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Für Peggy Guggenheim war sie die First Lady Venedigs.
1920: Die fünfundzwanzigjährige Margherita, die in ihrem Heimatstädtchen Treviso die Zeitungen austrägt, wird durch die Heirat mit dem adeligen Antonio Revedin zur First Lady Venedigs. Heute ist ihr Name vergessen: Doch Margherita verstand es, sich durch ihre unvoreingenommene Art zum Mittelpunkt einer sich neu erfindenden Stadt zu machen. Peggy Guggenheim wird ihre beste Freundin, und die Künstlerfeste auf der Terrasse des Hotel Excelsior, zu denen sie Greta Garbo, Coco Chanel, Clark Gable oder Pablo Picasso einlud, werden legendär.
Jana Revedin erzählt mitreißend von den Schicksalsjahren Venedigs – und ihrer eigenen Familie.
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Seitenzahl: 337
Für Peggy Guggenheim war sie die First Lady Venedigs
1920: Die fünfundzwanzigjährige Margherita, die in ihrem Heimatstädtchen Treviso die Zeitungen austrägt, wird durch die Heirat mit dem adeligen Antonio Revedin zur First Lady Venedigs. Heute ist ihr Name vergessen: Doch Margherita verstand es, sich durch ihre unvoreingenommene Art zum Mittelpunkt einer sich neu erfindenden Stadt zu machen.
Peggy Guggenheim wird ihre beste Freundin, und die Künstlerfeste auf der Terrasse des Hotel Excelsior, zu denen sie Greta Garbo, Coco Chanel, Clark Gable oder Pablo Picasso einlud, werden legendär.
Jana Revedin erzählt mitreißend von den Schicksalsjahren Venedigs – und ihrer eigenen Familie.
Über Jana Revedin
Jana Revedin, geboren 1965 in Konstanz, ist Architektin und Schriftstellerin. Nach dem Studium von Architektur und Städtebau in Buenos Aires, Princeton und Mailand promovierte und habilitierte sie an der Universität Venedig und ist heute ordentliche Professorin für Architektur und Städtebau an der Ecole Spéciale d´Architecture Paris.
2018 erschien ihr Bestseller über Ise Frank »Jeder hier nennt mich Frau Bauhaus«.
Seit 1991 ist sie mit Antonio Revedin, dem Enkel von Margherita Revedin, Kapitän zur See und heutiger Hafendirektor Venedigs, verheiratet und lebt in Venedig.
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Kapitel 36
Ausklang
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Dank
Impressum
Für Antonio Revedin, meinen Mann
Vissi d’arte, vissi d’amoreNon feci mai male ad anima viva.
Con man furtivaQuante miserie conobbi aiutai.
Sempre con fè sincera
La mia preghiera
Ai santi tabernacoli salì.
Sempre con fè sincera
Diedi fiori agl’altar.
Nell’ora del dolore
Perchè, perchè, Signore,
Perchè me ne rimuneri così?
Ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe,
Nie tat ich einer Seele weh.
Mit unsichtbarer Hand
Half ich in vielen Nöten.
In aufrichtigem Glauben
Stieg mein Gebet
Zu den heiligen Tabernakeln empor.
In aufrichtigem Glauben
Legte ich Blumen an deinen Altar.
In der Stunde des Schmerzes
Warum, Herr,
Warum entlohnst du mich auf diese Art?
GIACOMO PUCCINI, TOSCA
Der 1. Januar 1920 war ein Donnerstag. Margherita stand hinter dem Tresen des Zeitungskiosks ihrer großen Schwester und sah hinaus auf die morgendliche Piazza del Convento delle Cappuccine. Es war noch sehr früh, und sie hatte, wie an jedem Morgen im Winter, zunächst den Kohlenofen an der Rückwand des Ladens gleich neben der Theke befeuert, damit die ersten Kunden, die sich üblicherweise gegen acht Uhr einstellten, beim Bezahlen nicht die Handschuhe anbehalten mussten.
Im vergangenen Herbst hatten sie sich erstmals wieder eine Kohlenfuhre leisten können, der Krieg war endlich vorbei, die Hungerjahre und die Spanische Grippe, die im Frühjahr in der ganzen Region Venezien gewütet hatte, waren überwunden, und ihr Kiosk lief wieder gut. Lisetta, die älteste der drei Schwestern, hatte ein Händchen fürs Geschäft und konnte so die beiden jüngeren über Wasser halten.
Noch war keine von ihnen verheiratet, mit wem auch, der Krieg hatte beinahe alle jungen Männer im Städtchen dahingerafft. Und ein Zuhause im eigentlichen Sinn, einen Ort, an dem sie aufgehoben wären, hatten sie auch nicht. Alle drei lebten sie mit ihrer Mutter im Gesindehaus der Ursulinen, seit der Vater sie verlassen hatte.
Wie jeden Morgen, an dem Margherita sich hier einfand, fegte sie den Terrazzoboden aus, wischte mit Seifenwasser nach und polierte die Messinggriffe der Tür. Auch heute kam wie üblich Ettore vorgefahren, der alte Zeitungskutscher, der die Zeitungsballen vom Bahnhof lieferte, dazu zweimal in der Woche die Limonadenfässer und Zigarettenkartons, die Lisetta bei ihm in Bestellung gab. Er unterhielt sich auf der Piazza mit ihr, während Margherita die Ballen aufschnürte und den Corriere della Sera auf dem Tresen auslegte, bereit zum Morgenverkauf.
Jeden Morgen genoss sie den Geruch der Druckerschwärze. Eine frisch gedruckte Zeitung roch nach weiter Welt.
