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Filme schauen mit Frauen – der richtige Streifen für Flirts, Sex und die große Liebe Mann trifft Frau zum Blind Date im Kino. Er denkt: Titanic ist der romantische Film, mit dem man jede Frau rumkriegt. Weitgefehlt, denn die Frau findet: »Kate Winslet, die fette Matrone, hätte absaufen sollen statt der schwulen Kartoffel Leo diCaprio!« So kann sich der Mann täuschen! Egal, ob Fight Club, Keinohrhasen, Pretty Woman oder Terminator: Matthias Lohre erzählt humorvoll und klug, was unsere Lieblingsfilme über Frauen und Männer wirklich verraten.
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Seitenzahl: 314
Matthias Lohre
Der Film-Verführer
Warum Frauen Action lieben und Männer Romantik wollen
Fischer e-books
Seit ich Schlaflos in Seattle gesehen habe, weiß ich, wie wir alle die große Liebe finden können. Die Idee ist, wie alle genialen Ideen, im Kern einfach. Und das Beste daran: Um den passenden Menschen zu finden, muss niemand wie Meg Ryan eine nächtliche Radiosendung hören, in der einer wie Tom Hanks zögerlich von seiner verstorbenen Frau erzählt. Damit hätte ich ein Problem. Schließlich bin ich ein Mann auf der Suche nach einer Frau, was soll ich da mit einem Witwer? Es braucht auch niemand seinem kleinen Sohn nach New York hinterherzufliegen, der ausgebüxt ist, um seine neue Mama auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings zu treffen. Ich zumindest will die perfekte Frau ja erst kennenlernen, mit der ich ein Kind bekomme, das meine Nerven strapaziert. Nein, die Sache ist viel einfacher. Wer hätte gedacht, dass man beim Suchen und Finden der Liebe auch bequem sitzen und Popcorn essen kann? Aber der Reihe nach.
Vordergründig geht es bei Schlaflos in Seattle ja um die Frage, ob Tom Hanks und Meg Ryan zueinander finden – entgegen aller Wahrscheinlichkeit und über Tausende Kilometer hinweg. Es ist eine typische, perfekt inszenierte Romantische Komödie. Aber jeder gute Hollywoodfilm ist mehr als die Summe seiner Drehbucheinfälle und Schauspielleistungen. Ein Meisterwerk seines Genres bringt etwas in Menschen zum Schwingen, von dem sie oft selbst nicht wissen, was es ist. Es lässt sie ahnen, was sie fürchten und wünschen. So war es auch bei mir, als ich neulich Schlaflos in Seattle guckte.
Es war später Abend, ich sah allein fern. Mehr brauche ich wohl kaum zu sagen, um klarzumachen, dass ich schlechte Laune hatte. Meine Freundin und ich hatten uns kurz zuvor getrennt, grässliche Streitereien und noch grässlicheres Schweigen inklusive. Der Eisberg, der unserer Beziehung den tödlichen Stoß versetzte, hieß Titanic 3D. Von diesem Schiffbruch erzähle ich gleich, vorher aber zu Schlaflos in Seattle.
Im Fernsehen war gerade zu sehen, wie Sam (Tom Hanks) nach dem Krebstod seiner Frau versucht, ins Leben zurückzufinden. Spätestens da hätte ich auf einen Film für Männer umschalten müssen, aber sogar dafür war ich zu deprimiert. Und in diesem Moment kommt Annie (Meg Ryan). Sie macht sich zu Filmbeginn daran, ihren netten, aber langweiligen Freund zu heiraten. Annie redet sich ein, als Frau in den Dreißigern müsse sie ihre Jungmädchenträume von der großen Liebe aufgeben.
