Tod am Jangtse - Lisa See - E-Book
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Tod am Jangtse E-Book

Lisa See

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Beschreibung

Eine Verbrechensserie schockiert ganz China: Der fesselnde Thriller »Tod am Jangtse« von Lisa See als eBook bei dotbooks. Ein monumentales Bauprojekt, in dessen Schatten ein Mörder sein Unwesen treibt ... Inspektorin Liu Hulan und ihr Mann, der amerikanische Staatsanwalt David Stark, werden zur Baustelle am Drei-Schluchten-Damm gerufen: David soll dem Verschwinden chinesischer Kunstschätze, die hier erst kürzlich geborgen wurden, auf den Grund gehen, Hulan den Mord an einem Archäologen aufklären. Schon bald wird klar, dass die Verbrechen zusammenhängen, denn der Tote schien einem überaus wertvollen chinesischen Artefakt dicht auf der Spur zu sein. Hulan und David bleibt nicht viel Zeit, um herausfinden, wer bereit ist, für den Besitz des antiken Zepters über Leichen zu gehen – bevor der Killer sie zum Schweigen bringen kann ... »Ein komplexer, atmosphärischer Thriller: See begeistert ihre Fans mit einer fesselnden Geschichte, in der man noch dazu viel über die Politik und Kultur des zeitgenössischen Chinas erfährt.« Publishers Weekly Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Tod am Jangtse« von Lisa See ist der dritte Fall für ihr amerikanisch-chinesisches Ermittlerteam Liu Hulan und David Stark. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 582

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Über dieses Buch:

Ein monumentales Bauprojekt, in dessen Schatten ein Mörder sein Unwesen treibt ... Inspektorin Liu Hulan und ihr Mann, der amerikanische Staatsanwalt David Stark, werden zur Baustelle am Drei-Schluchten-Damm gerufen: David soll dem Verschwinden chinesischer Kunstschätze, die hier erst kürzlich geborgen wurden, auf den Grund gehen, Hulan den Mord an einem Archäologen aufklären. Schon bald wird klar, dass die Verbrechen zusammenhängen, denn der Tote schien einem überaus wertvollen chinesischen Artefakt dicht auf der Spur zu sein. Hulan und David bleibt nicht viel Zeit, um herausfinden, wer bereit ist, für den Besitz des antiken Zepters über Leichen zu gehen – bevor der Killer sie zum Schweigen bringen kann ...

»Ein komplexer, atmosphärischer Thriller: See begeistert ihre Fans mit einer fesselnden Geschichte, in der man noch dazu viel über die Politik und Kultur des zeitgenössischen Chinas erfährt.« Publishers Weekly

Über die Autorin:

Lisa See entstammt einer chinesisch-amerikanischen Familie. Sie wurde in Paris geboren und wuchs in Los Angeles in Chinatown auf. Dreizehn Jahre lang arbeitete sie als Journalistin für Publishers Weekly. Später betreute sie als Kuratorin mehrere große Ausstellungen, die sich mit interkulturellen Beziehungen zwischen Amerika und China beschäftigen. Bereits ihr erstes Buch, eine Biographie ihrer Familie, war ein internationaler Bestseller und erhielt die »Notable Book«-Auszeichnung der New York Times. Dieselbe Auszeichnung bekam sie auch für ihren bald darauf folgenden ersten Thriller »Die rote Klinge«. Sie wurde als »National Woman of the Year« ausgezeichnet, erhielt den »Chinese American Museum’s History Makers Award« und den »Golden Spike Award« in Kalifornien. Mit ihrem Roman »Der Seidenfächer« gelang ihr ein Weltbestseller, der auch verfilmt wurde. Heute lebt sie in Los Angeles.

Lisa See veröffentlichte bei dotbooks bereits die historischen Romane »Der Seidenfächer« und »Eine himmlische Liebe«, außerdem »Töchter aus Shanghai« und »Tochter des Glücks« aus ihrer Reihe um »Die Frauen von Shanghai«.

Zudem erscheint bei dotbooks auch ihre Thrillerreihe um die Polizistin Liu Hulan und den Staatsanwalt David Stark mit den Bänden »Die rote Klinge«, »Der Feuerdrache« und »Tod am Jangtse«.

Die Website der Autorin: www.lisasee.com

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eBook-Neuausgabe März 2023

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2003 unter dem Originaltitel »Dragon Bones« bei Random House, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2003 by Lisa See

Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Bildmotives von Adobe Stock / Jakov Kalinin sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-589-7

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Lisa See

Tod am Jangtse

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Elke Link

dotbooks.

Für meine Schwestern Ariana und Clara

Das Shujing

(Buch der Geschichten) ist eines der drei ältesten Bücher der Welt. Das Konvolut von Reden, Urkunden, Bekanntmachungen und Dialogen stammt aus dem Zeitraum zwischen 2357 v. Chr. und 631 v. Chr. Für das östliche Gedankengut ist das Shujing so grundlegend wie Platon und Aristoteles für das westliche.

Im Jahr 213 v. Chr., während der Qin-Dynastie, gab Kaiser Qin Shi Huangdi den Befehl, das Shujing – und mit ihm alle alten Manuskripte – zu verbrennen. In der Han-Dynastie bemühten sich Gelehrte, die Texte zu retten, sie spürten noch erhaltene Fragmente auf und schufen die verloren gegangene Geschichte neu. Auch wenn die Echtheit einzelner Abschnitte des Shujing zweifelhaft ist und sie manchmal eher in den Bereich der Mythologie als der Geschichte zu verweisen sind, so lassen neuere archäologische Funde darauf schließen, dass selbst die unwahrscheinlichsten Behauptungen wahr sein könnten ...

Prolog

Der Mann war bereits tot, als sein Körper kurz hinter der ersten der Drei Schluchten in die braunen Fluten des Jangtse eintauchte. Ohne panische Versuche, sicheren Boden unter den Füßen zu spüren oder einen hervorspringenden Felsen zu erreichen, ohne letzte qualvolle Atemzüge, ohne stechende Schmerzen, wenn das Wasser die Lunge füllte, wurde der Körper von dem schnell dahinfließenden Strom fortgetragen. In den kühlen Teichen wurde er augenblicklich kalt. Rasch wurde er in diesen ersten wenigen Minuten mitgerissen, ohne auf ein Hindernis zu treffen.

Meile um Meile wurde der Mann erbarmungslos weitergeschickt, vorbei an Dörfern, die vom Alter ergraut waren, vorbei an Fabriken, die übel riechenden Rauch ausstießen, und an Abflussrohren, die widerlichen Müll, Chemikalien und ungeklärtes Abwasser in den Fluss spien. Seine Haut wurde runzlig und schälte sich nach und nach ab. Im Körper bildeten sich Gase, so dass er an der Wasseroberfläche trieb. Manchmal legte er zehn Meter pro Sekunde zurück und wurde mit dem Kopf gegen spitze Steine und zerklüftete Felskanten geschleudert, die ihm Haarbüschel und Kopfhaut abrissen. Doch an manchen Stellen wurde der Fluss breiter und floss langsamer, wurde flach und tückisch für die Schifffahrt. Mehr als einmal blieb der Körper in einem Strudel oder an einer Sandbank hängen, bis ihn eine neue Strömung oder die Wellen eines vorüberfahrenden Schiffes befreiten.

Wurde dieser shui da bang – dieser mit Wasser voll gesogene Klotz – auf seiner gnadenlosen Reise zum Meer gesehen? Dieser Fluss mit seinen schlangenartigen Windungen hatte ein Einzugsgebiet von mehr als 1,8 Millionen Quadratkilometern, was beinahe einem Fünftel der gesamten Landmasse Chinas entsprach. Er teilte das Land in Norden und Süden und in so grundlegende Dinge wie Temperament, Nahrung und Religion. Der Jangtse hatte direkten Einfluss auf das Leben eines Drittels der Bevölkerung Chinas, mehr als vierhundert Millionen Menschen – das ist fast jeder Dreizehnte weltweit. Aus diesem Grund wurde die Leiche natürlich gesehen. Mehrmals sah ein Fischer oder das Besatzungsmitglied eines Kahns das elfenbeinfarbene Fleisch kurz aus den schmutzigen Wellen auftauchen. War das womöglich ein baiji – ein weißer Delfin? Der Legende nach waren weiße Delfine Mädchen, die in Wasserwesen verwandelt worden waren. Heute gab es im Fluss nur noch wenige Dutzend baijis, und manche behaupteten sogar, keiner habe die Umweltverschmutzung und den Schiffsverkehr überlebt. Konnte dieses Aufblitzen von Weiß denn wirklich ein baiji gewesen sein? Ein kleines Wunder in diesem wassergefüllten Spalt in der Erde?