Üblicherweise blieb Lisetta die Vormittage über im Kiosk, während Margherita ab halb acht Uhr ihre Runde ging, um ihren Abonnenten der Weststadt die Zeitungen auszuliefern. Umbertina, die jüngste der drei Schwestern, die etwas später nachkam, da sie allmorgendlich die Tiere im Klostergarten fütterte, ging dann die Straßen Richtung Stadtmitte zur Piazza dei Signori ab und belieferte ihren kleineren Teil der Abonnenten. Dann wurde sie wieder im Kloster gebraucht.
Die große Abendrunde der gesamten Weststadt für die Ausgabe des Gazzettino Veneto machte Margherita allein, denn die meisten ihrer Kunden holten sich die lokale Zeitung, die erst am späten Vormittag ausgeliefert wurde, über den Tag selbst auf der Piazza ab.
Margherita sah durch die Eisblumen, die beide Ladenvitrinen die Ränder entlang einrahmten, hinaus. Die Piazza und die schmale Via Riccati, an deren Ecke das kleine Lokal lag, waren leer, denn es war heute wieder klirrend kalt. Schon nach den Weihnachtsfeiertagen hatte diese ungewöhnliche Kälte eingesetzt, Margherita hatte die ganze letzte Woche mit doppelten Handschuhen und langen Wollstrümpfen unter dem längsten Tweedrock, den sie besaß, die Zeitungen ausgetragen und sich zusätzlich den Hut und den Kutschermantel ihrer Mutter ausgeliehen, so sehr hatte sie gefroren, trotz des raschen Gehens und trotz der sich immer wieder mit ihren Kunden entspinnenden Unterhaltungen über das eine oder das andere Thema, die diese Arbeit für sie so wertvoll machten.
Keine Kundschaft, keine Menschenseele draußen.
Sie nahm die erste Neujahrsausgabe des Corriere della Sera in die Hände und begann die Schlagzeilen und die Artikel zu überfliegen, damit sie sie wenig später ausrufen und mit einigen wenigen Kunden, die Margheritas Meinung zum Tagesgeschehen anhaltend zu interessieren schien, auch diskutieren könnte.
An diesem 1. Januar hatte es der Corriere wahr gemacht, es gab erstmals eine Ausgabe an einem Feiertag.
Am 24. Dezember, Margherita erinnerte sich genau, dem ersten Weihnachten nach einem wiedererlangten, wenn auch teuer bezahlten Frieden, hatte der Chefredakteur getitelt: »Von nun an bringen wir Nachrichten für das siegreiche Königreich Italien an jedem Tag des Jahres, auch an den Feiertagen, beginnend mit dem Neujahrstag 1920.« In der Folge seien auch Feiertagsausgaben am Ostersonntag, zu Ferragosto und am Weihnachtstag geplant.
Heute eröffnete der Chefredakteur mit einem Leitartikel, den er »Interesse e Dovere« betitelte, Anspruch und Pflicht, ein Aufruf zum Zahlen notwendiger Steuern, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen in der »Friedensindustrie«, zum Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten landwirtschaftlichen Betriebe und schließlich zur gesellschaftlichen Emanzipation des »freien und vereinten italienischen Volkes« beitragen würden, nämlich zur Bildung und Gesundheitsvorsorge »für alle« sowie zur sozialen Integration, vornehmlich der Kriegsflüchtlinge, der Kriegsversehrten, der Veteranen und so weiter.
Der Artikel las sich wie ein Regierungsprogramm. Diese erste Feiertagsausgabe des Corriere hatte zwar gerade mal vier Seiten, aber immerhin. Vier Seiten waren besser als das bisher übliche Schweigen. Auf Seite zwei las man Danksagungen für Festtagsspenden, Berichte von den Neujahrsfeierlichkeiten in Rom, London, Berlin, Paris und New York und die Neujahrsansprache des Papstes, die ohne Kürzungen abgedruckt war.
Auf Seite drei stand das Feiertags-Theaterprogramm: die Fenice pausierte, in Venedig schien man arbeiten nicht nötig zu haben, doch die Mailänder Scala gab die Fledermaus, das San Carlo in Neapel die Traviata und das Carlo Felice in Genua gar Beethovens Violinkonzert mit der legendären Maud Powell, die zu Schiff aus Chicago eintreffen würde.
Unglaublich!
Vor dem Krieg hatte die Powell dieses Konzert in New York mit dem damals schon sehr leidenden Gustav Mahler gespielt. Ganz Norditalien, schrieb der Theaterkritiker des Corriere, bereite sich auf einen epochalen Abend vor.
Margherita sah hinaus auf die Piazza, weiterhin war kein Mensch zu sehen, nur Lisetta, die wie üblich vor der Tür des kleinen Lokals auf und ab ging. Sie fror nie, gut gebaut, wie sie war. Margherita konnte also weiterlesen.
In einer doppelspaltigen Vorbesprechung, die kokett mit »Felice anno, Carlo Felice!« betitelt war, bezeichnete der Kritiker Ludwig van Beethovens Werk als »inzwischen weltweit anerkannten Prototyp seiner Gattung«, und das, obwohl das vor mehr als hundert Jahren komponierte Konzert bei seiner Uraufführung katastrophal durchgefallen war. Die miserable Premierenbesprechung wurde zitiert: »Beethovens Concert scheint im Zusammenhang oft ganz zerrissen, seine unendlichen Wiederholungen ermüden.«
War das köstlich!
Beethovens D-Dur-Komposition für Violine war Margheritas liebstes Konzert, noch vor dem viel populäreren von Johannes Brahms. Denn Beethoven war damit, so empfand sie es, ein durch und durch moderner Wurf gelungen.
