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Zwei Freundinnen, vom Schicksal vereint – und entzweit? Der bewegende historische Roman »Der Seidenfächer« von Lisa See jetzt als eBook bei dotbooks. Ein berührender Roman über eine große Freundschaft, die durch Nushu, die 1000 Jahre alte Geheimschrift chinesischer Frauen, am Leben gehalten wird: Lisa See lässt uns in ihrem internationalen Bestseller in eine verborgene Welt schauen, in der den Frauen nach einer grausamen Tradition die Füße gebunden werden, aber auch das Herz gefesselt wird – doch ihre Sehnsucht nach Liebe, Glück und Freiheit bleibt lebendig … Als Tochter einer armen Bauernfamilie im China des 19. Jahrhunderts hat Lilie keine Chance auf ein glückliches Leben – bis ihre kleinen, zierlichen Füße auffallen: Sie scheinen perfekt dafür geeignet zu sein, nach altem Brauch gebunden zu werden und Lilie so in eine begehrte, rare Schönheit zu verwandeln. Bereitwillig nimmt das Mädchen die Schmerzen auf sich, um Ansehen zu erlangen. Schon bald zahlt sich das aus: Sie bekommt einen Brief, kunstvoll in der Geheimschrift der Frauen geschrieben. Darin lädt Schneerose, ein Mädchen aus gutem Hause, sie ein, ein traditionelles, lebenslanges Band zu knüpfen. Aber kann die Freundschaft zwischen zwei Mädchen so unterschiedlicher Herkunft wirklich ein Leben lang halten? »Lisa Sees bestes Buch: Eine faszinierende und anrührende Geschichte, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite gefangen nimmt.« Amy Tan Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der historische Roman »Der Seidenfächer« von Bestsellerautorin Lisa See, der auch als Film adaptiert wurde. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 521
Über dieses Buch:
Ein berührender Roman über eine große Freundschaft, die durch Nushu, die 1000 Jahre alte Geheimschrift chinesischer Frauen, am Leben gehalten wird: Lisa See lässt uns in ihrem internationalen Bestseller in eine verborgene Welt schauen, in der den Frauen nach einer grausamen Tradition die Füße gebunden werden, aber auch das Herz gefesselt wird – doch ihre Sehnsucht nach Liebe, Glück und Freiheit bleibt lebendig …
Als Tochter einer armen Bauernfamilie im China des 19. Jahrhunderts hat Lilie keine Chance auf ein glückliches Leben – bis ihre kleinen, zierlichen Füße auffallen: Sie scheinen perfekt dafür geeignet zu sein, nach altem Brauch gebunden zu werden und Lilie so in eine begehrte, rare Schönheit zu verwandeln. Bereitwillig nimmt das Mädchen die Schmerzen auf sich, um Ansehen zu erlangen. Schon bald zahlt sich das aus: Sie bekommt einen Brief, kunstvoll in der Geheimschrift der Frauen geschrieben. Darin lädt Schneerose, ein Mädchen aus gutem Hause, sie ein, ein traditionelles, lebenslanges Band zu knüpfen. Aber kann die Freundschaft zwischen zwei Mädchen so unterschiedlicher Herkunft wirklich ein Leben lang halten?
»Lisa Sees bestes Buch: Eine faszinierende und anrührende Geschichte, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite gefangen nimmt.« Amy Tan
Über die Autorin:
Lisa See entstammt einer chinesisch-amerikanischen Familie. Sie wurde in Paris geboren und wuchs in Los Angeles in Chinatown auf. Dreizehn Jahre lang arbeitete sie als Journalistin für Publishers Weekly. Später betreute sie als Kuratorin mehrere große Ausstellungen, die sich mit interkulturellen Beziehungen zwischen Amerika und China beschäftigen. Bereits ihr erstes Buch, eine Biographie ihrer Familie, war ein internationaler Bestseller und erhielt die »Notable Book«-Auszeichnung der New York Times. Dieselbe Auszeichnung bekam sie auch für ihren bald darauf folgenden ersten Thriller »Die rote Klinge«. Sie wurde als »National Woman of the Year« ausgezeichnet, erhielt den »Chinese American Museum’s History Makers Award« und den »Golden Spike Award« in Kalifornien. Mit ihrem Roman »Der Seidenfächer« gelang ihr ein Weltbestseller, der auch verfilmt wurde. Heute lebt sie in Los Angeles.
Bei dotbooks veröffentlicht Lisa See »Töchter aus Shanghai« und »Tochter des Glücks« aus ihrer Reihe um »Die Frauen von Shanghai«.
Zudem erscheint bei dotbooks auch ihre Thrillerreihe um die Polizistin Liu Hulan mit den Bänden »Die rote Klinge«, »Der Feuerdrache« und »Tod am Jangtse«.
Die Website der Autorin: https://www.lisasee.com/
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eBook-Neuausgabe Juni 2022
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2005 unter dem Originaltitel »Snow Flower and the Secret Fan« bei Random House, New York.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2005 by Lisa See
Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency
Translation Copyright © 2005 by Elke Link
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2005 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98690-012-0
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Lisa See
Der Seidenfächer
Roman
Aus dem Amerikanischen von Elke Link
dotbooks.
In diesem Roman habe ich die traditionelle chinesische Datumsangabe verwendet. Das dritte Jahr der Herrschaft von Kaiser Daoguang, in dem Lilie geboren wurde, ist das Jahr 1823. Der Taiping-Aufstand begann 1851 und endete 1864.
Es wird angenommen, dass Nushu – die Geheimschrift, die nur von Frauen in einem entlegenen Gebiet im Südwesten der Provinz Hunan verwendet wurde – vor eintausend Jahren entstand. Offenbar ist es die einzige geschlechtsspezifische Schriftsprache, die je auf der Welt entdeckt wurde.
Ich bin, was sie in unserem Dorf »eine, die noch nicht gestorben ist« nennen – eine Witwe von achtzig Jahren. Ohne meinen Mann gehen die Tage langsam vorüber. An den besonderen Speisen, die Päonie und die anderen für mich zubereiten, liegt mir nichts mehr. Auf die vielen glücklichen Ereignisse unter unserem Dach freue ich mich nicht mehr. Mich interessiert allein die Vergangenheit. Nach all dieser Zeit kann ich nun endlich all das aussprechen, was ich früher nicht sagen durfte – als ich noch abhängig von meiner eigenen Familie war oder mich darauf verlassen musste, dass mich die Familie meines Mannes ernährte. Ich habe ein ganzes Leben zu erzählen; zu verlieren habe ich nichts mehr, und es gibt nur noch wenige, die sich daran stoßen könnten.
Ich bin jetzt so alt, dass ich meine guten und meine schlechten Eigenschaften, die häufig ein und dasselbe waren, nur zu gut kenne. Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach Liebe gesehnt. Ich wusste, dass es mir – als Mädchen und später als Frau – nicht zustand, geliebt werden zu wollen oder das gar zu erwarten, aber ich tat es dennoch. Diese Anmaßung war letztlich die Wurzel jeden Problems, das ich in meinem Leben hatte. Es war mein Wunschtraum, dass meine Mutter Notiz von mir nehmen und dass sie und der Rest meiner Familie mich endlich lieb haben würden. Um ihre Zuneigung zu gewinnen, war ich folgsam – ganz wie es sich für Angehörige meines Geschlechts geziemte –, aber ich war allzu schnell bereit zu tun, was sie von mir verlangten. In der Hoffnung auf ein kleines bisschen Freundlichkeit versuchte ich, ihre Erwartungen in mich zu erfüllen – nämlich die kleinsten gebundenen Füße im Landkreis zu bekommen –, und so ließ ich mir die Knochen brechen und in eine schönere Form bringen.
Wenn ich glaubte, die Schmerzen keinen Augenblick länger ertragen zu können, und mir die Tränen auf meine blutigen Bandagen tropften, flüsterte mir meine Mutter sanft ins Ohr, sprach mir Mut zu, noch eine weitere Stunde, noch einen Tag, noch eine Woche durchzuhalten, und sie erinnerte mich daran, wie ich belohnt würde, wenn ich es noch ein klein wenig länger schaffte. Auf diese Weise brachte sie mir bei, etwas zu erdulden – nicht nur die körperlichen Qualen beim Füßebinden oder Gebären, sondern auch den noch größeren Schmerz des Herzens, des Geistes und der Seele. Sie machte mich auch auf meine Schwächen aufmerksam und brachte mir bei, sie zu meinen Gunsten zu nutzen. In unserem Land nennen wir diese Art von Mutterliebe teng ai. Mein Sohn hat mir erklärt, in der Männerschrift besteht das Wort aus zwei Zeichen. Das erste steht für Schmerz, das zweite für Liebe. So ist die Liebe einer Mutter.
