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1. Mai 1953, Konstanz am Bodensee: Renina ist vierundzwanzig, Martin Heideggers jüngste Assistentin und wagt den Sprung in die Selbstständigkeit. Sie gründet die erste Frauenzeitschrift Deutschlands. In Zeiten beängstigender politischer Restauration will sie sich mit ihrer »Lady« für ein neues Rollenverständnis der Frau einsetzen. Die Zeichen stehen gut, wäre da nicht Fred, den sie aus einer Laune heraus geheiratet hat. Der Doktor der Atomphysik, Neffe von Marlene Dietrich, hat sie in gefährliche sexuelle Abhängigkeiten verstrickt.
Vor der malerischen Kulisse des Bodensees verändert sich an einem einzigen Tag Reninas Leben ...
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Seitenzahl: 260
Jana Revedin hat mit ihrer Bestseller-Trilogie »Jeder hier nennt mich Frau Bauhaus«, »Margherita« und »Flucht nach Patagonien« bemerkenswerte Frauen der liberalen 1920er Jahre in unsere Erinnerung zurückgerufen. Jetzt erzählt sie ein Frauenschicksal aus den reaktionären 1950er Jahren – das ihrer Mutter, die als erste Assistentin Heideggers und Gründerin der ersten Frauenzeitschrift Deutschlands gegen überkommene Rollenbilder kämpft. Wäre da nicht ihr Mann Fred, der Neffe Marlene Dietrichs und Atomphysiker mit einer unheilvollen Vergangenheit im Dritten Reich. Renina hat ihn aus einer Laune heraus geheiratet, aber schon bald wird aus Spiel Ernst und aus emotionaler körperliche Gewalt, die beinahe tödlich endet. An einem einzigen Tag verändert sich Reninas Leben vor der vermeintlich malerischen Kulise des Bodensees.
Jana Revedin erzählt mitreißend von einer Frau, die sich den äußeren Umständen nicht beugen will und ihren Träumen folgt.
Jana Revedin, geboren 1965 in Konstanz, ist Architektin und Schriftstellerin und ist heute ordentliche Professorin für Architektur und Städtebau an der École Spéciale d´Architecture Paris. 2018 erschien ihr Bestseller über Ise Frank, »Jeder hier nennt mich Frau Bauhaus«, 2020 ihr Roman »Margherita« über die Renaissance Venedigs in den 1920er Jahren, der ebenfalls zum Bestseller wurde. Zuletzt erschien von ihr der Roman »Flucht nach Patagonien« über Jean-Michel Frank und Eugenie Errazuriz (2021). Sie lebt in Venedig und Wernberg in Kärnten.
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Jana Revedin
Der Frühling ist in den Bäumen
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Widmung
Motto
1. Mai 1953
Auf der Veranda
Den Kopf verdreht
Mozart!
Erica
Den See entlang
In der Mozartstraße
Loslassen
Freiheit reicht den Frauen nicht
Die Lady
Im Hoerlepark
Basil
Beim Absatteln
Im Verlag
Nehmen Sie Haltung an!
Aufbruch
In der Zeppelinbar
Das Konzert
Beim Abendessen
Zurück in der Bar
Es war ein Unfall
7. Juni 1953
In der Klinik
Der Arzt
Ich sage die Wahrheit
Marlene
Impressum
Für Renina, meine Mutter, und für Constanze Neumann
»Zerreiß deine Pläne. Sei klug Und halte dich an Wunder.«
Mascha Kaléko
Der Frühling ist in den Bäumen, dachte sie, als sie auf der Veranda des Inselhotels stand und auf das Hafenbecken blickte, das in den Nebelschwaden des Morgens nur schemenhaft auszumachen war. Blassrosa trieben die Knospen der Magnolien aus ihren Astwolken, man konnte meinen, ihr Duft läge schon in der Luft. Doch in diesen Frühlingstagen hockte allmorgendlich der Dunst zwischen den hohen Pappeln am Ufer des Bodensees, und die Rasenflächen waren weit von einem satten Maigrün entfernt.
Eher waren sie grau. So grau wie der Nebel, der zum gegenüberliegenden Ufer eine undurchdringliche Mauer baute.
Renina sah auf die Wasserfläche, die bewegungslos vor ihr lag wie ein verblasster Spiegel. Blass wie dieser Spiegel war alles in ihr.
Sie musste sich irgendwo festhalten, um nicht zu wanken.
Sie war selbst schuld an der Gewalt.
Seelischer Gewalt, seit Monaten, doch jetzt sogar körperlicher. Gewalt durch ihren Mann, einen, den sie sich ausgesucht hatte, gegen alle Bedenken ihrer Freunde, ihrer Familie. Und der sie nun endgültig verraten hatte. Das wusste sie, seit sie heute Morgen erwacht war.
Sollte sie in die Suite zurückkehren, mit einem Feuerlöscher bewaffnet, und ihn ihm ins Gesicht schleudern?
Oder sollte sie lieber sich selbst bestrafen, bis zur Hafenmole gehen und sich in den See werfen?