In der Bibliothek des Ursulinenklosters gab es ein Grammophon und eine kleine Sammlung von Schellackplatten, die die inzwischen schon betagte Oberin, die seit ihrer Jugend Klavier spielte, in den letzten zwei Jahrzehnten angelegt hatte. Wann immer Margherita konnte, legte sie sich eines dieser beiden Violinkonzerte auf, es waren die Einspielungen aus Maud Powells Complete Recordings, die sie in den vergangenen Jahren mit den New Yorker Philharmonikern aufgenommen hatte. Geigenmusik war für Margherita ein Lebenstraum, der ihr für immer verwehrt bleiben würde, denn zum Erlernen eines Instruments hatte sie keine Möglichkeit gehabt. Und sie bekäme auch nie eine. Ihre Mutter hatte Tag und Nacht gearbeitet, um Margherita und ihren beiden Schwestern eine solide Schulausbildung zu ermöglichen. Doch Musik, Literatur oder fremde Sprachen, feine Küche oder gar Haute Couture waren ein Luxus, der für sie unerreichbar war. In ihrem Leben blieben diese Feinheiten ferne Sterne, die sie nie entdecken und nie besitzen würden.
Margherita fuhr innerlich zusammen.
Was dachte sie da an Besitzen?
Sie korrigierte ihren Gedanken aus dem Stand. Es ging im Leben nicht, niemals um Besitzen. Es ging um Entdecken.
Der Artikel erzählte jetzt die Entstehungsgeschichte von Beethovens so herrlich durchgefallenem Premierenkonzert und was das Publium sich von Maud Powells Interpretation versprechen könne. Der Kritiker schien diese erste Geigenvirtuosin Amerikas, die aufgrund ihrer Konzertreisen durch jenen weiten Kontinent in letzter Zeit gesundheitlich schwer angegriffen zu sein schien, schon zum heutigen Abend befragt zu haben, denn sie wurde mit folgenden Worten zitiert:
»Wenn meine Kollegen von diesem Konzert sagen, es sei eher ›gegen Violine‹ als ›für Violine‹ geschrieben, haben sie das falsche Instrument gelernt. Es gibt, neben Brahms’ Werk, keine begeisterndere Lebensaufgabe für uns, und tatsächlich erarbeite ich bei jeder Aufführung jede einzelne Nuance von Neuem. Nach den letzten zwei Geigenstrichen am Ende des dritten Satzes könnte ich am Neujahrsabend mit Freuden sterben.«
Sie könnte mit Freuden sterben?
Das war berührend und beängstigend zugleich.
Margherita glaubte an die Kraft der Gedanken. Sie hatte diese Kraft zu ermessen gelernt, als sie noch ein ganz kleines Mädchen war, der Vater die Familie verlassen und sie ihre Mutter seither verzweifelt, ja ohne jede Zuversicht erlebt hatte. Sie hatte damals erprobt, sich auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren, mehrmals, viele Male am Tag. Sie war mit diesem Gedanken, diesem Wunsch eingeschlafen und erwacht. Einem einfachen, einem erreichbaren Wunsch, keinem Hirngespinst. Und dieser erste Wunsch, der da hieß: »Gott, gib der Mutter die Hoffnung zurück«, war in Erfüllung gegangen. Ihre Mutter hatte die Hoffnung wiedergefunden, auch ohne Mann.
Oder erst recht ohne Mann!
Doch hier, sie las den Satz erneut, sagte die wunderbare Maud Powell, sie könnte am Neujahrsabend nach den letzten zwei Geigenstrichen am Ende des dritten Satzes mit Freuden sterben.
Margherita riss sich zusammen, sie verlor sich da in unsinnigen Vorahnungen. Nicht jeder nahm das gesprochene und geschriebene Wort so ernst wie sie, man musste ja nur zuhören, wie und worüber sich die Menschen unterhielten. Und sie hatte mehr als genug Gelegenheit, den Menschen zuzuhören.
Margherita nahm Worte ernst, weil sie ihre Seele für sie offen hielt. Damit hatte sie als Kind im Gottesdienst begonnen, bei jedem Gebet, bei jeder Fürbitte, bei jedem Lied. Sie hatte es dann beim Erlernen von Lesen und Schreiben beibehalten. Lautes Vorlesen hatte ihr beim Entdecken von Klang und Rhythmus der Sprache geholfen, langsam, Schritt für Schritt, Tag um Tag.
Vielleicht waren ihr deshalb die Stimmen der Menschen so wichtig geworden?
Und ebenso die Harmonien der Musik? Sie zwang sich, die dritte Seite des Corriere zu Ende zu lesen, um die böse Vorahnung, die sich in ihrem Herzen zu Maud Powell einnistete, zu verscheuchen. Doch während sie las, sagte sie sich im Stillen vor: »Gott, lass Maud Powell ihren letzten Satz zurücknehmen.«
Die dritte Seite also, die dritte Seite einer mageren Zeitung, die doch ein neues Jahrzehnt eröffnete: 1920.
Die Ziffern eins und neun und zwei dieser Jahreszahl machten zusammengezählt zwölf, die Ziffern zwei und eins der zwölf machten zusammengezählt drei. Das neue Jahr hatte also die Quersumme drei. Die Oberin würde sagen: »Dreieinigkeit, der perfekte Rhythmus.«
Was würde dieses schöne, walzerrunde Jahr ihnen allen bringen?
Die Vorbesprechung des heutigen Abends im Carlo Felice in Genua, die die ganze Seitenmitte füllte, war rechts und links von zwei ganzspaltigen Werbungen für das neue Modell der Mailänder Isotta-Fraschini-Automobilwerke eingerahmt: »Chassis Tipo 8 1920: 8 cilindri, 60 HP«.