Das Füßebinden veränderte nicht nur meine Füße, sondern auch meine ganze Persönlichkeit. Irgendwie kommt es mir vor, als hätte dieser Prozess mein ganzes Leben hindurch angedauert. Aus einem nachgiebigen Kind wurde ein entschlossenes Mädchen, und später wurde aus einer jungen Frau, die fraglos alles befolgte, was ihre Schwiegereltern von ihr verlangten, die höchstrangige Frau im ganzen Landkreis, die für die strenge Einhaltung der Regeln und Gebräuche im Dorf sorgte. Mit vierzig war dann die Starrheit meiner Fußbandagen von meinen goldenen Lilien hinauf in mein Herz gewandert, das sich so sehr an Ungerechtigkeiten und Groll festhielt, dass ich denen, die ich liebte und die mich liebten, nicht mehr verzeihen konnte.
Meine einzige Rebellion vollzog sich in Form des Nushu, unserer geheimen Frauenschrift. Ich begegnete ihr zum ersten Mal, als mir Schneerose – meine laotong, meine »Weggefährtin«, meine Geheimschrift-Brieffreundin – den Seidenfächer schickte, der hier vor mir auf dem Tisch liegt, und dann wieder, nachdem ich Schneerose kennen gelernt hatte. Doch unabhängig davon, was für ein Mensch ich in Gesellschaft von Schneerose war, ich war entschlossen, eine achtbare Ehefrau, eine lobenswerte Schwiegertochter und eine gewissenhafte Mutter zu sein. In schlechten Zeiten war mein Herz so fest wie Jade. Ich besaß die innere Stärke, Tragödien und Sorgen standzuhalten. Doch hier bin ich nun – eine Witwe, die nur noch stillsitzt, wie es die Tradition vorschreibt – und begreife, dass ich zu viele Jahre lang blind war.
Bis auf die drei schrecklichen Monate im fünften Jahr der Herrschaft des Kaisers Xianfeng habe ich mein Leben in Frauengemächern im oberen Stockwerk verbracht. Ich habe zwar den Tempel besucht, ich bin in mein Elternhaus gefahren, ich habe sogar Schneerose besucht, aber ich weiß wenig über das äußere Reich. Ich habe Männer von Steuern, Dürre und Aufständen reden hören, aber diese Themen sind ganz weit weg von meinem Leben. Ich beschäftige mich mit Sticken, Weben, Kochen, der Familie meines Mannes, meinen Kindern, meinen Enkeln, meinen Urenkeln und Nushu. Mein Leben ist völlig normal abgelaufen – erst die Tochtertage, die Tage des Haarehochsteckens, die Reis-und-Salz-Tage, und nun das Stillsitzen.
Hier bin ich denn also ganz allein mit meinen Gedanken und diesem Seidenfächer vor mir. Wenn ich ihn aufnehme, liegt er merkwürdig leicht in meinen Händen, wo er doch so viel Freude und so viel Kummer enthält. Ich lasse ihn schnell aufklappen, und das Geräusch der einzelnen Falten dabei erinnert mich an ein flatterndes Herz. Erinnerungen ziehen vor meinen Augen vorbei. In diesen letzten vierzig Jahren habe ich ihn so oft gelesen, dass ich alles darin auswendig weiß wie ein Kinderlied.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem die Heiratsvermittlerin ihn mir gegeben hat. Meine Finger zitterten, als ich die Falten aufzog. Damals zierte eine einfache Girlande aus Blättern den oberen Rand, und nur eine einzige Nachricht tröpfelte die erste Falte hinunter. Zu der Zeit kannte ich noch nicht viele Nushu-Zeichen, deshalb las mir meine Tante den Text vor. »Es heißt, in deinem Haus gibt es ein Mädchen von gutem Charakter, das sich auf die weiblichen Künste versteht. Du und ich, wir sind im selben Jahr und am selben Tag geboren. Wollen wir Weggefährtinnen sein?« Wenn ich heute die zarten Striche betrachte, aus denen diese Zeilen bestehen, sehe ich nicht nur das Mädchen, das Schneerose war, sondern auch die Frau, die aus ihr werden sollte – beharrlich, offen, aufgeschlossen.
Mein Blick streift über die anderen Falten des Fächers. Ich sehe unseren Optimismus, unsere Freude, unsere gegenseitige Bewunderung, die Versprechen, die wir uns gaben. Ich sehe, wie diese einfache Girlande schließlich ein kompliziertes Muster aus miteinander verschlungenen Schneerosen und Lilien wurde, um unser gemeinsames Leben als ein Paar laotong darzustellen, als zwei Weggefährtinnen. Rechts oben in der Ecke ist der Mond, der auf uns herabscheint. Wir sollten wie lange Ranken mit verschlungenen Wurzeln werden, wie Bäume, die eintausend Jahre stehen, wie ein Paar Mandarinenten, die ein Leben lang zusammenbleiben. In eine Falte schrieb Schneerose: »Wir sind einander zugetan und wollen unser Band niemals durchtrennen.« Aber in einer anderen Falte sehe ich Missverständnisse, gebrochenes Vertrauen und eine endgültig zugeschlagene Tür. Für mich war die Liebe ein so wertvoller Besitz, dass ich sie mit niemandem teilen konnte, und so trennte sie mich am Ende von dem einen Menschen, der meine Weggefährtin war.
Ich lerne immer noch über die Liebe. Ich dachte, ich hätte sie verstanden – nicht nur die Mutterliebe, sondern auch die Liebe zu den Eltern, dem Ehemann und der laotong. Ich habe die anderen Arten von Liebe erfahren – mitleidige Liebe, respektvolle Liebe, dankbare Liebe. Aber wenn ich mir unseren geheimen Fächer mit seinen Botschaften anschaue, die Schneerose und ich uns im Laufe vieler Jahre geschrieben haben, sehe ich, dass ich die allerwichtigste Liebe nicht zu schätzen wusste – die Liebe aus tiefstem Herzen.
In den letzten Jahren habe ich für viele Frauen, die nie Nushu gelernt haben, ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben. Ich habe jeder Trauer und jeder Klage gelauscht, jeder Ungerechtigkeit und jeder Tragödie. Ich habe die unglücklichen Leben derjenigen aufgezeichnet, die ein elendes Schicksal ereilte. Ich habe alles gehört und alles aufgeschrieben. Aber wenn ich auch viel über die Geschichten von Frauen weiß, so weiß ich über die Geschichten von Männern fast nichts, außer dass gewöhnlich ein Bauer dazugehört, der gegen die Natur kämpft, ein Soldat in der Schlacht oder ein einsamer Mann auf einer inneren Suche. Wenn ich mein eigenes Leben betrachte, sehe ich, dass es Elemente der Geschichten von Frauen und Männern enthält. Ich bin eine bescheidene Frau mit den üblichen Klagen, aber im Inneren kämpfte ich eine Art Männerschlacht zwischen meiner wahren Natur und dem Menschen, der ich hätte sein sollen.
Ich schreibe diese Seiten für diejenigen, die im Jenseits wohnen. Päonie, die Frau meines Enkels, hat versprochen, dafür zu sorgen, dass sie bei meinem Tode verbrannt werden, damit meine Geschichte jene erreicht, bevor mein Geist es tut. Meine Worte mögen meine Handlungen erklären – meinen Vorfahren, meinem Mann, aber in der Hauptsache Schneerose, bevor ich sie alle wieder begrüße.
Mein Name ist Lilie. Ich kam am fünften Tag des sechsten Monats des dritten Jahres der Herrschaft von Kaiser Daoguang auf diese Welt. Mein Heimatdorf Puwei liegt im Landkreis Yongming, dem Landkreis der ewigen Helligkeit. Die meisten Menschen, die hier leben, stammen vom Volk der Yao ab. Von den Geschichtenerzählern, die in meiner Kindheit durch Puwei zogen, hörte ich, dass die Yao zur Zeit der Tang-Dynastie in diese Gegend einwanderten, also vor zwölfhundert Jahren. Die meisten Familien kamen aber ein Jahrhundert später, sie waren auf der Flucht vor den Mongolenarmeen, die in den Norden einmarschierten. Die Leute hier waren zwar nie reich, aber wir waren selten so arm, dass die Frauen auf den Feldern arbeiten mussten.
Wir gehörten der Familie Yi an, die eine ganz alte Yao-Sippe und in dieser Gegend sehr verbreitet war. Mein Vater und mein Onkel hatten sieben mou Land von einem reichen Grundbesitzer gepachtet, der tief im Westen der Provinz lebte. Sie bauten dort Reis, Baumwolle, Taro und Getreide an. Das Haus meiner Familie war insofern typisch, als es zwei Stockwerke besaß und nach Süden ausgerichtet war. Ein Zimmer oben war den Zusammenkünften der Frauen vorbehalten und diente den unverheirateten Mädchen als Schlafraum. Zimmer für jede Familieneinheit und ein eigener Raum für unsere Tiere flankierten den Hauptwohnraum im Erdgeschoss, wo mit Eiern oder Orangen gefüllte Körbe und zum Trocknen aufgefädelte Chilis am Balken in der Mitte aufgehängt waren, um sie vor Mäusen, Hühnern oder auch einem umherstreifenden Schwein zu schützen. An einer Wand stand ein Tisch mit Hockern. In der Ecke gegenüber befand sich eine Feuerstelle, an der Mama und Tante kochten. In unserem Hauptwohnraum hatten wir keine Fenster, deshalb ließen wir in den warmen Monaten die Tür zu der Gasse vor unserem Haus offen, damit Licht und Luft hereinkamen. Die restlichen Zimmer waren klein, der Boden bestand aus festgestampfter Erde, und, wie gesagt, unsere Tiere lebten bei uns.