»Schicksal«, sagt Annie ihrer Mutter, »ist etwas, das wir erfunden haben, weil wir den Gedanken nicht ertragen können, dass alles, was passiert, reiner Zufall ist.«
Ich legte die Fernbedienung aus der Hand. Genau, dachte ich, so ist es! Wir können nicht darauf warten, dass der perfekte Mensch an der Tür klingelt nach dem Motto: »Dingdong, du hattest die große Liebe bestellt. Hier bin ich. Oh, du guckst Schlaflos in Seattle. Hast du noch Platz auf der Couch? Ich hab’ auch Choco Crossies.«
Wer die große Liebe finden will, muss etwas dafür tun. Aber was? Ich schaute auf die DVD-Hülle. Darauf stand: »Stell Dir vor, jemand, den Du nie getroffen hast, den Du nie gesehen hast, den Du nie kennengelernt hast, ist die Liebe Deines Lebens.« (Okay, ich geb’s zu: Ich habe den Film nicht zufällig im Fernsehen gesehen, ich habe die DVD in der Videothek ausgeliehen. Bitte nicht meinen männlichen Freunden erzählen.) Mir wurde klar, dass tief in mir große Unruhe herrschen musste, wenn eine Romantische Komödie es schafft, mich derart zu berühren. Irgendwo verbarg sich eine ungestillte Sehnsucht, und sie scherte sich einen Dreck darum, ob ein Film kitschig ist oder nicht. Die perfekte Frau für mich mochte da draußen sein, und ich saß allein zu Hause und hatte nicht mal Choco Crossies. Das musste sich ändern. Vielleicht verhält es sich mit dem Schicksal wie mit Marmelade: Selbst gemacht ist es am besten. Aber wie helfe ich dem Lebensglück nach? Dann kam diese unscheinbare Filmszene.
Annie eilt zu ihrem älteren Bruder. Sie ist verwirrt, ihr geht die Stimme aus der nächtlichen Radiosendung nicht aus dem Kopf: die Stimme des Witwers Sam. Annie fragt ihren Bruder, ob es tatsächlich sein könne, dass sie verliebt ist in einen Mann, den sie gar nicht kennt. Ihr Bruder antwortet ruhig:
»Wenn du dich zu jemandem hingezogen fühlst, heißt das nur, dass dein Unterbewusstsein sich von dem anderen Unterbewusstsein angezogen fühlt – unterbewusst. Also ist das, was wir Schicksal nennen, das Bewusstsein zweier Neurosen, dass sie perfekt zusammenpassen.«
Es war gut, dass meine große Liebe noch nicht neben mir auf der Couch saß, denn mein Mund stand offen. Etwas in mir wusste: Das ist es. Das ist die Lösung der Probleme bei der Partnersuche. Die Lösung meiner Probleme. Dass ich nicht früher darauf gekommen bin! Dabei hatte ich die Antwort die ganze Zeit direkt vor meinen Augen.
Filme beeinflussen uns weit mehr, als wir verstehen. Sie verbinden sich mit unseren Hoffnungen, Ängsten und Sorgen, ohne dass wir es ganz begreifen. Sie prägen unseren Blick auf die Welt. Romanzen beispielsweise haben großen Einfluss darauf, welche Bilder in unseren Köpfen entstehen, wenn wir an Verliebtheit, Liebe und Heirat denken. Als Victoria von Schweden im Jahr 2010 heiraten wollte, gab es ein Problem. Die Kronprinzessin bestand darauf, dass ihr Vater, König Carl XVI. Gustaf, sie durchs Kirchenschiff bis zum Altar begleitete, wo ihr Bräutigam auf sie wartete. Eine typische Hollywood-Situation, bekannt etwa aus Vater der Braut mit Spencer Tracy und Elizabeth Taylor. Das Abba-Musical Mamma Mia! handelt sogar größtenteils von der Suche einer Braut nach ihrem unbekannten Vater, damit dieser sie zum Altar geleitet. Doch dieser Akt der Übergabe war in dem skandinavischen Land unüblich. Es gab Streit. Die protestantischen Kirchenoberen und große Teile der Bevölkerung sahen darin einen archaischen, unemanzipierten Brauch: den symbolischen Übergang des väterlichen »Eigentums« in das des Bräutigams. Diese amerikanische Sitte sollte nicht Einzug in das schwedische Königshaus halten! (Ins Musical einer schwedischen Popband hatte es das ja schon geschafft.) Doch Victoria bestand darauf. Man einigte sich auf einen Kompromiss: Carl XVI. Gustaf begleitete seine Tochter bis zur Mitte des Kirchenschiffs. Dort übergab er sie an seinen künftigen Schwiegersohn, und der schritt mit der Prinzessin zum Altar. Es war ein Kampf zwischen Hollywood auf der einen Seite, jahrhundertealten Kirchentraditionen und einem europäischen Königshaus auf der anderen. Punktsieg für die Traumfabrik.
