchee, wie schön, westlich und absolut fremdartig ihre Tochter aussah.
Jedes Mal, wenn Miaoshan nach Hause kam, wuchs in Suchee die Verstörung über die Veränderungen ihrer Tochter. Während ihres letzten Besuchs hatte sie etwas gesagt, was Suchee innerlich frieren ließ. Miaoshan hatte von einem Treffen berichtet, zu dem es mit einigen der anderen Mädchen in der Fabrik gekommen war. »Die richtige Information ist besser als eine Gewehrkugel«, hatte sie gesagt. »Hast du sie, kannst du nicht verlieren. Ohne sie wirst du nicht überleben.« Ihre Worte hatte sie mit einem leichten Lachen begleitet und dann das Thema gewechselt, aber die Erinnerung daran haftete an Suchee, weil sie sehr genau wusste, dass vor vielen Jahren Menschen, die solche Parolen zitierten, bestraft wurden. Und jetzt war Miaoshan ... vernichtet worden.
Sie strich das Haar aus Miaoshans Gesicht und spürte dabei, wie die Wärme des Tages in ihre Haut eindrang, anstatt sie zu verlassen. Hauptmann Woo hatte Recht. Suchee konnte ihre Tochter nicht hier in der Sommerhitze verfaulen lassen. Sie beherrschte ihre Trauer und unterdrückte vorübergehend den Entschluss, der wie ein Samenkorn nach einem frischen Frühlingsregen langsam in ihr keimte, und begann, das Begräbnis ihrer Tochter zu planen. Sie war eine arme Frau, das war wohl wahr. Aber sie war zudem Witwe, und in den zehn Jahren seit dem Tod ihres Ehemannes hatte sie hier und dort ein wenig gespart, weil man nie wissen konnte, was die Zukunft brachte. Man musste immer mit einer Dürrezeit, einer Krankheit, politischem Aufruhr, einem Begräbnis rechnen.
Sie legte Miaoshans Leiche vorsichtig auf den Boden, stand auf und betrachtete die reglose Gestalt. Dann ging sie eine Schaufel holen. Sie benutzte die Route, die nur sie allein kannte. Suchee fand die Stelle und grub, bis die Schaufel auf die Metallkiste traf, in der sie ihre Ersparnisse und die wichtigen Papiere aufbewahrte. Nachdem sie das Geld herausgenommen und die Kiste wieder eingegraben hatte, war Suchee verschwitzt und schmutzig, aber sie nahm sich nicht die Zeit, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen oder ihre Arme und Beine zu waschen. Sie stellte die Schaufel zurück und machte sich die Sandstraße entlang auf den Weg.
Ihr erstes Ziel in der Stadt war der feng shui Meister. Der Wahrsager versprach, wie es der Jahrtausende alte Brauch verlangte, die Eigenschaften des feng shui – Wind und Wasser – zu wiegen, um die Begräbnisstätte zu finden, die für den neuen Geist am geeignetsten sei. Zu diesem Zweck würde er Miaoshans Horoskop untersuchen und den politischen Hintergrund ihrer Eltern mit einbeziehen. Danach würde er auf den Friedhof gehen, um sich mit den bereits dort ansässigen Geistern zu beraten. All dies erklärte er Suchee, aber als sie ihm eine größere Anzahl von Geldscheinen als üblich in die Hand drückte, beschleunigte er seine Entscheidung. Miaoshan würde bei der leichten Erhebung des Friedhofs beerdigt werden, wo sie in alle Ewigkeit der Wärme des Südens entgegensah.
Suchee verließ den feng shui Meister und beeilte sich, ihre anderen Besorgungen zu erledigen. Aber wie schwer fiel es ihr jetzt, die Hauptstraße dieses Dorfes entlangzugehen. Sie sah die vertrauten Gesichter – die Frau, die Geschirr verkaufte, das mit bunten Emailleblüten geschmückt war, den Mann, der die Kanister für die Laternen mit Kerosin füllte, den alten Mann, der kaputte Fahrräder reparierte. Im Dorf Da Shui machten Neuigkeiten rasch die Runde. Als sie an diesen Leuten vorbeilief, legte sich ein Schatten des Mitgefühls auf ihre Gesichter, und sie senkten respektvoll ihre Häupter, aber Suchee nahm nichts davon wahr.
Stattdessen drängten sich ihr unentwegt Bilder aus Miaoshans Leben auf. Als Kleinkind in geschlitzten Hosen. Als Mädchen in einer Steppjacke aus verblichenem Blau, ganz in das Lernen vertieft, fleißig chinesische Zeichen übend und ihr Englisch rezitierend. Als die junge Frau, zu der sie vor kurzem geworden war, und die ihr manchmal wie eine Fremde vorkam. »Eines Tages werde ich genug Geld verdienen, damit wir diesen Ort hier verlassen können«, hatte sie wiederholt mit solcher Überzeugung versichert, dass Suchee ihr geglaubt hatte. »Wir werden nach Shenzhen gehen, vielleicht sogar nach Amerika ...« Leicht zog Suchee an ihrem Haar und versuchte, das Bild ihrer Tochter zu verscheuchen. Leise schrie sie, Wie konnte das geschehen?
Beim Kurzwarenhändler kaufte Suchee Papier in verschiedenen Farben, um am Abend daraus Opfergaben zuzuschneiden, die am Grab verbrannt werden sollten. Auf diese Weise würde Miaoshan, die im Leben arm gewesen war, in der Nachwelt von Kleidern, einem Auto, einem Haus und Freunden umgeben sein. Und um die Hungergeister von Miaoshans Grabbeigaben abzulenken, würde Suchee einen Topf Reis kochen, um ihn dann auf das Feuer zu streuen. Mit dem Erlöschen der Flammen würde dann auch ihre Tochter für immer verschieden sein.
Eine Besorgung hatte Suchee noch zu erledigen – ein Sarg musste gekauft werden. Bestatter Wang, der wusste, dass Suchee fast genauso arm war wie er, schlug vor, das Mädchen verbrennen zu lassen. Aber Suchee schüttelte den Kopf. »Ich möchte einen Sarg, einen guten«, beharrte sie.