Ich habe nie weiter darüber nachgedacht, ob ich als Kind glücklich war oder mich vergnügte. Ich war ein ganz normales Mädchen, das in einer ganz normalen Familie in einem ganz normalen Dorf wohnte. Ich hatte keine Ahnung, dass es noch eine andere Art zu leben geben könnte, und ich machte mir auch gar keine Gedanken darüber. Aber ich erinnere mich an den Tag, an dem ich plötzlich bewusst wahrnahm, was mich umgab, und darüber nachzudenken begann. Ich war gerade fünf geworden und hatte das Gefühl, ich wäre über eine hohe Schwelle getreten. Ich wachte kurz vor Sonnenaufgang auf und verspürte so eine Art Kitzeln im Hirn. Diese kleine Irritation machte mich sensibel für alles, was ich an diesem Tag sah und erlebte.
Ich lag zwischen Älterer Schwester und Dritter Schwester. Ich warf einen Blick auf die andere Seite zum Bett meiner Cousine hinüber. Schöner Mond, die so alt war wie ich, schlief noch, also blieb ich still liegen und wartete darauf, dass sich meine Schwestern rührten. Ich hatte das Gesicht Älterer Schwester zugewandt, die vier Jahre älter war als ich. Wir schliefen zwar im selben Bett, aber ich lernte sie erst wirklich gut kennen, als mir die Füße gebunden wurden und ich selbst ins Frauengemach kam. Ich war froh, dass ich Dritte Schwester nicht sah. Sie war schließlich ein Jahr jünger als ich, und deshalb fand ich, sie sei viel zu unbedeutend, um einen Gedanken an sie zu verschwenden. Meine Schwestern verehrten mich sicher auch nicht gerade, aber die Gleichgültigkeit, die wir an den Tag legten, war nur eine Maske, um unsere wahren Wünsche zu verbergen. Jede Einzelne von uns wollte von Mama wahrgenommen werden. Jede Einzelne von uns wetteiferte um Babas Aufmerksamkeit. Jede Einzelne von uns hoffte, jeden Tag etwas Zeit mit Älterem Bruder verbringen zu dürfen, denn als erster Sohn war er das wertvollste Familienmitglied. Auf Schöner Mond war ich nicht so eifersüchtig. Wir waren gute Freundinnen und froh, dass unser Leben miteinander verknüpft sein würde, bis wir beide verheiratet würden.
Wir vier sahen einander sehr ähnlich. Wir hatten alle schwarze, kurz geschnittene Haare, wir waren sehr dünn und beinahe gleich groß. Unterscheidungsmerkmale hatten wir nur wenige. Ältere Schwester hatte einen Leberfleck über dem Mund. Dritte Schwester hatte die Haare immer in kleinen Büscheln hochgebunden, weil sie es nicht leiden konnte, wenn Mama sie kämmte. Schöner Mond hatte ein hübsches rundes Gesicht, während ich stramme Beine vom Rennen und kräftige Arme vom Herumtragen meines kleinen Bruders hatte.
»Mädchen!«, rief Mama über die Treppe zu uns herauf.
Das genügte, um die anderen zu wecken und uns alle aus dem Bett zu holen. Ältere Schwester zog sich rasch an und ging hinunter. Schöner Mond und ich brauchten etwas länger, weil wir nicht nur uns, sondern auch Dritte Schwester ankleiden mussten. Dann gingen wir zusammen nach unten, wo Tante den Boden fegte, Onkel ein Morgenlied sang, Mama – mit Zweitem Bruder auf dem Rücken – gerade das letzte Wasser zum Kochen in den Teekessel goss und Ältere Schwester Lauchzwiebeln für den Reisbrei schnitt, den wir Congee nennen. Meine Schwester warf mir einen gelassenen Blick zu, den ich so verstand, dass sie an diesem Morgen bereits die Anerkennung meiner Familie bekommen hatte und nun für den Rest des Tages sicher war. Ich verbarg meinen Groll, ohne zu begreifen, dass ihre vermeintliche Selbstzufriedenheit eher die freudlose Resignation war, die meine Schwester nach ihrer Verheiratung an den Tag legen sollte.
»Schöner Mond! Lilie! Kommt her! Kommt her!«
Meine Tante begrüßte uns jeden Morgen so. Wir rannten zu ihr hin. Tante gab Schöner Mond einen Kuss und klopfte mir liebevoll auf den Po. Dann rauschte Onkel herein, nahm Schöner Mond in die Arme und küsste sie. Nachdem er sie wieder abgesetzt hatte, zwinkerte er mir zu und zwickte mich in die Wange.
Du kennst doch das alte Sprichwort, dass schöne Menschen immer schöne Menschen und begabte Menschen begabte heiraten? An diesem Morgen kam ich zu dem Schluss, dass Onkel und Tante zwei hässliche Menschen waren und deshalb perfekt zusammenpassten. Onkel, der jüngere Bruder meines Vaters, hatte O-Beine, eine Glatze und ein rundes, glänzendes Gesicht. Tante war mollig, und ihre Zähne ragten hervor wie Steinzacken aus einer Karsthöhle. Ihre gebundenen Füße waren nicht sonderlich klein, vielleicht vierzehn Zentimeter lang, also doppelt so groß, wie meine Füße später einmal werden sollten. Böse Zungen in unserem Dorf behaupteten, dies sei der Grund, weshalb Tante – die aus einer gesunden Familie stammte und breite Hüften hatte – nie einen Sohn austragen konnte. Solche Vorwürfe hörte ich zu Hause nie, nicht einmal von Onkel. Für meine Begriffe führten sie eine ideale Ehe: Er war eine liebevolle Ratte, und sie war ein pflichtbewusster Ochse. Tag für Tag sorgten sie für Glück in unserem Heim.
Meine Mutter hingegen hatte sich bis jetzt noch nicht anmerken lassen, dass sie meine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte. Das war so, seit ich denken konnte, aber an diesem Tag spürte ich ihre Missachtung deutlich. Ich wurde ganz melancholisch, und die Freude, die ich eben noch mit Tante und Onkel empfunden hatte, war zu meiner Verblüffung sofort wie weggeblasen. Doch gleich darauf verschwand dieses Gefühl so schnell, wie es gekommen war, denn Älterer Bruder, der sechs Jahre älter war als ich, rief mich, damit ich ihm bei seinen morgendlichen Pflichten half. Da ich im Jahr des Pferdes geboren wurde, bin ich natürlich immer gerne im Freien, aber noch wichtiger war mir, dass ich Älteren Bruder ganz für mich allein haben konnte. Ich wusste, dass ich mich glücklich schätzen durfte und meine Schwestern mir das übel nehmen würden, doch das war mir egal. Wenn er mit mir redete oder mich anlächelte, dann fühlte ich mich nicht unsichtbar.
Wir rannten nach draußen. Älterer Bruder zog Wasser aus dem Brunnen hoch und füllte unsere Eimer. Wir trugen sie zurück ins Haus und machten uns gleich wieder auf, um Feuerholz zu sammeln. Wir legten alles auf einen Haufen, dann lud mir Älterer Bruder die Arme mit kleineren Ästen voll. Er nahm den Rest, und wir machten uns auf den Heimweg. Zu Hause reichte ich Mama die Stöcke, in der Hoffnung, sie würde mich loben. Immerhin ist es gar nicht so einfach für ein kleines Mädchen, einen Wassereimer zu schleppen oder Feuerholz zu tragen. Aber Mama sagte gar nichts.
Noch heute, nach so langer Zeit, fällt es mir schwer, an Mama zu denken und an das, was ich an diesem Tag begriff. Mir wurde damals ganz deutlich bewusst, dass ich ihr unwichtig war. Ich war ein drittes Kind, ein zweites wertloses Mädchen, und bis es so aussah, als würde ich meine Milchjahre überleben, lohnte es nicht, Zeit auf mich zu verwenden. Sie betrachtete mich, wie alle Mütter ihre Töchter betrachten – als Besucherin auf Zeit, als ein weiteres hungriges Maul, das man stopfen musste, als einen weiteren Körper, der gekleidet werden musste, bis ich ins Haus meines Ehemanns zog. Ich war fünf, alt genug, um zu wissen, dass ich ihre Aufmerksamkeit nicht verdiente, doch ich sehnte mich plötzlich danach. Ich wollte so gerne, dass sie mich ansah und mit mir sprach wie mit Älterem Bruder. Doch selbst in diesem Augenblick, als ich zum ersten Mal ein wirklich tiefes Verlangen empfand, war ich so schlau zu wissen, dass Mama jetzt nicht gestört werden wollte, weil sie um diese Zeit immer so viel zu tun hatte. Sie hatte mich nämlich schon so oft gescholten, weil ich zu laut geredet hatte oder Löcher in die Luft um mich herum geschlagen, wenn ich ihr im Weg stand. Stattdessen gelobte ich, wie Ältere Schwester zu sein und so unauffällig und aufmerksam wie möglich zu helfen.