Bald erreichte der Körper die Stadtgrenze von Wushan, wo sich der überraschend grüne Daning in den trüben Jangtse ergoss. Fischer fuhren auf Sampans. Große Fähren brachten Männer und Frauen flussauf- und flussabwärts zur Arbeit, zum Verwandtenbesuch, zu einem besseren Leben. Nackte Kinder spielten auf Reifenschläuchen, lachten und neckten sich. Ein Junge stieß gegen die Leiche und glaubte einen Augenblick lang, einer seiner Freunde stelle sich tot. Schließlich hatten sie alle schon einmal Toter Mann gespielt. Der Junge trat gegen den Körper, und als er spürte, wie seine Zehen ein wenig und dann noch ein wenig mehr in das verwesende Fleisch eindrangen, wandte er sich ab und schwamm schnell davon, ohne mit einem Wort seinen Freunden gegenüber seine schreckliche Begegnung zu erwähnen. Er drückte sich vielmehr bei einem von den kleineren Booten herum, die die Touristen von den Kreuzfahrtschiffen zu Exkursionen den Daning hinauf brachten. Wenn er nur überzeugend lächelte, wenn er tüchtig winkte, wenn er »Willkommen, willkommen« rief, während die dicken Ausländer ihre Fotos schossen, dann könnte er vielleicht mit ein paar yuan davonschwimmen, bevor sie den Daning hinauftuckerten, um die Kleinen Drei Schluchten zu besichtigen.

Der Körper schoss in die Wu-Schlucht hinein, die zweite der Drei Schluchten. Die Felsen waren so hoch, dass die Sonne kaum den Fluss erreichte. Weit oben ragte der Gipfel der Göttin empor. Er ähnelte der Silhouette einer jungen Frau, die vor einer Säule kniete, und daneben thronten elf weitere Gipfel. Die Einheimischen glaubten, die zwölf Bergspitzen verkörperten Yao Ji, die dreiundzwanzigste Tochter der Königinmutter des Westens, mit ihren elf Zofen. Yao Ji hatte einst zum Zeitvertreib die Berge und die Flussufer der irdischen Welt durchstreift. Als sie eines Tages auf einer Wolke schwebte, entdeckte sie zwölf Drachen, die große Verwüstungen auf dem Fluss anrichteten und den Sterblichen dadurch Elend und Tod brachten. Sie rief Yu den Großen zu sich, verlieh ihm die Gabe, das Wetter gefügig zu machen, und Landmassen zu bewegen, und sah ihm dann zu, wie er die Schluchten aufschnitt, um das Wasser ins Meer zu leiten. Heute heißt es, es bringe Glück, den Gipfel der Göttin in Nebel gehüllt zu sehen, doch für die Leiche gab es kein Glück mehr, sondern nur noch die konstante Strömung zum Meer hin, als hätte Yu der Große selbst es so bestimmt.

Doch war das nicht nur ein Mythos, eine Erklärung für diesen Fluss, der nicht nur den Menschen, die dort lebten, sondern auch der Außenwelt ein Rätsel blieb? In diesem Land, wo Legende, Geschichte und Politik stets ineinander verwoben waren, kannten die meisten Chinesen das Wort Jangtse gar nicht. Es war nur die Bezeichnung für die letzten 200 Meilen des Stroms, die er durch das alte Lehensgebiet Yang floss. Das chinesische Volk nannte diesen Wasserlauf Chang Jiang, Langer Fluss, oder Da Jiang, Großer Fluss, aber die Menschen, die an seinen Ufern lebten, hatten jedem Stück seiner 4000 Meilen einen Namen gegeben, der den jeweiligen Abschnitt charakterisierte – der Wilde Yak-Fluss, der Fluss des Goldenen Sandes, Schöner Fluss, Ba-Fluss.

Das verrottende Stück Fleisch konnte all dies nicht mehr begreifen. Es gab Stunden, in denen das Wasser gemächlich dahinfloss, in denen die Strömung nur leicht war, es gab Strecken mit sanften Uferlinien und friedlichen Buchten, wo ein einsamer Bauer ein kleines Fleckchen Erde bearbeitete, wo eine Ehefrau – die Hosen bis über die Knie gerollt – die Wäsche der Familie auf den Steinen wusch, wo eine ältere Schwester auf ihren kleinen Bruder aufpasste. Stundenlang existierten nur die Sonne, der Himmel und das urtümliche Drängen von Wasser durch Gestein. Es gab auch Städte, deren Behausungen am Flussufer kauerten und Boote aller Größen um die besten Positionen wetteiferten. Oberflächlich betrachtet schien es, als ginge das Leben weiter wie gewöhnlich: arbeiten, Zeit mit der Familie verbringen, patriotische Versammlungen besuchen, Karten spielen, mit einem hübschen Mädchen spazieren gehen, am Krankenbett eines Elternteils sitzen – aber über allem lag eine gewisse Spannung.

Hoch oben an den Felsen bezeichneten weiße Markierungen die zukünftige Höhe des Wasserreservoirs hinter dem Drei-Schluchten-Damm. In sieben Jahren, wenn das Reservoir fertig gestellt sein würde, würde alles unterhalb dieser Linien überflutet sein. Zwischen Yichang und Chongqing würden weit über eine Million Menschen aus den Häusern ihrer Vorfahren umgesiedelt werden. Die wenigen Glücklichen – diejenigen mit guten Verbindungen – würden in die Städte ziehen dürfen. Andere würden in neu gegründete Siedlungen geschickt werden, wo ein Hochhaus neben dem anderen stand und sich unerbittlich und weiß über der zukünftigen Hochwassermarke erhob. Die Benachteiligten – und das war die Mehrheit – würden in entfernte Provinzen geschickt werden. Man hatte ihnen Versprechungen gemacht, aber einige waren bereits wieder zurückgekehrt und hatten von der Mühsal in der weiten Ferne berichtet. Was sollte nun aus ihnen werden? Konnten diese Leute, die in diesem stürmischen Land so gelitten hatten, noch mehr erleiden?

Und konnte der Körper, der stetig weitertrieb, noch mehr erleiden, noch mehr ertragen? Er verfing sich in den Schrauben vorüberfahrender Boote, wodurch seine Haut zerfetzt und zerrissen wurde. Nachdem sich sein Hemd in Einzelteile aufgelöst hatte, stießen Vögel herab und pickten Fleisch aus seinem Rücken. Als er die Xiling-Schlucht, die letzte der Drei Schluchten, erreichte, nagten und zerrten Schildkröten und Fische an den weichen Teilen seines Gesichts – an den Augenlidern, Lippen und Ohren.

Plötzlich erreichte er das Stauwerk selbst. Dieses Projekt würde nach seiner Fertigstellung das größte von Menschenhand gefertigte Bauwerk der Weltgeschichte sein. Das gesamte Gelände bestand aus einer Ansammlung von gewaltigen Maschinen, Beton und Stahl. Männer und Frauen arbeiteten rund um die Uhr und ließen den Damm Zentimeter um Zentimeter bis zu seiner endgültigen Höhe von 185 Metern und über anderthalb Kilometern Breite wachsen. Entschlossenheit lag in jedem Felsblock, der zu Schotter zersprengt wurde, in jeder Tonne Erde, die bewegt, in jedem Kilometer Moniereisen, das gebündelt, in jeder Schleuse, die fertig gestellt und eröffnet wurde. Der Damm sollte Chinas größte Errungenschaft verkörpern – die Vollendung eines Traums für das chinesische Volk und für die Welt ein Zeichen von Chinas Vormachtstellung. Nicht ganz nebenbei würde der Damm auch Strom produzieren, und zwar so viel wie achtzehn Atomkraftwerke. Das war nicht nur nationalistische Kraft, das war Kraft in ihrer rohesten, reinsten Form.

Ein Kofferdamm teilte den Fluss, damit die Arbeit weitergehen konnte. Die Leiche war in Sekundenschnelle durch das reißende Wasser getrieben, dann wurde das Land plötzlich verblüffend flach. Zu beiden Ufern erstreckten sich kilometerweit Felder. An manchen Stellen würde der Fluss nun mehr als drei Kilometer breit werden, und seine Strömungen würden zu einem sanften, aber unerbittlichen Fließen vermindert. Die Stadt Shanghai lockte immer noch. Dahinter erstreckte sich über 80 Kilometer die Mündung, wo Schlickablagerungen alle sieben Jahre weitere anderthalb Kilometer chinesischen Festlands entstehen ließen.

Am Fluss entlang waren zum Gedenken an schreckliche Tragödien Schreine errichtet worden, Pagoden ragten auf, um Seeleute vor tückischen Fallen zu warnen, und Tempel erinnerten an die Erhabenheit und an die Gefahren dieses Ortes. Doch für jedes Monument, das die Vorüberfahrenden zur Vorsicht mahnte – der Mensch war nichts, der Fluss war alles –, gab es andere Stellen, die diese Botschaft auf das persönlichste menschliche Maß reduzierten. So ragte seit Jahrtausenden gleich hinter der Stadt Anqing ein kleines Stückchen Land in den Fluss hinein. Seit drei Jahrhunderten lebte dort der Jia-Clan und bestellte den Boden.

Jeden Morgen ging Jia Mingfu das Flussufer ab, um den Müll, der hier gestrandet war, zu entfernen und manchmal zu bergen. Er hatte Bäume gesehen, die die ganze Strecke von den Quellflüssen hoch oben in Tibet gekommen waren, Bohnendosen, die aus Hütten herausgesogen, Bootsteile, die in Splitter gerissen worden waren. Er hatte auch mehr als genug vom Tod gesehen. Die Überschwemmungszeit brachte immer seinesgleichen mit sich – Bauern und ihre Familien, die von ihrem Stück Land weggespült worden waren –, während er im Winter gelegentlich einen jungen Mann oder eine junge Frau fand. Da war zwar der Fluss nicht so gefährlich, aber die Tage waren sehr kurz, und davon wurde manch einer melancholisch und verkraftete eine unglückliche Liebesaffäre nicht mehr so leicht.