»Ich kann Ihnen etwas Hübsches machen«, sagte Wang. »Sehen Sie das Holz da drüben? Das wäre doch bestens geeignet für sie.«
Aber als Suchee mit ihren Fingerkuppen über die raue Maserung strich, schüttelte sie wieder den Kopf. Sie sah sich um, bis ihre Augen auf einen roten Lacksarg mit handgeschmiedeten Beschlägen fielen. »Dieser da«, sagte sie und deutete darauf. »Der ist der Richtige für Miaoshan.«
»Oh, der ist viel zu teuer! Die kauft mein Neffe in Beijing und schickt sie mir. Anfangs habe ich gedacht, mein Neffe hätte mich aus dem Geschäft verdrängt! Diese Art von Sarg ist für einen Roten Prinzen, aber doch nicht für jemanden aus unserem armen Dorf. Aber heutzutage ...« Der Bestatter rieb sich das Kinn. »Wir haben nun einigen Wohlstand in unserem Dorf. Ich bewahre ihn für einen unserer Dorfältesten auf. Es sind alles alte Männer, die bestimmt nicht ewig leben werden.«
Aber Suchee schien gar nicht zuzuhören. Sie durchquerte den kleinen, heißen Raum und legte ihre Hände auf die purpurrote Sargfläche. Dann drehte sie sich um und sagte: »Den nehme ich.« Ehe Wang Einwände erheben konnte, griff Suchee bereits in ihre Tasche und zog ein Bündel alter Banknoten heraus, um sie zu zählen. Sie war nicht darauf eingestellt, mit ihm zu handeln, wie sie das unter anderen Umständen getan hätte, und er, wie man zu seiner Ehre sagen muss, betrog sie nicht, sondern nahm einen fairen Preis, an dem er dennoch ordentlich verdiente. Bestatter Wang überlegte daraufhin, dass sein Neffe vielleicht doch noch ein paar Lacksärge ins Dorf schicken sollte, wenn schon eine Bauersfrau wie Ling Suchee bereit war, einen solchen Sarg für eine unbedeutende Tochter zu erwerben.
Nachdem der Handel mit Wang abgeschlossen war, trat Suchee wieder in das grelle Sonnenlicht hinaus. Mit jeder ihrer Besorgungen wuchs ihre Entschlossenheit. Sie würde Hauptmann Woo zwingen, sie anzuhören. Sie überquerte die Straße und ging zu dem Gebäude, in dem das Amt für Öffentliche Sicherheit untergebracht war. Dort wartete sie, während eine Sekretärin in ein Büro trat, um mit dem Hauptmann zu sprechen. Als sie zurückkam, hatte sie eine abweisende Miene aufgesetzt. »Der Hauptmann ist beschäftigt«, erklärte die Frau. »Er sagt, Sie sollen wieder nach Hause gehen. Seien Sie eine gute Mutter. Sie haben eine Pflicht zu erfüllen, wissen Sie. Kümmern Sie sich um Ihre Tochter.« Die Stimme der Frau wurde ein klein wenig weicher. »Sie haben viel für sie zu erledigen. Gehen Sie.«
»Aber ich muss ihm sagen –«
Die Sekretärin gewann ihre Standhaftigkeit zurück. »Ihr Fall ist gehört worden. Hauptmann Woo hat die Akte bereits geschlossen.«
»Wie ist das möglich?«, wunderte sich Suchee. »Hauptmann Woo hat überhaupt keinen befragt. Er hat nicht einmal mich gefragt, ob Miaoshan Feinde hatte. Wir sind ein kleines Dorf, aber Sie und ich, wir wissen doch beide, wie viele Geheimnisse es hier gibt. Warum fragt er nicht danach?«
Anstatt darauf zu antworten, erklärte die Sekretärin: »Die offizielle Akte ist geschlossen.« Und fügte noch ergänzend hinzu: »Bringen Sie sich doch nicht in Schwierigkeiten.«
Suchee beugte ihr Haupt, sah hinunter auf ihre schwieligen Füße und versuchte aufzunehmen, was sie eben gehört hatte.
»Gehen Sie«, drängte die Sekretärin, und ein schriller Ton schlich sich in ihre Stimme. »Wir bedauern alle Ihren Verlust, aber Sie müssen jetzt gehen. Wenn nicht, werde ich ...«
Suchee richtete sich langsam auf, sah der Frau direkt in die Augen und warf ihr den schlimmsten Fluch entgegen, den sie sich vorstellen konnte. »Scheiß auf deine Mutter«, sagte sie und ging hinaus.
Sie lief auf direktem Weg zum Postamt, obwohl sie wusste, dass sie am Silk Thread Café vorbei musste. Beim Näherkommen sah sie die Dorfältesten – manche alt, manche nicht ganz so alt, aber alle in sauberen, gebügelten weißen Hemden, die all jene vor den Kopf zu stoßen schienen, die auf den steinigen Feldern rund um das Dorf arbeiteten – wie gewohnt an ihren Tischen vor dem Café sitzen. Als die Männer sie kommen sahen, verstummte ihr Gespräch, so dass nur noch der Klang des Fernsehers aus dem Inneren des Cafés zu hören war.
Sie hielt ihren Blicken stand. Das bedrohliche Bild ihrer im Schuppen baumelnden Tochter vor Augen, sagte sie: »Ihr werdet zahlen. Dafür lasse ich euch zahlen, und wenn es mich meinen letzten Atemzug und meinen letzten Tropfen Blut kostet.«
Dann reckte sie ihr Kinn und setzte ihren Weg zur Post fort, wo sie Papier, einen Stift und einen Umschlag kaufte. An der Theke schrieb sie langsam und mühselig ein paar Zeichen. Dabei kam es ihr auf ein ordentliches Schriftbild und eine klare Aussage an, so gut es ihre dürftige Beherrschung der geschriebenen Sprache erlaubte. Dann schrieb sie – indem sie von einem Stück Papier abschrieb, das sie aus der im Feld vergrabenen Kiste mitgebracht hatte – auf den Umschlag Namen und Adresse der einzigen Regierungsbeamtin, die sie kannte, Liu Hulan, die vor vielen Jahren hier im Dorf gelebt und gearbeitet hatte.
An diesem Morgen erwachte Liu Hulan wie jeden anderen Morgen in diesem Sommer in Beijing, noch bevor es hell wurde, von dem betäubenden Klang der Trommeln, Zimbeln, Gongs und, am schlimmsten von allem, dem entsetzlichen Quieken einer suo-na, einem Blasinstrument mit vielen Pfeifen, das über mehrere Häuserblocks, wenn nicht sogar kilometerweit zu hören war. Wetteifernd mit den Instrumenten hörte man die überschwänglichen Stimmen, Freudenschreie und Rufe der Shisha Hutong Yang Ge Volkstanz- und Musiktruppe. Das war nur der Beginn einer dreistündigen Veranstaltung, die diesen Morgen offenbar direkt vor dem Familiensitz der Hulans stattzufinden schien.
Hulan hüllte sich eilig in ihren seidenen Morgenmantel, schlüpfte in ein Paar Tennisschuhe und trat auf die überdachte Veranda vor ihrem Schlafzimmer hinaus. Obwohl es erst vier Uhr war, war die Luft vor Hitze, Feuchtigkeit und Smog zäh wie Leim. Wenn die Sommersonnenwende erst einmal vorbei war, bereiteten sich die Beijinger auf die Ankunft von Xiao Shum vor, die Leichten Hitzetage. Aber in diesem Jahr war Da Shu, die Große Hitze, zeitig gekommen. In den vergangenen Wochen war das Thermometer an fünf aufeinander folgenden Tagen auf über zweiundvierzig Grad gestiegen, und das bei einer Luftfeuchtigkeit von nahezu achtundneunzig Prozent.