Großmutter tippelte herein. Ihr Gesicht sah aus wie eine Dörrpflaume, und sie ging so gebeugt, dass wir einander in die Augen sehen konnten.
»Hilf deiner Großmutter«, befahl mir Mama. »Sieh nach, ob sie etwas braucht.«
Obwohl ich mir gerade etwas gelobt hatte, zögerte ich. Das Zahnfleisch von Großmutter war morgens klebrig und sauer, und niemand wollte in ihre Nähe. Ich schlich mich an ihre Seite und hielt die Luft an, aber sie winkte mich ungeduldig weg. Vor lauter Eile rempelte ich meinen Vater an, die elfte und wichtigste Person in unserem Haushalt.
Weder tadelte er mich, noch sagte er zu sonst jemandem etwas. Meines Wissens würde er erst sprechen, wenn dieser Tag hinter ihm lag. Er setzte sich und wartete darauf, bedient zu werden. Ich sah Mama genau zu, wie sie ihm wortlos seinen Tee einschenkte. Ich wollte sie bei ihrer morgendlichen Routine nicht stören, aber sie konzentrierte sich sowieso nur auf meinen Vater. Er schlug meine Mutter selten und nahm sich nie eine Konkubine, aber ihre Vorsicht in seiner Nähe war uns allen eine Warnung.
Tante stellte Schalen auf den Tisch und teilte das Congee aus, während Mama das Baby stillte. Nach dem Essen machten sich mein Vater und mein Onkel auf zu den Feldern, und meine Mutter, Tante, Großmutter und Ältere Schwester gingen hinauf ins Frauengemach. Ich wäre gerne mit Mama und den anderen Frauen in unserer Familie mitgegangen, aber ich war noch nicht alt genug dafür. Was es noch schlimmer machte, ich musste jetzt Älteren Bruder mit dem Baby und Dritter Schwester teilen, als wir wieder hinausgingen.
Ich trug das Baby auf dem Rücken, während wir Gras mähten und nach Wurzeln für unser Schwein suchten. Dritte Schwester folgte uns, so gut sie konnte. Sie war ein lustiges, eigensinniges kleines Ding. Sie tat verwöhnt, wo doch die Einzigen, die ein Recht darauf hatten, verwöhnt zu werden, unsere Brüder waren. Sie hielt sich für diejenige, die in unserer Familie am meisten geliebt wurde, obwohl nichts dafür sprach.
Sobald wir unsere Aufgaben erledigt hatten, erkundeten wir vier das Dorf und liefen durch die Gassen zwischen den Häusern, bis wir auf ein paar andere Mädchen trafen, die gerade seilsprangen. Mein Bruder blieb stehen, nahm mir das Baby ab und ließ mich auch springen. Dann gingen wir zum Mittagessen nach Hause – es gab etwas Einfaches, nur Reis und Gemüse. Anschließend begleitete Älterer Bruder die Männer, und der Rest von uns verschwand nach oben. Mama stillte das Baby wieder, dann machte es mit Dritter Schwester einen Mittagsschlaf. Schon in diesem Alter genoss ich es, mit meiner Großmutter, Tante, Schwester, Cousine und besonders mit meiner Mutter im Frauengemach zu sein. Mama und Großmutter webten, Schöner Mond und ich rollten Garnknäuel auf, Tante setzte sich mit Pinsel und Tusche hin und malte sorgfältig ihre Geheimschriftzeichen, während Ältere Schwester darauf wartete, dass ihr ihre vier Schwurschwestern einen nachmittäglichen Besuch abstatteten.
Schon bald hörten wir vier Paar Lilienfüße leise die Treppe heraufkommen. Ältere Schwester begrüßte jedes Mädchen mit einer Umarmung, dann hockten sich die fünf zusammen in eine Ecke. Sie hatten es nicht gern, wenn ich sie bei ihren Gesprächen störte, aber ich sah ihnen trotzdem genau zu, denn ich wusste, dass ich in zwei Jahren selbst zu einem Schwesternbund gehören würde. Die Mädchen stammten alle aus Puwei, sie konnten sich also häufig treffen und nicht nur an besonderen Tagen der Zusammenkunft, wie dem Fest der kühlen Brise oder dem Vogelfest. Der Schwesternbund war gebildet worden, als die Mädchen sieben wurden. Um die Verbindung zu besiegeln, hatte jeder Vater fünfundzwanzig jin Reis spendiert, der in unserem Haus aufbewahrt wurde. Wenn eines der Mädchen einmal heiratete, würde ihre Portion Reis verkauft werden, damit ihre Schwurschwestern Geschenke für sie kaufen konnten. Das letzte bisschen Reis würde zur Hochzeit der letzten Schwurschwester verkauft werden. Dieses Ereignis markierte dann das Ende des Schwesternbunds, denn wenn die Mädchen alle in entfernte Dörfer geheiratet hatten, würden sie zu beschäftigt damit sein, sich um ihre Kinder zu kümmern und ihren Schwiegermüttern zu gehorchen, um noch Zeit für alte Freundschaften zu haben.
Nicht einmal bei ihren Freundinnen versuchte Ältere Schwester, sich hervorzutun. Sie saß friedlich bei den anderen Mädchen, während sie stickten und einander lustige Geschichten erzählten. Wenn sie zu laut plapperten oder kicherten, mahnte meine Mutter sie streng zur Ruhe, und da fiel mir schon wieder etwas auf: Mama tat das nie, wenn die Altersschwurschwestern meiner Großmutter zu Besuch kamen. Nachdem ihre Kinder erwachsen waren, war Großmutter eingeladen worden, sich einer neuen Gruppe von fünf Schwurschwestern in Puwei anzuschließen. Außer meiner Großmutter lebten nur noch zwei von ihnen. Sie waren allesamt Witwen und besuchten einander mindestens einmal pro Woche. Sie brachten sich gegenseitig zum Lachen und tauschten derbe Späße aus, die wir Mädchen nicht verstanden. Bei diesen Treffen hatte Mama zu viel Angst vor ihrer Schwiegermutter, um sie zu bitten, leiser zu sein. Vielleicht war sie auch zu beschäftigt.
Mama ging das Garn aus, und sie stand auf, um sich Nachschub zu holen. Einen Augenblick lang stand sie ganz still da und starrte gedankenvoll ins Leere. Ich verspürte den beinahe übermächtigen Wunsch, mich in ihre Arme zu werfen und zu rufen: »Sieh mich an! Sieh mich doch an! Sieh mich an!« Aber ich tat es nicht. Die Mutter von Mama hatte Mama die Füße schlecht eingebunden. Statt goldener Lilien hatte sie hässliche Stümpfe. Statt mit wiegenden Schritten zu gehen, stützte sie sich auf einen Stock. Wenn sie den Stock weglegte, suchte sie mit Armen und Beinen Halt, um das Gleichgewicht zu bewahren. Mama stand zu wackelig auf den Beinen, als dass man sie je hätte umarmen oder küssen können.
»Ist es nicht Zeit für Schöner Mond und Lilie, nach draußen zu gehen?«, fragte Tante und weckte meine Mutter aus ihrem Tagtraum. »Sie könnten Älterem Bruder bei seiner Arbeit helfen.«
»Er braucht ihre Hilfe nicht.«
»Ich weiß«, gab Tante zu, »aber es ist so ein schöner Tag ...«
»Nein«, sagte Mama streng. »Ich mag es nicht, dass die Mädchen durchs Dorf ziehen, wenn sie hier ihre Handarbeiten lernen sollen.«
Doch in dieser einen Hinsicht war meine Tante stur. Sie wollte, dass wir uns im Ort auskannten, dass wir sahen, was jenseits lag, dass wir an den Rand unseres Dorfes gingen und in die Ferne blickten, denn sie wusste, dass wir bald nur noch das zu Gesicht bekamen, was wir durch das Gitterfenster des Frauengemachs erblicken konnten.
»Sie haben doch nur diese paar Monate«, redete sie meiner Mutter gut zu. Sie sprach nicht aus, dass uns bald die Füße gebunden werden würden, die Knochen gebrochen, die Haut faulen würde. »Lass sie laufen, solange sie es noch können.«
Meine Mutter war erschöpft. Sie hatte fünf Kinder, und drei von uns waren fünf und jünger. Sie war allein verantwortlich für den Haushalt – sie putzte, wusch, flickte, kochte alle Mahlzeiten und kümmerte sich um die Rechnungen, so gut es ging. Sie hatte einen höheren Status im Haushalt als Tante, aber sie konnte nicht jeden Tag durchsetzen, was sie als angemessenes Benehmen betrachtete.