Jia Mingfu erkannte am Geruch, dass eine Leiche auf ihn wartete – sei es die eines Menschen oder eines Tieres. Er umklammerte den Stock, den er bei diesen Ausflügen immer dabeihatte, etwas fester, während er sich innerlich auf das vorbereitete, was er, wie er wusste, gleich sehen würde – eine Leiche, zerschunden von Wasser und von Felsen, der Sonne, wilden Tieren und der natürlichen Zersetzung des Fleisches. Wie schon oft zuvor benutzte er seinen Stock, um den Unrat, der sich auf dem Körper angesammelt hatte, ein wenig beiseite zu schieben. Trotz der Reise, die er zurückgelegt hatte, war dieser tote Gegenstand eindeutig menschlich, und er hatte noch Arme und Beine. Aber das Wesen mit den roten Haaren war kein gewöhnlicher Mann. Es war ein yang guizi, ein weißer Teufel, ein Ausländer.

Teil 1: DIE KAISERLICHE DOMÄNE

(Dian fu)

Die kaiserliche Domäne erstreckt sich von der Hauptstadt aus 500 li weit in alle Richtungen. Es ist die am dichtesten besiedelte Domäne, der Sitz der Macht, und das Herz des Landes. Das Reich der Mitte sollte wirklich in der Mitte liegen.

Kapitel 1

Die Sonne war noch nicht über den Dächern der prächtigen Gebäude am Ostrand des Tiananmen-Platzes aufgegangen, als Inspektorin Liu Hulan vom Ministerium für Öffentliche Sicherheit über die Menschenmenge blickte, die auf dem riesigen zementierten Platz zusammengekommen war. Es war die erste öffentliche Versammlung der UPV, der Urpatriotischen Vereinigung, die in Beijing abgehalten wurde. Bis heute hatten die geheimen Zusammenkünfte der UPV meistens mitten auf dem Land stattgefunden, in Städten und Dörfern am Gelben Fluss. In letzter Zeit war es der Kultgemeinschaft zwar gelungen, auch in der Hauptstadt Fuß zu fassen, doch mit einem derartig dreisten Auftritt hatte niemand gerechnet.

In China verstießen alle religiösen Kulte gegen das Gesetz, und es gehörte zu Hulans Aufgaben, ihr Möglichstes zu tun, um sie auszurotten. Von dieser frühmorgendlichen Kundgebung hatte sie aber erst vor fünfzehn Stunden erfahren, und zwar von einem Mann, den sie festgenommen hatte, weil er seine Arbeitseinheit bestohlen hatte, um der Vereinigung eine größere Summe spenden zu können. Nach mehreren improvisierten Diskussionen im Ministerium hatte man beschlossen, das Treffen stattfinden zu lassen. Falls ein hochrangiges Mitglied der Urpatrioten entdeckt und identifiziert werden konnte, dann konnte sich eine Festnahme in aller Öffentlichkeit in vielerlei Hinsicht als nützlich erweisen.

Hulan war um drei Uhr an diesem Morgen dort eingetroffen und hatte die Postierung der Polizisten und Soldaten um den Platz herum beaufsichtigt. Sie hatte gehofft, die Präsenz von Beamten würde die Gläubigen abschrecken und dadurch ihre Zahl geringer halten, aber soweit sie es überblicken konnte, war niemand wieder umgekehrt. Die Anhänger der UPV waren gesittet, höflich, gehorsam und beachteten die uniformierten Männer und Frauen mit den automatischen Gewehren über der Schulter gar nicht. Wenn alle während der versprochenen Qigong-Übungen, der Gesänge und der inspirativen Predigt friedlich blieben, gab es keinen Grund, weshalb irgendjemand verletzt werden sollte. Natürlich würden Fotos gemacht und ein paar Leute zum Verhör dabehalten werden, doch Tatsache war, dass das Ministerium für Öffentliche Sicherheit nicht darauf vorbereitet war, so kurzfristig über tausend Menschen in Haft zu nehmen. Die Regierung hatte jedoch noch genügend Zeit gehabt darauf zu bestehen, dass ein Kamerateam eines staatlichen Senders über das Treffen berichten würde, was Hulan einigermaßen verwirrte.

Vor fünf Jahren hatte sie mit einigen der mächtigsten Männer ihres Landes ein Abkommen geschlossen. Diese Männer lenkten China im Geheimen von einem Anwesen aus, das auf der anderen Seite des Sees lag, an dem Hulan lebte. Dort hatte sie nach dem Abschluss des Falls Knight International vorsprechen müssen. Dabei war es um den Tod von mehr als einhundertfünfzig Frauen gegangen, die bei einem fürchterlichen Brand in einer amerikanischen Spielzeugfabrik tief im Landesinneren ihr Leben verloren hatten. Die »Männer von der anderen Seite des Sees«, wie Hulan sie nannte, erlaubten ihr, den amerikanischen Rechtsanwalt David Stark zu heiraten und ihre gemeinsame Tochter zur Welt zu bringen – beides war unter chinesischem Gesetz und nach chinesischer Tradition zweifelhaft. Sie versicherten ihr, ihren Namen in jedem Fall aus den Medien herauszuhalten. Im Gegenzug musste Hulan versprechen, der Parteilinie zu folgen, Befehlen fraglos zu gehorchen und von ihren exzentrischen Methoden abzusehen. Der Pakt sollte ein Geheimnis zwischen ihr, den Männern von der anderen Seite des Sees und ihrem Mentor und Vorgesetzten, Vizeminister Zai, bleiben. Hulan hatte diese Bedingungen in der Hoffnung anerkannt, dadurch das Privatleben führen zu können, nach dem sie sich immer gesehnt hatte. Aber das Schicksal hatte sich gewendet. Ihre Tochter war gestorben und ihre Ehe mit David ...

Sie zwang sich, jetzt nicht daran zu denken. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf das Fernsehteam. Von den Stufen der Großen Halle des Volkes aus hatte das Team einen guten Überblick über den gesamten Platz. Hulan erkannte eine der Reporterinnen – eine Frau mit schriller Stimme, die seit vielen Jahren das beflissene Sprachrohr der Regierung war. Die feuchte Luft trug ihre Worte weiter wie verrottenden Müll. Sie bestand darauf, dass die Regierung nicht zu einem harten Durchgreifen gegen die UPV aufrief, sondern Toleranz demonstrierte, indem sie das heutige Treffen stattfinden ließ.

Hulan seufzte. Sie würde besonders vorsichtig sein müssen, wenn sie sich durch die Menge bewegte, denn sie wollte nicht von dem Kamerateam entdeckt werden. Doch Liu Hulan war unter den anderen Menschen hier an diesem Morgen leicht auszumachen. Nicht, weil sie sich auffallend bunt kleidete, denn heutzutage wählten die Einwohner Beijings die leuchtendsten Farben, die sie bekommen konnten. Sie trug auch keine Designermode, obwohl sie es sich sicherlich erlauben könnte, in jeder der ausländischen Designerboutiquen einzukaufen, die es mittlerweile in der Stadt gab. Lieber trug sie die exquisitesten Kleider aus den feinsten Seidenstoffen, die allesamt einmal ihrer Mutter, ihrer Großmutter oder ihren anderen schillernden Vorfahren gehört hatten. Hulans Kleidung verriet den Menschen alles über ihr Geld, ihren Geschmack, ihren sozialen Stand und ihre Kultur; sie arbeitete nicht nur für das Ministerium für Öffentliche Sicherheit – das vielleicht gefürchtetste Ordnungsorgan Chinas –, sondern sie war obendrein eine Rote Prinzessin, die wohlhabende Tochter oder Enkelin von jemandem, der mit Mao Zedong auf den Langen Marsch gegangen war.

Hulan war in Beijing geboren und hatte die glückliche und privilegierte Erziehung genossen, die einem Kind zweier der meistgeschätzten Persönlichkeiten Chinas zustand. Beim Ausbruch der Kulturrevolution, Hulan war damals zwölf, war sie aufs Land verschickt worden, um »von den Bauern zu lernen«. Zwei Jahre später hatte man sie zurück nach Beijing gebracht, damit sie ihren Vater denunzierte – ein schlecht konzipierter Versuch, ihrer Mutter das Leben zu retten. Hulans Vater war daraufhin in ein Arbeitslager geschickt worden, und Hulan kam mit vierzehn Jahren in die Vereinigten Staaten. Nach Internat, College und Jurastudium war Hulan Teilhaberin bei Phillips & MacKenzie geworden, wo sie David kennen gelernt hatte. Sie hatten sich ineinander verliebt und waren zusammengezogen, bis Hulan vor zwölf Jahren nach China zurückgekehrt war. Sieben Jahre später waren Hulan und David hier in Beijing wieder zusammengebracht worden, um an zwei schwierigen und erschütternden Fällen zu arbeiten. Im ersten ging es um Hulans Vater, der vollkommen rehabilitiert worden und in die hohen Ränge des Kaders aufgestiegen war. Er war gestorben, und die Nation machte Hulan für seinen Tod verantwortlich. Im zweiten Fall ging es um Knight International. Zunächst sollten nur die zweifelhaften Arbeitsbedingungen untersucht werden, doch die Ermittlungen endeten mit einer tödlichen Feuersbrunst. Hulan hätte an diesem Tag beinahe selbst ihr Leben verloren, und die Ärzte hatten lange um ihr ungeborenes Kind gebangt. Die Männer von der anderen Seite des Sees steuerten erfolgreich die Gerüchte über Hulans Rolle bei diesem Fall. Aber auch wenn Hulan weitere öffentliche Kritik erspart geblieben war, schrieb sie sich selbst die Schuld für die vielen Toten zu. Sie hatte ihren Namen von einer Märtyrerin der Revolution erhalten, erzählte sie David damals. Sie hätte mehr tun müssen.