Hulan durchschritt rasch den Innenhof, vorbei an den Pavillons, in denen früher die verschiedenen Zweige ihrer großen Familie gelebt hatten. Auf den Stufen eines dieser Gebäude wartete bereits die Krankenpflegerin ihrer Mutter – fertig angekleidet in schlichten Baumwollhosen und einer kurzärmeligen weißen Bluse. »Beeilen Sie sich, Hulan. Halten Sie sie auf. Ihrer Mutter geht es schlecht heute Morgen.« Hulan antwortete nicht, denn für sie und die Pflegerin war dies seit drei Wochen Routine.
Hulan erreichte den ersten Hof, stieß das Tor auf und trat auf die Gasse, die sich vor dem Anwesen ihrer Familie erstreckte. Dort bewegten sich an die siebzig Frauen, alles Seniorinnen. Die meisten waren in rosafarbene Seidentuniken gekleidet, einige trugen auch grelles Grün. Letztere, so hatte Hulan vor einer Woche erfahren, kamen von der Himmelstor Tanzgruppe, nachdem man sich gestritten hatte, wer den Tanz im eigenen Viertel anführen sollte. Die Leute sahen farbenprächtig und – das musste Hulan zugeben – in ihren Kostümen reizend aus: Pailletten schmückten ihre Fächer, Glitzergirlanden und weiße Flaumfederbüschel schwangen sie im Takt der Musik. Die Körper der alten Menschen drehten sich schwerelos zu den Trommeln und Zimbeln in einem Tanz, der einer Mischung aus Häschenhüpfen und Schlenderschritt gleichkam.
»Freunde, Nachbarn«, versuchte Hulan sich schreiend Gehör zu verschaffen, »bitte, zieht doch weiter, ich bitte euch.« Natürlich beachtete sie niemand. Hulan mischte sich unter die Tänzer, als diese sich aus ihrer Kreisform lösten und sich zu Reihen formierten.
»Oh, Inspektor! Einen wunderschönen Morgen!« Diese Begrüßung kam von Ri Lihan, einer Frau in den Achtzigern, die fünf Anwesen weit entfernt wohnte. Ehe Hulan antworten konnte, wirbelte Madame Ri schon davon.
Hulan versuchte, erst eine, dann eine andere Tänzerin festzuhalten, aber jedes Mal glitten sie lachend an ihr vorbei, die runzeligen Gesichter rosig und verschwitzt. Hulan bahnte sich ihren Weg von den Tänzern zu den Musikern. Die Wangen des Mannes, der die suo-na blies, waren aufgebläht und rot. Der diesem Instrument entströmende Klang war hell, laut und dissonant. Sich mit Worten zu verständigen, war unmöglich, aber als die Musiker Hulan auf die Taschen ihres Morgenmantels klopfen sahen, tauschten sie wissende Blicke aus. Das hatten sie ihre Nachbarin, Liu Hulan, schon einmal tun sehen. Sie suchte nach ihrem Ausweis vom Ministerium für Öffentliche Sicherheit, aber wie dies bei diesen frühmorgendlichen Exkursionen häufig vorkam, hatte sie ihn auch diesmal vergessen. Die Musiker strahlten und nickten der Inspektorin zustimmend zu.
Noch immer klirrend, trommelnd, trompetend bewegten die Musiker sich langsam die Gasse hinunter. Auf dieses Zeichen hin folgten die Alten – unter Beibehaltung ihres Tanzrhythmus – und defilierten an Hulan vorbei. Sie wartete, dass auch Madame Zhang vorbeitanzte, aber da sie nicht dabei war, ging Hulan zum Haus der alten Frau und verfluchte im Stillen diese Nostalgiewelle, die derzeit durch die Stadt wogte. Feierten die Restaurants in einem Monat »die guten alten Zeiten« der Kulturrevolution, gab es im nächsten Monat einen Ansturm auf Mao-Anstecknadeln zum Sammeln. Stürzten sich heute alle auf Weißwein im westlichen Stil, gemischt mit Coca-Cola und Eis, holten morgen die alten Leute ihre zerknautschten yang ge Kostüme und Instrumente aus Kisten und Schränken und stürmten wie ein Haufen Teenager auf die Straße.
Yang ge Musik hatte ihren Ursprung bei den Bauern in Chinas Nordosten und war 1949 von der Volksbefreiungsarmee nach Beijing gebracht worden. Nach Jahren der Entbehrung und politischer Unruhen hatten die alten Menschen nun die beiden Zwillingsleidenschaften – Tanzen und Singen – zu neuem Leben erweckt. Die einzigen Probleme, die sich dadurch ergaben – und soweit es dabei um Hulan ging, waren es große Probleme – waren die Tageszeit und der Lärm. Obwohl China ein so großes Land war, gab es nur eine Zeitzone. Während also im Westen die Bauern erst auf ihre Felder gingen, wenn gegen neun Uhr die Sonne aufging, fing in Beijing der Tag unvernünftig zeitig an. Von ihrer Seelenverfassung her hasste Hulan es, vor sechs Uhr aufzuwachen, geschweige denn um vier Uhr morgens vom gottlosen Krawall der yang ge Truppe geweckt zu werden.
Dieses ständige Geschrei war auch für Hulans Mutter extrem aufwühlend gewesen. Anstatt Liu Jinli mit sentimentaler Sehnsucht oder sorglosen Erinnerungen zu erfüllen, stimmten die rauen Klänge die alte Dame missmutig. Seit der Kulturrevolution war Jinli an den Rollstuhl gefesselt und litt noch immer unter Anfällen von Katatonie. Während der ersten Wochen, die sie wieder in der Stille des hutong verbrachte, hatte ihr Gesundheitszustand sich erheblich gebessert. Aber durch die die Vergangenheit aufwühlende yang ge Musik hatte sich Jinlis Zustand verschlechtert. Dies war auch der Grund, weshalb Hulan in diesem Sommer mehrmals bei der Direktorin des Nachbarschaftskomitees Zhang vorstellig geworden war, um Beschwerde einzureichen. Aber die alte Dame, deren Aufgabe es war, das Kommen und Gehen der Bewohner dieses Beijinger Viertels im Auge zu behalten, hatte sich selbst der Truppe angeschlossen und schien Hulans Verwünschungen gegenüber völlig taub zu sein.
»Huanying, huanying«, sagte Madame Zhang Junying automatisch, als sie Hulan die Tür öffnete. Als sie dann aber sah, wie ihre Nachbarin gekleidet war, zog die ältere Frau Hulan rasch ins Haus. »Wo sind Ihre Tageskleider? Wollen Sie den Nachbarn Angst einjagen?«
»Da gibt es nichts zu sehen, was sie nicht schon gesehen haben«, erklärte Hulan und zog dabei ihren Morgenmantel fester um ihren Körper.