Die Macht der Bilder reicht aber viel weiter. Bei den Anschlägen vom 11. September 2001 war die erste Reaktion vieler Menschen: »Das ist ja wie im Film.« Wir hatten Szenen einer Katastrophe im Kopf, die sich noch gar nicht ereignet hatte. Als die beiden Türme des World Trade Centers in New York zusammenbrachen, Menschen vor den herabstürzenden Trümmern flohen und kurz darauf der US-Präsident ernste Worte in eine TV-Kamera sprach, da schien das Leben Hollywood zu imitieren. Nicht umgekehrt.
Filme sind mächtig, weil sie uns Bilder einprägen können. Das gelingt ihnen aber nur, wenn sie dabei an etwas rühren, was bereits in uns schlummert. »Im Laufe eines Tages sind wir mehrmals in das Entstehen und Vergehen kompletter Seelenwelten einbezogen«, schreibt Dirk Blothner in seinem Buch Erlebniswelt Kino. Blothner ist Medienpsychologe und Psychotherapeut, er analysiert, warum und wie Filme auf uns wirken. Sie hinterlassen einen bleibenden Eindruck, wenn sie unser Unbewusstes ansprechen. Auch in alltäglichen Situationen geraten wir ständig »in die Dramatik von Gelingen und Verfehlen, von Sieg und Niederlage, Ordnung und Chaos, Treue und Verrat. Jeden Tag aufs Neue«, schreibt Blothner. Im Büro gibt es Streit, jemand nimmt uns die Vorfahrt, oder der Blick eines Menschen auf der Straße irritiert uns. An das meiste erinnern wir uns schon bald nicht mehr. Das Unbewusste aber vergisst nicht, es kennt weder Vergangenheit noch Zukunft. »Das Kino ist ohne diesen zugleich erregenden und beängstigenden Alltagsbetrieb nicht zu verstehen. Es erwächst aus ihm«, schreibt Blothner. »Im Kino haben wir die dramatische Lebenswirklichkeit noch einmal vor Augen. Es eröffnet Wirkungswelten mit Herz. So wie unser Leben von Momenten wie Aufbrechen, Eindringen, Siegen, Verwirrung, Angst, Glück und Abschied bestimmt wird, so suchen wir diese Erlebnisse im Kino. Wir wollen sie immer wieder erfahren. Wir wollen den Wegen des Lebens folgen – Sieg und Vereinigung in gesteigerter Intensität, Trennung und Verlust in ungewöhnlicher Tiefe erleben. Wir möchten im freieren Raum der fiktionalen Unterhaltung ausprobieren, was wir uns im realen Leben nicht (zu)trauen. Wir benutzen das Kino, um zu erfahren, was uns lieb und teuer ist, und um unsere Grenzen kennenzulernen.« Hier kommt Schlaflos in Seattle ins Spiel. Annies Bruder Dennis sagt: »Was wir Schicksal nennen, ist das Bewusstsein zweier Neurosen, dass sie perfekt zusammenpassen« – unbewusst. Beim Sich-Verlieben verstehen zwei Menschen also gar nicht, was sie am Gegenüber so anziehend finden. Etwas in ihnen aber weiß es genau. Bekanntlich erweisen sich Beziehungen als besonders stabil, die auf Gemeinsamkeiten, nicht auf Unterschieden beruhen. Auf lange Sicht halten Menschen es nur mit ähnlich Gesinnten aus. Wie aber lässt sich herausfinden, welche Neurosen, Ängste, Sehnsüchte und Vorlieben ein Mensch hat und ob sie zu meinen passen, ohne viel Geld fürs Bestechen seines Psychotherapeuten auszugeben? Jemanden direkt zu fragen nützt häufig wenig; schließlich kennen die meisten Menschen sich selbst schlechter, als sie glauben. Und gegenüber anderen malen sie von sich oft ein Bild, das zu charmant ist, um wahr zu sein. (Abgesehen von mir. Ich bin ganz objektiv ein toller Typ.) Wenn Menschen eine Beziehung eingehen, brauchen sie oft Monate, gar Jahre, um zu verstehen, dass sie sich im Partner getäuscht haben. Beispielsweise, wenn ein Mann – ein objektiv toller Typ – erfährt, dass seine Freundin seine Leidenschaft für Filme gar nicht teilt. Jetzt aber habe ich die perfekte Abkürzung zum Glück gefunden.