Hulan versuchte Gesichter bekannter Unruhestifter zu erspähen, die später verhaftet werden konnten. Irgendwann entdeckte sie Zhang, die Direktorin des Nachbarschaftskomitees, die das Kommen und Gehen in Hulans hutong-Viertel überwachte. Madame Zhang musste wissen, dass die Gruppierung verboten war, doch nun stand sie mit geschlossenen Augen da, ihr runzliges Gesicht verklärt vor lauter Innerlichkeit. Hulan hätte sich denken können, dass sie auftauchen würde. Madame Zhang, die vor ein paar Jahren beim $$$yang ge-Tanzwahn eine führende Rolle gespielt hatte, musste bei der Urpatriotischen Vereinigung und ihren angenehm zugänglichen Ritualen natürlich an vorderster Front stehen.

In einem Land, in dem schon immer Sprüche und Parolen benutzt wurden, um zu lehren, zu beeinflussen und Druck auszuüben, beherrschten die Mitglieder der Urpatriotischen Gesellschaft, die sich heute hier versammelt hatten, bereits eine Vielzahl scheinbar harmloser Wendungen, die sie zu singen begannen. »Neigt das Haupt«, intonierten sie immer wieder, bevor sie zu »Der Fluss bringt uns Leben« wechselten. Niemand machte einen verängstigten oder scheuen Eindruck. Warum auch? Sie waren keine Anhänger von Falun Gong, die den Platz unter gar keinen Umständen benutzen durften. Sie neigten das Haupt, und fühlten sich deshalb rechtschaffen und sicher.

Plötzlich entdeckte Hulan eine Frau mit einem etwa vierjährigen Mädchen. Sie schienen arm zu sein – vielleicht war die Frau vom Land in die Hauptstadt gekommen, um Arbeit zu suchen. Wenn dem so war, dann verstieß ihre Anwesenheit in der Stadt gegen das Gesetz, was vielleicht ihre ängstlichen Blicke erklären könnte. Aber sie hatte noch etwas an sich, das irritierte. Ihre Haare waren ungepflegt, und ihre Kleider waren nicht nur schmutzig, sondern an ihrer Bluse fehlten alle Knöpfe bis auf einen. Die Tochter hingegen war tadellos sauber und in Anbetracht der Umstände hübsch angezogen. Die Frau saß in der Hocke, so dass sie auf Augenhöhe mit dem Mädchen war. Sie nestelte am Halsausschnitt ihres T-Shirts, zog am Saum ihrer kurzen Hosen und band ihre roten Turnschuhe neu. Unterdessen schwatzte das kleine Mädchen mit glänzenden, rosa Wangen unablässig drauflos, Mama hier und Mama dort. Neben ihnen lag eine Tasche. Hulan malte sich aus, was sie wohl enthalten könnte – vielleicht eine Orange für das Mädchen, vielleicht Kleider zum Wechseln, wenn sie genügend Geld hatten ein Spielzeug. Hulan spürte einen Schmerz in der Brust und blickte weg.

Um Viertel nach sechs erklomm ein Mann ein kleines hölzernes Podium und hob die Hände, um für Ruhe zu sorgen. Er schien um die dreißig zu sein, hätte aber auch wesentlich älter sein können. Er war gut aussehend, hatte markante Gesichtszüge und trug die Haare ein wenig länger als üblich. Als die Menge still wurde, senkte er eine Hand und nahm eine Pose ein, die an Mao als jungen Revolutionär erinnerte. »Ich bin Tang Wenting, Leutnant der Urpatriotischen Vereinigung.«

Hulan hätte ihn sofort verhaften können, aber sie wollte hören, was er zu sagen hatte. Sie würde seine Rede später gegen ihn verwenden, bei den Verhören.

»Wir kommen zusammen im Glanz der Würde von Xiao Da«, verkündete Tang Wenting.

»Xiao Da, Xiao Da, Xiao Da«, murmelten die Anhänger, und ein angenehmes Echo erscholl über dem Platz.

Während die Stimmen über dem Leutnant zusammenschlugen, machte sich Hulan nicht zum ersten Mal Gedanken über den mysteriösen Xiao Da, den selbst ernannten Anführer der Urpatriotischen Vereinigung. Xiao Da hatte so etwas wie ein Wunder vollbracht und es geschafft, in einem Land, in dem es keine Geheimnisse gab, seine wahre Identität für sich zu behalten. Die Tatsache, dass Xiao Da in den letzten drei Jahren überall auf dem Land Treffen im Untergrund hatte abhalten können, trug nicht nur zur Legendenbildung bei, sondern brachte auch die Regierung zur Verzweiflung. Es hatte zahlreiche Festnahmen gegeben, und viele mussten im Arbeitslager schuften. Mehrmals hatte Hulan versucht, im Austausch gegen die Identität von Xiao Da Strafminderung anzubieten, denn sie wusste, die Gruppe würde sofort zusammenbrechen, sobald er von der Bildfläche verschwunden war. Doch entweder kannte niemand Xiao Das Identität, oder niemand war bereit, ihn zu verraten. Es war alles sehr ärgerlich. Sogar sein Name störte Hulan. Xiao Da – Kleiner Großer –, was sollte das überhaupt bedeuten?

Hulan hielt wieder nach dem kleinen Mädchen Ausschau. Die Mutter hatte ihre Tochter auf dem Arm und zwang sie, den Leutnant anzusehen. Die Frau hielt die Lippen dicht an ein Ohr des Mädchens und flüsterte ihm eindringlich zu. Das Kind hatte die Augen weit aufgerissen, aber nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, obwohl Hulan nicht nachvollziehen konnte, warum. Das Mädchen verhielt sich still, sprach mit keinem Wort gegen das geflüsterte Sperrfeuer an und rührte sich nicht im Griff seiner Mutter, der immer fester zu werden schien, während der Leutnant der UPV weitersprach. Hulan kam der Gedanke, dass die Frau vielleicht gar keine einfache Bäuerin war, vielleicht nicht einmal Anhängerin dieser Vereinigung, sondern nur eine Mutter, die die Verbindung zur wirklichen Welt verloren hatte.

»Unsere politischen Führer wollen, dass wir die Traditionen aufgeben«, predigte Tang Wenting. »Sie sagen: ›Reich werden ist wunderbar!‹ Aber Xiao Da verlangt, dass wir Nein zu diesen Neuerungen sagen. Wir müssen Technologie und sozialen Fortschritt ablehnen und zurückkehren zu althergebrachten Traditionen und althergebrachten Werten ...«

Fünfzehn Minuten später strahlte die Sonne über den Platz, und Hulan verfolgte die Reaktion der Gläubigen. Beijing litt gegenwärtig unter dem Fu Tian, dieser lähmenden Zeit des unentrinnbaren Wetters zwischen Juli und August, wo Hitze und Feuchtigkeit am beschwerlichsten waren. Ungeschützt wie er war, war der Tiananmen-Platz kein guter Aufenthaltsort während der Hitze des Tages. Es war Zeit, nach Hause oder zur Arbeit zu gehen.

Der Leutnant bemerkte die leichte Veränderung, die durch die Menge ging. »Bevor ihr aufbrecht, möchte ich euch noch ein paar Worte aus dem Munde Xiao Das sagen, die er mir mit auf den Weg gegeben hat. Bald wird Xiao Da aus der Dunkelheit ins Licht treten. Wenn er das tut, wird er etwas mitbringen, das alle Chinesen vereinigt. Wenn sich dieses Objekt in seinem Besitz befindet, wird das Böse bestraft. Diejenigen, die das Haupt neigen, werden triumphieren. Gemeinsam werden wir ihm folgen: Xiao Da.«

Genau wegen solcher Reden betrachtete die Regierung die UPV als Bedrohung.

Der junge Mann neigte fromm den Kopf, während auf dem ganzen Platz der Ruf erklang: »Xiao Da, Xiao Da, Xiao Da.«

Er blickte wieder auf und sagte: »Nun ist die Zeit gekommen, unsere Abgaben zu entrichten. Neun Tugenden, neun Stufen, neun Abgaben.«

Die UPV war in drei Jahren rasch gewachsen. Auch wenn die Gruppierung weniger populär war als Falun Gong, gab es nach internen Schätzungen des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit 20 Millionen Anhänger, die fast alle auf dem Land lebten. Waren sie einmal aufgenommen, spendeten sie der Sekte ihre schwer verdienten Löhne und manchmal auch ihre gesamten Ersparnisse auf der Basis einer geheimen Zehntskala, die neun Stufen beinhaltete. In Xiao Das Tasche floss eine Menge Geld hinein, und Hulan wollte nicht, dass auch in Beijing damit angefangen wurde. Sie begann, den Polizisten zu signalisieren, jeden festzunehmen, der mit einem Sammelkorb erwischt wurde.