Madame Zhang dachte über diese Worte nach und sagte dann: »Für die meisten mag das ja zutreffen. Mit was für Überraschungen kann einer von uns schon aufwarten? Aber bei Ihnen ...« Die Direktorin des Komitees brachte kopfschüttelnd ihre mütterliche Missbilligung zum Ausdruck. »Setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Tee?«
Wie der Brauch es vorschrieb, verneinte Hulan.
Aber Madame Zhang wollte nichts davon hören. »Setzen Sie sich hierhin. Sie schenken ein. Ich werde nur diese Papiere beiseite legen.« Als Hulan tat, wie ihr geheißen, fuhr die alte Dame fort: »Heute gibt es kein Vergnügen für mich. Ich muss meinen Bericht einreichen. Dieser ewige Papierkram, ist doch so, Hulan?«
»Ich habe noch etwas für Sie, womit Sie Ihren Bericht ergänzen können.«
»Keine Sorge«, gluckste die Komiteedirektorin. »Ich habe Ihre Beschwerden bereits vermerkt. Ganz förmlich, wie Sie mich gebeten haben.«
»Und weshalb wird dann nichts unternommen?«
»Glauben Sie etwa, Sie sind die Einzige, die sich beschwert? Erinnern Sie sich an die Hotline, die von der Regierung eingerichtet wurde, damit die Leute anrufen können? Am ersten Tag gingen fast zweitausend Anrufe ein. Daraufhin haben sie das Telefon abgeschaltet!« Madame Zhang ließ ihre Hände entmutigt auf ihre Knie sinken.
»Den Musikern ist es nicht erlaubt, sich in der Nähe von Wohnungen aufzuhalten ...«
»Oder Krankenhäusern. Ich weiß. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Aber Sie müssen es doch auch mal positiv sehen. Zusammen sind wir etwa sechzigtausend alte Menschen in den verschiedenen Tanztruppen. Wir gehen aus dem Haus und geben jungen Leuten Gelegenheit, allein zu Hause zu sein. Schwiegertöchter sind glücklich. Söhne sind glücklich. Vielleicht bekommen wir nächstes Jahr einen Enkel oder Urenkel –«
»Tante«, unterbrach Hulan sie streng.
Bei diesem Ton wurde Madame Zhang endlich ernst. »Ich weiß noch gut, wie Ihre Mutter nach all den Jahren wieder vom Land in unser Viertel hier zurückkehrte«, sagte sie. »Sie ist doch diejenige, die uns diese Lieder beigebracht hat. Sie ist diejenige, die uns diese Tänze gelehrt hat. Und jetzt erzählen Sie mir, sie möchte nicht, dass wir Lärm machen? Ha!«
»Aber müssen sie das denn so früh am Morgen tun?«
Da legte Madame Zhang ihren Kopf in den Nacken und lachte und lachte. »Wir haben Sommer, Hulan. Wir sind in Beijing. Wie warm ist es um diese Uhrzeit? Achtunddreißig Grad Celsius? Die Leute wollen zeitig üben, bevor es zu heiß wird.«
Die alte Frau beobachtete Hulan, die krampfhaft überlegte, welches Argument sie noch vorbringen könnte. Schließlich beugte Madame Zhang sich nach vorn und legte eine Hand auf Hulans Knie. »Ich weiß, wie hart es für Ihre Mutter sein muss. Aber sie ist nur eine Einzelne, und die Menschen wollen ihr Vergnügen haben.« Ihre Stimme schlug um, wurde schroffer, tiefer. »Wir haben alle viel durchgemacht. Wir möchten einfach den Rest unseres Lebens genießen.«
Später, als Hulan wieder zu ihrem Anwesen zurückging, dachte sie über Madame Zhangs Worte nach. Es stimmte, sie alle hatten viel durchgemacht, zu viel eigentlich. In China würde die Vergangenheit immer Teil der Gegenwart sein. Aber im Unterschied zu ihren Nachbarn verfügte Hulan über das Geld und die Verbindungen, die es ihr erlaubten, dass ihre Familie sich dem gelegentlich entziehen konnte. Und so entwarf Hulan einen Plan. Als sie das Liu-Anwesen erreichte, ging sie direkt in die Wohnung ihrer Mutter. Die Pflegerin hatte Jinli angekleidet, und sie saß jetzt in ihrem Rollstuhl. Ihre Augen waren rotgeweint und geschwollen. Hulan versuchte, mit ihr zu sprechen, aber Jinli hüllte sich in Schweigen. Hulan setzte sich aufs Bett, wählte eine Telefonnummer und vereinbarte, dass ihre Mutter mit der Pflegerin in das Seebad Beidaihe gebracht wurde. Dort hätte sie es kühler und wäre weit weg von den verstörenden Klängen der yang ge Gruppen.
Als Hulan fertig war, erklärte sie Jinli alles sehr genau, wohl wissend, dass diese womöglich nichts davon mitbekam. Dann küsste Hulan ihre Mutter, gab der Pflegerin einige Anweisungen und kehrte in ihre eigenen Gemächer zurück.
Um sieben Uhr trat Liu Hulan in einem cremefarbenen Seidenkleid wieder durch das Tor ihres hutong, vor dem ein schwarzer Mercedes wartete. Ein junger Mann lehnte an der Beifahrertür. »Guten Morgen, Inspektor«, sagte er, als er die Tür öffnete und ihr bedeutete, einzusteigen. »Steigen Sie rasch ein. Ich habe den Motor laufen lassen. Die Klimaanlage funktioniert gut.«
Hulan sank in die weichen Lederpolster. Ihr Fahrer, Ermittler Lo, trat aufs Gas und steuerte den Tiananmen Platz und das Gebäude des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit an. Lo war ein stämmiger Mann – klein, muskulös und besonnen. Da Hulan seine geheime Personalakte gelesen hatte, wusste sie, dass er aus der Provinz Fujian stammte, alleinstehend und ein Experte in mehreren Kampfsportarten war.
Mehrmals während der vergangenen zwei Monate, seit Ermittler Lo ihr zugeteilt worden war, hatte Hulan versucht, ihn in die analytischen Aspekte ihrer Ermittlungen mit einzubeziehen, aber er hatte sorgfältig darauf geachtet, sich nur auf seine Pflichten als Chauffeur zu konzentrieren. Sie hatte ihn eingeladen, mit ihr etwas trinken zu gehen, und dabei gehofft, dass sich über einem Bier eine Freundschaft ergeben könnte, aber Lo hatte auch diese Angebote höflich abgelehnt. Das war sehr merkwürdig. Wer würde schon ein Angebot ablehnen, im Ministerium »die Leiter aufzusteigen«? Dies geschah durch erfolgreich abgeschlossene Fälle, Empfehlungen von Vorgesetzten oder politische Aktivitäten, dank derer Ermittler sich üblicherweise Beförderungen verdienten. Ermittler Lo schien entweder diese Regeln nicht zu kennen oder keinerlei Begabung für Dinge dieser Art zu haben, doch das überraschte Hulan nicht.
