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In ihrem Haus in Chauvirey wartet Luzia auf fünf Frauen und einen Mann, ihre Freunde, die gemeinsam einen Film drehen wollen. Luzia stellt die Infrastruktur zur Verfügung, zwei französische Freunde sind für die Technik zuständig. Auch Marie hat sich angemeldet, was nicht bei allen auf Zustimmung stößt, da Marie sehr krank und psychisch äußerst labil ist. Als Marie ihre schrecklichen Kindheitserlebnisse offenlegt, sind die Freunde entsetzt. Ein Drama kündigt sich an.
Beim Lesen stellen sich allmählich die Nackenhaare hoch. Ursula Stingelin gelingt mit einfühlsamen Worten und einem Schreibstil, der einen mit hineinzieht, ein Spannungsaufbau, der die Abgründe der Seele nach oben befördert. Nebenbei erhält der Leser einen Einblick in die Kultur- und Filmszene der letzten Jahrzehnte. "Die amerikanische Nacht" von Truffaut feiert Auferstehung!
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Veröffentlichungsjahr: 2015
Impressum
Der Flügelschlag des Bläulings
Copyright: © Ursula Stingelin 2015 – publiziert von telegonos-publishing
Cover: © telegonos-publishing unter Verwendung einer Fotographie
von Ursula Stingelin
www.telegonos.de
(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)
Kontakt zur Autorin:http://www.telegonos.de/aboutUrsulaStingelin.htm
Alle Rechte, einschließlich das, des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen, sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Vielleicht in Havanna
Wahnsinn. Wenn ich nur wüsste, was mich in diese trostlose Gegend verschlagen hat. Unter Bergen von Schutt gammeln verrostete Bettgestelle, Matratzen, Kleider und Elektroschrott. Ein roter Plastikstuhl steht verloren in der Landschaft. Wie ein Mahnmal ragt eine vom Blitz verkohlte Platane in den bleiernen Himmel. Ihre verknorpelten Äste erinnern an die von Gicht verkrümmten Finger einer Greisin. Die Blüten im Gewirr der abgestorbenen Zweige erweisen sich als Plastikfetzen.
Allmählich verändert sich die Kulisse. Aus dem silbrigen Dunst tauchen links und rechts der Straße verfallene Bürgerhäuser auf. Am Straßenrand rostet ein ausgebrannter Buick vor sich hin, in einem Hinterhof steht ein hellblauer Studebaker ohne Räder. James Dean. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Diesen Film möchte ich mir wieder mal ansehen. Wo bin ich? Vielleicht in Havanna? Dort soll es solche Karossen noch geben. Nirgendwo ist ein Straßenschild zu sehen, und keiner ist da, der mir den Weg weisen könnte. Sinnlos, mir das Gehirn zu zermartern, ich bin in einer Geisterstadt gelandet. Tiefe Schlaglöcher zwingen meinen Blick auf den Boden. Und woher rührt dieses unangenehme Dröhnen? Da vorn, ein Panzer, er hält direkt auf mich zu.
Der Wecker zeigt kurz vor halb fünf. Wenn ich so abrupt aus dem Schlaf gerissen werde, rebelliert mein Magen und im Kopf dreht sich alles wie auf einem Karussell. Vorsichtig taste ich mich ans Fenster. Eingehüllt in eine Staubwolke rollt ein monströser Mähdrescher Dorf auswärts.
Fifille und Anatole
Ein unangenehmer Traum, umso mehr genieße ich es jetzt, draußen zu sitzen, Tee zu trinken und an nichts Konkretes zu denken. Niemand ist auf der Straße. Nicht einmal die zahnlose Alte ist unterwegs, die sonst, kaum hat sie mich entdeckt, über ihren Ehemann herzieht und mich meistens um ein paar Euro und Zigaretten angeht. Immerhin ist ihr Mann nicht so eine Nervensäge wie seine Frau, deren Schürzenkleid so satt sitzt, dass die Knopflöcher jeden Augenblick auszureißen drohen. Das Gesicht ruht auf einem mächtigen Doppelkinn, den unförmigen Körper tragen zwei dünne Stelzenbeine, zwischen denen sich locker ein Fußball durchrollen ließe. Als ich den beiden das erste Mal begegnete, taufte ich sie kurzerhand Fifille und Anatole. Sie erinnerten mich an Comicfiguren des Zeichners Dubout, die meinen Vater immer zum Lachen brachten. Fifille, mit einem Schirm bewaffnet, eine imposante Matrone, wusste sich in jeder Lebenslage Geltung zu verschaffen. Ihr Begleiter war der schmächtige Anatole, ein Strich in der Landschaft, der in die Kategorie langweiliger Buchhalter passte und Ärmelschoner trug. Manchmal bringt mir mein Anatole Gemüse aus seinem Garten. Über die Jahre hat er seinen Auftritt perfektioniert; zuerst macht er eine leichte Verbeugung in meine Richtung, dann folgt ein schüchternes Lachen, das die winzigen Krater über den schmalen Lippen zum Verschwinden bringt. Während mich seine listigen, wässerigen Augen unablässig beobachten, bittet er händeringend, seiner Frau ja nicht zu verraten, dass er mir Gemüse vorbeigebracht hat.