Sie zögerte und fühlte in sich hinein. Es wurde ihr klar, dass sie niemand wehtun könnte, auch wenn sie verletzt worden war. Keinem Menschen, keinem Tier, nicht einmal einem Baum. Also würde sie lieber sich wehtun. Sie würde das Geländer am Ufer überklettern, ins kalte Wasser springen und sich aus einer Situation befreien, in die sie sich wohl wissend manövriert hatte.
Heute Morgen war sie nackt neben zwei Menschen erwacht, die sie erst am Abend zuvor kenngelernt hatte.
Sie hielt sich mit der Rechten an einer der Holzsäulen der Seeveranda fest und trat einen Schritt ins Freie, um die Fassade des Hotels zu ermessen. Da war der Schmerz im Rücken zurück. Sie sackte beinahe zusammen, hielt sich aber aufrecht und suchte das Gleichgewicht vom Rücken abwärts in ihren Beinen. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, dann konnte sie den Blick nach oben wenden, ohne zu taumeln.
Ja, drei Stockwerke über ihr war es geschehen. Die drei Fenstertüren der Suite waren geschlossen, sie sahen friedlich aus, niemand würde von hier unten vermuten, was hinter der Fassade vorgegangen war. Doch sie war nicht neben Fred, ihrem Mann, sondern neben seinen Kollegen erwacht.
Sie hießen Paul und Monika, daran erinnerte sie sich vom Abend zuvor. Doch an mehr erinnerte sie sich nicht.
Was machten die Mitglieder der Forschungskommission, mit denen Fred hierher nach Konstanz gereist war, in ihrem Zimmer?
Nein, nicht nur in ihrem Zimmer, in ihrem Bett?
Renina atmete wieder tief ein.
Das war bei dem Nebel, der kühl vom See aufstieg, keine gute Idee. Denn ebenso wie ihre Mutter war auch sie schwach auf der Brust, sie spürte die Feuchtigkeit in den Bronchien, hatte sie sich gerade eben doch nur übereilt ihr Kostüm angezogen und ihren Staubmantel in der Suite zurückgelassen.
Egal, sie würde jetzt nicht nach dort oben zurückkehren.
Sie knöpfte ihre Jacke bis zum obersten Knopf zu, immerhin war sie aus Schurwolle, das einzige Kostüm, das sie für die Übergangszeit besaß, es müsste sie doch wärmen?
Gleichzeitig schmiegte sie sich mit der rechten Schulter an die Holzsäule.
Wenn etwas Halt gab, wärmte es auch.
Wenn etwas Halt gab, vertrieb es jeden Schmerz.
Man musste es sich nur im Geiste vorsagen: »Mir ist ganz warm.«
Es funktionierte.
Sie sammelte ihre Gedanken. Ohne einen Kaffee am Morgen war sie das nicht gewohnt, doch an ein Frühstück war heute nicht zu denken. Was, wenn dieser Paul und diese Monika hier unten im Seerestaurant erschienen und ihr »Guten Morgen« sagten, als wäre nichts vorgefallen?
Ihr Blick haftete weiter an den drei Fenstertüren der Suite, sie kam von dem Gedanken an das, was sich dort abgespielt hatte, nicht los.
Der Atomphysiker-Kongress, der am Montag begonnen hatte, war gestern, am Donnerstagabend, zu Ende gegangen, und für diese vier Tage war sie von ihrem Zuhause, das nur einen Steinwurf entfernt am Ende der Seestraße lag, hierhergezogen, um Fred einmal ausnahmsweise eine ganze Woche nahe zu sein. Heute, am 1. Mai, hätten die Kongressteilnehmer nur noch Pressegespräche wahrzunehmen, und abends gäbe es ein Galakonzert in der ehemaligen Klosterkirche, die heute als Festsaal des Hotels diente.
Gestern Abend dann hatte Fred sie in das Dominikanerstube genannte Hotelrestaurant zum Abendessen eingeladen, das erste Mal, dass Renina seine Kollegen persönlich kennenlernte. Doch wie an den Abenden zuvor, an denen sie spät aus dem Verlag im Hotel eingetroffen war und Fred nur zu einem letzten Drink an der Bar getroffen hatte, war sie plötzlich todmüde gewesen und hatte sich in ihre Suite zurückgezogen.
Heute Morgen, vor nicht mehr als zwanzig Minuten, war sie erwacht. Es war draußen schon taghell gewesen, so lange schlief sie sonst nie. Noch mit geschlossenen Augen hatte sie das Ziehen im Unterleib gespürt, als ob ein schweres Gewicht auf ihr lastete. Das Ziehen war bis in den Rücken und die Beine hinunter bis in die Fersen gewandert. Je länger sie bewegungslos dagelegen und in sich hineingefühlt hatte, desto stärker hatte sie den Schmerz wahrgenommen.
Sie hatte die Augen geöffnet und sich zu Fred gedreht. Doch nicht er hatte neben ihr gelegen, sondern dieser Paul und diese Monika. Splitternackt. Und genauso splitternackt war auch sie gewesen.