Plötzlich hörte sie eine Frauenstimme schreien: »Für Xiao Da!«

Hulan wirbelte herum. Die Mutter, die eben noch ihrer Tochter ins Ohr geflüstert hatte, stand jetzt aufrecht da und reckte den Hals, um über die Menge hinweg den Leutnant erspähen zu können. Mit einer Hand hielt sie das T-Shirt ihrer Tochter am Rücken fest, in der anderen hatte sie ein Hackbeil, das sie in ihrer Tasche mitgebracht haben musste. Die Klinge war gut zehn Zentimeter breit.

Alle hier waren Chinesen; jeder wusste aus Erfahrung, wann etwas Schlimmes passieren würde. Die Leute wichen vorsichtig zurück und drängten sich, um von hier wegzukommen. Einen Moment lang verlor Hulan Mutter und Tochter aus den Augen. Sie hörte Tang Wenting rufen: »Ruhe! Xiao Da würde wollen, dass ihr alle ruhig seid!«

Wie durch ein Wunder hörte die Menge auf seine Worte, und es kehrte wieder Ruhe ein.

»Wie müssen unserer Schwester helfen«, fuhr er fort. »Sag mir, Schwester! Was möchtest du Xiao Da mitteilen? Bist du gekommen, um Alkohol, Tabak und Unzucht abzuschwören? Wir stehen alle hinter dir!«

»Ich bin gekommen, um dieses Mädchen zu bestrafen«, rief die Frau zurück.

Hulan zog ihre Pistole heraus und hielt sie gesenkt vor sich. »Runter mit dem Messer!«, rief sie.

Die Leute wichen zunächst zurück, um sich dann, wie verschreckte Tiere, wieder in ihre Schusslinie zu drängen.

»Alle Kinder sind unschuldig.« Tang Wenting blieb äußerlich gelassen. So sehr Hulan der Gruppierung und allem, wofür sie stand, misstraute, war sie doch dankbar, dass der Leutnant den Ernst der Lage begriffen zu haben schien.

»Dieses hier ist böse«, antwortete die Mutter. »Das Übel muss herausgeschnitten werden.«

Diese Worte erregten das Interesse der Menge. Jetzt wollten sie sehen, was da für ein Krawall war. Hulan schob einzelne Leute aus dem Weg, und doch hatte sie das Gefühl, selbst weiter weg gedrückt zu werden.

»Nur Xiao Da kann ein Urteil sprechen«, entgegnete der Leutnant. »Und er glaubt nur an gerechte Strafen.«

Die Frau stieß einen urwüchsigen Schrei aus. »Auch eine Mutter kann das Böse sehen!«

Sie sank auf die Knie und zog ihre Tochter auf den Boden. Sie packte den Unterarm des Mädchens und drückte ihn flach auf den Zement.

»Aus dem Weg!«, schrie Hulan. Aber in einem Land, in dem Hinrichtungen der Volksbelustigung dienten, rührte sich niemand. Sie rief der Frau zu: »Weg mit dem Messer oder ich schieße!«

»Mama! Nein! Mama!« Das waren die ersten Worte, die von dem Kind zu hören waren. Sie klangen süß und klar.

Tang Wenting war von seiner Kiste heruntergestiegen und hatte sich bis zu der Mutter durchgekämpft. »Du hast schwer zu tragen, Schwester«, redete er beruhigend auf sie ein. »Wir teilen deine Last, aber wir sind keine Extremisten. Der Fluss ist das Leben ...«

Diese Worte boten ihr jedoch keinen Trost. Stattdessen blickte die Frau wirr um sich und suchte in den Gesichtern der Umstehenden nach Verständnis. Dann richtete sie die Augen wieder auf die Hand ihrer Tochter. Als sie das Hackbeil über den Kopf schwang, hob Hulan die Pistole und zielte sorgfältig auf die Schulter der Frau. Das Beil begann zu fallen. Das kleine Mädchen versuchte, seinen Arm zu befreien. Hulan hatte noch nie solche Schreie gehört. Sie schoss.

Sofort brach Panik aus. Die Leute rannten in alle Richtungen. Hulan hörte weitere Schüsse fallen, und hoffte, dass die Kugeln über die Köpfe der Menge hinwegflogen. Mit entschlossenen Schritten erreichte sie die traurige Szene. Die Mutter lag ausgestreckt auf dem Boden, schlug wild um sich, und überall war Blut. Das kleine Mädchen kniete schluchzend neben seiner Mutter. Tang Wenting war auf den Knien und versuchte, die Blutung mit der Hand zu stoppen. Hulan ging neben ihnen in die Knie. »Weg da!«, befahl sie dem Leutnant. Er zog die Hände weg, und sofort schoss das Blut in hohem Bogen aus der Wunde und spritzte dem kleinen Mädchen ins Gesicht.

»So stark sollte das nicht bluten«, sagte Hulan sich. Sie zerriss die Bluse der Frau. Die Eintrittswunde war in der Schulter, wo sie auch sein sollte, aber das Blut kam nicht von dort. Es stammte aus einer kleineren Wunde am Hals, wo ein Stückchen der Kugel steckte. Sie musste zersplittert sein, als sie auf den Knochen auftraf, und entweder abgeprallt oder innerlich zum Hals gewandert sein, wo sie die Halsschlagader zerrissen hatte. Hulan drehte die Frau auf die Seite und drückte an den Hals. Das kleine Mädchen wimmerte, »Mama, Mama«, immer wieder.

Bei der Verwirrung, die auf dem Platz herrschte, kam niemand zu Hilfe. Das Blut wurde weiter unter Hulans Hand herausgepumpt, bis die Frau schließlich aufhörte, sich zu winden. Tang Wenting rührte sich als Erster. Er stand auf, trat zwei Schritte zurück, streckte den Arm aus und deutete auf Hulan. »Muttermörderin«, sagte er anklagend. Dann breitete er die Arme aus, als wolle er diejenigen, die noch auf dem Platz standen, umarmen. »Seht alle her! Hier steht eine Muttermörderin! Sie hat eine Frau umgebracht, die ihr Haupt geneigt hat!«

Jeder ihrer Sinne war geschärft. Hulan spürte, wie das Blut an ihren Händen und im Gesicht bereits trocknete. In der Ferne hörte sie Krach. Am Rand ihres Gesichtsfelds sah sie eine Fernsehkamera, und sie hörte die aufgeregte Stimme der Reporterin, die mit Sicherheit die Sensation des Tages vermelden konnte. Hulan nahm sogar wahr, wie Tang Wenting wieder auf sie deutete und der Menge verkündete: »Diese Frau ist unser Feind! Sie hat ihr wahres Gesicht gezeigt! Xiao Da wird sie dafür zahlen lassen!« Aber das Einzige, was Hulan wirklich registrierte, war das Gesicht des kleinen Mädchens vor ihr. Seine Augen hatten einen Blick, den Hulan nur zu gut kannte. Es war der leere Blick von jemandem, der alles verloren hat.

David Stark wachte allein in dem Bett auf, das er früher mit seiner Frau geteilt hatte. Er ging unter die Dusche und zog sich an. Wie jeden Tag warf er auf dem Weg in die Küche einen kurzen Blick in das Zimmer, das einmal seiner Tochter gehört hatte. Er zündete Räucherstäbchen an, sprach ein stilles Gebet und strich über das Foto. Dann setzte er Teewasser auf und schaltete den Fernseher ein. Er sah gerne das Frühstücksfernsehen, weil es ihm beim Erlernen des umgangssprachlichen Mandarin half. Doch als er Hulans Gesicht auf dem Bildschirm entdeckte, erschrak er und schaute entsetzt zu, wie die Geschehnisse auf dem Platz außer Kontrolle gerieten. Beim Anblick des kleinen Mädchens wurde ihm sein eigener Verlust wieder schmerzhaft bewusst, und er war sich sicher, dass auch Hulan so empfunden haben musste. Als Hulan neben die tote Mutter trat und das weinende Kind forthob, schaltete David aus und ging nach draußen. Hulan würde das Mädchen den zuständigen Behörden übergeben, anschließend in das Anwesen zurückkehren, um sich zu duschen und umzuziehen. Er wollte auf sie warten.

Er ging vom hinteren Pavillon – den er in den letzten Monaten allein bewohnt hatte – an den anderen Gebäuden vorbei, die einst die Akrobaten, Sänger und anderen Künstler, Hulans berühmte Vorfahren, beherbergt hatten, passierte das Gebäude, in dem Hulans Mutter und ihre Pflegerin lebten, und erreichte den Hof in der Mitte. Hulan würde auf dem Weg in ihr Zimmer hier entlangkommen.

David setzte sich unter den Gingkobaum auf den Gartenstuhl aus Porzellan und wartete. An diesem Ort hatte er Hulan vor fünf Jahren versprochen, dass sie glücklich sein würden. Damals hatte er gesagt, dass sie auf gewisse Weise beide Waisen seien, weil sie in ihrem Leben viel allein gewesen waren. Hulan hatte ihren Vater verloren, und ihre Mutter war nur noch ein Schatten ihrer selbst; Davids Eltern waren nur bis zu seiner Geburt verheiratet geblieben. Dann hatte sein Vater, ein internationaler Geschäftsmann, erneut seine Reisen aufgenommen, während seine Mutter wieder als Konzertpianistin auftrat. Wenn David und Hulan füreinander da waren, hatte er gesagt, dann würden sie für immer zusammenbleiben, und auch ihr Kind würde sorglos, glücklich und gesund aufwachsen. Er hatte Hulan versichert, dass all ihre Verlustängste unbegründet waren. Er hatte versprochen, sie nie zu verlassen. Er hatte sich in fast allem getäuscht, und die Schuldgefühle, die er jeden Tag verspürte, waren beinahe unerträglich.