Das gelbe Haus
Mutters Zwillingsbruder, ein verwitweter Lehrer, lebte in der Nähe von Vesoul. Meistens verbrachte unsere Familie die Sommerferien in seinem riesigen Haus. Es gehört zu meinen schönsten Erinnerungen, wenn ich den Onkel, einen begeisterten Ornithologen, auf seinen Exkursionen begleiten durfte. In der Dämmerung streiften wir schweigend durch die umliegenden Wälder und Feuchtgebiete. Bald konnte ich den Ruf einzelner Vögel unterscheiden und ihre Stimmen imitieren. Immer schon war ich von der lieblichen Gegend rund um Vesoul fasziniert gewesen, einer der Gründe, warum der Kontakt zu meinem Onkel nie abgerissen war. Das letzte Mal trafen wir uns am Grab meiner Mutter. Vor mir stand ein Mann, der wusste, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hatte. Ich weinte, als er sagte, er werde bald sterben. Für mich brach eine Welt zusammen, als er mir erklärte, er habe sein Haus verkauft. In dieser Gegend gibt es viele leerstehende Häuser, tröstete mich der alte Mann und überreichte mir eine Bankkarte. Er habe ein Konto auf meinen Namen eröffnet, versuchte er mich aufzumuntern, ich solle seinen Makler kontaktieren und mit dem Geld etwas Eigenes kaufen. Im Frühjahr 1989 starb er. Am Tag nach der Beerdigung verabredete ich mich mit dem Makler und ließ mich ein paar Wochen später von ihm in der Gegend herumkutschieren. Wir besichtigten verschiedene Objekte, auch das gelbe Haus mit den roten Fensterläden in Chauvirey. Ich wollte es haben, es hatte mich auf Anhieb verzaubert, obschon ich mir ausrechnen konnte, dass die Renovierung Unsummen verschlingen würde. Der Preis war fair, ich bekam den Zuschlag und pendle seit mehr als fünfundzwanzig Jahren zwischen Frankreich und der Schweiz. Das gelbe Haus bildet den Abschluss einer Häuserzeile. Dort stand es schon vor der Geburt des Sonnenkönigs, zweihundert Jahre vor der Französischen Revolution. Warum ich das so genau weiß? Die Zahl 1589 ist über dem Scheunentor eingemeißelt.
La vie en rose
Heute Nachmittag kommen fünf Frauen aus Basel nach Chauvirey. In den nächsten Tagen wird hier ein Videofilm gedreht. Für die Aufnahmen ist eine gute Woche eingeplant, Schnitt und Vertonung folgen später. Wir Frauen kennen uns seit vielen Jahren. Anna und Mona traf ich 1977 zufällig im Zug nach Paris, wir hatten im gleichen Abteil einen Platz reserviert. Linn und ich unterrichteten an einer Schule im stadtnahen Riehen, sie Französisch und Geschichte, ich Zeichnen und plastisches Gestalten. Weil wir beide die marokkanische Küche lieben, gingen wir ab und zu ins Zagora essen. Das Lokal wird von Irène geführt, die mittlerweile auch zu unserem Freundeskreis gehört. Wenn ich längere Zeit in Basel bin, helfe ich ihrem Koch Abdul in der Küche, vor allem am Wochenende. Mit ihm zu arbeiten macht Spaß. Marie, die Jüngste, stieß erst vergangenen Winter zu uns, sie drehte mit meinem alten Freund Hanno einen Film. Hanno ist der einzige Mann in unserem Kreis. Morgen wird er Lydia am Euro-Airport abholen, meine Freundin aus Kindertagen, die seit mehreren Jahren in London lebt. Sobald die beiden in Chauvirey eintreffen, ist unsere Crew komplett.
Letzten Winter hatte mich Linn angefragt, ob ich für einen erkrankten Zeichenlehrer einspringen könnte. Ich sagte zu und abends half ich manchmal in Irènes Lokal aus. Eines Abends brachte Hanno Marie mit ins "Zagora". Was für eine schöne Frau dachte ich, bewunderte ihre blauen Augen, die feingliedrigen Hände, die sich beim Reden unablässig bewegten. Bald waren wir in ein interessantes Gespräch über ihren und Hannos gemeinsamen Film verwickelt. Auch Irène schien von der jungen Frau angetan, sie stieg in den Keller und spendierte uns eine gute Flasche Wein. im Laufe des Abends wurde auch über Kindheitserlebnisse, erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht und die daraus resultierenden Folgen für das weitere Leben diskutiert. Es dauerte nicht lange, bis Hanno uns mit der Idee konfrontierte, die Gespräche aufzuzeichnen und daraus ein Videoprojekt zu entwickeln: "La vie en rose". Alle waren begeistert. Bereits Ende Januar stand das Konzept fest und die Vorbereitungen ließen sich gut an. Das änderte sich schlagartig nach Maries Einlieferung in eine psychiatrische Klinik. Wir durften sie nicht besuchen, sie wollte niemandem sehen, nicht einmal ihre Mutter. Unser Projekt geriet ins Stocken. Maries Enthusiasmus fehlte uns, sie hatte viele gute Ideen beigesteuert, dennoch beschlossen wir, schlimmstenfalls auch ohne sie weiterzumachen. Über die Ostertage wurden die Tonbänder protokolliert, und Hanno verfasste ein kurzes Treatment. Wir reichten das Konzept bei verschiedenen Stiftungen ein, zwei davon haben uns finanzielle Unterstützung zugesichert. Keiner von uns hatte noch mit Maries Teilnahme gerechnet, und so fiel ich aus allen Wolken, als sie kürzlich anrief und die Unterlagen anforderte. Meine Bedenken, sie könnte sich überfordern, wies sie als unbegründet zurück. Die Krise sei überwunden, beruhigte sie mich, es gehe ihr wieder gut.