Ihr alter Fahrer Peter war darauf angesetzt worden, sie auszuspionieren. Doch trotz seines Mangels an persönlicher Loyalität hatte Hulan gelernt, seinem Urteil und seinen Instinkten zu vertrauen. Nun hatte sie gehofft, sich eine ähnliche Beziehung zu Lo aufzubauen, aber er schien sich einzig und allein auf seine Instruktionen von Vizeminister Zai zu konzentrieren, die sich darauf beschränkten, sie im Auge zu behalten und ihr als eine Art Bodyguard zu dienen – ein sich bewegendes Muskelpaket mit der Aufgabe, sie zu beschützen. Mehr als einmal hatte sie Ermittler Lo in seine Schranken verweisen müssen, da er es sich nicht nehmen ließ, Zeugen körperlich zu drangsalieren, die nicht rasch genug auf Hulans Fragen antworteten.
Als sie sich an Vizeminister Zai gewandt hatte, um ihn um Los Versetzung zu bitten, hatte er den Kopf geschüttelt und gesagt: »So soll es sein, Inspektor.« Seine Art – wie er ihre Klagen und Sorgen abtat – war neu für sie. Aber wie sie alle versuchte auch er, sich den Veränderungen anzupassen, die die letzten Monate mit sich gebracht hatten. Wie es im Sprichwort heißt, die Schneide des Grashalms zeigt dorthin, woher der Wind weht. Das einzige Problem dabei war, dass der Wind in letzter Zeit aus so vielen Richtungen wehte und keiner sich vollkommen schützen konnte.
Die vergangenen Monate waren für Hulan besonders aufwühlend gewesen. Ihre Familie war im wahrsten Sinne des Wortes auseinander gerissen worden. Ihr Vater war unter schrecklichen Umständen gestorben, als Hulan ihn als Schmuggler, Verschwörer und Mörder entlarvte. Die Presse – von der Regierung reglementiert – hatte die Geschichte ausgeschlachtet. Berichte über Hulans Eltern, ihre Großeltern, sogar ihre Urgroßeltern waren erschienen – die alle in einem schlechten Licht darstellten. Aber eine Zeitlang hatte die Regierung in Hulans eigener Geschichte eine politisch vorteilhafte Wirkung gesehen, so dass auch ihr Leben untersucht worden war. Fotografien waren aus Zeitungsarchiven wie auch Regierungsakten hervorgekramt worden und zeigten Hulan an verschiedenen Tatorten, auf politischen Versammlungen ihrer Jugend, selbst als kleines Töchterchen eines Paares, in das man damals in Beijing große Hoffnungen setzte. Immer und immer wieder hatte man Hulan mit ihrer Namenspatronin verglichen – Liu Hulan, Märtyrerin der Revolution.
Hulan hatte gedacht, dass dieses Interesse abflauen würde, doch stattdessen war die Berichterstattung in eine andere Richtung umgeschlagen, wofür Bi Peng, ein Reporter von People’s Daily, verantwortlich war. In einem Land, das Wortspiele liebte, war Bi Peng dank seines Namens gut bekannt. Bi war ein Familienname, aber gesprochen klang er wie bi, das Wort für Feder. Und worüber er auch schrieb, es verbreitete sich im ganzen Land. Jetzt hatten zu Hulans wachsender Verlegenheit und Verärgerung mehrere Zeitungen und Magazine Fotos veröffentlicht, die sie als Angehörige der Eliteklasse von Beijing zeigten – als Rote Prinzessin. Hulan war auf einem körnigen Foto, das man von einem Überwachungsvideo kopiert hatte, in einem fuchsiafarbenen Seiden-Cheongsam zu sehen, wie sie im Rumours Nachtklub mit einem Amerikaner tanzte. Das zeigte ihre Dekadenz so eindeutig, als hätte man sie in einem von Beijings neuen Kaufhäusern beim Kauf von Seidenunterwäsche erwischt.
Aber all das war nur Propaganda. Hulan erinnerte sich an diesen Abend im Rumours noch ganz genau. Sie war nicht zum Vergnügen dort gewesen, sondern vielmehr um ein Verbrechen aufzuklären. Der Amerikaner auf dem Foto war David Stark, amerikanischer Anwalt, der nach China gekommen war, um bei der Aufklärung des Falles zu helfen. Zu zweit waren sie erfolgreich gewesen und als Helden gefeiert worden. Aber in China war es für keinen ungefährlich, der zu hoch aufstieg. Bi und die anderen Journalisten hatten aus ihrer Beziehung zu David einen internationalen Skandal gemacht. Wie konnte dieselbe Liu Hulan, in der man immer die tapfere Frau gesehen hatte, sich nun der Verderbtheit des Westens in Gestalt eines amerikanischen Mannes beugen? Hätte sie nicht bai bai – eine umgeformte Mandarin-Englisch Redewendung, die bedeutete, sich von einem Geliebten zu verabschieden, »bye – bye« zu sagen – zu diesem ausländischen Anwalt sagen können? Hatte Inspektorin Liu nicht China Can Say No gelesen, das Buch, das die Notwendigkeit betonte, nein zu amerikanischem Imperialismus, Materialismus und Sexismus zu sagen?
Nichts davon hätte Hulan überraschen dürfen. In der ganzen Welt liebte die Presse es, Menschen groß zu machen, um sie dann abstürzen zu lassen und erneut groß zu machen. Der einzige Unterschied zwischen dem Rest der Welt und China war der, dass hier die Regierung mithalf, den Ton festzulegen.
An den Eisentoren vor dem Gelände des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit zückte Ermittler Lo seine Dienstmarke, und der Wagen wurde durchgewunken. Lo setzte Hulan so nah wie möglich am Eingang ab und fuhr davon, um einen Parkplatz im Schatten zu suchen. Hulan eilte hinein, querte die Eingangshalle und stieg über die Hintertreppe zu ihrem Büro hinauf.
Wie die meisten öffentlichen Gebäude in Beijing hatte auch dieses weder Heizung noch Klimaanlage, um die Bewohner vor den Launen des Wetters zu schützen. Im Winter arbeitete sie im Mantel. Im Sommer trug sie schlichte Seidenkleider oder Hemdkleider aus Leinen und wandte altmodische Methoden zum Kühlen der Luft an. Sie ließ ihre Fenster nachts geöffnet, damit der Raum sich abkühlte, und schloss sie gleich am Morgen, um die heiße Luft, so lang es ging, draußen zu halten. Am Spätnachmittag, wenn sie es nicht mehr aushielt, riss sie die Fenster wieder auf. An den heißesten Tagen drapierte sie nasse Tücher über den Fensteröffnungen und hoffte auf eine leichte Brise.