Es war zu lesen, dass der neu entwickelte Achtzylinder-Verbrennungsmotor in Reihe entlang einem Kurbelgehäuse montiert sei, dass das Dreiganggetriebe bis zu 140 Stundenkilometer ermögliche und das Chassis in individuell abgestimmten Farb- und Bezugsvarianten, ja sogar als dekapotables »Cabriolet« bestellbar sei. Die Erstauslieferung wäre im April 1920.
140 Stundenkilometer!
Margherita musste sich bei der reinen Vorstellung dieser Geschwindigkeit am Tresen des Zeitungskiosks festhalten. So schnell fuhr nicht einmal der neue Schnellzug von Venedig nach Mailand. Und das gar ohne Dach. Als ob zehn Rennpferde einer federleichten Calèche vorgespannt wären.
Ihre Mutter würde heute am späten Abend, wenn sie aus der Klosterschneiderei zurück in die Wohnung käme und die Zeitung überflöge, beim Anblick dieser Annonce fragen, ob der menschliche Körper das denn auf Dauer aushalte.
Und Margherita würde antworten: »Bestimmt, Maman, der menschliche Körper kann sogar das Fliegen aushalten! Schau doch die famose Amelia Earhart, die als erste Frau plant, den ganzen Atlantik zu überqueren. Eines Tages, wetten wir, fliegen wir Menschen durch das ganze Universum!«
Margherita sah wieder auf und hinaus auf die Piazza. Lisetta ging weiterhin vor der Tür des kleinen Ladens hin und her, hatte sich jetzt aber eine ihrer »Palette«-Zigaretten angesteckt, die Ettore gestern geliefert hatte. Lisetta hatte die Zigarettenstange wie immer gleich im Kassenschrank versteckt, damit die Mutter sie nicht finden könnte, käme sie irgendwann einmal auf der Piazza vorbei. Was ja doch nie geschah, so viel, wie sie arbeitete. Das erste lackschwarze Schächtelchen dieser Stange hatte Lisetta wie jedes Mal mit einer Hingabe geöffnet, als käme es von einem Pariser Juwelier.
Die Zigarette, die sie aus der vielfarbigen Auswahl gefischt hatte, es gab fuchsiafarbene, senfgelbe, türkisfarbene, purpur- und pinkfarbene, immer mit dem charakteristischen Goldfilter versehen, war heute eine purpurfarbene.
Und das Purpur war wie gemacht für Lisettas hellen Teint und ihr dunkelblondes Haar!
Eigentlich, dachte Margherita, während sie ihr zusah, wie sie den Rauch mit Genuss einsog, um ihn dann in Wölkchen auf den morgensonnigen Platz zu blasen, war ihre große Schwester eine schöne Frau.
Wäre sie nur nicht so korpulent!
Während Lisetta draußen ihre Zigarette rauchte, blätterte Margherita auf die Schlussseite der heutigen Feiertagsausgabe, da ging es in der Rubrik »Corriere parigino«, die regelmäßig die Kulturnachrichten aus der Stadt der Künste abdruckte, um eine dort anscheinend viel diskutierte Ausstellung: In Paul Rosenbergs Pariser Galerie wurden an die vierzig im vergangenen Sommer entstandene Ölbilder des Malerrebellen Pablo Picasso gezeigt. Allerdings, schrieb der Pariser Corriere-Korrespondent, seien die Tableaus statt in Picassos gefeierter abstrakter Collagetechnik zu aller Überraschung in einem neoklassizistisch anmutenden Realismus ausgeführt, man sei »erschlagen von tumben, rundlichen Figuren« in »farbschreienden Kompositionen«.
Margherita stutzte.
Durfte ein Künstler vom Rang eines Picasso nicht im Ausdruck wechseln, wenn er auf der Suche nach neuen Inhalten war?
Die wenigen, doch präzisen Worte der Mäzenin Picassos, einer gewissen Eugenia Errázuriz, die sich bei der Ausstellungseröffnung einem Dialog mit dem Korrespondenten gestellt hatte, beantworteten Margheritas Frage. Sie musste beim Lesen schmunzeln: »Schönheit unterwirft sich keinen Dogmen. Schönheit ist Freiheit.«
Das ließ der Kritiker aber nicht so stehen, vielmehr fragte er abschließend süffisant, ob die in den Pariser Salons und Künstlerzirkeln viel geachtete Madame Errázuriz, zwar eine betuchte Silberminenerbin, aber in Wahrheit doch nur eine chilenische Einwanderin mit patagonischem Indioblut, dies wirklich beurteilen könne.
Wer glaubte dieser Mann zu sein?
Ein solcher Schluss war unverschämt, ja, genau die blinde chauvinistische Polemik, die man zunehmend in den Feuilletons der Zeitungen und in den Reden der Politiker ausmachen konnte.
Wenn man genau las. Und genau zuhörte.
Hoffentlich bekam diese Eugenia Errázuriz, die sicher von Kopf bis Fuß eine Dame war, diesen Artikel nie zu lesen!
Margherita lehnte am Tresen, draußen klirrte der Frost, und der kleine Kohlenofen raunte hilflos gegen die Kälte an, doch ihr war plötzlich heiß vor Wut. Missgunst war für sie noch schwerer zu ertragen als schiere Dummheit.
Schon als sie noch sehr klein war, hatte sie die Mutter im Kloster, in der Schule oder auf der Straße immer gegen herablassende Kommentare verteidigen müssen. Und die waren überall zu hören gewesen. Ihre Mutter war eine von ihrem Mann verlassene Frau, ja sogar eine von ihrem Mann getrennte Frau. Und zu jener Zeit gab man noch allein der Frau die Schuld an allem, was in einer Familie passierte.
Was hieß zu jener Zeit?
War es nicht heute noch genauso?