Geplant ist, dass Marie heute mit den anderen im Auto anreist. Meiner Meinung nach wäre es sinnvoll, wenn sie schon gegen Mittag in Vesoul sein könnte. Es gibt kurz vor zehn einen Regionalzug ab Basel nach Mulhouse und dort bliebe ihr genügend Zeit, in den IC nach Vesoul umzusteigen. Wir könnten alles im Detail durchgehen, bevor die anderen gegen Abend auftauchen. Später werde ich sie anzurufen.
Im Gegensatz zu Lydia, die sich in London schon öfters an Low Budget Filmproduktionen beteiligt hat und von "La vie en rose" begeistert ist, möchte ich nicht vor laufender Kamera agieren. Auf einer der letzten Sitzungen hatte ich meine Schüchternheit ins Spiel gebracht. Der Hinweis hatte die andern überzeugt, obschon er nur der halben Wahrheit entspricht. Ich könnte es nicht ertragen, dass einige unschöne Erfahrungen aus meiner Kindheit ans Tageslicht gezerrt und in der Runde breitgetreten werden. Damit die Kosten nicht aus dem Ruder laufen, bot ich im Gegenzug mein Haus in Frankreich als ideale Kulisse, Drehort und Unterkunft an, auch möchte ich bei der Regie ein Wörtchen mitreden. Meine französischen Freunde Aimé und Jean Noirmont werden uns bei technischen Problemen unterstützen und Hanno und Lydia die Kamera übernehmen. So bleibt vieles offen. Work in Progress. Die Frauen sollen eigene Ideen einfließen lassen. Bestimmt werden wir Spaß haben, gemeinsam kochen und nächtelang diskutieren.
Der Professor
In der Küche gibt es eine mannshohe Vorratskammer, der ideale Ort zum Lagern von Gemüse und Getränken. In dieser Kammer hatte ich beim Entrümpeln des Hauses lose Eichenbohlen und darunter einen schweren Metalldeckel entdeckt. Über eine schmale Kalksteintreppe war ich in einen fensterlosen Korridor gelangt, wo ich hinter alten Fenstern, Türen, Holzwerkzeugen und Weinfässern ein zugemauertes Tor ausmachte. Ohne mich um die graugelben Spinnennetzschlieren im Haar zu kümmern, war ich wieder nach oben geklettert und hatte bei meinem Nachbar, dessen Haus an meine Tenne grenzt, Sturm geläutet. Die Neugierde des emeritierten Geschichtsprofessors war schnell geweckt. Komm, lass uns nachsehen, sagte er, das Essen kann warten. Huch, Luzia, hinter der Mauer werden wir verstaubte Skelette entdecken, und vielleicht auch eine Kiste voller Louis d'Or, flüsterte er mir auf der Straße ins Ohr. Über eine Stunde versuchte er eine Öffnung in das Tor zu schlagen, bis ich sagte, lassen wir das lieber, ihn jedoch bat, die Eichenbohlen wieder festzuschrauben. Der leise Spott in seiner Stimme war unüberhörbar, als er mich fragte, warum ich den Hausgeist unbedingt unter die Erde verbannen wolle? Weil der sich bestimmt nicht von einer Falltür abhalten lässt, entgegnete ich lachend, bevor ich eine Handvoll frischer Knoblauchzehen unter die Bretter schob.
Genau wie der Professor vermutet hatte, legten Handwerker Monate später unter dem Küchenboden das Fundament eines Wehrturms frei und darunter kam ein verschütteter Gang zum Vorschein. Die Männer rieten mir davon ab, den Fund dem zuständigen Archäologen in Besançon zu melden, weil die Bauarbeiten dadurch nur unnötig verzögert würden. Immerhin dokumentierten wir den Fund mit Skizzen und Fotos. Bevor alles unter einer Betonschicht verschwand, ritzten wir noch die Jahreszahl und unsere Namen in einen Stein.