Hulan nahm an ihrem Schreibtisch Platz, schlug eine Akte auf und versuchte, sich zu konzentrieren, aber sie ertappte sich immer wieder dabei, dass sie abschweifte. Sie fand ihre Fälle uninteressant. Während der letzten Monate hatte man sie mit mehreren Mordfällen betraut. Die waren einfach zu lösen gewesen, und ihre einzigen Aufgaben hatten darin bestanden, den Papierkram zu erledigen, die Gefangenen im Gefängnis abzuliefern und bei Gericht zu erscheinen, wenn der Ankläger sie aufrief. Doch auch mit dem Wissen, dass dies alles auf Vizeminister Zais Absicht beruhte, ihre Sicherheit zu gewährleisten, konnte sie sich nicht damit zufrieden geben.
Wenige Stunden später kam der Postjunge mit einem Stapel Briefen vorbei. Sie blätterte sie rasch durch. Einer enthielt einen internen Bericht von Pathologe Fong. Hulan brauchte ihn nicht zu lesen, da die Wunde an der Schläfe der Leiche die Fallgeschichte schon recht genau illustrierte. Ein paar Formulare mussten unterzeichnet und zurück ins Büro des Anklägers geschickt werden. Wieder nur uninteressante Fälle, an die sie sich kaum noch erinnerte. Doch als sie den Absender des letzten Briefes las, hielt sie den Atem an. Sie legte das Kuvert auf den Tisch und wandte ihr Gesicht dem Fenster zu. Erinnerungen wurden plötzlich wach. Ein bettelarmes Dorf in einer versengten Ebene. Schweine, die beim Schlachten schrien. Der Geruch der roten Erde. Die brennende Helligkeit einer brutalen Sonne. Dann die anderen Bilder – Mädchen mit Zöpfen, die einen Mann beschimpften, bis er zusammenbrach und gestand. Menschen, die geschlagen wurden. Blut, das so ungehemmt lief wie Schweiß. Mit pochendem Herzen nahm Hulan den Umschlag in die Hand und riss ihn auf.
»Inspektorin Liu Hulan«, las Hulan, »ich bin Ling Suchee. Ich hoffe, du erinnerst dich noch an mich aus deiner Zeit auf der Rote Erde Farm.« Hulan erinnerte sich. Wie hätte sie das auch vergessen können? 1970 war Hulan mit zwölf Jahren aufs Land geschickt worden, um »von den Bauern zu lernen«. Und jetzt versetzte Hulan, die hier in ihrem stickigen Büro saß, sich all diese Jahre zurück in die Zeit, in der sie dieses junge Mädchen war. Suchee war ihre beste Freundin gewesen. In jenen Tagen der Strenge hatten sie eine alberne Freundschaft aufgebaut. Mit großer Zuneigung hatte Hulan Suchee maor ye oder Landkürbis genannt. Suchee hatte Hulan bei kuan gerufen, wörtlich »Nord-Reichtum« – oder eine reiche Person aus dem Norden. Suchee war lustig, selbstbewusst und aufrichtig gewesen, wohingegen Hulan düster ihre städtischen Manieren hinter vorgetäuschtem Mut verborgen und bereits gelernt hatte, welche politischen Vorteile es brachte, nicht immer die Wahrheit zu sagen. Aber bei aller Raffiniertheit Hulans war Suchee diejenige gewesen, die ihnen mehr als einmal aus der Patsche geholfen hatte.
Hulans Blick wanderte zu den Zeichen auf dem Papier zurück. »Heute, am 29. Juni des westlichen Kalenders, starb meine Tochter Ling Miaoshan.« Als sie die Umstände vom Tod des Mädchens las, wanderte Hulans Hand instinktiv zu der leichten Wölbung ihrer eigenen Schwangerschaft hinab. »Meine Tochter arbeitete für eine amerikanische Firma. Sie heißt« – hier folgten auf die unbeholfenen Schriftzeichen noch ungelenkere Druckbuchstaben – »Knight International«. Ich sehe und weiß Dinge, aber keiner will mich anhören. Meine Tochter ist tot. Ich habe meine Tochter verloren. Du hast mir einst gesagt, du würdest mir helfen, wann immer ich dich brauche. Jetzt brauche ich deine Hilfe. Bitte komm schnell.«
Hulan strich mit dem Finger über die Zeichen von Ling Suchees Namen. Dann überprüfte sie das Datum, und ihr wurde klar, dass Miaoshan erst vor fünf Tagen gestorben war. Mit einem tiefen Seufzer legte sie den Brief beiseite, verließ ihr Büro und ging die Treppe hoch in Vizeminister Zais Büro. Er lächelte, als sie eintrat, und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.
»Ich habe Mama nach Beidaihe geschickt«, sagte sie.
»Das ist gut. Ich werde sie dort am Wochenende besuchen.«
»Ich werde ebenfalls die Stadt verlassen.«
Der Vizeminister sah sie erstaunt an.
»Ich fahre ins Dorf Da Shui.«
Hulan entging die über das Gesicht ihres Mentors huschende Besorgnis nicht, als diesem klar wurde, dass es ein sehr persönliches Gespräch werden würde. Es hieß, in China gäbe es keine Mauer, durch die nicht der Wind pfiff, und keiner könne jemals sicher sein, wer lauschte oder nicht. Es hieß auch, die Dinge hätten sich entspannt, und dass sich zu vieles ereignete – was bedeutete, dass jeder, auch die Generäle der Armee, versuchten, sich zu bereichern –, als dass man weiterhin so viel Zeit und Mühe auf die Beobachtung verwendete. Aber nur ein Narr würde sich darauf verlassen. Auch wenn man von der Unwahrscheinlichkeit ausging, dass es in diesem Gebäude keine elektronische Überwachung gab, konnte man, wenn man genügend Druck ausübte, jeden der Assistenten von Vizeminister Zai oder die Teemädchen auffordern, Gespräche zu wiederholen, die sie mitgehört hatten. Eingedenk dessen und wohl wissend, dass ihrer beider Privatleben lange Zeit Angelegenheit der Regierungsakten gewesen war, versuchten Hulan und Zai dennoch, ihr Gespräch fortzusetzen. Die Besorgnis in Zais Stimme war nicht zu überhören, als er fragte: »Halten Sie das für klug?«
»Glauben Sie denn, ich hätte eine Wahl?« Ihr Ton war scharf.
»Wenn jemand, dann Sie«, erinnerte er sie.
Sie hielt es für besser, nicht darauf einzugehen und sagte: »Die Tochter von Ling Suchee ist gestorben. Sie hat ihre Zweifel an der offiziellen Version des örtlichen Amts für Öffentliche Sicherheit. Wahrscheinlich ist ihr Verdacht nur Ausdruck ihres Kummers, aber ich kann sie schließlich als Freundin besuchen.«
»Die Vergangenheit liegt hinter Ihnen, Hulan. Vergessen Sie sie.«
Sie seufzte. »Sie haben meine Personalakte gelesen. Sie wissen, was da draußen passiert ist. Wenn Ling Suchee mich um Hilfe bittet, muss ich helfen.«
»Und wenn ich es Ihnen verbiete?«, fragte er sanft.