Fred war nirgendwo im Schlafzimmer zu finden gewesen, sondern auf dem Sofa des kleinen angrenzenden Salons, angezogen, mit offenem Hemd. Er schlief so tief, als hätte man ihn betäubt, es gelang ihr nur schwer, ihn wach zu rütteln. Dann endlich sah er sie mit hellblau verschwommenen Augen an und hauchte mit dem unwiderstehlichen Rauch in seiner Stimme: »Guten Morgen, Darling.«
Sie stand vor ihm, nackt, perplex, unfähig zu reagieren angesichts einer völlig unvertrauten Gefahr.
Erst die Abgründe, in deren Nähe sie sich in den letzten eineinhalb Jahren mit Fred begeben hatte, hatten sie haltlos gemacht, weil sie sie nicht gut genug erforscht hatte. Ihr hatte jeglicher kritische Abstand gefehlt, und sie hatte sich in blinder Gefühlsduselei auf halsbrecherische Gratwanderungen begeben. Jetzt war sie abgestürzt und fand sich in der Kluft wieder, in die uns jede Grenzüberschreitung trieb.
Ja, darauf hatte sie sich eingelassen: auf verrückte Ideen, auf vage Versprechen, auf Halbwahrheiten …
Wahrscheinlich auch auf Lügen.
Was hieß hier wahrscheinlich?
Sicherlich sogar. Denn warum sonst lagen dieser Paul und diese Monika in ihrem Bett?
Mit Fred hatte sie sich in eine fremde Welt gewagt, und sie wusste, dass diese Entscheidung aus einer Laune heraus gefallen war. Keiner war im vergangenen Frühjahr, als sie ihn plötzlich unbedingt heiraten wollte, begeistert gewesen, keiner außer ihrer Mutter.
Hier im süddeutschen Exil war die Mutter nicht mehr dieselbe, nicht mehr die, die sie noch in Reninas Kindheit in Berlin gewesen war. Sie vermisste die Großstadt, das sagte sie jeden Tag, wenn sie zum Einkaufen »ins Städtchen« ging. Ihres Firmenimperiums entledigt, war sie in den wenigen Jahren seit dem Krieg zur biederen Hausfrau verkommen.
Das entsprach der Zeit. Hatte die Weimarer Republik Frauen zu vollwertigen und voll verantwortlichen Bürgerinnen erklärt, sie auf ihrem Weg in einen Beruf, in eine gesellschaftliche Stellung unterstützt, ob sie nun Gärtnerin, Bankdirektorin oder Schauspielerin werden wollten, hatte ein spießiger Oberösterreicher namens Adolf Hitler in wenigen Jahren vermocht, Deutschland wieder ins Mittelalter zurückzustoßen. Und auch nach dem verlorenen Krieg und der überwundenen Blut-und-Boden-Propaganda mit Mutterkreuz und Heim-an-den-Herd-Politik waren die deutschen Zeitgenossinnen meinungslos und blass geblieben, außer denen, die ins Ausland hatten fliehen können und sich dort, unter noch viel härteren Bedingungen, eine Existenz aufgebaut hatten.
Hatten die Daheimgebliebenen die erreichte Selbstständigkeit und Meinungsfreiheit ihrer Jugendjahre für immer aufgegeben?
Hatte die Mutter einen wie Fred in Reninas Leben willkommen geheißen, um große Visionen und einen Hauch von Glamour in ihr eigenes Leben zurückzuholen?
Vielleicht.
In der Tiefe ihrer Seele musste sie jedoch Zweifel gehegt haben, denn seit Reninas Hochzeit war sie kränker als je zuvor.
Während Renina also schwieg und mit ihren Gefühlen rang, ergänzte Fred, auf seinem Sofa lungernd: »Seit unserer Ankunft hast du Paul und Monika ganz schön den Kopf verdreht!«
»Wie denn? Ich habe sie doch erst gestern Abend kennengelernt.«
»Sie dich aber zuvor.«
Sie wartete ab, es war ihr nicht klar, was er meinte.
»Der Kongress begann am Montag?« Er streckte sich im Rücken, rutschte auf die vordere Kante des Sofas und wirkte dabei so frisch wie zum Dreh einer Filmszene zurechtgemacht.
Ja, Fred, der Blender. Der Getriebene, der stets zu früh zu einer Verabredung kam, der immer als Erster wieder aufbrach, der Küsse überging, weil sie ihn auf dem Weg seiner Begierde aufhielten, der beim Sex immer schon kam, wenn Reninas Körper noch nicht einmal aufgewärmt war. Geschweige denn ihre Seele. Er sah immer so blendend aus wie seine blutjunge Wissenschaft, die den Menschen vorgaukelte, die einzig glücklich machende Zukunft zu entwerfen, doch alle tödlichen Gefahren, die sie beinhaltete, vertuschte.