Trotz des politischen Aufbruchs nach dem Krieg, in dem sich die meisten Monarchien Europas in Demokratien verwandelt hatten, trotz erster Staaten, die das Frauenwahlrecht einführten, trotz der zunehmenden Zahl mutiger Mädchen, die männliche Berufe wagten und Forscherinnen wurden, Ärztinnen, Anwältinnen, Schusterinnen, Gärtnerinnen?
Gar Unternehmerinnen wie Lisetta?
Denn der Alltag hinkte hinter diesen erfreulichen Entwicklungen hinterher. Die gut situierten Kundinnen der Mutter fragten sie noch heute, es sollte wohl scherzhaft klingen, war aber doch verletzend, warum sie den Vater ihrer Kinder nicht »hatte halten können«. Dreiste Handwerker, Kutscher oder Lieferanten, die im Kloster zu tun hatten, würdigten sie noch heute mit derben Avancen herab.
Und erst die vorlauten, weil verwöhnten Schulkinder der »besseren Familien«!
Zum Glück hatten Margherita und ihre Schwestern gut zusammengehalten, obwohl sie nach dem Aufbruch des Vaters und seinem Nicht-mehr-Wiederkehren auf engstem Raum hatten zusammenleben müssen. Im Gesindehaus des Klosters in der Via Orsoline bestand ihre Wohnung aus einem Gang, einer Stube und einer Schlafkammer. Eine Küche gab es nicht, denn das Gesinde, zu dem die Mutter und ihre Töchter jetzt zählten, aß mittags und abends in der Klosterküche. Gefrühstückt wurde nicht, die Mutter wärmte jeden Morgen um halb fünf Uhr früh eine Blechkanne mit Milchkaffee auf dem Kohlenofen, der die ganze kleine Wohnung heizte, dann gingen alle ihrer Wege.
An den Freitagabenden wurde der Gang ihrer Wohnung zum Waschzimmer, in dem die Mutter Margherita und ihre Schwestern in einer Zinnwanne sauber schrubbte und ihnen die Haare mit Kamillenpaste wusch. An allen anderen Tagen ging man in die allgemeine Badstube im Erdgeschoss.
Bevor sie in diese winzige Bleibe hatten ziehen müssen, hatten sie komfortabler gewohnt. Die Mutter hatte hier, auf der Piazza del Convento delle Cappuccine, ein kleines Nähatelier unterhalten, der Vater einen florierenden Zeitungskiosk. Doch dann hatte er die Familie verlassen, und die Mutter musste von einem Tag auf den anderen eine feste Anstellung annehmen. Die hatte sie im Kloster der Ursulinen gefunden, die zwei Zimmer im Gesindehaus, die auf den weiten Gemüsegarten der Klosterschule gingen, waren ihnen zur Heimat geworden. Es war zwar anfangs für die Kinder schrecklich eng gewesen, doch dafür lachten sie miteinander, halfen sich gegenseitig bei den Haus- und Schularbeiten und waren stolz auf die Mutter, die sich allein und ohne jeglichen Rückhalt mit ihnen durchs Leben schlug.
An die Zeit, in der sie noch in den lichten, hohen Räumen des Eckhauses der Piazza mit der Via Riccati, gleich über dem Zeitungslokal lebten, erinnerte sich Margherita kaum. Sie war die mittlere der drei Schwestern, und der Vater hatte sich nach Amerika aufgemacht, als sie vier Jahre alt war. Die Mutter hatte monatelang seine Anweisungen erwartet, wann und wie sie ihm mit den Töchtern nachkommen sollte. Irgendwann war dann ein Brief aus Chicago eingegangen. Mit einem Scheidungsansuchen. Der Vater hatte ihnen nichts hinterlassen außer seiner Kiosklizenz, die für die ganze Weststadt innerhalb der Wehrmauern galt, also von der Piazza dei Signori bis zur Porta Calvi, rund um den Borgo Cavour. Ein mageres Gut, das die Mutter aber ohne Zögern angenommen hatte.
Und diese Lizenz hatte den Kindern Glück gebracht. Alle drei Schwestern verdienten sich, sobald sie in die Mittelschule aufgenommen worden waren und abends bis zur Dämmerung ausgehen durften, ein gutes Taschengeld mit dem Zeitungaustragen. Lisetta machte, bodenständig wie sie war, gleich nach der Mittelschule die Handelsschule und übernahm das Zeitungslokal bald selbstständig.
Man musste sich vorstellen, man schrieb das Jahr 1910!
Frauen waren, außer in der Alten- oder Krankenfürsorge, in öffentlichen Funktionen gänzlich undenkbar, konnten kein Kontokorrent bei einem Bankhaus eröffnen, geschweige denn ohne väterliche oder eheliche Erlaubnis aus der Stadt reisen. Doch die »putee perse«, die »verlorenen Mädchen«, wie man Margherita und ihre Schwestern bald im Städtchen nannte, stellten sich auf ihre eigenen Beine.
Margherita und ihre viereinhalb Jahre jüngere Schwester, die ihren Vater nie kennengelernt hatte, gingen zu den Ursulinen in die Schule. In Anbetracht der heiklen familiären Situation ließ man sie den Unterricht ohne Schulgeld absolvieren. Margherita war gut im Lesen, im Schreiben und in Musik. Und sie war gut im Turnen. Für die Fächer der höheren Töchter, Französisch, Englisch und höhere Mathematik, waren die Schwestern aus dem Gesindehaus nicht zugelassen, dafür hatte Margherita mehr Zeit für die Musik. Sie assistierte der Oberin in der Bibliothek, indem sie ihr beim Klavierspiel die Partituren umblätterte. Bald hatte sie alle Beethoven- und Brahms-Sonaten auswendig gekonnt, ebenso die Walzer und Nocturnes Chopins, der der besondere Liebling der Oberin war.