»Na gut«, seufzte Mama resigniert. »Sie können gehen.«
Ich nahm Schöner Mond an der Hand, und wir sprangen auf und ab. Tante scheuchte uns rasch zur Tür, bevor meine Mutter ihre Meinung ändern konnte, während Ältere Schwester und ihre Schwurschwestern uns wehmütig nachblickten. Meine Cousine und ich rannten die Treppe hinunter und hinaus. Der Spätnachmittag war mir die liebste Zeit des Tages, wenn die Luft warm war und duftete und die Zikaden summten. Wir liefen die Gasse entlang, bis wir meinen Bruder fanden, der den Wasserbüffel unserer Familie hinunter zum Fluss führte. Er ritt auf den breiten Schultern des Tieres, ein Bein untergeschlagen, das andere lag hüpfend auf den Flanken des Büffels. Schöner Mond und ich folgten ihm im Gänsemarsch durch das enge Gassenlabyrinth des Dorfes, dessen verwirrendes Durcheinander uns vor Geistern und Banditen gleichermaßen schützte. Wir sahen keine Erwachsenen – die Männer arbeiteten auf den Feldern, und die Frauen blieben in ihren Gemächern im Obergeschoss hinter den Gitterfenstern –, aber in den Gassen waren noch andere Kinder und die Tiere des Dorfes: Hühner, Enten, fette Schweine und quiekende Ferkel.
Wir verließen das Dorf und wanderten über einen erhabenen schmalen Pfad, der mit kleinen Steinen gepflastert war. Er war breit genug für Menschen und Sänften, aber zu schmal für Ochsen- oder Ponykarren. Wir folgten dem Pfad hinunter zum Fluss und blieben kurz vor der schwankenden Brücke stehen, die über den Xiao führte. Jenseits der Brücke öffnete sich die Welt vor uns mit weiten Ackerfluren. Der Himmel über uns dehnte sich blau wie die Federn des Eisvogels. Weit in der Ferne sahen wir noch andere Dörfer – Orte, an die ich, wie ich glaubte, mein ganzes Leben nicht kommen würde. Dann kletterten wir hinunter zum Flussufer, wo der Wind durch das Schilf fuhr. Ich setzte mich auf einen Felsen, zog mir die Schuhe aus und watete durch das seichte Wasser. Mehr als siebzig Jahre sind seither verstrichen, aber ich weiß noch genau, wie sich der Schlamm zwischen meinen Zehen anfühlte, wie mir das Wasser über die Füße rauschte, wie kalt es an meiner Haut war. Schöner Mond und ich waren so frei wie nie mehr in unserem Leben. Aber ich erinnere mich auch noch ganz genau an etwas anderes an diesem Tag. Von der Sekunde an, in der ich aufgewacht war, hatte ich meine Familie mit neuen Augen gesehen, und das hatte mich mit seltsamen Gefühlen erfüllt – mit Melancholie, Traurigkeit, Eifersucht. Vieles kam mir plötzlich ungerecht vor. Aber all das ließ ich vom Wasser fortspülen.
An diesem Tag setzten wir uns nach dem Abendessen nach draußen, genossen die kühle Abendluft und sahen Baba und Onkel zu, wie sie ihre langen Pfeifen rauchten. Alle waren müde. Mama stillte das Baby ein letztes Mal, in der Hoffnung, es würde einschlafen. Sie sah müde aus von ihren Hausarbeiten, die für sie immer noch nicht beendet waren. Ich legte ihr den Arm um die Schulter, um sie zu trösten.
»Dafür ist es zu heiß«, sagte sie und schob mich sanft weg.
Baba muss gesehen haben, wie enttäuscht ich war, denn er nahm mich auf seinen Schoß. In der Stille und Dunkelheit war ich kostbar für ihn. Für diesen Augenblick war ich wie eine Perle in seiner Hand.
Die Vorbereitungen für das Füßebinden dauerten bei mir viel länger, als alle dachten. In den großen Städten werden Mädchen aus vornehmeren Familien die Füße schon im Alter von drei Jahren gebunden. In manchen, weit von uns entfernten Provinzen binden sich die Mädchen nur zeitweise die Füße, damit sie ihrem zukünftigen Ehemann reizvoller erscheinen. Zu dem Zeitpunkt sind die Mädchen dann ungefähr dreizehn. Ihnen werden dabei aber nicht die Knochen gebrochen, und die Bandagen sitzen immer locker. Sobald sie verheiratet sind, werden die Füße wieder befreit, damit die jungen Ehefrauen mit ihren Männern auf dem Feld arbeiten können. Den ärmsten Mädchen werden die Füße gar nicht gebunden. Wir wissen, wie sie einmal enden. Entweder werden sie als Dienerinnen verkauft, oder sie werden »kleine Schwiegertöchter« – großfüßige Mädchen aus glücklosen Familien, die bei anderen Familien aufwachsen, bis sie einmal alt genug sind, um selbst Kinder zu bekommen. Aber in unserem ganz normalen Landkreis beginnen Mädchen aus Familien wie meiner das Füßebinden mit sechs Jahren, und zwei Jahre später gilt es als abgeschlossen.
Während ich noch draußen mit meinem Bruder herumturnte, hatte meine Mutter bereits damit begonnen, die langen blauen Stoffstreifen zurechtzuschneiden und aufzurollen, die meine Bandagen werden sollten. Mein erstes Paar Schuhe machte sie auch selbst, aber noch mehr Sorgfalt verwendete sie darauf, die Miniaturschuhe zu nähen, die sie auf den Altar der Guanyin legen wollte – der Göttin, die die Tränen aller Frauen hört. Diese bestickten Schuhe waren nur dreieinhalb Zentimeter lang und bestanden aus einem ganz besonderen Stück roter Seide, das meine Mutter aus ihrer Mitgift aufgehoben hatte. Sie waren der erste kleine Hinweis darauf, dass meiner Mutter doch etwas an mir liegen mochte.
Als Schöner Mond und ich sechs wurden, schickten Mama und Tante nach dem Wahrsager, um ein günstiges Datum für den Beginn des Einbindens zu finden. Es heißt, der Herbst sei die beste Zeit dafür, aber nur weil der Winter bevorsteht und das kalte Wetter die Füße ein wenig betäubt. Ob ich aufgeregt war? Nein. Ich hatte Angst. Ich war zu jung, um mich zu erinnern, wie es bei Älterer Schwester am Anfang gewesen war, aber wer in unserem Dorf hatte nicht gehört, wie die kleine Wu ein paar Häuser weiter geschrien hatte?
Meine Mutter begrüßte unten den Wahrsager Hu, schenkte ihm Tee ein und bot ihm ein Schälchen mit Wassermelonenkernen an. Ihre Höflichkeit sollte für gute Prophezeiungen sorgen. Er fing mit mir an. Zuerst nahm er mein Geburtsdatum und ging alle Möglichkeiten durch. Dann sagte er: »Ich muss dieses Kind mit eigenen Augen sehen.« Das war ungewöhnlich, und als meine Mutter mich holen ging, stand ihr die Sorge ins Gesicht geschrieben. Sie führte mich zu dem Wahrsager und stellte mich vor ihn hin. Ihre Finger gruben sich mir in die Schultern. So musste ich stillhalten und war gleichzeitig eingeschüchtert, während der Wahrsager mit seiner Untersuchung begann.
»Augen, ja. Ohren, ja. Dieser Mund.« Er blickte zu meiner Mutter auf. »Das ist kein gewöhnliches Kind.«
Meine Mutter sog Luft durch die zusammengebissenen Zähne ein. Etwas Schlimmeres hätte der Wahrsager nicht verkünden können.
»Da sind noch weitere Gespräche vonnöten«, sagte der Wahrsager. »Ich schlage vor, wir ziehen eine Heiratsvermittlerin zu Rate. Seid Ihr einverstanden?«
Manche Leute hätten vielleicht sofort den Verdacht gehabt, dass der Wahrsager versuchte, mehr Geld für sich herauszuschlagen, und dass er mit der örtlichen Kupplerin unter einer Decke steckte, aber meine Mutter zögerte keinen Augenblick. Ihre Angst – oder ihr Glaube – war so groß, dass sie nicht einmal meinen Vater um Erlaubnis für diese zusätzliche Ausgabe fragte.
»Bitte kommt so bald wie möglich wieder«, sagte sie. »Wir warten.«
Der Wahrsager machte sich auf den Weg und ließ uns alle verwirrt zurück. An diesem Abend sprach meine Mutter nur wenig. Ja, sie wollte mich gar nicht ansehen. Tante machte keine Späße. Meine Großmutter zog sich früh zurück, aber ich hörte sie noch beten. Baba und Onkel machten einen langen Spaziergang. Sogar meine Brüder spürten die Beklommenheit bei uns im Haus und verhielten sich still.