»Am Montag bin ich hierher zu dir in die Suite gezogen, ja.«
»Und die Abende an der Bar?«
»Da habe ich mit dir ein Glas Wein getrunken und bin zu Bett gegangen.«
»Sie aber nicht.«
»Was heißt: Sie aber nicht?«
War sie mit ihren vierundzwanzig Jahren zu dumm, zu verstehen, was er sagen wollte? Er und seine Kollegen waren gute zehn Jahre älter, vielleicht machte das den Unterschied.
»Sie kamen uns nach.«
»Kamen uns nach?«
»Schätzchen«, er stand auf und nahm sie bei den Hüften, was sie ärgerte, da sie nackt war und er angezogen, »bitte leg das Provinzkind ab.«
»Ich, ein Provinzkind?«
»Nun ja, du versteckst dich doch in diesem Bodenseeloch.«
»Hätte es dieses Bodenseeloch nicht gegeben …«
»Ich weiß, die knackige Résistance-Geschichte deiner Mutter«, spottete er, und ehe sie darauf reagieren konnte, fügte er hinzu: »Mit der rühmt sich auch meine Tante Marlene.«
Dazu wiederum konnte Renina nichts sagen, sie hatte diese Tante nie kennengelernt.
»Ist es nicht so, für euch Vertriebene? Ihr seid nirgendwo mehr zu Hause, passt euch an alles an?«
Renina überkam die Wut, während das Ziehen im Unterleib stärker wurde.
Was fiel diesem Kerl ein, den sie, dumm genug war sie gewesen, in ihr Leben gelassen hatte?
Hatte nicht er sich an alles angepasst?
An seine hochtrabenden Forscherkollegen, seine Geheimmissionen, die aus fatalen Experimenten bestanden, von denen er aber behauptete, sie würden ein sichereres, ein lebenswerteres Leben auf unserem Planeten ermöglichen?
Renina hatte diesen Dünkel, der sich in jede seiner schlaksigen Bewegungen übersetzte, von Anfang an schrecklich gefunden.
Und doch …
Sie stand vor einem unwiderstehlich gut aussehenden Eroberer, der sie, das wurde ihr in diesem Augenblick bewusst, seit ihrer allerersten Begegnung im vorletzten Herbst in der Hand hatte.
Doch warum übte er diese Macht auf sie aus?
Woher kam die verhohlene Brutalität in diesem Mann, der seinen Beruf aus schierer Begeisterung gewählt und der es weit gebracht hatte auf seinem Weg?
Hatte man ihn derart geschickt zum Werkzeug gemacht, menschlich derart vergewaltigt, dass er über die Kriegsjahre selbst zum Täter, zum latenten Vergewaltiger geworden war?
Macht und Ohnmacht waren grausame Antagonisten.
»Was ist gestern Nacht geschehen?«
Ihre Stimme klang wohl ernst zu nehmend genug, denn endlich sah er sie direkt an.
»Was auch die Nächte zuvor hier geschehen ist, Kleines.«
Von wegen ernst zu nehmend, er machte sich weiter über sie lustig. Er atmete durch den Mund aus – das tat er gerne, und das unterstrich die arrogante Note, die Reninas Vater so an ihm hasste.
»Ach?«
»Ja, endlich hat mein Provinzhase sich einmal gehen lassen.«
»Dürfte ich erfahren, was du damit sagen willst?«
Da flatterte sein Blick plötzlich. Sein Oberkörper begann zu wanken, seine Pupillen rollten nach hinten, und er machte ein paar ziellose Schritte. Dann sank er auf das Sofa zurück, auf dem er geschlafen hatte.
Renina griff nach seinem Jackett auf der Sofalehne, zog es sich über und hockte sich neben ihn. Indem sie sich zu ihm lehnte, griff das Ziehen im Unterleib schlagartig auf die Lendenwirbel über, sie war wie gelähmt.
»Was ist, Fred?«, konnte sie dennoch flüstern.
Überarbeitet, wie er ständig war, hatte er vielleicht einen Kreislaufzusammenbruch?
Kein Wunder, bei seinem Lebensstil! Auf endlose Labortage folgten durchwachte Nächte mit seinen Kollegen oder mit ihr, der »Fee, die ihn retten würde«, wie er letzthin öfter gesagt hatte. Sie müsste ihm beistehen, trotz allem, was sich in den vergangenen Stunden zugetragen hatte.
Er atmete durch die Nase ein und aus, schnell und immer schneller, wie auf der Flucht.
»Geht es dir nicht gut?«
Er winkte ab.
»Soll ich einen Arzt rufen?«
Er hechelte: »Bloß keinen Arzt.«
»Fred. Sag, was dir fehlt.«
Renina versuchte, ihre Schmerzen zu vergessen, und ertastete seinen Puls. Der raste. Gleichzeitig begann Fred leise zu jammern, wie ein kleiner Junge, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte und der sich nicht sicher war, ob er sich widersetzen sollte oder fügen.
»Sag es«, bot sie ihm einen Ausweg an.
Sein Blick bohrte sich in ihre Augen.
»Sag die Wahrheit.«
Hatte er sie jemals so angesehen?