Meine Idee: Der effizienteste und kurzweiligste Partnerschaftstest, den es gibt, ist ein gemeinsamer Kino- oder DVD-Abend. Nichts verrät so untrüglich wie ein beiläufiger Blick in die Augen des Sitznachbarn, was diesen Menschen im Innersten bewegt. Lächelt er oder sie unwillkürlich im selben Moment wie ich? Oder gähnt da etwa jemand während meiner Lieblingsszene? Hält mein Date meinen Leinwandhelden für einen Trottel? Ein Kichern und ein Seufzen an der richtigen oder falschen Stelle sagen eine Menge aus. Auch ein Plausch über Filme verrät viel. Ein Spielfilm ist wie ein Lügendetektor. Wir können ihn nicht überlisten, weil wir oft nicht mal ahnen, was das Leinwandgeschehen in unserem Unbewussten berührt. Das Es mag pulsen und beben, und wir bekommen es kaum mit. Ein Filmabend ist ein Lügendetektortest, bei dem man zwischendurch aufs Klo gehen kann. Mich beispielsweise bewegt weniger die Frage, ob die von Meg Ryan und Tom Hanks gespielten Figuren tatsächlich zueinander passen. Mein Unbewusstes schert sich auch nicht darum, ob die Schauspieler große Stars oder Nobodys sind. Viel wichtiger ist, dass die Leinwandhelden stellvertretend für mich ihre Hoffnungen erhalten und Widerstände überwinden. Wenn die beiden es schaffen, sagt etwas tief in meinem Hirn, dann kann ich es auch. Wenn Annie und Sam am Ende zueinander kommen, habe auch ich eine Chance, die große Liebe zu finden. Zugegeben: Es ist kein gutes Gefühl zu merken, dass ich die Erfüllung meines Lebensglücks in die Hände fiktiver Figuren einer überzuckerten Hollywood-Romanze lege. Aber Schlaflos in Seattle ist nur der Auslöser. Jetzt nehme ich die Sache in die Hand.
Ich drückte auf die Stoptaste der Fernbedienung, und auf dem Fernseher gefror das Bild des einsamen Tom Hanks, der nachts vor seinem Hausboot auf einem Stuhl hockt. Anders als die Figur im Film stand ich auf. Ich warte nicht mehr auf das Schicksal. Das ist doch bloß etwas, was wir erfunden haben, weil wir den Gedanken nicht ertragen können, dass alles, was passiert, reiner Zufall ist.
Ich mache mich auf, die Frau fürs Leben zu finden. Wie Männer so sind, habe ich dabei einen Plan: Ich werde gezielt Frauen kennenlernen und mit ihnen über Filme plaudern. Ich werde sie zum Kino- oder DVD-Abend einladen. Und ich werde schneller denn je verstehen, ob eine von ihnen wirklich zu mir passt. Wer die unbewusste Wirkung von Filmen begreift, der begreift auch die Charaktere derer, die sie schauen. Das Verständnis von Lieblingsfilmen ist der Königsweg zum Herzen moderner Menschen – Frauen wie Männer. Womöglich ist die Liebe meines Lebens jemand, den ich nie getroffen habe, den ich nie gesehen habe, den ich nie kennengelernt habe. Doch Liebe überwindet derlei Kleinigkeiten. Hab’ ich im Kino gesehen.
Liebesszenen: Eine. Da schippern die Verliebten auf dem luxuriösesten Gefährt ihrer Zeit über den Ozean. Und wo entjungfert Jack seine Rose? Auf einem Autorücksitz.
Dramatische Küsse: Jede Menge – zum Leidwesen Winslets. Sie klagte später über DiCaprios Kettenraucher-Atem.