Umbertina, die Mutter hatte ihre Jüngste nach dem Vater benannt, wohl noch in der Hoffnung, er werde sie alle nach Amerika nachholen, half den Klosterschwestern im Gemüsegarten, bei der Obsternte und mit dem Geflügel und den Bienen. Dafür war sie wie gemacht. Denn sie war zwar ein hübsches Kind, aber »maulfaul«, wie die Mutter gern sagte. Böse Zungen nannten es »Stottern«. Die Klassenkameradinnen hänselten sie mit einem gemeinen Spitznamen: »Balbettina«, statt Umbertina. Die »Stotterin«. Doch mit den Pflanzen konnte sie, genau wie mit den Tieren. Im Klostergarten gab es Hühner, Puten, Gänse und einen Forellenteich. Und eben die Bienen.
Vor den Fenstern ging Lisetta weiter auf dem Platz hin und her und tat ihre letzten Züge, es war gleich acht Uhr, und der kleine Laden würde öffnen, eine Stunde früher als alle anderen Läden um sie herum, denn viele Kunden wollten die Zeitung schon zum Kaffee in der Bar gegenüber lesen oder sie mit in ihre Geschäfte und Kontors nehmen.
Lisetta hatte zwar keinen außerordentlichen Erfolg in der Handelsschule vorzuweisen gehabt, doch einen gesunden Menschenverstand, und war, wenn sie wollte, überraschend eloquent. Eine »bronza coverta«, ein gut gedeckelter Topf, wie man im hiesigen Dialekt sagte. Dabei war sie als Einzige der drei Schwestern behäbig gebaut, genau wie der Vater, und demnach nie gut im Zeitungaustragen gewesen. Da kam sie ins Schwitzen. Dafür konnte sie perfekt im Kiosk sitzen und das Tagesgeschehen kommentieren. Gleich nachdem der Krieg überstanden war, hatte sie die Lizenzen für den Verkauf von Tabakwaren und Limonaden für den Zeitungskiosk dazugekauft. Der kleine Eckladen, den man im Städtchen längst »Le tre sorelle«, die drei Schwestern nannte, war zum Treffpunkt des ganzen Viertels geworden.
Die drei Schwestern trafen ihre Mutter beinahe ausnahmslos bei der Arbeit an, in ihrer Nähstube im Tiefparterre des Klosters. Sie nähte alle Tage, es gab keinen Sonn- oder Feiertag. Dreimal am Tag läuteten die Glocken zur Messe, und die Ursulinenschwestern zogen mit all ihren Schülerinnen und Bediensteten in die immer kühle, duftende Kirche.
Die Mutter, die die Kinder dort öfter sahen als zu Hause, stellte nach jeder Messe die immer gleiche Frage: »Ist Beten nicht herrlich? Besser als Schlafen!«
Denn Schlafen kannte sie kaum. Margherita hatte sie nie in einem Nachthemd gesehen. Sie ging um fünf Uhr früh aus dem Haus und kam erst abends nach dem Neunuhrläuten zurück. Dann setzte sie sich zu ihrem Nebenerwerb an den kleinen Tisch in der Stube, sie machte Änderungs- und Schneiderarbeiten für die Bürgerfrauen, die ihr als Kundinnen treugeblieben waren. Manchmal ging sie zu später Stunde noch zu Anproben aus, manchmal fuhr sogar eine Calèche vor, um sie abholen.
Margherita und ihre Schwestern mussten bei allem, was die Hausarbeit betraf, allein zurechtkommen, und das schafften sie auch gut. Nur das Kochen und das Backen waren ihnen ihre gesamte Jugend über fremd geblieben. Eher hatten Margherita und Umbertina sich Wettbewerbe im Vorlesen geliefert, denn je pointierter man die Schlagzeilen der Morgennachrichten vor den Caféhäusern und Gasthöfen, den Poststationen und Straßenmärkten und natürlich rund um ihren Zeitungsladen auf der Piazza ausrief, je spannender man die Neuigkeiten machte, wenn man Fragen offenließ, deren Antworten man nur in den Leitartikeln des Corriere della Sera oder des Gazzettino Veneto finden konnte, desto mehr Exemplare verkaufte man. Natürlich hatte Umbertina immer verloren, weil sie über alle harten Konsonanten, das R und das S und das T und das C stolperte. Doch sie hatten dabei gelacht.
Ja, mit Umbertina konnte man Tränen lachen!
Und dieses spontane, dieses glucksende Lachen, das ihr eigen war, machte jede ihrer Niederlagen wett.
Jetzt betrat eine Menschenseele den Platz. Der erste Kunde des neuen Jahres 1920 bog aus der schattigen Via Ricatti in die gleißende Morgensonne und blieb kurz stehen. Wahrscheinlich war er geblendet. Er trug einen langen Kaschmirmantel mit Pelzkragen, Schal und Melone und stand einen Augenblick bewegungslos, das Gesicht zum Himmel gerichtet.
Ja, natürlich, das war die schmale, hochgewachsene Gestalt des jungen Grafen Revedin, Margheritas liebsten Klienten am Borgo Cavour. Er verwickelte sie fast täglich in lange Diskussionen um das Tagesgeschehen, und sie fragte sich seit Jahren, warum ein so hochwohlgeborener Herr sich mit jemandem wie ihr abgab, einem Kind aus dem Volk.
Wohl war er nach dem Tod all seiner Familienangehörigen in den vergangenen Kriegsjahren sehr allein?
Doch was machte ein Herr wie er, der in seinem Palais außer einer Tante, die ihn ab und an aus Turin besuchen kam, zwar keine Familie, jedoch eine Schar von Hausbediensteten hatte, schon so frühmorgens auf der Straße?