»Brauchst du ein Glas Wasser?«
»Ach was, Wasser. Ich brauche kein Wasser, sondern eine Frau, auf die ich zählen kann.«
»So haben wir es uns vor dem Standesbeamten versprochen.«
»Standesbeamter. Wen kümmert denn solcher Unsinn? Du bist doch kein Dummchen. Ich muss auf dich zählen können, bedingungslos, verstehst du? Ich sage dir jetzt alles, die ganze Wahrheit, und mach keine Szene, bitte.«
»Keine Szene.«
Renina wandte sich zum Schlafzimmer um, und sie erschauerte.
Fred hatte ihr sein Handgelenk entzogen und die Arme vor der Brust verschränkt. Wahrscheinlich war er dabei, nachzudenken, was genau er ihr sagen sollte. Und wie. Er atmete weiter hechelnd ein und aus.
»Wir haben dich gefügig gemacht«, eröffnete er ihr nach einigen Augenblicken, »unwiderstehlich, wie meine beiden Kollegen dich finden. Tja, die haben Geschmack. Die clevere Monika vor allem, aber auch der Feinspitz von Paul.«
»Gefügig? Ich erinnere mich an nichts!«
»Wir haben dich betäubt.«
»Wie das? Ich habe mich jeden Abend mit dir, und mit dir allein, an der Bar getroffen … und nur ein einziges Glas Rotwein getrunken.«
»Nun, das reicht.«
»Das reicht wofür?«
»Für ein kleines Pulver.«
»Was für ein Pulver?«
»Das Glückspulver.«
Renina verharrte neben Fred in der Hocke und versuchte, ruhig zu bleiben.
Er hatte sie betäubt?
Ja, das ergab Sinn. Denn an jedem der vergangenen Abende war sie hier in der Suite angekommen und ins Bett gefallen wie eine Tote. Sie hatte das am nächsten Morgen auf die harte Arbeit im Verlag geschoben, sie war im Finale ihrer Druckfreigaben, da ging es um jede Minute. Doch tatsächlich war da jeden Morgen eine ganz unbekannte Leere in ihr gewesen, ähnlich wie das Ziehen im Unterleib jetzt, nur noch nicht so schmerzhaft. Als ob ihr jemand die Nacht gestohlen hätte, sie entführt hätte aus ihren Träumen.
Dabei liebte sie ihre Nächte. Und sie liebte ihre Träume.
Fred hatte sie betäubt und dann von zwei Menschen, die sie kaum kannte, vergewaltigen lassen?
Sie war vergewaltigt worden, über mehrere Abende, und an den darauffolgenden Morgen hatte er geschickt die Spuren verwischt.
Nur heute nicht.
Sie fühlte in das Vakuum in ihrem Körper hinein, der Schmerz im Rücken nistete sich auf der Höhe der Lenden ein, er würde dort hocken bleiben, wie sie gerade neben diesem Mann hockte, einem Mann, der sie vom ersten Moment an überwältigt hatte. Sie war entsetzt zu erkennen, wie sehr er sie jetzt abstieß.
Von einem Augenblick auf den anderen wurde ihr klar, dass sie mit ihm fertigwerden musste. Jetzt gleich. Sie musste sich frei machen von ihm, um sich nicht weiter im Tollhaus seiner Dreistigkeiten einsperren zu lassen. Sie musste ihm deutlich machen, dass er die Grenzen des für sie Erträglichen überschritten hatte, dass er ihr wehgetan hatte, dass das kein Spiel war. Und dass ihre Geschichte hier und heute endete.
Sie atmete langsam ein und aus, um die Worte zu finden und gelassen zu bleiben.
Er aber sprach im selben Moment beinahe tonlos weiter: »Lass mich das erklären. Anders als deine Familie hatten wir Dietrichs ja nichts zu verlieren. Wer waren wir schon in Berlin? Unbedeutende Zeitgenossen, die keine Spuren hinterlassen würden. Ich begann mein Studium aus purem Lebenshunger. Bald würde ich, sagte ich mir, gelten, was ich wusste, was ich konnte, was ich bereit war zu erproben. Bei aller Gefahr, die mein Fach in sich barg.«
»Dafür habe ich dich bewundert, Fred.«
Er sah ihr wieder kurz in die Augen, wie ertappt.
»Dann aber, und das habe ich dir nie erzählt, hat man uns, weil die Atomforschung geheim zu halten war und das im Großraum Berlin unmöglich schien, in ein Dorf im Schwarzwald weggesperrt. Man hat uns mit Kokain und Pervitin aufgeputscht, wir arbeiteten nahezu rund um die Uhr. Bald litten wir an Schlaflosigkeit, fanden zwischen Tag und Nacht keinen Rhythmus mehr. Es war uns nicht bewusst, in welcher Falle wir saßen. Man trieb uns an, wir funktionierten. Und wurden von der Welt abgesondert, erfuhren nur eine Auswahl der täglichen Ereignisse. Eigentlich hat man uns in jeder Hinsicht manipuliert. Von den ersten todbringenden Ergebnissen unserer Atombombenversuche haben wir nie gehört.«
Er warf einen Blick zurück ins Schlafzimmer, als schaute er in eine Zeit zurück, in der seine Forschungsziele noch vermeintlich friedlicher Natur waren.