»Dann werde ich meine Freizeit darauf verwenden«, erklärte sie.
»Hulan –«
Sie hob eine Hand, um ihn am Weitersprechen zu hindern. »Ich werde so bald wie möglich wieder zurück sein.« Sie erhob sich, durchschritt den Raum, zögerte an der Tür. »Keine Sorge, Onkel«, sagte sie und bügelte die Anspannung aus ihrer Stimme. »Alles wird gut werden. Es wird mir sogar gut tun, eine Weile aus der Stadt herauszukommen.« Sie hielt inne, weil sie dachte, er würde etwas hinzufügen, aber sie wussten beide, dass ihre Worte viele Bedeutungen hatten und manche davon vielleicht sogar richtig waren. »Und bitte besuchen Sie Mama. Ihre Gesellschaft hilft ihr.«
Ein paar Minuten später trat sie in den Hof des Ministeriums. Der Asphalt gab Hitze ab. Ermittler Lo startete den Wagen, und als sie vom Gelände fuhren, spürte sie, wie die Schweißperlen zwischen ihren Brüsten zu ihrem Bauch hinabrannen, in dem ihr und Davids Kind wuchs. Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und dachte an Onkel Zais Worte. »Die Vergangenheit liegt hinter Ihnen.« Aber er hatte Unrecht. Die Vergangenheit war stets dicht neben ihr. Sie war jeden Tag bei ihr in der verkrüppelten Gestalt ihrer Mutter. Sie war gegenwärtig in den fröhlichen Stimmen und rhythmischen Trommeln der yang ge Gruppe. Sie existierte in den verschwommenen Fotos, die sie in den Zeitungen sah. In der krakeligen Schrift auf einem billigen Papierumschlag. In sich trug sie die Zukunft, aber welche Art von Zukunft würde sie haben, wenn sie die Vergangenheit nicht für immer vertrieb?
David Stark griff nach dem Telefonhörer. Um fünf Uhr morgens gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder war ein Fall geplatzt und ein Agent wollte, dass David sich die Sache ansah, oder Hulan rief an.
»Hallo«, meldete er sich, die Augen noch geschlossen.
»David.« Hulans Stimme, die um acht Uhr abends aus mehreren tausend Kilometern Entfernung und einer anderen Zeitzone zu ihm drang, weckte ihn schlagartig auf.
»Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?«
»Natürlich.«
Dann verloren sich ihre Worte in einer Welle atmosphärischer Störungen. Hulan bestand darauf, ihn mit ihrem Mobiltelefon anzurufen, trotz der schlechten Verbindung. Sie sagte, sie wolle ihre Privatgespräche nicht dem Telefon in ihrem Büro anvertrauen. In letzter Zeit war ihr selbst das häusliche Telefon suspekt geworden. Das Mobiltelefon war allerdings auch nicht perfekt. Jeder, der wollte, konnte mithören. Doch das beruhigte Hulan sogar. Es konnte einen gewissen Schutz gewährleisten, wenn mehr als eine Partei – sogar eine unbeteiligte Person – ihre Privatgespräche mithörte.
Die Übertragungsqualität besserte sich, und David wollte wissen, wo Hulan war. Das machte es ihm leichter, sie sich vorzustellen. Üblicherweise rief sie ihn aus ihrem Garten an und beschrieb ihm, was gerade blühte, oder die Wärme der Sonne auf ihrer Haut. Er konnte sie vor sich sehen – die Fransen ihres schwarzen Haars, die das Gesicht umrahmten, ihre schwarzen Augen, die oftmals die wahre Bedeutung ihrer Worte offenbarten, ihre zarte Gestalt, die ihre tiefe innere Kraft Lügen strafte.
»Ich sitze im Zug.«
David setzte sich auf und blinzelte, als er das Licht anschaltete. »Wohin willst du? Geht es um einen neuen Fall?«
»Nicht direkt. Eine alte Freundin hat mich um Hilfe gebeten. Ich will sehen, was ich machen kann.«
David dachte darüber nach. Er musste bei der Formulierung seiner Fragen vorsichtig sein. »Ich dachte, du wolltest alles unter Dach und Fach bringen. Ich bin davon ausgegangen, dass deine nächste Reise dich hierher führt.«
»Ich werde kommen ...«
»Eines Tages? Vielleicht?«
Sie ging nicht darauf ein. »Du weißt, dass ich dich vermisse. Kannst du nicht zu mir kommen?«
David war noch nicht wach genug, um sich diesem Gespräch schon wieder zu stellen.
»Wo bist du also?«
»Ich bin unterwegs in die Provinz Shanxi im Landesinneren.« Sie machte eine Pause und ergänzte dann: »Ich fahre zu einem Dorf in der Nähe von Taiyuan.«
Das Zögern in ihrer Stimme war selbst über diese vielen Kilometer hinweg und trotz der schlechten Verbindung nicht zu überhören. »Welches Dorf genau?« Er bemühte sich um einen lockeren Plauderton.
»Da Shui. Dort lag während der Kulturrevolution die Rote Erde Farm.«
»O mein Gott, Hulan. Warum?«
»Das ist schon in Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Du weißt nicht alles über diesen Ort.« (Das war wahrscheinlich das Understatement des Jahres, ging es David durch den Kopf.) »Ich hatte dort eine Freundin. Sie... Nun, das tut im Moment nichts zur Sache. Ihre Tochter ist gestorben, offenbar war es Selbstmord. Suchee sieht das aber anders.«
»Hört sich an, als sollte sie sich an die örtlichen Sicherheitskräfte wenden.«
»Sie ist zum Amt für Öffentliche Sicherheit gegangen. Das ist die lokale Ebene des Ministeriums. Aber du weißt ja, wie es dort zugeht.«
Mit Sicherheit korrupt, das wusste er.