Und das an einem Feiertag?
Er stand auf der Piazza wie vom Himmel gefallen, und Margherita wurde es warm ums Herz. Mit keinem Menschen in der ganzen Stadt konnte man so gepflegt über die Rubriken in den Zeitungen diskutieren, die sie von jeher am meisten interessierten: Das waren die Weltpolitik und die Kulturnachrichten.
Und von keinem konnte man so viel zu den liberalen Strömungen erfahren, denen sich die herrschenden Schichten außerhalb Italiens schon in der zweiten Generation öffneten. Die Revedins, und dafür bewunderte Margherita diese Familie seit je, wurden im Städtchen Treviso zwar wortlos respektiert, aber vielerorts auch gefürchtet oder gar gehasst. Der Vater des jungen Grafen, der Conte Ruggero, hatte nämlich schon als junger Großgrundbesitzer eine aufgeklärte Gleichberechtigung seiner Arbeiter verteidigt. Solch demokratische Ideen hatten in Deutschland oder Finnland seit dem Krieg zu neuen Staatsformen geführt. In Italien, das ja fest in seiner tausendjährigen kirchlichen Regentschaft verankert war, waren sie aber bis heute, trotz der neuerlich aufkommenden »roten« Bewegungen, unvorstellbar.
Als einzige Großgrundbesitzer der ganzen Region hatten die Revedins schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Agrarreform umgesetzt und Gesindehäuser gebaut, in denen die Landarbeiter, ihre Kinder und Alten besser untergebracht waren als irgendwo anders. Sie besaßen eine neue bauliche Form, die Luft an alle Fassaden ließ und die die ganze Landschaft rund um Treviso, von Castelfranco bis Cessalto prägte.
In den Jahren vor dem Krieg hatte Margherita zunehmend böse Leserbriefe zu den »gesunden Lebensbedingungen«, die der Conte Ruggero ermöglicht hatte, im Gazzetino Veneto entdeckt. Sie hatte sie dem jungen Grafen regelmäßig gezeigt, und der hatte laut lachen müssen, wenn seine Landarbeiterhäuser »Nester des Kommunismus« genannt wurden oder »Sündenpfuhl gefährlich korrosiver Kräfte«.
Während des Kriegs waren diese Kommentare dann verstummt, spätestens seit die Schützengräben der Front genau durch den Großgrundbesitz der Revedins liefen.
In den Zeiten vor dem Krieg hatte der junge Graf aus jedem Morgen, den Margherita den Corriere in den Innenhof des Palais am Borgo Cavour lieferte, ein kleines Fest gemacht. Sie traf ihn an, wie er sein Automobil bestieg, um auf seine Ländereien um Oderzo und Piavon, Gorgo al Monticano und Motta di Livenza zu fahren, und er lud sie, die ja schon gute zwei Stunden in aller Frühe und bei jedem Wetter in der Stadt unterwegs war, je nach Jahreszeit zu einem Milchkaffee, einer heißen Schokolade oder einem Glas kühlem Obstsaft ein. Jacques, der Chauffeur, zauberte diese Aufmerksamkeiten in Windeseile aus der Gesindeküche im Erdgeschoss in den lichten Innenhof.
Jeden Morgen hatte er sie nach dem Befinden ihrer Schwestern und ihrer Mutter gefragt, und beim Abschied hatten sich seine Züge für einen Augenblick entspannt. Ein Lächeln hatte sich auf seine schmalen Lippen gezaubert, ein hingehauchtes Lächeln, das unendlich fern war und unendlich weich und das Margherita durch den ganzen Tag trug.
Oft hatte er sie in den vergangenen Kriegsjahren, als das Palais Revedin der Sitz der Cadorna-Kriegskommandatur geworden war, sogar zum Kaffee in die Wohnräume in der Beletage gebeten, um dem Innenhof zu entkommen, den Offiziere und Adjutanten im Laufschritt kreuzten und in dem eine ständige Unruhe herrschte.
Doch sie hatte immer abgelehnt.
Was, wenn sie dort oben seinen Vater, den Conte Ruggero, den landesweit bekannten Großindustriellen angetroffen hätten? Oder gar seinen jüngeren Bruder, den glorreichen Kavallerieoffizier, über dessen mutige Frontangriffe man in der ganzen Region sprach?
»Keine Angst, nur ich bin zu Hause«, hatte er immer entwaffnend bescheiden gesagt. Er, der Erstgeborene, hatte sich für die Verwaltung der Ländereien zuständig erklärt, während der Vater und der Bruder in Mailand, Rom oder Turin unterwegs waren und »die Welt verteidigten«, wie er zu sagen pflegte. In Wahrheit hatte er sich aber schon in den allerersten Kriegsmonaten auf seine ganz eigene Weise für die Frontkommandantur unersetzlich gemacht, indem er auf eigene Kosten und mit eigener Photographieausrüstung das Kriegsgeschehen entlang den Schützengräben im Triestiner Karst, dann am Isonzo und am Piave minutiös dokumentierte.
In seinen Tagen und Nächten an vorderster Front musste er einen unbezahlbaren Schatz an Archivmaterial geschaffen haben, doch er sprach nie darüber.
Margherita war es in den langen Kriegsjahren jeden Tag, den sie ihn im Borgo Cavour angetroffen hatte, erschienen, als würde er sich am liebsten in seinen eigenen vier Wänden unsichtbar machen.
Er begrüßte Margheritas große Schwester draußen auf der Piazza mit angedeutetem Handkuss, wie er das immer tat, wenn er hier im Städtchen erschien, und sie tauschten ein paar Worte aus. Die weißen Wölkchen, die der Atem der beiden verursachte, blieben beinahe wie Säulen über ihnen in der Luft stehen.