»Als der Krieg dann zum totalen Krieg ausartete und wir unter Hochsicherheitsschutz gestellt wurden, keinen Ausgang mehr hatten, keinerlei Bewegung, kamen die Nervenschmerzen dazu, im Kopf, im Nacken, den ganzen Rücken hinunter bis in die Beine. Also hat der Militärarzt uns Morphin verschrieben. Er nannte es das Glückspulver, schmale Briefchen, die wir in unsere nächtlichen Whiskys warfen. So konnten wir wenigstens drei, vier Stunden schlafen.«
Er sah sie wieder direkt an, wie er sie in dem Jahr ihrer Ehe nie angesehen hatte.
»Das einzige Problem ist, Morphin macht süchtig.«
»Mein Gott«, entfuhr es Renina.
Man hatte sich Menschen ob ihrer Fähigkeiten untertan gemacht, sie dressiert wie wilde Tiger für den Zirkus? Sie süchtig gemacht wie Ratten, an denen man neue Medikamente ausprobierte? Sie von allen Informationsquellen abgeschnitten, zu Idioten degradiert?
Eine Welle von Mitgefühl überkam sie, wider Willen, und sie wandte sich Fred zu.
Der wich schroff zurück. »Gott hat mit Atomphysik nichts zu tun.«
»Nein?«
»Nein.«
»Und wer ermöglicht euren verruchten technischen Fortschritt, der die Welt auf lange Sicht zerstören wird? Nicht ein Schöpfer, der eure Gehirne mit einer außerordentlichen Intelligenz ausgestattet hat?«
»Ein schlichtes Ergebnis der Evolution.«
»Dann sollte Gott sich bitte schleunigst abwenden.«
Er kam ihr ganz nahe, und sie spürte seinen Atem: »Du lebst ganz gut von meinem verruchten technischen Fortschritt.«
»Ich lebe ganz gut von meiner eigenen Arbeit.«
Sie stand auf, ging in seinem Jackett zurück ins Schlafzimmer und begann, ihre Kleidungsstücke aus denen herauszusuchen, die am Boden verstreut herumlagen. Sie kam sich vor wie ein Rettungshelfer, der die Habseligkeiten von Unfallopfern aus zerborstenen Trümmern fischte. Ihr Rücken schmerzte beim Bücken höllisch, beim Aufrichten wurde ihr schwindelig.
Während sie sich langsam anzog, viel langsamer, als es ihr lieb war, um nicht zu taumeln, die Dessous, die Strümpfe, den Rock, die Bluse, kam Fred ihr nach.
»Schätzchen, übertreibe nicht.«
»Ich bin nicht dein Schätzchen. Und ich übertreibe nicht.«
»Wir hatten doch Spaß zusammen, oder?«
»Am Anfang, ja.« Sie schlüpfte in ihre Pumps. »Doch dann? Du nahmst mich im Studio meines Fotografen, in der Kabine meiner Schneiderin, in der Garderobe des Casinos, hier unten im Park … Von Woche zu Woche, von Monat zu Monat wurden deine Fantasien haarsträubender. Doch ich dummes Ding habe dir nachgegeben.«
»Ach so? Du warst es doch, die es liebte, betrachtet zu werden!«
»Da schließt du von dir auf andere. Allerdings habe ich mitgespielt …«
»Siehst du? Was also war in den letzten Nächten so anders? Du hast mitgespielt, wie immer, und wir haben dich vergöttert.«
»Danke schön. Doch vielleicht wird dir das bewusst, wenn du deine Kollegen hier liegen siehst wie leblose Opfer? Ich war bewusstlos.«
»Bewusstsein ist eine Frage der Definition, sagt Huxley.«
»Du hast einen Knall, Fred.«
»Ich habe dich immer verblüfft.«
Das sagte er mit einem veränderten, beinahe zärtlichen Ton. Es schien ihm viel an dieser Aussage zu liegen.
»Ja, das war deine Stärke.« Auch Renina wurde einen Hauch versöhnlicher. »Aber jetzt hast du übertrieben.«
Ein Moment der Stille trat ein. Renina ging zum Bett hinüber, griff mit beiden Händen das Überziehlaken und die Bettdecke und deckte Freds Kollegen zu. Es war grausam, sie wie leblos hier liegen zu sehen, und sie würden sich an einem so feuchten Morgen sicherlich erkälten.
Denn, wer wusste, ob Fred die Wahrheit sagte? Wer wusste, wer sich dieses Spiel ausgedacht hatte?
Vielleicht war tatsächlich Fred der Drahtzieher, und sie waren manipulierte Statisten wie Renina selbst?
»Die beiden werden sich entschuldigen«, bot Fred ihr an.