Cyrano
Wenige Schritte vom gelben Haus entfernt verweist eine braune Tafel auf les monuments historiques. Eine Kirche, ein Pfarrhaus und ein Schloss, an dessen Ostflanke eine Kapelle mit einem oktogonalen Dach angebaut wurde. Wenn die Sonne scheint, steigen der Professor und ich manchmal über die moosigen Treppenstufen zu der kleinen Kirche hinauf und setzen uns im Garten auf einen der umgestürzten Pfeiler. Dann lassen wir den Blick über das gut erhaltene Schloss gleiten, und plötzlich sehen wir auf der Zinne Musketiere fechten. Manchmal denken wir an die "gefährlichen Liebschaften", folgen John Malkovich, dem intriganten Vicomte de Valmont, heimlich ins Schlafgemach, wir belauschen Malkovich und Glenn Close, die Frau mit dem hübschen Leberfleck auf der rechten Wange, die mit allen Wässerchen gewaschene Marquise de Merteuil, und wir hören, wie sie darauf wettet, dass Valmont die tugendhafte Madame de Tourvel verführen wird. Auch Depardieu mit modellierter Übernase gefällt uns in der Rolle des Dichters und Haudegen Cyrano de Bergerac. Dieser, unglücklich verliebt in seine Cousine Roxane, schreibt für den jungen de Neuvillette zärtliche Briefe an eben diese Roxane. Ärmster Cyrano, bedauern wir den Dichter, und beide lieben wir Depardieu. Immer wieder malen wir uns Alltagsszenen aus, ohne einen Gedanken an den Dreck und Gestank jener Zeit zu verschwenden. Monsieur le Professeur, der davon ausgeht, dass ich "das Parfüm" gelesen habe, fuchtelt mit dem Zeigfinger vor meiner Nase herum. Die ideale Kulisse für meinen Freund Jean-Baptiste, flüstert er augenzwinkernd und deutet ins Leere, ja, dort unten schleiche Grenouille schnüffelnd um die Ecke, verfolge bereits sein nächstes Opfer, zu schade um die schöne Rothaarige mit dem wallenden Haar. Hühner gackern, Hunde bellen, und wir hören Kindergeschrei. Gesprächsfetzen dringen aus der Kaschemme, Hufgetrappel und Hammerschläge aus der Schmiede. Wir beobachten den Küfer, wie er ein Branntweinfass richtet, den Wagner, der eine Speiche ersetzt, bevor er das Rad dem Schmid überlässt, der den Eisenring mit schweren Hammerschlägen anpasst. Auch die singenden Wäscherinnen an der Ougeotte vergessen wir nicht, und wir hören das Klappern eines Webstuhls. Wenn wir zu den Wasserspeiern empor schauen, die kühn unter dem Kapellendach zum Sprung ansetzen, starren die Fabelwesen grimmig auf uns herab. Und wenn sich der Wind an den dicken Mauern bricht, glauben wir beide ein Tuscheln und Raunen aus den Mäulern der düsteren Gesellen zu vernehmen.
Von meinem Nachbar habe ich so manches über die Machenschaften von Adel und Klerus erfahren. Beide bestanden unerbittlich auf ihren Forderungen, selbst dann, wenn die Ernte nicht eingefahren werden konnte und die Bevölkerung Hunger litt. Ich hörte von Umwälzungen in Paris, über die Aufstände im ganzen Land, die letztendlich die Französische Revolution eingeläutet hatten. Jahrzehntelang hatte mein Nachbar damit verbracht, Akten über die Geschichte von Chauvirey zu sammeln. Er hatte herausgefunden, dass unzählige Dokumente vernichtet worden waren, auch die, welche die zu leistenden Abgaben der Bauern aufgezeigt hatten. In der Bibliothek des Professors steht eine wunderschön gestaltete Chronik über die Adelsfamilien der Region. Mit seiner Erlaubnis durfte ich das spannende who is who auf dem gemeindeeigenen Gerät kopieren. Dokumente, Briefe, Stammbäume. Erbrechtstreitereien. Notizen über die Trauerfeierlichkeiten für den letzten Comte de Pressigny, ebenfalls eine Liste der aus ganz Europa angereisten High Society. Deutsche Fürsten und spanische Habsburger. Flämische Künstler und italienische Handwerker. Herren und Damen aus dem Umfeld der Burgunderherzöge. Adlige aus Paris und Verwandte des Verstorbenen. Kirchliche Würdenträger. Zisterziensermönche aus ganz Frankreich. Unter den Dokumenten findet sich auch eine Aufstellung, wie viele Ochsen, Schafe, Schweine, Gänse, Tauben und Hühner die Bauern für das Leichenmahl abliefern mussten. Die Chronik ist mit Fotos handkolorierter Kupferstiche ergänzt. Eines der Bilder zeigt den Trauerzug, der sich hoch zu Ross, zu Fuß und in Kutschen Richtung Montigny – les – Cherlieu zu der Zisterzienserabtei bewegt. Bald wird der Professor nach Südfrankreich ziehen. Sein Haus in Chauvirey will er vorerst behalten. Der quirlige Mann wird mir fehlen. So werde ich in Zukunft allein unter den vierhundertjährigen Linden neben der Kirche sitzen – die einzigen Überlebenden und stummen Zeugen jener Epoche. Wie gerne hätte ich Monsieur le Professeur heute Abend zum Essen eingeladen. Zu schade, dass er derzeit auf einem Kongress in Seattle weilt und meine Freundinnen den charmanten Mann nicht kennenlernen werden.
Der Ritter
Es ist noch zu früh, um Marie anzurufen. Auf einem kurzen Spaziergang durch das verschlafene Dorf begegne ich einer jungen Frau, die den geteerten Platz vor ihrem Haus fegt. Wir unterhalten uns über das Wetter, und ich erzähle von meinem Albtraum. Auch sie wurde vom Lärm aus dem Bett geholt und beide sind wir froh, dass es kein Panzer war. Gutgelaunt kehre ich durch das Gässchen entlang der Gartenmauer ins Haus zurück.