Am nächsten Tag standen die Frauen früh auf. Diesmal wurden süße Kuchen gemacht, Chrysanthementee aufgegossen und besondere Speisen aus den Schränken geholt. Mein Vater ging nicht aufs Feld, sondern blieb zu Hause, damit er die Besucher begrüßen konnte. Der ganze Aufwand zeugte vom Ernst der Lage. Um alles noch schlimmer zu machen, brachte der Wahrsager nicht nur die Ehrenwerte Frau Gao, die örtliche Heiratsvermittlerin, sondern auch die Ehrenwerte Frau Wang mit, die Kupplerin aus Tongkou, dem besten Dorf im Landkreis. Ich muss dazu sagen, dass bislang noch nicht einmal die örtliche Kupplerin bei uns im Haus gewesen war. Ihr Besuch wurde erst in ein bis zwei Jahren erwartet, wenn sie für Älteren Bruder – bei der Suche nach einer Frau – und für Ältere Schwester, wenn andere Familien nach Bräuten für ihre Söhne suchten, als Vermittlerin dienen sollte. Als also die Sänfte der Ehrenwerten Frau Wang vor unserem Haus hielt, jubelte niemand. Vom Frauengemach aus sah ich, dass Nachbarn aus den Häusern gekommen waren, um zu gaffen. Mein Vater machte einen Kotau und berührte immer wieder mit der Stirn den Boden. Er tat mir Leid. Baba machte sich ständig Sorgen – das war typisch für jemanden, der im Jahr des Hasen geboren war. Er war verantwortlich für alle in unserem Haushalt, aber so etwas wie hier hatte er noch nie erlebt. Mein Onkel trat von einem Fuß auf den anderen, während meine Tante – die für gewöhnlich offen und fröhlich war – wie erstarrt neben ihm stand. Von meinem Beobachtungsposten oben war auf allen Gesichtern unter mir eindeutig zu erkennen: Irgendetwas stimmte da nicht, ganz und gar nicht.
Als alle im Haus waren, schlich ich mich leise an den Treppenkopf, um zu lauschen. Ehrenwerte Frau Wang setzte sich. Tee und Leckereien wurden aufgetragen. Die Stimme meines Vaters war kaum zu hören, als er die Höflichkeitsrituale vollführte. Doch Ehrenwerte Frau Wang war nicht gekommen, um mit unserer niedrigen Familie Trivialitäten auszutauschen. Sie wollte mich sehen. Wie am Tag zuvor wurde ich herbeigerufen. Ich ging nach unten in den Hauptraum, so anmutig, wie es jemand kann, der erst sechs ist und dessen Füße noch plump und groß sind.
Ich warf einen verstohlenen Blick auf die älteren Mitglieder meiner Familie. Obwohl manchmal die zeitliche Entfernung die Erinnerungen an besondere Momente im Schatten liegen lässt, stehen mir ihre Gesichter an diesem Tag noch ganz deutlich vor Augen. Meine Großmutter saß da und starrte auf ihre gefalteten Hände. Ihre Haut war so zart und dünn, dass ich eine blaue Ader an ihrer Schläfe pochen sah. Mein Vater, der eigentlich schon genug um die Ohren hatte, war sprachlos vor Sorge. Meine Tante und mein Onkel standen beide im Eingang – einerseits fürchteten sie sich davor, Teil der Geschehnisse zu sein, andererseits wollten sie auch nichts verpassen. Doch was ich am deutlichsten in Erinnerung habe, ist das Gesicht meiner Mutter. Als Tochter hielt ich sie natürlich für hübsch, aber an diesem Tag sah ich zum ersten Mal ihr wahres Wesen. Dass sie im Jahr des Affen geboren war, war mir natürlich nicht neu, doch mir war nie bewusst gewesen, dass sein trügerisches Wesen und seine Verschlagenheit bei ihr so stark ausgeprägt waren. Unter ihren hohen Wangenknochen lauerte etwas Derbes. Hinter ihren dunklen Augen lag etwas Hinterhältiges verborgen. Da war etwas ... ich weiß immer noch nicht ganz, wie ich das beschreiben soll. Ich würde sagen, dass so etwas wie männlicher Ehrgeiz durch ihre Haut hindurchschimmerte.
Ich sollte mich vor Frau Wang hinstellen. Ich fand ihre gewebte Seidenjacke schön, aber ein Kind hat keinen Geschmack, kein Unterscheidungsvermögen. Heute würde ich sagen, die Jacke war auffällig und unpassend für eine Witwe, aber andererseits ist eine Heiratsvermittlerin ja auch keine normale Frau. Sie macht Geschäfte mit Männern, handelt Brautpreise aus, feilscht um die Aussteuer und dient als Mittelsfrau. Frau Wang lachte zu laut, und ihre Worte waren zu glatt. Sie befahl mir, näher zu treten, klemmte mich zwischen die Knie und blickte mir unverwandt ins Gesicht. Mit einem Mal war ich nicht mehr unsichtbar, sondern plötzlich sehr sichtbar.
Ehrenwerte Frau Wang war viel gründlicher als der Wahrsager. Sie zwickte mich in die Ohrläppchen. Sie legte mir den Zeigefinger unter die Augen und zog die Haut hinunter, dann sollte ich nach oben schauen, nach unten, nach links, nach rechts. Sie nahm mein Gesicht zwischen die Hände und drehte es hin und her. Dann tastete sie meine Arme von den Schultern bis zu den Handgelenken ab. Schließlich legte sie mir die Hände auf die Hüften. Ich war doch erst sechs! Da kann man noch gar nichts über Fruchtbarkeit sagen! Doch genau das tat sie, und niemand versuchte, sie davon abzubringen. Dann machte sie etwas äußerst Erstaunliches. Sie erhob sich und sagte, ich solle ihren Platz einnehmen. Das wäre ganz furchtbar ungehörig von mir gewesen. In der Hoffnung auf eine Anweisung blickte ich von meiner Mutter zu meinem Vater, aber sie standen beide nur dumm da wie Rindviecher. Mein Vater war ganz grau im Gesicht, und ich hörte ihn beinahe denken: Warum haben wir sie nicht einfach in den Fluss geworfen, als sie geboren wurde?
Ehrenwerte Frau Wang war nicht die wichtigste Heiratsvermittlerin im Landkreis geworden, indem sie darauf wartete, dass Rindviecher eine Entscheidung trafen. Sie hob mich einfach hoch und setzte mich auf den Stuhl. Dann kniete sie sich vor mich hin und zog mir Schuhe und Strümpfe aus. Wieder völlige Stille. Wie eben schon mein Gesicht, drehte sie nun meine Füße hin und her, dann fuhr sie mir mit dem Daumennagel das Fußgewölbe auf und ab.
Ehrenwerte Frau Wang sah den Wahrsager an und nickte. Die Kupplerin richtete sich wieder auf und hieß mich durch eine abrupte Bewegung des Zeigefingers aus ihrem Stuhl aufstehen. Nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte, räusperte sich der Wahrsager.
»Eure Tochter hier beschert uns einen besonderen Umstand«, sagte er. »Gestern ist mir etwas an ihr aufgefallen, und Ehrenwerte Frau Wang, die zusätzlichen Sachverstand mitbringt, stimmt mir zu. Das Gesicht Eurer Tochter ist lang und schlank wie ein Reiskorn. Ihre vollen Ohrläppchen sagen uns, dass sie von großzügigem Geist ist. Aber am wichtigsten sind ihre Füße. Ihr Fußgewölbe ist sehr hoch, aber noch nicht voll entwickelt. Dies, Mutter, bedeutet, Ihr solltet noch ein Jahr mit dem Füßebinden warten.« Er hob die Hand, damit ihn niemand unterbrach, als hätte das jemand gewagt. »Sieben Jahre, das ist nicht üblich in unserem Dorf, ich weiß, aber wenn Ihr Eure Tochter anseht, dann begreift Ihr doch, dass ...«
Wahrsager Hu zögerte. Großmutter schob ihm eine Schüssel mit Mandarinen hin, damit er sich seine Worte besser zurechtlegen konnte. Er nahm eine, schälte sie und ließ die Schale auf den Boden fallen. Eine Spalte hielt er sich vor den Mund und sprach weiter: »Mit sechs bestehen die Knochen noch hauptsächlich aus Wasser und sind deshalb formbar. Aber Eure Tochter ist für ihr Alter noch unterentwickelt, sogar für euer Dorf, das schwere Jahre durchgemacht hat. Vielleicht ist es bei den anderen Mädchen in diesem Haushalt genauso. Das ist kein Grund, Euch zu schämen.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich weder angenommen, dass an meiner Familie irgendetwas anders war, noch hatte ich in Betracht gezogen, dass etwas an mir anders war.