David hatte seine Versprechungen gemacht, und sie hatte ihm geglaubt. Vizeminister Zai hatte Hulan keine Mordfälle mehr übertragen, und sie hatte nie wieder welche übernommen. David und Hulan heirateten in einer kleinen Zeremonie. Hulan bekam einen dicken Bauch, und der Arzt versicherte ihnen wiederholt, dass die Schwangerschaft normal verlaufe. Auf den Ultraschallaufnahmen konnten David und Hulan sehen, dass das Baby – ein Mädchen – gesund und kräftig war. In ihren Augen war es schon eine eigene Persönlichkeit, so wie es am Daumen lutschte und in Hulans Gebärmutter herumturnte. David und Hulan fingen an, wie eine Familie zu denken. Sie kauften eine Wiege und strichen den Alkoven neu, der von ihrem Schlafzimmer abzweigte. Hulan suchte alte Schrankkoffer durch und fand bestickte Babymützen, die mit goldenen Glücksbringern verziert waren.

Als Chaowen auf der Welt war, war das Familienglück vollkommen. Sie war ein hübsches Kind. In vielerlei Hinsicht sah sie wie ein typisches chinesisches Mädchen aus. Ihr Gesicht war rund und rosig. Sie hatte zwei hübsche Mandelaugen. Aber Chaowens Haare glänzten nicht tiefschwarz, so dass jeder auf der Straße sehen konnte, dass sie nicht zu hundert Prozent chinesisch war. Weihnachten feierte sie genauso gerne wie das chinesische Neujahr. Im Winter trug sie praktische wattierte chinesische Kleidung, im Sommer T-Shirts und Shorts. Mit ihrem Vater sprach sie Englisch, sogar wenn er Chinesisch mit ihr redete, mit ihrer Mutter sprach sie Chinesisch, selbst wenn sie Englisch mit ihr sprach. Mit anderen Worten, Chaowen war eigensinnig und klug, ebenso wie beide Elternteile, was oft dazu geführt hatte, dass die Nachbarn Kommentare darüber abgegeben hatten, wie passend ihr Name doch war. Chao bedeutete »übertreffen«. Wen hieß »literarisch« oder »kulturell«. Der Name beschrieb also jemanden, der kulturell gebildet war.

Sie waren natürlich nicht einer Meinung darüber gewesen, wie Chaowen aufwachsen sollte. Wenn es nach David gegangen wäre, wäre sie in den Staaten geboren worden. In dem Punkt hatte er verloren. Er hatte zurück nach Los Angeles ziehen wollen, damit seine Tochter frei von politischer Indoktrination aufwachsen konnte. Sie sollte Zugang zu den besten Schulen und guter medizinischer Versorgung bekommen. Er wollte, dass sie in dem Wissen aufwuchs, ihre gesamten Entscheidungen frei treffen zu können. Aber Hulan bestand hartnäckig darauf, in Beijing zu bleiben. Ihre Gründe waren einsichtig: Chaowen sollte die chinesische Kultur kennen lernen, Hulans Mutter war zu gebrechlich, um wegzugehen, und sie sollten alle Teil des Neuen China sein. Weil Hulan und Chaowen glücklich waren, stellte David seine Wünsche widerstrebend hintan.

Dreieinhalb Jahre von Chaowens Leben hatte Hulan große Freude in den einfachen Dingen gefunden. David schien es, als würde sie den Schlag des Hackbeils genießen, wenn es auf den Hackklotz auftraf, die albernen Geräusche, die Chaowen von sich gab, wenn sie versuchte, ihren Eltern etwas abzuschwatzen, das Gekicher und Gemurmel, wenn sie zu dritt auf dem großen Bett kuschelten, dann die Ruhe, wenn Chaowen in ihrem Bett lag. Sie hatten sich ein wunderbares Leben eingerichtet. Sie waren jung, sie hatten Geld, und zumindest David hatte großes Vertrauen darauf, dass all ihre Probleme hinter ihnen lagen. Aber die Chinesen haben ein Sprichwort, das nur zu wahr ist: Alles verkehrt sich ins Gegenteil.

Ein Jahr war seit Chaowens Tod vergangen, und David brachte es noch immer kaum über sich, an diese letzten Tage zu denken. Es hatte unauffällig mit einem Fieber begonnen. Hulan hatte Chaowen Tylenol und selbst gemachte Eislutscher gegeben, um ihren Flüssigkeitshaushalt zu kontrollieren. David hatte sie mit Malbüchern, Märchen und Papierpuppen bei Laune gehalten. Aber als Chaowens Fieber einfach nicht sinken wollte und sie zu teilnahmslos wurde, um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, brachten ihre Eltern sie in die Notaufnahme. Bakterielle Meningitis – diese beiden Wörter veränderten Davids Leben für immer. Zuerst sagten die Ärzte, sie würde wieder gesund werden. Dann sprachen die Antibiotika nicht an. Das Fieber stieg, und ihr glühender Körper reagierte mit heftigen Anfällen. Als ihr Gehirn anzuschwellen begann, redeten die Ärzte von bleibenden Hirnschäden. David und Hulan hätten jede Herausforderung angenommen, solange Chaowen nur überlebte, aber so sollte es nicht kommen. Ihre Organe stellten nacheinander ihre Funktion ein. Als das Ärzteteam zum letzten Mal versuchte, sie wiederzubeleben, betete David um eine weitere Chance. Dann war es vorbei. Die Schwestern entfernten alle Schläuche, wickelten Chaowen in eine Decke und legten sie Hulan in die Arme. Selbst gezeichnet von Krankheit und Tod war Chaowen noch schön – ihre zarten Hände, die samtweiche Haut und die seidigen Haare waren die physische Manifestation der Liebe zwischen ihrer chinesischen Mutter und ihrem weißen Vater.

Davids Trauer war tief und absolut, aber seltsamerweise fand er Trost in den traditionellen asiatischen Auffassungen vom Tod und dem Leben nach dem Tod. Hulan hingegen war tief erschüttert. David hatte früher schon erlebt, dass sie Tragödien überwand. Sie hatte die Reue bezwungen, die sie für den Schmerz empfand, den sie ihren Eltern während der Kulturrevolution zugefügt hatte. Sie war aus der entsetzlichen Nacht zurückgekehrt, als ihr Vater an ihr hatte Rache nehmen wollen, und sie hatte sich tapfer von dem physischen und psychologischen Schaden nach dem Inferno in der Knight-Fabrik erholt. Er hatte sich eingeredet, dass die Zeit – und eines Tages noch ein weiteres Kind – ihren Kummer heilen würde, aber Hulans letzter Vorrat an Widerstandskraft war mit dem letzten Atemzug ihrer Tochter aus ihr herausgesogen worden.

Während des vergangenen Jahres konnte Hulan ihre Gefühle nur im Zaum halten, indem sie sie versteckte, wie sie es seit ihrer Kindheit tat, und indem sie sich auf etwas anderes jenseits von sich selbst konzentrierte. Als sie begann, Abstecher ins Landesinnere zu machen, um die Urpatriotische Vereinigung näher zu untersuchen, protestierte David nicht. Er vertraute blind darauf, dass sie auf ihre eigene Art damit fertig werden musste. Doch während sie in ihrem Beruf einst flexibel und energisch gewesen war, war sie nun zäh und unerbittlich geworden. Je besessener sie sich mit der UPV beschäftigte, desto stärker spürte er, wie sie sich weiter von ihm entfernte. Je mehr sie sich auf ihren Kreuzzug einließ, desto mehr distanzierte auch er sich von ihr. Sie konnte ihm nicht von ihrer Arbeit erzählen, weil er sie darin nicht unterstützte, und er konnte nicht mit ihr darüber sprechen, weil sie nicht schon wieder eine Tirade über Rede- und Religionsfreiheit hören wollte. Sie konnte ihn nicht ansehen, weil er zu viele Erinnerungen weckte, und er konnte ihr nicht in die Augen sehen, weil er sie enttäuscht hatte.

Nachdem sie aus ihrem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen und in ein anderes Gebäude des Anwesens übergesiedelt war, hatte er endlich begriffen, dass trotz all ihrer Privilegien und ihrer Intelligenz Hulan nichts – nicht einmal David selbst – vor der Strafe schützen konnte, die sie sich auferlegt hatte. Auch er litt unter den Vorwürfen, die er sich machte. Was wäre gewesen, wenn sie Chaowen früher ins Krankenhaus gebracht hätten? Was wäre gewesen, wenn sie in den Staaten gewesen wären? Hätte Chaowen eine bessere medizinische Betreuung erhalten? Er behielt diese Gedanken für sich, so wie Hulan die ihren vor ihm versteckt hielt.