Genau wie in diesem Jahr hatte es auch vor vierundzwanzig Jahren im Frühling kaum geregnet. Damals wurde das Wasser schon Ende Mai rationiert. Autos waschen oder Gärten bewässern war strengstens verboten. Ich hatte den Kaufvertrag Ende Juni unterschrieben. Um einen Gemüsegarten anzulegen, hätte es aber Wasser gebraucht. So nutzte ich die Zeit und machte mich mit der wunderschönen Umgebung vertraut. Jeden Morgen streifte ich zu Fuß durch Eichenwälder und Seitentäler, so auch am Quatorze Juillet. Am Vortag hatte ich unter mannshohem Farn reife Brombeeren entdeckt, der kleine Blechkessel war schnell gefüllt. Auf dem Rückweg verpasste ich eine Abzweigung und geriet immer tiefer in den Wald. Ich verlor jegliches Zeitgefühl, und es war unmöglich, mich am Sonnenstand zu orientieren. Fast schien mir, als würden die düsteren Tannen immer näher zusammenrücken. Die Stille war beängstigend, ich zweifelte, ob ich die Abzweigung wieder finden würde oder einen weiten Umweg in Kauf nehmen musste. Ich fröstelte, glaubte zu träumen, als, verdeckt hinter dürrem Geäst, ein gesichtsloser Ritter in einer schmutzverkrusteten Rüstung auftauchte. Vor Schreck ließ ich den Kessel fallen, die Beeren kullerten über den Boden, ich stolperte über eine Wurzel und fiel der Länge nach hin. Verwundert rieb ich mir die Augen, bevor ich mich vorsichtig wieder aufrappelte. Allen Mut zusammennehmend, drehte ich mich in Richtung des Ritters, doch die Erscheinung war verschwunden. Seither, wenn ich von Vesoul kommend, in Cintrey die Route Nationale 19 verlasse und auf der Route Départementale Richtung Chauvirey fahre, glaube ich jedes Mal seine Nähe zu spüren. Ein leichter Hauch kündet den Ritter an. Bin ich zu Fuß unterwegs, überlasse ich ihm meine Hand ohne Furcht. Sobald wir uns dem gelben Haus nähern, verschwindet mein treuer Gefährte, der Ritter ohne Gesicht.
Le cercueil
Da ich zu wissen glaube, dass sich meine Freundinnen – so wie die meisten Frauen – vor Spinnen ekeln, mache ich mich daran, die verstaubten Spinnennetze herunterzuholen. Trotz ausgestreckten Armen und auf Zehenspitzen reiche ich mit dem Besen kaum bis unter die Decke. Mit Hilfe eines Dreitritts kämpfe ich mich durch die verschiedenen Zimmer, putze die Glasscheiben der Tür, die sich gegen den schattigen Vorgarten neben dem Gässchen öffnet. Ein geheimnisvolles Zimmer, in dem ein eleganter Torbogen aus Sandstein in der Stuckdecke verschwindet, auch ein meterdicker Durchgang wölbt sich auf der gleichen Achse wie der Bogen, der zu meinem Schlafzimmer führt. Im ersten Stock bin ich schnell durch, außer meinem Atelier gibt es dort nur noch ein kleines Zimmer, über dessen Tür Handwerker einen Fenstersturz aus der Renaissance freigelegt hatten. Was haben ein Fenstersturz über einer Tür, ein Torbogen, ein gewölbter Durchgang im Innern eines Hauses zu suchen, wollte ich damals von meinem Nachbar wissen. Weil die Antwort meine Neugierde nicht befriedigte, übertrug ich den Grundriss von Haus, Scheune, Innenhof und dem Turm im Garten maßstabgetreu auf Transparentpapier, jedes Detail auf einem separaten Bogen. Wie bei einem Puzzle schoben wir die verschiedenen Teile hin und her, bis die Veränderungen nachvollzogen werden konnten, die von den früheren Besitzern vorgenommen worden waren. Das gelbe Haus mit seinen dreizehn Zimmern ist das größte im Dorf. Es wurde auf den Trümmern einer mittelalterlichen Festungsmauer errichtet, eine Theorie, die auch für den gewölbten Durchgang im Innern des Hauses spricht. Auch wenn das Haus für mich allein viel zu groß ist und die nach Norden ausgerichteten Räume im Schatten liegen, möchte ich das Haus nicht missen. So karg wie es eingerichtet ist, ohne Bilder an den hohen Wänden, erinnert es an ein Kloster.
Von Anatole erfuhr ich, dass das Haus zu Beginn des letzten Jahrhunderts le cercueil hieß. Damals gehörte das Haus einem Schreiner, der sich manchmal ein Mittagsschläfchen in einem der Särge gönnte. Eines Tages fand man ihn tot in einem frisch gezimmerten Sarg liegen. Was genau zu seinem Tod geführt hatte, wusste niemand zu sagen, die wilden Gerüchte, die von ein paar Klatschbasen in Umlauf gesetzt worden waren, hatten sich allesamt als haltlos herausgestellt. Im Gegensatz zu Anatole, der mit seinen bald sechsundneunzig Jahren der älteste Dorfbewohner ist, erinnert sich heute niemand mehr an dieses düstere Kapitel. Wenn nachts die alten Holzdielen knarren, spüre ich den Geist des Schreiners durch die Räume streifen. Dann denke ich an meinen Ritter und lasse das Licht die ganze Nacht brennen.