Zentraler Dialog: »Es ist nicht Ihre Aufgabe, mich zu retten, Jack.« – »Da haben Sie recht. Das können nur Sie allein.«
Bester Männer-Spruch: »Ah, vergiss es, mein Freund. An eine Frau wie die kommst du nicht ran. Vorher fliegen dir kleine Engel aus dem Hintern.«
Bester Frauen-Spruch: »Aber jetzt wissen Sie, dass es einen Mann namens Jack Dawson gab. Und, dass er mich gerettet hat. In jeder Weise, wie ein Mensch nur von einem anderen gerettet werden kann.«
Taschentuchfaktor für Männer:5/5
Taschentuchfaktor für Frauen:5/5
Der nächste Film, den Frauen gucken sollten: Marrakesch. Kate Winslet auf Selbsterkundungstrip in Nordafrika.
Der nächste Film, den Männer gucken sollten: Avatar. Wieder ein James-Cameron-Film mit jeder Menge Spezialeffekten. Und diesmal überlebt der Hauptdarsteller.
Homer Simpson ist Videothekar. Sagt man das so: »Videothekar«? Oder klingt es ungewollt ironisch, einen DVD-Raussucher in die Nähe von Bibliothekaren zu rücken? Karriereresistenter Nerd versus Hüter des gedruckten Weltwissens? Popkultur versus Hochkultur? Aus Homers Sicht gibt es diesen Unterschied nicht. Die Kultur der Welt ist versammelt in ihren Filmen und Fernsehserien. Homer liebt und pflegt diesen Schatz. Da ist es doch nur naheliegend, dass er sich einen Künstlernamen zugelegt hat, denn mein Freund, der Videothekar, heißt in Wirklichkeit natürlich nicht wie die Hauptfigur der Cartoonserie Die Simpsons.
»Aber was ist schon Wirklichkeit?«, fragte mich Homer einmal. »Wir spielen doch alle Rollen, permanent. Manche tun es bloß besser als andere. Millionen Menschen nehmen andere Namen an, wenn sie heiraten. Schauspieler geben sich Künstlernamen. Und wozu? Um die neuen Rollen, die wir uns im Leben ausgesucht haben, besser auszufüllen. Namen«, sagte er, »sind wie Filme. Sie sind ein Spiel mit den Möglichkeiten des menschlichen Daseins. Und die besten sind Spiegel einer kollektiven Psyche.«
Homer ist nicht nur Mitarbeiter meiner Stammvideothek, Single und Träger einer Theodor-W.-Adorno-Brille, sondern auch Philosoph. Passend zur Brille. Warum er sich als Spitznamensgeber ausgerechnet eine übergewichtige Comicfigur ausgesucht hat, einen miserablen Ehemann, überforderten Vater dreier Kinder und Teilzeitalkoholiker, das wusste ich bislang nicht.
Bis heute Abend.
Als ich an den Tresen komme, sehe ich, dass Homer schlechte Laune hat. Das mag nicht sonderlich überraschen bei einem erwachsenen Mann, der fünf Tage die Woche in einer Videothek arbeitet. Um sicherzugehen, dass jeder Besucher seine Stimmung bemerkt, trägt er eines seiner selbstbedruckten T-Shirts, die er jeweils mit Homer-Simpson-Zitaten versehen hat. Weiß auf schwarz prangt auf seiner Brust der Ausspruch: »Ich werde lebend aus dieser Stadt herauskommen, auch wenn ich dabei sterbe.« Immer noch besser, denke ich, als das Zitat von neulich: »Gott ist meine absolute Lieblings-Science-Fiction-Figur.« Der Verleih von Kinderfilmen an junge, ernste Eltern hat seither deutlich nachgelassen.
»Gib mir ’nen Tipp, Homer. Ich brauch’ Nachschub«, sage ich und lege die Schlaflos in Seattle-DVD auf die Theke.