Er steckte sich die Mandarinenspalte in den Mund, kaute gedankenverloren und fuhr dann fort: »Aber Eure Tochter hat noch etwas anderes, außer dass sie durch die Hungersnot klein geraten ist. Ihr Fuß hat ein besonders hohes Fußgewölbe, und das bedeutet, wenn man zum jetzigen Zeitpunkt gewisse Zugeständnisse macht, könnten ihre Füße die vollkommensten in unserem Landkreis werden.«
Manche Leute halten nichts von Wahrsagern. Manche Leute glauben, dass ihre Empfehlungen sowieso einfach dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Immerhin ist der Herbst die beste Zeit fürs Füßebinden, der Frühling die beste Zeit fürs Kinderkriegen, und ein hübscher Hügel mit einer sanften Brise hat das beste feng shui für eine Grabstätte. Aber dieser Wahrsager sah etwas in mir, und dieses Etwas sollte mein Leben verändern. Dennoch gab es in diesem Moment keine Feier. Im Zimmer herrschte eine unheimliche Stille, und ich wusste, dass immer noch etwas im Argen lag.
Ehrenwerte Frau Wang unterbrach die Stille. »Das Mädchen ist in der Tat sehr hübsch, aber goldene Lilien sind weitaus wichtiger im Leben als ein hübsches Gesicht. Ein hübsches Gesicht ist ein Geschenk des Himmels, aber kleine Füße können den sozialen Status verbessern. Das wissen wir alle aus Erfahrung. Was darüber hinaus passiert, muss Vater entscheiden.« Sie blickte Baba direkt an, aber ihre Worte galten eigentlich meiner Mutter. »Es ist gar nicht so schlecht, eine gute Partie für eine Tochter zu finden. Eine hoch stehende Familie bringt Euch bessere Beziehungen, einen besseren Brautpreis und langfristige politische und wirtschaftliche Protektion. Ich schätze zwar die Gastfreundschaft und Großzügigkeit, die Ihr heute gezeigt habt«, sagte sie und unterstrich die Kargheit unseres Heims mit einer trägen Handbewegung, »doch das Schicksal hat Euch – in Gestalt Eurer Tochter – eine Chance gegeben. Wenn Mutter ihre Aufgabe gut erfüllt, könnte dieses unbedeutende Mädchen in eine Familie in Tongkou einheiraten.«
Tongkou!
»Ihr sprecht von wundervollen Dingen«, wagte sich mein Vater vorsichtig vor. »Aber unsere Verhältnisse sind bescheiden. Wir können uns Euer Honorar nicht leisten.«
»Alter Vater«, antwortete Ehrenwerte Frau Wang in ruhigem Ton, »wenn die Füße Eurer Tochter so werden, wie ich mir das vorstelle, dann kann ich mich darauf verlassen, dass mir die Familie des Bräutigams ein großzügiges Honorar bezahlt. Auch Ihr werdet etwas bekommen, und zwar in Form eines Brautpreises. Wie Ihr seht, werden wir beide von diesem Arrangement profitieren.«
Mein Vater sagte nichts. Er besprach nie mit uns, was auf unserem Grund und Boden passierte, oder ließ uns gar an seinen Gefühlen teilhaben. Doch ich erinnere mich an einen Winter nach einem Jahr der Dürre, als wir kaum Essensvorräte hatten. Mein Vater ging in die Berge zum Jagen, aber selbst die Tiere waren verhungert. Baba blieb nichts übrig, als mit bitteren Wurzeln nach Hause zurückzukehren, aus denen meine Mutter und Großmutter Brühe kochten. Vielleicht erinnerte er sich in diesem Moment an diese Schande und malte sich im Geiste aus, wie gut mein Brautpreis sein könnte und was das für meine Familie bringen würde.
»Darüber hinaus«, fuhr die Heiratsvermittlerin fort, »glaube ich, dass Eure Tochter auch für einen laotong-Bund in Frage käme...«
Ich kannte diese Wörter und wusste, was sie bedeuteten. Ein laotong-Bund war etwas völlig anderes als ein Bund von Schwurschwestern. Dieser Bund bestand zwischen zwei Mädchen aus unterschiedlichen Dörfern und dauerte ihr ganzes Leben an, während ein Schwesternbund aus mehreren Mädchen bestand und sich nach der Eheschließung auflöste. In meinem kurzen Leben war ich niemals einer laotong begegnet und hatte nie in Betracht gezogen, eine zu haben. Meine Mutter und Tante hatten als Mädchen Schwurschwestern in ihren Heimatdörfern gehabt. Ältere Schwester hatte jetzt Schwurschwestern, während Großmutter verwitwete Freundinnen aus dem Dorf ihres Mannes als Altersschwurschwestern hatte. Ich war davon ausgegangen, dass ich auch welche haben würde, wenn mein Leben normal verlief. Eine laotong zu haben, das war in der Tat etwas ganz Besonderes. Ich hätte aufgeregt sein sollen, aber wie alle anderen im Raum war ich völlig entgeistert. Dieses Thema sollte man nicht in Anwesenheit von Männern besprechen. Die Situation war so außergewöhnlich, dass mein Vater die Fassung verlor und herausplatzte: »Keine Frau in unserer Familie hatte jemals eine laotong.«
»Eure Familie hat vieles nicht gehabt ... bis jetzt«, sagte Ehrenwerte Frau Wang und erhob sich. »Besprecht diese Angelegenheiten in Eurem Haus, aber denkt daran, es bietet sich nicht jeden Tag solch eine Gelegenheit. Ich werde Euch wieder besuchen.«
Die Heiratsvermittlerin und der Wahrsager gingen, nachdem beide versprochen hatten wiederzukommen, um meine Fortschritte zu begutachten. Meine Mutter und ich gingen nach oben. Kaum hatten wir das Frauengemach betreten, wandte sie sich um und betrachtete mich mit dem gleichen Ausdruck, den ich eben im Hauptraum bemerkt hatte. Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, schlug sie mich, so fest sie konnte, ins Gesicht.
»Weißt du eigentlich, was das deinem Vater für Schwierigkeiten bringen wird?«, fragte Mama. Das waren harte Worte, aber die Ohrfeige sollte Glück bringen und böse Geister verjagen. Immerhin war durch nichts garantiert, dass meine Füße wirklich wie goldene Lilien werden würden. Es war genauso gut möglich, dass meiner Mutter bei meinen Füßen ein Fehler unterlaufen würde, so wie es ihrer Mutter bei ihr passiert war. Bei Älterer Schwester war es ihr ganz gut gelungen, aber letztlich war alles möglich. Statt hoch geachtet zu werden, konnte es ebenso gut sein, dass ich wie meine Mutter auf hässlichen Stümpfen herumwankte und ständig mit den Armen fuchtelte, um das Gleichgewicht zu halten.
Auch wenn mir das Gesicht brannte, so war ich doch im Inneren glücklich. Mit dieser Ohrfeige hatte mir Mama zum ersten Mal ihre Mutterliebe gezeigt, und ich musste mir auf die Lippen beißen, um nicht zu lächeln.
Den Rest des Tages sprach Mama kein Wort mit mir. Sie ging wieder nach unten und redete mit Tante, Onkel, Vater und Großmutter. Onkel war ein gutherziger Mensch, aber als zweiter Sohn besaß er in unserem Haus keine Autorität. Tante wusste, welcher Nutzen sich aus dieser Situation ergeben konnte, doch als Ehefrau eines zweiten Sohnes, die selbst keinen Sohn besaß, hatte sie den niedrigsten Rang in der Familie inne. Mama bezog auch nicht Stellung, aber da ich ihren Gesichtsausdruck bei den Worten der Heiratsvermittlerin gesehen hatte, wusste ich, wie sie denken würde. Vater und Großmutter trafen zwar alle Entscheidungen im Haushalt, aber beide waren beeinflussbar. Die Ankündigung der Kupplerin war ein gutes Omen für mich, aber es bedeutete auch, dass mein Vater sehr hart für eine Aussteuer arbeiten musste, die einer höheren Heirat angemessen war. Wenn er sich dem Beschluss der Heiratsvermittlerin nicht fügte, würde er nicht nur im Dorf, sondern auch im ganzen Landkreis das Gesicht verlieren.
Ich weiß nicht, ob sie sich an diesem Tag über mein Schicksal einig wurden, aber in meinem Kopf war nichts mehr wie zuvor. Auch die Zukunft von Schöner Mond änderte sich mit meiner. Ich war ein paar Monate älter, aber es wurde beschlossen, dass uns beiden die Füße gleichzeitig mit Dritter Schwester gebunden werden sollten. Ich verrichtete zwar noch meine Aufgaben außer Haus, aber ich ging nie mehr mit meinem Bruder zum Fluss. Ich spürte nie mehr wieder die kühle Strömung auf meiner Haut. Bis zu diesem Tag hatte mich Mama nie geschlagen, aber es stellte sich heraus, dass dies das erste Mal von vielen sein sollte. Am schlimmsten war, dass mein Vater mich nie mehr so ansah wie früher. Ich durfte nicht mehr auf seinem Schoß sitzen, wenn er abends seine Pfeife rauchte. Von einem Augenblick zum anderen war ich nicht mehr das wertlose Mädchen, sondern ich konnte der Familie nützlich werden.