Markenzeichen
Endlich bin ich überall durch, auch die Betten sind bezogen. Den Freundinnen zuliebe, die allesamt großen Wert auf elegante Kleidung legen, habe ich mir ein paar neue Sachen angeschafft. Der graue Haaransatz ist abgedeckt, der Pony leuchtet in kräftigem Rot. Schminke verwende ich selten, und meistens trage ich Schwarz. Je nach Beschaffenheit weist der Stoff einen Stich ins Rötliche oder ins Grüne auf – Schwarz ist eben nicht gleich Schwarz. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal ein Kleid getragen habe. Mein Markenzeichen sind Hosen, ein Top und eine Jacke – Jacken in jeder Form, kurze, lange oder in die Taille geschnittene. Das beste Stück ist aus schwarzer Seide, bestickt mit winzigen Glasperlen, Weihnachtskugeln, Engeln und Weihnachtsmännern.
Erschöpft von der Plackerei falle ich vor dem Haus in einen Korbsessel. Ich versuche mich auf Mankells Mittsommermord einzustimmen, begleite Inspektor Wallander, dem – gleichermaßen bedrängt von ungeduldigen Vorgesetzten und der Presse, ausgelaugt durch die permanente Jagd auf den Mörder – endlich der ersehnte Durchbruch gelingen sollte. Bald lege ich das Buch wieder aus der Hand, zu vieles wirbelt in meinem Kopf herum. Unterdessen ist es halb acht geworden. Wie so oft in dieser Gegend ist der Telefonanschluss unterbrochen. So bleibt mir nichts anderes übrig, als zum Friedhof zu spazieren, der oberhalb des Dorfes liegt und Marie von dort aus auf dem Handy anzurufen. Sie ist mit meinem Vorschlag einverstanden, dass ich sie gegen Mittag in Vesoul abholen werde und wir auf dem Rückweg gemeinsam für die nächsten Tage einkaufen.
Nighthawks
Seit Tagen liegen die ausgebreiteten Pläne einer internationalen Ausschreibung auf dem langen Küchentisch. Gesucht werden künstlerische Ideen für einen Spitalneubau in Lyon, in erster Linie für die verschiedenen Wartezonen, die Cafeteria und für den Innenhof. Abgabetermin ist in drei Monaten, und den will ich auf keinen Fall verpassen. Seit langem habe ich wieder einmal Lust an einem Wettbewerb teilzunehmen.
Anfang der Achtzigerjahre hatte ich mir als Zeichnerin einen Namen gemacht und beteiligte mich an Ausstellungen im In – und Ausland. Weil die Verkäufe nicht ausreichten, waren Stationen als Gestalterin, Putzfrau und Lehrerin unumgänglich. Die Krise hatte sich über die Jahre auf leisen Sohlen eingeschlichen. Es fiel mir zusehends schwerer, Kontakte mit neuen Galerien zu knüpfen. Auch heute noch möchte ich nur über meine Arbeiten definiert werden, am liebsten unter einem Pseudonym. Irgendwann war mir auch klargeworden, dass ich mein Beziehungsnetz zu wenig nutzte, und mich nur widerwillig dem gesellschaftlichen Leben aussetzte. In der Folge hatte ich mich ganz aus der Kunstszene zurückgezogen, und es abgelehnt, an Ausstellungen und Wettbewerben teilzunehmen. Die Antwort auf die Frage, warum es überhaupt so weit gekommen war, blieb ich schuldig. Etwas in mir hatte sich geweigert wie bisher weiterzumachen. Als ich mir nicht mehr zu helfen wusste, hatte ich mich in eine Klinik einweisen lassen. In einer der vielen Therapiestunden las ich dem Arzt einen Traum vor, der mir symptomatisch schien für mein Verhalten:
In mondloser Nacht laufe ich entlang der Mittellinie auf der Straße. Meine nackten Füße bleiben an der frisch markierten Linie haften. Die Straße zielt auf einen Fluchtpunkt am Horizont, und ich bin Teil dieser einfachen Perspektive. Wie aneinandergereihte Schuhkartons erheben sich fensterlose Gebäude entlang der Straße. Die Vitrinen sind in gelbliches Licht getaucht, die einzige Lichtquelle in Delfter blauer Nacht. Nie zuvor war ich in Holland gewesen, doch der Traum sagt mir: Jetzt bist du da! Ich begegne keiner Menschenseele, nicht einmal einem streunenden Hund.
Deine Worte lassen mich an ein Bild von Edward Hopper denken, Nighthawks. Du kennst es, Luzia, die fast leere Bar, sagte der Arzt, der schweigend dagesessen hatte. Ein ästhetischer Traum, fuhr er leise fort, der beweise, dass ich mich durch nichts von meinem Weg abbringen lasse. Seine Antwort irritierte mich, hatte ich ihm doch zu Beginn unserer Gespräche erklärt, ich wisse nicht mehr, in welche Richtung ich weiterarbeiten solle und mich leer und ausgebrannt fühlen würde. Wie oft hatte ich mich verhöhnt, na, Luzia, das war's dann wohl gewesen, du mit deiner Kunst! Die Ideen sind dir abhandengekommen, hatte ich mir einredet, dass alles in meinem bisherigen Leben ein einziger Trugschluss gewesen war. Obwohl ich meine Lebendigkeit schon vor langer Zeit eingebüßt hatte und still geworden war, klammerte ich mich an die Antwort des Arztes, wie an einen Rettungsring. Nun betonte ich, wenn mich einer fragte, was ich im Leben so mache, ich sei Künstlerin, Kunst sei kein Kleid, das sich ohne weiteres abstreifen lasse, ich hätte mir eine Auszeit genommen und die würde bald zu Ende gehen.