»Hör zu, wahrscheinlich ist es gar nichts«, fuhr Hulan fort, »aber das Mindeste, was ich tun kann, ist, ein paar Fragen zu stellen und Suchee zu beruhigen. Sie ist eine Mutter.« Dieses Wort kam mit ungeheurem Nachdruck über die Leitung. Auch ein Thema, über das Hulan nur ungern sprach. »Sie hat ihr einziges Kind verloren.«
»Wann wirst du wieder zurück sein?«
»Ich hatte Glück und habe noch einen Platz in einem Expresszug nach Datong bekommen. Das bedeutet, dass wir in den nächsten sechs Stunden nur etwa zehn Mal halten werden. Morgen steige ich in einen anderen Zug um, der mich nach Taiyuan bringt. Ich bleibe ein paar Tage in Da Shui und fahre dann zurück. Nächste Woche werde ich wieder in Beijing sein.« Als David nicht darauf reagierte, fügte sie hinzu: »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.«
»Wie kann ich dich erreichen?«
»Ich weiß nicht, wie unsere Tage sich gestalten werden, also rufe lieber ich dich an.«
Das gefiel ihm zwar gar nicht, aber er sagte: »Schön.«
Im Hintergrund hörte er den Zug pfeifen. Hulan sagte: »Hör zu, wir halten gleich. Bei dem Kommen und Gehen der Menschen werden wir uns nicht verständigen können. Aber ich möchte dir eine Frage stellen. Knight International. Sagt dir das was?«
»Das überrascht mich.«
»Dort hat Miaoshan gearbeitet. Es ist ein amerikanisches Unternehmen. Hast du davon gehört?«
»Wer nicht?«, erwiderte David. »Es ist riesig. Seinen Hauptsitz hat es irgendwo an der Ostküste, aber die Gesellschaft hat auch jede Menge Verbindungen nach Hollywood.«
»Was ist also Knight?«
»Sie – Vater und Sohn – stellen Spielsachen her. Kennst du Sam & His Friends? Gibt es die auch bei euch? Das ist eine Fernsehsendung für Kinder. Sam & His Friends ist eine Zeichentrickserie. Die eigentliche Show habe ich natürlich nie gesehen, aber die Werbung dafür! Ich glaube, Knight stellt Puppen her. Nein! Wie nennt man das noch mal? Actionfiguren! Sie haben für jeden dieser blöden »Freunde« eine Actionfigur entworfen und die entsprechende Werbung dazu. Und Knight stellt die da drüben her? Ach herrje!«
»Sind die so groß?«
»Erinnerst du dich noch an die Aufregung über die Cabbage Patch Kids? Habt ihr die in China?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Tickle Me Elmo?«
»Nein.«
»Beanie Babies?«
»Nein. Barbie, ich kenne Barbie.«
»Sam ist mit Barbie nicht zu vergleichen. Diese Sam-Spielsachen sind ein richtiger Fimmel. Die Kinder sind verrückt danach.«
»Wie kommt es, dass du so viel darüber weißt?«
»Das versuche ich dir ja gerade zu vermitteln. Es steht jedes Mal in den Lokalnachrichten, wenn eine neue Lieferung in die Läden kommt. Eltern stehen Schlange, um die Sachen zu kaufen. Der Nachschub kann die Nachfrage gar nicht decken. Diese Firma steht praktisch jeden Tag im Wirtschaftsteil. Die Knight Aktie ist in Schwindel erregende Höhen gestiegen. Diese Firma hat siebzig Jahre lang kleine Brötchen gebacken, dann kommt diese Show ins Fernsehen, und die Kinder drehen durch. Es ist ein Phänomen.«
»Und Knight stellt diese Spielsachen in Shanxi her«, überlegte Hulan nachdenklich.
»Das ist doch wohl nicht so abwegig, Hulan. Fast die Hälfte von allem wird in China produziert.«
»Sicher, in der Sonderwirtschaftszone in Shenzhen«, sagte Hulan, als der Zug wieder pfiff. »In der Provinz Guangdong. Rund um Shanghai. Aber Shanxi? Da draußen gibt es nichts, David.«
Ihre letzten Worte verloren sich im Lärm. »Wir sind am Bahnhof«, sagte sie. »Ich rufe dich später wieder an. Ich liebe dich.« Dann war sie weg.
Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, fand David keinen Schlaf mehr. Als er Schuhe und Shorts anzog, war es draußen hell genug für einen Lauf um den Lake Hollywood. David war groß und schlank und hatte dunkles Haar, das an den Schläfen leicht grau wurde. Seine blauen Augen neigten dazu, die Schattierung jeglicher Umgebung anzunehmen. An diesem Morgen versteckten sich die Himmels- und Wasserfarben noch hinter Nebel, und seine Augen waren von den Glanzlichtern des ihn umgebenden Grüns gefleckt.
Er schlug ein rasches Tempo an und wusste auch, warum. Gewisse Worte, die Hulan heute Morgen benutzt hatte – die Rote Erde Farm, Kulturrevolution, ein offensichtlicher Selbstmord – hatten ihn erschaudern lassen. War es möglich, dass Hulan noch andere Geheimnisse vor ihm hatte? Würde sie sich da draußen auf dem Land in Gefahr bringen? War es gesund für sie – sowohl körperlich als auch geistig – dorthin zu gehen? Mit jedem Schritt versuchte er, sich zu überzeugen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Hulan arbeitete im Ministerium für Öffentliche Sicherheit. Niemand würde sich mit ihr anlegen, schon gar nicht auf dem Land. Außerdem hatte das Mädchen Selbstmord begangen. Ein Fall, wie er leichter nicht zu klären war.
Vielleicht würde Hulan, wenn sie das erledigt hatte, zurück nach Beijing gehen, packen und zu ihm kommen. Warum führte sie ihn ständig an der Nase herum? Seit nunmehr drei Monaten ging das so, in Gesprächen am Telefon und per E-Mail. Damals im März hatte Hulan versprochen, nach Los Angeles zu kommen. »Wir werden zusammen sein«, hatte sie gesagt, und er hatte ihr geglaubt. Er hatte sich bereits an Regierungsbeamte gewandt und Formulare für eine Daueraufenthaltsgenehmigung ausgefüllt. Aber aus Tagen waren Wochen, aus Wochen Monate geworden, während Hulan immer wieder Zweifel streute. Sie hatte so viel in ihrem Leben verloren, dass sie, so sehr sie ihn auch liebte – und er hatte keine Vorbehalte, was die Tiefe ihrer Leidenschaft betraf – noch immer Angst davor hatte, sich ganz hinzugeben, aus Furcht vor dem, was sie verlieren könnte. Aber das würde sie nie zugeben, und es gelang ihm nie, sie in ein Gespräch darüber zu verwickeln, ohne dass sie dem Thema auswich. Stattdessen berief Hulan sich darauf, ihre Mutter nicht entwurzeln zu wollen. »Du hättest Mama heute sehen sollen. Wir haben uns eine halbe Stunde lang unterhalten.« Oder: »Mama hatte gestern einen schlechten Tag. Wie kann ich den Schaden jemals wieder gutmachen?«
»Bring sie hierher«, pflegte David darauf zu antworten. »Bring die Pflegerin mit. Ich kümmere mich darum.« Aber jedes Mal schien Hulan eine andere Entschuldigung zu haben.
So hatten ihre Gespräche sich verändert. Anstatt dass Hulan nach Kalifornien kam, wollte sie nun, dass er nach China zog. »Du hast gesagt, wenn ich nicht komme, kommst du zurück zu mir. Richtig?«
Aber wie sollte er? Er hatte seinen Job im U.S. Attorney’s Office. Seine Familie lebte hier in Amerika. Er hatte seine Freunde hier. Doch das traf auf Hulan natürlich ebenso zu. Auch sie hatte ihre Arbeit und ihre Familie. Und deshalb waren sie auch in eine Sackgasse geraten. »Wir sind beide willensstarke Menschen«, hatte David einmal gesagt. »Vermutlich ist es uns charakterlich nicht möglich nachzugeben.«