»Auch dir erst mal einen schönen guten Abend.« Homer kann empfindlich sein. »Wie wäre es mit einem französischen Krimi aus den späten Sechzigern? Kaum Dialoge, tiefe Blicke und tolle Klamotten. Ein Meisterwerk des existentialistischen Kinos. Ist nur erhältlich als Originalversion mit arabischen Untertiteln. Die DVD kommt aus Algerien.«
»Hmm, ja, ich überleg’ mal. Kannst du mir nicht einen intelligenten Actionfilm empfehlen? Jetzt, wo Tina und ich Schluss gemacht haben, brauch’ ich was zum Aggressionsabbau. Aber mit ’ner Story, die mich nicht langweilt.«
»Dann nimm auf keinen Fall den hier.« Sagt nicht Homer, sondern eine ärgerlich klingende Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehe, knallt eine Frau eine DVD-Hülle auf die Theke. »Wenn ihr euch schön den Abend versauen wollt, dann guckt das hier.«
Wie kann jemand, der so schlecht gelaunt ist, nur so gut aussehen? Die Wut steht der Frau neben mir gut. Ihre schwarzen Locken umrahmen ein ebenmäßiges Gesicht, als wollten sie es schützen. »Ihre schwarzen Locken umrahmen …«? Klarer Fall, ich vergucke mich gerade in sie. Neben die zurückgebrachte DVD legt sie ein Ausleihkärtchen auf die Theke. Homer nimmt den einen Film an und holt den anderen aus dem Kabuff. Zeit für mich, die Frau aus den Augenwinkeln zu mustern: Trotz des kühlen Wetters trägt sie keine Jacke, nur einen Pullover mit V-Ausschnitt. Alle paar Sekunden blickt sie aus dem Schaufenster, spielt mit dem Schlüsselbund in ihrer Hand. Vermutlich kommt sie gerade von der Arbeit und parkt ihr Auto im Halteverbot.
Los, Junge, tu was. Gleich ist sie weg. Für immer. Sag’ was Kluges. Ach, was soll’s. Sag’ einfach irgendwas, was zu dir passt.
»Was fandest du an dem Film denn so scheiße?«, frage ich.
»Ach«, antwortet die Lockenfrau und seufzt, »ich mag ja Action, wirklich. Verfolgungsjagden in schicken Sportwagen, zum Beispiel wie bei Drive. Oder Schießereien, die aussehen wie ein Ballett, wie die in Matrix. Aber da?« Sie zeigt verärgert auf die Stelle, an der vorhin die DVD lag, wie ein Gärtner auf einen Maulwurfshügel. »Da schlagen sich Männer ständig bildfüllend grün und blau. Das ist doch öde.« Welchen Streifen könnte sie meinen? Rocky? Rocky II? Vier Fäuste für ein Halleluja? »Oder kannst du mir etwa erklären, was an dem Streifen gut sein soll?«
Bevor ich fragen kann, welchen Film sie meint, kommt Homer mit der neuen DVD zurück. Warum sucht sich einer der faulsten Menschen der nördlichen Hemisphäre ausgerechnet diesen Moment aus, um sich zu beeilen? Die Unbekannte zahlt passend, lächelt mich kurz an und eilt zu ihrem Wagen. Stumm blicke ich hinterher. Hoffentlich verachtet diese Frau kein Filmmeisterwerk wie Rocky, sondern Schund wie Rocky V.
Das wäre meine Chance gewesen, meinen Plan in die Tat umzusetzen: Finde die große Liebe durch großes Kino! Das Bewusstsein zweier Neurosen, dass sie perfekt zusammenpassen! Der Partnerschaftstest mit Popcorn! Ich muss diese Frau wiedersehen, mit ihr ins Gespräch kommen. Und ich weiß auch schon, wie.
»Homer, du musst mir sagen, welchen Film die Frau zurückgegeben hat. Davon hängt sehr, sehr viel ab. Vielleicht mein Liebesglück. Ich habe da nämlich so eine Theorie: Das Unbewusste zweier Menschen lässt sich anhand von Lieblingsfilmen …«
»Das geht nicht«, sagt Homer mit ernster Miene.
»Wie, das geht nicht? Unterliegst du so ’ner Art Videothekaren-Schweigepflicht, oder was?«
»Alter, du kannst unmöglich etwas von einer Frau wollen, die Fight Club ›öde‹ findet.«
O nein. Ausgerechnet Fight Club