Kriegskind
Auf der Suche nach einem funktionierenden Feuerzeug tauchen in der Tiefe der Tischschublade unter ungeordneten Papieren und unbezahlten Rechnungen vergilbte Polaroid Aufnahmen meines Exmanns auf. Ein lachender Aziz in Oran, ein anderes Bild zeigt ihn mit Freunden in Paris. Unschön, die Erinnerung an jenen Abend, als Aziz, der zu viel getrunken hatte, die Frau eines Bekannten aufs Gröbste beleidigte. Noch in der Metro hatten wir uns deshalb heftig gestritten, und im Hotelzimmer war der Streit eskaliert. Ich hatte die Beherrschung verloren und auf den hilflosen Mann eingedroschen. Meine wenigen Sachen waren schnell gepackt, kurz vor Mitternacht war ich in den Zug nach Barcelona gestiegen. Aziz wollte mich nicht verlieren und unterzog sich einer Entziehungskur. Nun trank er nicht mehr, was sich aber verstärkt hatte, war sein Verfolgungswahn. So konnte er behaupten, er sei in der Klinik Opfer dunkler Machenschaften geworden. Er war besessen von der Idee, dass ihn sein Arzt vergiften wollte.
Bevor Aziz gezwungen wurde aus unserer gemeinsamen Wohnung auszuziehen, hatte ich mich manchmal wie eine Diebin in die Wohnung geschlichen, mich im Dunkeln entkleidet und zum Schlafen auf die Couch gelegt. Kaum hatte er erfahren, dass ich die Trennung eingereicht hatte, griff Aziz wieder zur Flasche. Er ging keiner Arbeit nach, okkupierte das Schlafzimmer, schaute Tag und Nacht fern – für mich ein unhaltbarer Zustand.
An einem Samstagmorgen kam es zum Eklat. Bereits am Vorabend hatte mich eine seltsame Unruhe befallen. Weil ich es zuhause nicht mehr aushielt, verabredete ich mich am Freitagabend mit Freunden in der Stadt. Ich hatte keinen Tropfen Alkohol angerührt und kaum etwas gegessen. Es dämmerte schon, als mir Aziz im Treppenhaus begegnete. Ich stand unten am Treppenabsatz und bat ihn zum wiederholten Mal, endlich seine Sachen zu packen und zu verschwinden. Wie nicht anders zu erwarten, war er betrunken und lachte mich aus. Er wisse nicht wohin, sagte er, scharrte nervös mit dem Fuß, der mich unvermittelt im Gesicht traf. Die erste Reaktion galt meinen Zähnen, die glücklicherweise keinen Schaden genommen hatten. Was mich in Panik versetzte, war das unablässig auf den hellen Teppich tropfende Blut. Ich flüchtete hinaus in den anbrechenden Tag. Blutüberströmt bat ich zwei junge Männer die Polizei zu rufen. Der Dreh brauche nicht wiederholt zu werden, drei, zwei, eins, Klappe! Die rote Farbe sei echt, vermochte ich noch zu flüstern und lachte trotz Schmerzen mit entstelltem Gesicht. Die beiden Männer blieben bis Polizei und Ambulanz eintrafen. Eine ganze Stunde hatte es gedauert, eine Ewigkeit wie mir schien, bis ich endlich ins Spital überführt worden war. Aziz wartete vor der Notaufnahme. Heulend versuchte er mich zu umarmen. Ob ich ihn noch dafür trösten müsse, dass er mir die Nase gebrochen habe, lachte ich hysterisch. Mir scheine, ich säße im falschen Film, schimpfte ich auf dem Weg in den Behandlungsraum, wo man mir eine Beruhigungsspritze gab und die Nase richtete. Die Trennung sei schon vor Monaten ausgesprochen worden, mein Mann sei krank, erklärte ich dem Polizisten, der mir Aziz Hausschlüssel in den Behandlungsraum brachte. Als er sich anschickte, ein Protokoll aufzunehmen, sagte ich, ich würde von einer Anzeige absehen. Gleichentags zog Aziz zu einem bosnischen Freund. Drei Monate später stand er erneut auf der Straße, ohne Kleider, ohne Papiere, ohne Geld. Er habe die Nase gestrichen voll und das Schloss auswechseln lassen, teilte mir der Bosnier am Telefon mit. Aziz habe ihm alles weggetrunken, habe es nie für nötig gefunden, den Eisschrank aufzufüllen, er habe keine Miete bezahlt und ihn täglich um Geld für Zigaretten angegangen. Wieder und wieder habe er versprochen, morgen, ja morgen gehe er arbeiten, morgen ganz sicher, und habe weiter bewegungslos auf dem Bett gelegen und an die Decke gestarrt. Aziz hatte überall Geld geliehen. Seine Gläubiger versuchten seine Schulden bei mir eintreiben, doch da bissen sie auf Granit. Ich hatte einen Ehevertrag, der die Schulden meines Mannes ausschloss. Mehr als ein Jahr blieb ich ohne Nachricht von Aziz, bis wir uns zufällig im Zug von Bern nach Basel begegneten. Er hatte sich über Wochen in abgestellten Bahnwaggons versteckt. Es war sein Glück, dass jener Herbst sehr mild gewesen war, denn Aziz besaß nur, was er auf dem Leib trug. Doch als es Ende November empfindlich kalt wurde, muss Aziz unter der Kälte gelitten haben, er kam aus der Sahara, der Wüstensohn trug auch im Sommer lange Unterwäsche. Schon früher hatte er manchmal tagelang nichts gegessen, die Askese war sein Ding, und ihm in jenen Tagen sicher von Nutzen gewesen. Als das Thermometer eine Woche lang unter null fiel, hatte ihn ein Lokführer ohnmächtig im Depot unter einem stillgelegten Zug entdeckt. Er nahm ihn mit nach Hause, gab ihm zu Essen, schenkte ihm Kleider und überließ ihm ein Paar gebrauchte Win-terstiefel. Bald fuhr Aziz auf Güterzügen landauf, landab. Der stolze Wüstensohn war tief gefallen.