»Und wenn schon?«
»So wäre alles bereinigt.«
»Meinst du? Du hattest ja wohl die Idee dazu, nicht sie. Du steckst hinter einer mehrfachen Vergewaltigung, Fred.«
»Das gebe ich zu.«
»Und?«
»Ich denke an nichts anderes mehr. Ich habe tausend neue Ideen.«
»Lass dich kurieren.«
»Kurieren?«
»Du bist krank.«
»Danke, Frau Doktor.«
Das klang hämisch. Er verließ das Schlafzimmer und ging ins Bad.
»In jedem Fall lasse ich mich scheiden«, rief ihm Renina nach, doch es war nicht zu hören, ihre Stimme versagte.
Ihr Angsttraum hatte sich in die Wirklichkeit übersetzt.
Dieser Traum verfolgte sie in den letzten Monaten, er kam immer öfter. Sie stand vor der Tür des Verlags und rief für einen Kunden ein Taxi herbei, sie erwartete ihren Vater am Flughafen, und er sah sie nicht, sie kam im letzten Moment zu einem Zug und wollte den Schaffner auf sich aufmerksam machen, damit er wartete. Sie rief jemand etwas zu, und es war nicht zu hören. Sie rief im Traum dann noch mal und noch mal und noch mal, bis sie Atemnot bekam und sich irgendwo festhalten musste, um nicht zu wanken. Sie rief immer weiter, doch ihre Stimme war irgendwann selbst in ihrem Kopf nicht mehr zu hören. Es war ein totales Verstummen.
Sie ging Fred ins Bad nach. Er hatte die Tür offen gelassen, stand am Doppelwaschtisch, die Hände auf den Beckenrand gestützt und betrachtete sich in der wandbreiten Spiegelfläche. Sein Haar fiel wellig aus der hohen Stirn nach hinten, etwas zerzaust, wie beim Segeln. Er fuhr mit seinen schmalen Händen hindurch und fletschte währenddessen die Zähne, das Weiß ihres Schmelzes im Spiegel überprüfend. Einen langen Moment stand er so mit den Händen im Nacken da und streckte sich im Rücken, sein offenes Hemd gab dabei die Brust frei und ihren blonden Flaum, der Renina zu Beginn so gefallen hatte. Er musterte sich Zentimeter um Zentimeter, und er schien mit sich zufrieden.
Als Renina näher kam, behielt er die Arme angewinkelt hinter dem Kopf. Er trat zwei Schritte vom Waschbecken zurück und stand mitten in jenem dunkelgrünen Marmorbad. Sein blondes Haar erschien rötlich im Licht der Deckenleuchte.
Er kreiste leise mit den Hüften und schnurrte: »Komm her, Kleines.«
»Ich lasse mich scheiden.«
Jetzt waren Reninas Worte hörbar. Zwar nicht laut, aber deutlich.
Er begann zu lachen, ein metallisches Lachen, das grässlich klang, dabei senkte er die Arme in großem Bogen und blieb in der Haltung stehen, die man einnahm, wenn Kinder auf einen zuliefen.
»Wer kommt in mein Häuschen?«, hatten die Eltern Renina immer zugerufen, als sie noch klein war und von Weitem in ihre offenen Arme rannte. Es war eine schreckliche Assoziation, denn hier stand einer mit offenen Armen, der in Wahrheit nur sich selbst liebte.
Renina wollte aus diesem Bad fliehen, aus diesen Räumen, aus diesem ganzen verlogenen Leben. Doch er kam ihr rasch bis zum Türrahmen entgegen, packte sie an beiden Handgelenken, zog sie zu sich her und drückte sie rücklings an die Spiegelwand.
»Wenn du nicht freiwillig kommst, hole ich dich.«
»Ich lasse mich scheiden, Fred.«
»Papperlapapp.« Er lachte erneut sein schepperndes Lachen.
»Lass mich los, ich meine es ernst.«
»Versuche es nur, dich mit mir anzulegen.«
Er drehte sie blitzartig um, routiniert, als täte er das ständig und nicht nur mit ihr. Er drückte ihr Gesicht an den Spiegel und machte sich von hinten an sie heran. Sein Atem wurde schneller, er strich ihr die Haare weg und verbiss sich in ihren Nacken. Einige schnelle Stöße nur, er nahm sich nicht einmal die Zeit, die Hose auszuziehen, da hörte sie sein erleichtertes Stöhnen. Er kam so schnell wie immer.
Renina betrachtete währenddessen ihre hohlen Augen im Spiegel, der von ihrem Atem angelaufen war wie ein Wolkenmeer. Sie sah sich auf Sternchen, dem Boot ihrer Segelfreunde, sitzen, während sich ein Unwetter über dem See zusammenbraute. Die Wolken lichteten sich erst über den Hügeln der Meersburger Bucht, als sie einen Schritt zurücktreten konnte, denn er hatte von ihr abgelassen und sich auf den Rand der Badewanne gesetzt.
Im selben Moment war sie aus dem Bad gehastet, hatte ihre Kostümjacke auf einem der Schlafzimmersessel gefunden, sie sich übergeworfen und die Suite verlassen.