Er wusste, dass kaum eine Ehe den Tod eines Kindes überlebte. Er wusste auch, dass Hulan vielleicht glücklicher wäre, wenn er zurück nach Los Angeles ginge. Seine Anwesenheit hier erinnerte sie täglich an die Familie, die sie verloren hatten. Aber er konnte Hulan nicht verlassen, denn er liebte sie, und er wusste, dass sie auch ihn noch liebte. Er konnte sie nicht verlassen, weil er ihr an jenem Tag in diesem Hof versprochen hatte, dass sie für immer zusammen sein würden. Er konnte sie nicht verlassen, denn er wusste, dass irgendwo unter dieser Schale die Frau lebte, in die er sich verliebt hatte. Sich sah er als Ziegelstein, als Anker, als Fundament. Seine Aufgabe war es, sie wieder gesund zu machen, und er widmete ihr all die Zeit und die Kraft, die er früher dem gewidmet hatte, was andere als seine »brillante Karriere« bezeichneten. Er glaubte, wenn er nur Geduld hätte, würde sie eines Tages wieder die Hand nach ihm ausstrecken. Er würde da sein, und sie würde von jenem leeren Ort zurückkehren, an dem sie sich eingesperrt hatte.

Er hörte ihre Schritte, bevor er sie sah. Sie hielt den Kopf gesenkt, und als er leise ihren Namen rief, blieb sie stehen und blickte auf. Auf ihrer linken Wange war ein Blutfleck, wahrscheinlich hatte sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen. Ihre Bluse war blutbespritzt, auf ihrem Rock hatte sich eine dicke, dunkle Kruste gebildet, wo sie im Blut gekniet hatte. Hulan hatte sich offenbar irgendwo die Hände abgewischt, aber es klebte immer noch getrocknetes Blut zwischen den Fingern.

»Geht es dir gut?«, fragte er.

»Du weißt, was passiert ist?«

Er nickte, und sie blickte durch die Blätter des Gingkobaums hinauf in den trüben, braunen Himmel von Beijing. Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Ich habe gut geschossen. Diese Frau hätte nicht sterben dürfen. Sie war wahnsinnig. Ich hätte das früher begreifen müssen.«

»Es tut mir Leid«, sagte er. »Aber du hast das Mädchen gerettet.«

Sie sah ihn forschend an, als versuchte sie, die Bedeutung seiner Worte zu entschlüsseln. Einen kurzen Moment lang bemerkte er einen Schatten von Verwundbarkeit, dann zwang sie sich zu einem ruhigen Lächeln. Diesen Blick bezeichnete er mittlerweile als ihre Überlebensmaske.

»Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte sie. »Es bedeutet mir viel.« Kurz darauf fügte sie hinzu: »Aber du solltest ins Büro fahren. Miss Quo macht sich bestimmt schon Sorgen. Und ich muss mich waschen und dann ins Ministerium.« Eine leichte Unsicherheit schlich sich wieder in ihre Stimme, und sie wandte den Blick ab. »Es wird einiges für mich zu tun geben.«

»Kann ich irgendwie helfen?«

Sie zeigte erneut ihr entschlossenes Lächeln, und er merkte, wie sehr sie um Fassung rang. »Wir könnten zusammen zu Abend essen. Das wäre schön.« Dann streckte sie ihm ihre blutbefleckten Hände entgegen. »Ich muss dringend unter die Dusche.« Damit ging sie an ihm vorbei in den nächsten Hof.

Sie hatten es geschafft, das Gespräch zu beenden, ohne das zu erwähnen, woran beide gedacht hatten. Das kleine Mädchen, das vor nur einer Stunde ihre Mutter verloren hatte, war genauso alt, wie Davids und Hulans Tochter gewesen wäre.

Kapitel 2

Es war erst neun Uhr morgens, als Hulan ihr Zimmer verließ und in ein angrenzendes Gebäude ging, um rasch ihre Mutter und deren Pflegerin zu besuchen. Hulans Mutter war seit der Kulturrevolution an den Rollstuhl gefesselt. Ihr Geisteszustand war »sensibel«, was bedeutete, dass zwischen den seltenen Momenten der Klarheit häufig Wochen oder sogar Monate ohne Worte, Gesten oder andere Zeichen der geistigen Anwesenheit lagen. An diesem Morgen blickte die Mutter starr in die Ferne, und Hulan blieb nicht lange.

Sie verließ das Anwesen und stieg in den Fond eines schwarzen Mercedes. Ermittler Lo, der ihr seit langem als Fahrer zugeteilt war, sagte nichts – sie hatten beide bereits einen langen Tag hinter sich –, sondern fuhr sie schnell zum Ministerium für Öffentliche Sicherheit am Chang An Boulevard. Kaum hatte Hulan ihr Büro betreten, brachte ein Teemädchen eine Thermoskanne und eine Porzellantasse herein und verließ leise das Zimmer. Es würde an diesem Vormittag eine Untersuchung des Vorfalls geben, und Hulan würde einen ausführlichen Bericht schreiben müssen, aber zuvor musste sie sich erst mit ihrem Informanten befassen. Hulan schlug seine Akte auf und notierte Anmerkungen für den Staatsanwalt. Der Fall war einfach. Herr Wong, ein Kassierer, hatte die offizielle Autorisierung der Bank genutzt, um Gelder von mehreren Privatkonten auf ein Konto der Urpatriotischen Vereinigung zu transferieren. Fünf weitere Akten mit ähnlichen Fällen waren im vergangenen Monat auf Hulans Schreibtisch gelandet. Herr Wong war jedoch der Einzige, der bereit war, sein Wissen preiszugeben, um so dem Arbeitslager zu entkommen.

Leider war die Veruntreuung von Geldern nicht das einzige Problem, das Hulan mit der UPV in Verbindung bringen musste. In den letzten Monaten hatte es mehrere Fälle von Sabotage durch Arbeiter gegeben, die plötzlich Waren manipulierten, die sie in Fabriken auf dem Land und in Sonderwirtschaftszonen produzierten. Sie hatten Geräte zerstört und fehlerhafte Teile in Produkte eingebaut. Es hatte sogar mehrere Explosionen in Fabriken gegeben, die Hightech-Komponenten herstellten. Die chinesische Regierung vertrat den Standpunkt, dass die UPV eine extremistische religiöse Kultgemeinschaft war, die »Terrorismus im Inland« betreibe, und verhielt sich dementsprechend. Internationale Menschenrechtsorganisationen waren mit Chinas Null-Toleranz-Politik natürlich überhaupt nicht einverstanden.

Hulan, die einen großen Teil ihres Lebens in den Staaten verbracht hatte, hätte ebenfalls deren Position vertreten müssen, doch sie hasste die UPV. Sie fand es unerträglich, wie sie die Machtlosen, die Alten und die Armen ausnahmen. Sie fand es unerträglich, dass die Menschen Xiao Da ihr Geld gaben. Aus persönlicher Erfahrung wusste sie, dass Fanatismus dem Staat und der Gesellschaft schaden konnte. Amerika mochte es zulassen, dass religiöse Gruppierungen Macht über die Schwachen erlangten; in China würde das nicht passieren. Sie sagte sich das, was andere im Ministerium ihr auch sagten: Jedes Mal, wenn eine Akte auf ihren Tisch kam oder sie jemanden festnahm, schützte sie das Volk und sorgte für die Stabilität der Regierung. Außerdem war sie dankbar für die Aufgaben, die ihr übertragen worden waren. So hatte sie etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte.

Sie wusste, dass David kein Verständnis für ihre diesbezügliche Leidenschaft aufbrachte, aber auch er tat viele Dinge, die sie nicht mehr nachvollziehen konnte. Als er noch für das Justizministerium gearbeitet hatte, hatte er sich bemüht, schreckliche Ungerechtigkeiten wieder gutzumachen. Er war einem strengen Ehrenkodex gefolgt und hatte an den Dienst für die Allgemeinheit geglaubt. Diese Ideale hatte er auch als freiberuflicher Anwalt hochgehalten, wo bis zu zwanzig Juristen an seinen Fällen mitarbeiteten, bei denen es oft um wichtige soziale oder politische Anliegen ging. Nachdem David und Hulan wieder zusammengekommen waren, ließ ihn seine Kanzlei ein kleines Büro in Beijing eröffnen. Er betrieb nun ein Ein-Mann-Unternehmen mit einer florierenden Kanzlei. Er hatte viel zu tun, und seine Mandanten zahlten ihm viel Geld, aber keiner seiner Fälle stellte eine große intellektuelle Herausforderung dar oder hatte womöglich globale Auswirkungen. Ihrer Meinung nach bewältigte er seinen wenig anspruchsvollen Arbeitsalltag nur, indem er sich mit Rätselaufgaben und kulturellen Belangen beschäftigte. David schien auf irgendetwas zu warten, das aber nie einzutreffen schien. So wie es im Moment zwischen ihnen aussah, konnte sie ihm keine Fragen bezüglich seiner Entscheidungen stellen, und sie war dankbar, dass er nicht viele über die ihren stellte.

Als das Teemädchen nach wenigen Minuten zurückkam, blickte Hulan auf. »Ja?«

»Vizeminister Zai wünscht Sie zu sehen, Inspektorin.«

Hulan schlug den Ordner zu und verließ den Raum. Während sie durch den Gang schritt und die Treppen hinaufeilte, war sie zuversichtlich, dass sie jede Frage, die er ihr über diesen Morgen stellen könnte, beantworten konnte. Als sie in Zais Vorzimmer trat, stand seine Sekretärin auf, klopfte leise an die Bürotür und öffnete sie für Hulan.

»Guten Morgen, Vizeminister«, sagte Hulan beim Eintreten.

»Guten Morgen, Inspektorin Liu.«

Ihre Worte waren förmlich, aber sie stand diesem Mann näher, als sie ihrem eigenen Vater gestanden hatte.