Das erste Mal waren wir uns bei einem Freund begegnet. Aziz wollte für uns kochen. Ich beobachtete, wie er ein Huhn ausnahm und Gemüse hackte. Ich war hingerissen, wie er Gedichte von Baudelaire und Pierre de Ronsard rezitierte. Seine Stimme klingt angenehm, dachte ich, er hat schöne Hände. Eine Woche später bot ich ihm ein Zimmer an. Ein halbes Jahr später waren wir verheiratet.
Aziz war bei Kriegsausbruch sechs Jahre alt. La guerre d'Algérie. Darüber sprach er kaum, auch nicht, warum sein Vater, ein Anwalt, jahrelang unter Hausarrest gestanden hatte. Seine Geschichte des blonden Colonels aus Avignon habe ich in einem Notizbuch festgehalten.
Aus sicherer Distanz, in einem verfallenen Haus versteckt, beobachteten Aziz und seine Freunde französische Soldaten bei einer Razzia. Die algerischen Männer standen in einer Reihe mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Es war heiß, die Sonne brüllte und zwei Greise hielten sich kaum noch auf den Beinen. Als der Kleinere zusammenbrach, riss er den anderen mit zu Boden. Ein junger Franzose prügelte mit dem Gewehrkolben auf die am Boden liegenden Männer ein. Wir machen euch Beine, brüllten die Soldaten im Chor, ein anderer befahl den verängstigten Männern aufzustehen. Der Kleinere rührte sich nicht mehr, der andere versuchte vergeblich auf die Knie zu kommen. Kaum waren die Schüsse verhallt, tauchte eine schwarz gekleidete Frau aus dem Nichts auf. Ihre Schreie zerrissen die lähmende Stille. Mit all ihr zu Gebote stehende Kraft trat sie gegen das Schienbein des dicken Besatzers und verfluchte ihr Mutterland. Ihr habt mir meinen Vater genommen, und nun ist auch sein Bruder tot, kreischte sie. Was haben euch die beiden getan? Einfache Bauern. Nichts als harte Arbeit, ihr ganzes Leben lang. Politik? Bei Allah, dafür haben sie sich nie interessiert, höhnte sie und spie auf den Boden. Und die andern dort! Verhört sie doch alle, ja, fragt sie nur. Nichts werdet ihr erfahren, gar nichts! Alle werden sie antworten: Ich bin nicht beim FLN. Tötet sie doch, ihr Teufel und fahrt zur Hölle! Lasst uns endlich in unserem Land in Frieden leben. Der feiste Mörder ging auf die Frau los, ignorierte den Befehl seines Vorgesetzten, von ihr abzulassen. Dieser gottverdammte Krieg sei nicht zu gewinnen, er wolle von hier weg, fluchte der Colonel. Diese Hunde hassen uns, mein Gott, was habe ich das alles satt. Die Frau hat Recht, nur ihr Maul halten soll sie, endlich aufhören zu schreien. Algerien, dieser vermaledeite Brutofen ist die Hölle. Ich ertrage das alles nicht länger, schrie der Colonel, verwarf die Hände und zog die Pistole. Die Kugel verfehlte den Kopf des Untergebenen knapp, sie streifte den Arm der wütenden Frau. Außer sich vor Wut drosch der Colonel auf seinen renitenten Untergebenen ein, bevor er der verletzten Frau auf die Beine half, ihr sein Taschentuch um den mageren Arm knotete und sie bat nach Hause zu gehen. Bevor die Lastwagen in einer Staubwolke verschwanden, wurden den Bauern die Fesseln abgenommen. Schweigend trugen die Männer die Toten ins Dorf zurück. Als sich die Kinder aus dem Versteck hervor wagten, galt ihr Interesse den Fliegen auf dem schwarz schillernden Blut. Später erfuhr Aziz, sein Vater habe den blonden Colonel aus Avignon gekannt. Eine ehrliche Haut, wie der Vater sagte, ein Franzose, der sich früh für ein unabhängiges Algerien stark gemacht und eingesehen hatte, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen war. Mit dieser Einstellung hatte der Colonel sein Todesurteil besiegelt. Wenige Tage später wurde er aus einem Hinterhalt erschossen. Der Täter wurde nicht gefasst, der Fall nie aufgeklärt und die Akte geschlossen.
Die hellblaue Pauperino