Geigen waren auf der Veranda des Inselhotels zu hören. Jetzt kamen Bläser hinzu.
Mozart!
Ihr geliebtes Klavierkonzert Nr. 23.
Woher kam diese Musik?
Renina wandte sich zur Fassade um. Ja, sie hatte auf ihrer Flucht aus dem Seerestaurant auf die Veranda die Tür nur angelehnt. Das Restaurant grenzte an den Festsaal, und anscheinend begann dort die Generalprobe für das Konzert am heutigen Abend.
Sie richtete ihren Blick wieder auf den See. Der Park vor der Hafenmole war weiterhin in Nebel getaucht, doch die Magnolien, die nahe der Veranda standen, schienen sich hoffnungsvoll einem Tag zu öffnen, der Frühling bedeuten könnte. Das Rosa ihrer Blüten war greifbar.
Oder bildete Renina sich das nur ein?
Bildete sie sich Impressionen und Seelenregungen ein, ohne eine nachvollziehbare Basis dafür zu haben? War sie in ihren Gefühlen immer einen Schritt zu voreilig unterwegs? So wie sie zu schnell unterwegs gewesen war, als sie entschieden hatte, Fred unbedingt heiraten zu müssen?
Ganz sicher.
Und wie sie zu voreilig unterwegs gewesen war, als sie eben die Suite – und ihn – verlassen hatte?
Vielleicht.
Sie haderte mit sich.
Was war recht, was unrecht? Bis wohin konnte man nachgeben? Ab wo nicht mehr?
Doch sie war nicht einfach verführt worden. Das könnte sie Fred und sich selbst ja verzeihen. Sie war betäubt und vergewaltigt worden. Mehrmals.
Das durfte er doch nicht? Auch wenn er ihr Ehemann war und sie ihm nach hergebrachtem Verständnis in allen Bereichen des Lebens »zu Diensten« sein musste, natürlich auch sexuell?
Sie ging die Menschenrechtskonvention, die der Europarat vor zweieinhalb Jahren in Rom unterzeichnet hatte, durch. Sie hatte sie für das Examen in Politischer Philosophie auswendig lernen müssen: Artikel 8, das Recht auf Achtung des Privatlebens und des persönlichen Willens. Fred hatte die rechtlichen Grenzen, die in diesem Artikel festgeschrieben waren, klar überschritten.
Doch wen würde das interessieren, käme es in einem Scheidungsverfahren zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung?
Niemand.
Sie, Renina, die ihrem Mann zur Verfügung zu stehen hatte, gälte als Raben-Ehefrau, die sich nicht um dessen Wohl kümmerte, sondern nur um ihren aufstrebenden Verlag. Und er als Opfer.
Renina lauschte den Geigern in ihrem Dialog mit den Bläsern. Da setzte das Klavier mit seinem Thema ein und dämpfte das flotte Tempo des Orchesters.
Gut so. Genau so wollte Mozart gespielt werden. Nicht marschartig, nein, verhalten, taktvoll, wie beiläufig. Die schlichte Schönheit seiner Harmonien kam nur auf diese Weise zur Geltung.
Renina hatte diese Partitur mit ihrer Klavierlehrerin während der Jahre im Internat auswendig gelernt, sie könnte sie beidhändig mitspielen. Und sie spielte sie mit. Über einige Takte hinweg beobachtete sie ihre Hände, wie sie sich in der feuchten Nebelluft mit den Tönen aus dem Festsaal mitbewegten, und verfolgte, wie das Klavierspiel das Ziehen in ihrem Unterleib vertrieb. Sie machte sich im Rücken gerade, und siehe da, der Schmerz hatte sich beinahe aufgelöst.
Erstaunt wanderte ihr Blick durch den Park, während ihre Hände weiter lautlos die Läufe in die Luft schrieben. Um sie herum war die Natur in ein Schweigen getaucht, das geradezu magisch war. Nebel und Schnee, ja, die brachten eine Landschaft zur Ruhe, sie konnte endlich nur für sich gelten. Aller Verkehrslärm, alle menschliche Hast waren ausgelöscht, alles Lebende fand den ihm angemessenen Raum.
Und in dieser Lebensstille erklang Mozart!
Wie hatte sie vorhin nur erwägen können, die Gewalt, die ihr widerfahren war, mit ebensolcher Gewalt heimzuzahlen?
Undenkbar!
Sie musste ja nur hinhören.
Das reine Schweigen, das der Nebel der Landschaft verlieh, und die sich darin einschreibenden klaren Melodien Mozarts warfen jedes Wesen auf sich selbst zurück.
Wer war bloß der Pianist?
Sein Anschlag klang so leichtläufig und selbstverständlich, als spielte er ein Kinderlied. Renina schmiegte sich in diesen ersten Satz, als wäre es das allererste Mal, dass sie Musik wahrnahm.
Wie sehr sie uns beschützte! Wie behutsam sie uns trug, wenn wir zu fallen drohten, in Tiefen, die endlos schienen …
So formulierte Brix es immer.