Meine Bandagen und die besonderen Schuhe, die meine Mutter für den Altar der Guanyin angefertigt hatte, wurden weggepackt, genauso wie die Bandagen und Schuhe, die für Schöner Mond gemacht worden waren. Ehrenwerte Frau Wang stattete uns regelmäßig Besuche ab. Sie kam immer in ihrer eigenen Sänfte. Stets inspizierte sie mich von Kopf bis Fuß. Immer stellte sie mir Fragen über meine hausfraulichen Fähigkeiten. Ich würde nicht sagen, dass sie freundlich zu mir war. Für sie war ich nur ein Mittel, um Geld zu verdienen.
Im nächsten Jahr begann meine Erziehung im oberen Frauengemach richtig, aber vieles wusste ich bereits. Ich wusste, dass Männer das Frauengemach selten betraten, denn es war allein für uns bestimmt. Dort konnten wir unsere Arbeit tun und unsere Gedanken teilen. Ich wusste, dass ich fast mein ganzes Leben in einem Raum wie diesem verbringen würde. Und ich wusste auch, dass der Unterschied zwischen nei – dem inneren Bereich des Hauses – und wai – dem äußeren Bereich der Männer – das Prinzip der konfuzianischen Gesellschaft ausmachte. Ob reich oder arm, ob Kaiser oder Sklave, die häusliche Sphäre ist den Frauen vorbehalten und die äußere den Männern. Frauen sollten weder in Gedanken noch in Taten die inneren Gemächer verlassen. Ich begriff auch, dass zwei konfuzianische Ideale unser Leben beherrschten. Das erste waren die Drei Gehorsamkeiten: Als Mädchen gehorche deinem Vater, als Frau gehorche deinem Mann, als Witwe gehorche deinem Sohn. Das zweite waren die Vier Tugenden, die das Benehmen, das Sprechen, das Auftreten und die Beschäftigung der Frauen beschreiben: Sei in deinem Benehmen keusch und nachgiebig, halte dich ruhig und aufrecht; sei im Ausdruck still und angenehm, in der Bewegung verhalten und anmutig, bei der Handarbeit und beim Sticken vollkommen. Wenn Mädchen nicht von diesen Prinzipien abweichen, wachsen sie zu tugendhaften Frauen heran.
Mein Unterricht wurde nun auf die praktischen Künste ausgedehnt. Ich lernte, einen Faden in eine Nadel einzufädeln, die Farbe des Garns auszuwählen und kleine, gleichmäßige Stiche zu machen. Das alles war wichtig, da Schöner Mond, Dritte Schwester und ich nun mit der Arbeit an den Schuhen begannen, die uns durch den zweijährigen Prozess des Füßebindens begleiten würden. Wir brauchten Schuhe für den Tag, spezielle Schlafschuhe und mehrere Paar enger Socken. Wir arbeiteten chronologisch und begannen mit den Schuhen, die jetzt auf unsere Füße passten, um dann zu immer kleiner werdenden Größen überzugehen.
Am wichtigsten aber war, dass meine Tante mir von nun an Nushu beibrachte. Damals verstand ich nicht ganz, weshalb sie sich ausgerechnet für mich so interessierte. Ich glaubte törichterweise, wenn ich fleißig war, dann würde ich Schöner Mond dazu inspirieren, ebenfalls fleißig zu sein. Und wenn sie fleißig war, dann könnte sie vielleicht eine bessere Partie machen als ihre Mutter. Aber eigentlich wollte uns meine Tante die Geheimschrift deshalb beibringen, damit Schöner Mond und ich für immer etwas teilen konnten. Ich bekam damals auch nicht mit, dass dies zu Auseinandersetzungen zwischen meiner Tante und meiner Mutter und Großmutter führte, die beide weder Nushu lesen noch schreiben konnten, genauso wenig wie mein Vater und Onkel die Männerschrift beherrschten.
Damals hatte ich die Männerschrift noch nie gesehen, deshalb hatte ich keinen Vergleich. Doch heute kann ich sagen, dass die Männerschrift grob ist. Jedes Zeichen passt sozusagen in ein Viereck, während unser Nushu aussieht wie Mückenbeine oder Vogelspuren im Staub. Anders als in der Männerschrift steht ein Nushu-Zeichen nicht für ein bestimmtes Wort. Unsere Zeichen sind vielmehr phonetischer Natur. Daher kann ein Zeichen viele gleich klingende Wörter darstellen. Während ein und dasselbe Zeichen also zum Beispiel für das Wort »Schloss« mit seinen beiden Bedeutungen – das Bauwerk oder die Schließvorrichtung – stehen kann, erschließt sich die Bedeutung für gewöhnlich erst aus dem Kontext. Dennoch muss man sehr gut aufpassen, damit man die Bedeutung nicht fehlinterpretiert. Viele Frauen – wie meine Mutter und meine Großmutter – haben die Schrift nie gelernt, aber sie kennen trotzdem einige der Lieder und Geschichten, von denen viele in einem Ta-dam-ta-dam-ta-dam-Rhythmus gesungen werden.
Tante brachte mir die besonderen Regeln bei, die für Nushu gelten. Man kann Briefe damit schreiben, Lieder, Lebensgeschichten, Lektionen über die Pflichten der Frauen, Gebete zur Göttin und natürlich allgemein bekannte Erzählungen. Man kann es mit einem Pinsel und Tusche auf Papier oder auf einen Fächer schreiben; es kann auf ein Taschentuch aufgestickt oder in Stoff eingewebt werden. Es kann und sollte vor einem Publikum aus anderen Frauen und Mädchen gesungen werden, aber es kann auch etwas sein, das man allein liest und schätzt. Die zwei wichtigsten Regeln jedoch sind diese: Männer dürfen nie erfahren, dass es existiert, und Männer dürfen es in keiner Form berühren.
Alles ging seinen Gang – Schöner Mond und ich lernten jeden Tag etwas Neues – bis zu meinem siebten Geburtstag, als der Wahrsager wiederkam. Diesmal musste er für drei Mädchen – Schöner Mond, mich und Dritte Schwester, die als Einzige von uns das richtige Alter hatte – einen gemeinsamen Tag finden, an dem unser Füßebinden beginnen konnte. Er druckste herum. Er berechnete unsere acht Zeichen. Letztendlich bestimmte er dann einen Tag, der für Mädchen in unserer Region ganz üblich war – den vierundzwanzigsten Tag des achten Mondmonats. An diesem Tag sprechen die Mädchen, denen die Füße gebunden werden, ihre Gebete und bringen der Göttin, die über das Füßebinden wacht, die letzten Opfergaben dar. Diese Göttin heißt »Mädchen mit den kleinen Füßen«.
Mama und Tante nahmen ihre Vorbereitungen wieder auf und schnitten noch mehr Bandagen zurecht. Sie gaben uns Klöße aus roten Bohnen zu essen, damit unsere Knochen so weich wie ein Knödel würden und damit es unser Ziel sei, dass unsere Füße auch nicht größer als so ein Knödel wurden. In den Tagen, die unserem Füßebinden vorangingen, besuchten uns viele Frauen aus unserem Dorf im oberen Gemach. Die Schwurschwestern von Älterer Schwester wünschten uns Glück, brachten uns noch mehr Süßigkeiten und gratulierten uns zu unserem offiziellen Eintritt in die Frauenwelt. Feierklänge erfüllten den Raum. Alle waren fröhlich, sangen, lachten, unterhielten sich. Heute weiß ich, dass über vieles nicht gesprochen wurde. Niemand sagte mir, dass ich sterben konnte. Erst als ich zu meinem Ehemann ins Haus zog, erfuhr ich von meiner Schwiegermutter, dass eines von zehn Mädchen beim Füßebinden starb, und zwar nicht nur in unserem Landkreis, sondern auch in ganz China.
Ich wusste lediglich, dass ich durch das Füßebinden leichter einen Ehemann finden und deshalb der größten Liebe und der größten Freude im Leben einer Frau näher gebracht würde – einem Sohn. Deshalb war es mein Ziel, ein perfekt gebundenes Fußpaar mit sieben bestimmten Merkmalen zu bekommen: Sie sollten klein, schmal, gerade, spitz und gewölbt sein, aber dennoch wohl riechen und sich weich anfühlen. Von diesen Erfordernissen ist die Länge am wichtigsten. Sieben Zentimeter entsprechen dem Ideal. Als Nächstes kommt die Form. Ein perfekter Fuß sollte die Form einer Lotosknospe haben. Er sollte an der Ferse voll und rund sein, vorne spitz zulaufen, und das ganze Gewicht sollte allein von der großen Zehe getragen werden. Das bedeutet, dass die Zehen und das Fußgewölbe gebrochen und bis zur Ferse zurückgebogen werden müssen. Der Spalt schließlich, der zwischen dem vorderen Teil des Fußes und der Ferse entsteht, sollte so tief sein, dass man eine große Käsch-Münze aufrecht darin verbergen kann. Wenn ich es so weit schaffte, würde ich durch Glück und Zufriedenheit belohnt werden.