»Bitte setzen Sie sich.« Er deutete auf den Sessel vor seinem Schreibtisch. Sie tat wie ihr geheißen und wartete, während er sich rasch ein paar Notizen machte. Sie waren einander so vertraut, dass er seine Beschäftigung noch beenden konnte, ohne sie zur Demonstration seiner mächtigeren Stellung im Vorzimmer warten zu lassen. In diesen Minuten der Stille blickte Hulan sich im Zimmer um. Es sah genauso aus wie damals, als ihr Vater diese Position innehatte. Schwere, dunkelrote Vorhänge hingen zu beiden Seiten der Fenster herab. Staatliche Siegel und Plaketten zierten die Wände. Nichts verriet etwas über die Persönlichkeit des Mannes, der hinter dem Schreibtisch saß.

Schließlich blickte der Vizeminister auf. Hulan kannte ihn seit ihrer Kindheit und entdeckte sofort die Besorgnis in seinen Augen.

»Es tut mir Leid, was heute passiert ist«, begann sie.

»Kein Anlass zu Entschuldigungen, Inspektorin. Der Tod der Frau war ein Unfall, und die Presse wird das ab sofort auch so darstellen.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Es war ein Fehler, der Zentralen Sendeanstalt die Möglichkeit zu geben, die Veranstaltung live zu übertragen.«

Ja, dachte Hulan, wir hatten eine Abmachung. Warum hatte sich alles so plötzlich und ohne jede Diskussion geändert? Sie musste das Thema vorsichtig angehen. »Ein Fehler, oder war es ...?«

Er fiel ihr sofort ins Wort. »Man konnte unmöglich im Voraus wissen, dass eine Geistesgestörte versuchen würde, ihrem Kind etwas anzutun.«

»Falls sie wirklich verrückt war ...«

Er runzelte die Stirn. »Falun Gong und die UPV sind nicht dasselbe.«

Was meinte er? Dass die Selbstopferungen der Falun-Gong-Anhänger nicht dasselbe waren wie eine Frau, die versuchte, ihrer Tochter die Hand abzuhacken? Dass die Vorwürfe – hauptsächlich von der ausländischen Presse – zutrafen und die chinesische Regierung tatsächlich Menschen dafür bezahlte, sich in der Öffentlichkeit anzuzünden, um Falun Gong in Verruf zu bringen? Dass nicht abzusehen war, wie es ausging, wenn man »Geistesgestörte« dafür benutzte? Ganz sicher wusste Hulan nur, dass Zai sie leicht von ihrer eigentlichen Frage abgelenkt hatte. Weshalb war dieses Kamerateam überhaupt dort gewesen?

Der Vizeminister blickte auf ein Blatt Papier. »Ich sehe, dass Tang Wenting nicht festgenommen wurde.«

»Er ist entkommen ...«

»Während Sie sich um das Kind gekümmert haben. Das ist nicht Ihre Aufgabe.«

»Da haben Sie völlig Recht, Herr Vizeminister.«

Zais Stimme wurde sanfter. »Wo ist das Mädchen jetzt?«

»Sie wurde ins Heim Nummer 5 gebracht, außerhalb des dritten Rings.«

»Na, dann nimmt es mit ihr vielleicht kein so unglückliches Ende.« Als Hulan ihn fragend ansah, fügte er hinzu: »Vielleicht wird sie ja von einer amerikanischen Familie adoptiert und hat ein besseres Leben, als sie es hier je gehabt hätte.« Er beugte sich leicht zu Hulan vor. »Sie könnten auch ein Kind adoptieren, Hulan, vielleicht einen Säugling. Es wäre kein Nachteil für Sie, wenn Sie wieder Ihr Glück finden würden.«

Er versuchte, rücksichtsvoll zu sein, aber seine Worte taten weh und erinnerten Hulan nur an das Mitgefühl anderer. Zhang, die Direktorin des Nachbarschaftskomittees, hatte zu Hulan gesagt, sie solle es »noch einmal versuchen«.

Zai räusperte sich zum Zeichen, dass dieser persönliche Teil der Unterredung beendet war, doch was er anschließend sagte, hatte nichts mit den morgendlichen Vorfällen auf dem Tiananmen-Platz zu tun. »Wir haben einen neuen Fall hereinbekommen. Im Jangtse wurde eine unidentifizierte Leiche gefunden.«

Hulan war so verblüfft über diesen abrupten Themenwechsel, dass sie ohne nachzudenken antwortete. »Das kommt doch sicherlich häufiger vor. Weshalb sollte das Angelegenheit des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit sein?«

»Weil es die Leiche eines Ausländers ist.« Er sprach ruhig, aber sie merkte, wie er unwillkürlich mit den Augen die Wände absuchte. Belauschte die Regierung immer noch jedes Gespräch, das in diesem Raum geführt wurde?

»Wurde ein Ausländer als vermisst gemeldet?«, fragte Hulan und ließ sich nun doch auf das Thema ein. »Wenn die Person von einem Kreuzfahrtschiff über Bord gegangen wäre, dann hätte das ganze Land nach diesem ... Mann oder dieser Frau gesucht.«

»Mann. Wie Sie schon richtig bemerkt haben, kann er nicht auf einer Kreuzfahrt über Bord gegangen sein. Aber lassen Sie uns nicht über die Möglichkeiten spekulieren. Ich übertrage Ihnen diesen Fall. Wir müssen wissen, wer er ist, und wie es dazu kam, dass er in den Fluten unseres großen Flusses gefunden wurde.«

»Sie wissen, dass ich heute viel zu tun habe. Ich muss einen Bericht über die Vorfälle von heute Morgen schreiben.«

»Das kann warten. Es könnte sogar besser für Sie sein, wenn Sie das noch ein bisschen hinauszögern. Vielleicht wollen Sie noch ein wenig an Ihren Fakten arbeiten ...«

»Ich muss nicht darüber nachdenken, was passiert ist. Ich habe das getan, was in dem Moment notwendig war. Abgesehen davon übernehme ich keine Mordfälle mehr.« Ihr war eine Lösung eingefallen, aber sie musste sie mit der angemessenen Reue vorbringen. Sie blickte auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte, und sagte: »Ich bin aus der Übung mit den Toten. Geben Sie die Leiche Luo oder Cui.« Diese Inspektoren waren in den letzten zwei Jahren rasch aufgestiegen. Als Belohnung waren sie über ein Austauschprogramm in die Vereinigten Staaten geschickt worden und hatten zwei Wochen im Ausbildungszentrum des FBI in Quantico verbracht.

»Die beiden frage ich nicht. Ich beauftrage Sie damit. Sie haben keine Wahl.«

Hulan bemerkte die Eindringlichkeit in seiner Stimme und blickte auf. Er war wirklich nervös, und zwar deshalb, weil es sein konnte, dass jemand mithörte. Sie sah ihm in die Augen, bis er beinahe unmerklich nickte. Man hörte zu. Die Männer vom anderen Seeufer ... Ohne eine Chance zu bekommen, ihre Vorgehensweise von diesem Morgen in voller Gänze zu erklären, würde sie bestraft werden, und Zai konnte oder wollte ihr nicht helfen.

»Wer ist der Tote?«, fragte sie mit fester Stimme.

»Das sollen Sie herausfinden.«

»Aber Sie müssen doch eine Ahnung haben ...«

Vizeminister Zai sah sie unmutig an. »Im Moment brauchen wir nur die Identifizierung«, sagte er. »Sie können gehen.«

Es war beinahe fünf Jahre her, seit Hulan zum letzten Mal in den Keller des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit hinabgestiegen war, wo sich das Reich des Pathologen Fong befand. Damals war sie für ihren analytischen Blick bekannt gewesen, mit dem sie jeden Tatort, jede verwesende Leiche taxierte. Sie hatte eine eigene Technik entwickelt, die darin bestand, immer weiter von einer Leiche zurückzutreten, um die ganze Szene betrachten zu können. Ihre Kollegen hatten sie in dieser Hinsicht immer für hartherzig gehalten, und rückblickend war sie das vielleicht auch gewesen. Aber ihr Herz war nicht von Natur aus hart, sagte sie sich. Sie durfte sich nur den Gedanken nicht erlauben, dass das, was sie vor sich hatte, menschlich war. Eine Leiche war nur eine Frage, die beantwortet werden musste. Geh einen Schritt zurück und dann noch einen ...

Vor den Schwingtüren zum gerichtsmedizinischen Labor blieb sie stehen. Sie versuchte, sich darauf vorzubereiten, was sie sehen und riechen würde, doch was nützte das? Wasserleichen waren besonders unangenehm, und sie war hoffnungslos außer Übung. Aber sie würde das durchstehen, würde ihre Strafe annehmen und wieder zu ihrer richtigen Arbeit zurückkehren. Sie drückte die Türen auf. Sofort schlug ihr der Geruch von Formaldehyd, Bleichmitteln und Antiseptika entgegen, und gleich darunter lauerte der unverwechselbare Geruch des menschlichen Todes. Die vorderen Büros waren leer, und sie schritt durch zwei weitere Türen, bis sie auf den Pathologen Fong traf. Er blickte zu ihr auf und beäugte sie kritisch. Er war ein kleiner Mann, und es hatte ihn immer geärgert, dass er kleiner war als sie. Schließlich sagte er: »Sie sind gekommen, um unseren Namenlosen zu sehen?«