Jetzt wandte er sich zur Ladentür, die sich mit dem Ding-Dong der Kundenglocke ins Innere des kleinen Verkaufsraums öffnete. Während er sich seine cognacfarbenen Ziegenlederhandschuhe abstreifte, rollte Margherita schon den obersten Corriere auf dem Zeitungsstapel zusammen und reichte ihn über den Tresen.
»Buon anno!«, nahm er ihr zwar die Zeitung ab, wechselte sie aber in die Linke und nahm ihre Hand zum Handkuss.
Das war neu!
Margherita war hier nicht die Chefin, die ein Herr wie er mit Handkuss begrüßen konnte, sondern nur die kleine zuarbeitende Schwester. Sie würde dieses Frühjahr fünfundzwanzig und hatte zwar einen Schulabschluss, doch sonst nichts, aber auch gar nichts im Leben vorzuweisen. Keinen Beruf, keinen Mann, nicht einmal einen Verehrer.
Noch nie in all den Jahren, die sie jetzt für Lisetta die Zeitungen austrug, hatte der junge Graf ihr die Hand gegeben, geschweige denn ihre Hand geküsst. Nicht hier im Zeitungskiosk und erst recht nicht vor oder nach ihren langen Diskussionen im Palais Revedin am Borgo Cavour. Immer waren sie sich außerhalb aller gesellschaftlichen Normen begegnet, wie zwei, die sich etwas zu sagen hatten, doch den Rahmen ignorierten, in dem sich dieses Sich-etwas-zu-sagen-Haben zutrug.
Vielleicht aber, das war wahr, war aus ihrer kleinen Geschichte über die Kriegsjahre etwas mehr geworden, denn Margherita hatte geradezu körperlich spüren können, wie sehr ihn das Leid an der Front und die Verluste in seiner Familie mitgenommen hatten.
Vielleicht war aus dem Sich-etwas-zu-sagen-Haben wortlos ein Sich-etwas-Bedeuten geworden?
»Buon anno, buon decennio, panterina«, wiederholte er, indem er sich wieder aufrichtete.
»Kleine Pantherin«, ja, diese Bezeichnung war Margherita vertraut, seit sie ihm das allererste Mal im Hof seines Palais begegnet war. Sie mochte damals zwölf Jahre alt gewesen sein. Bei jener ersten Begegnung hatte er sich vor sie hingestellt, ganz gerade, wie vor eine Erwachsene, die Hände gefaltet und ihr kurz direkt in die Augen gesehen.
»Der neue Zeitungsbote?«, hatte er gespielt überrascht gefragt. Margherita hatte sich nicht zu antworten getraut und stumm genickt.
»Hat smaragdgrüne Augen und einen Pantherschopf?«
Auch das stimmte. Nur Margherita hatte von ihrem Vater das kohlrabenschwarze, dichte Haar und die meergrünen Augen geerbt, ihre Schwestern sahen aus wie ihre Mutter und alle anderen venezianischen Mädchen, sie hatten dunkelblondes bis kastanienrotes Haar und rehbraune oder himmelblaue Augen. Seine warme Stimme hatte Margherita damals unmittelbar an die ihrer Mutter erinnert. Er musste genauso wenig sprechen wie sie und jedes Wort bedachtsam abwägen. Er war ihr sofort vertraut gewesen.
»Buon anno, Signor Conte«, wünschte sie ihm jetzt ebenfalls ein gutes neues Jahr.
»Ein glückliches Jahr vielleicht, bei diesem herrlichen Morgen? Wie Joseph Conrad seinen jungen Marlow in Youth sagen lässt: ›It was January, and the weather was beautiful!‹ Sie haben, belesen wie Sie sind, diesen wunderbaren Autor sicher schon entdeckt?«
»O ja! Es war ein Januarmorgen, und das Wetter war prachtvoll …«, bestätigte Margherita.
Sie hatte Conrads Erzählung, die noch nicht ins Italienische übersetzt war, im englischen Original mit Umbertina entschlüsselt, indem sie gemeinsam Satz für Satz mithilfe des Wörterbuchs übersetzt hatten. Eine mühsame Arbeit, doch sie erinnerten sich so auswendig an beinahe jede Passage.
Der junge Graf knöpfte seinen Mantel um zwei Knöpfe auf, fischte zwei Münzen aus der Jackentasche und legte sie präzise nebeneinander auf den Ladentisch.
»Ich hätte da ein Anliegen«, machte er sich in den Schultern gerade, weiterhin ohne Margherita anzusehen.
»Es ist nur die schmale Feiertagsausgabe, das tut mir leid«, versuchte sie beflissen einer möglichen Reklamation vorzubeugen.
»Besser als nichts, nicht wahr, für einen einsamen Morgen?«
»Die Contessa Bianca ist nicht …?«, fragte Margherita erstaunt. Seine Turiner Tante, das wusste sie, las, wenn sie in Treviso zu Gast war, die Zeitungen mit der gleichen Passion wie ihr Neffe.
»Ist gestern Nachmittag nach Genua ausgeflogen.«
Margherita antwortete nichts, die Familienangelegenheiten der Grafen Revedin hatte sie nicht zu kommentieren.
»Und deshalb, wie ich sagte, hätte ich ein Anliegen.«
»Ja bitte, Signor Conte?«
»Würden Sie mir die Freude machen, gegen Abend im Borgo Cavour vorbeizukommen?«
»Wir haben keine Abendausgabe heute, verzeihen Sie. Der Gazzetino macht entgegen dem Corriere heute noch Feiertag.«
»Ich weiß ja, ich meinte vielmehr auf … eine Tasse Tee?«
»Eine Tasse Tee?«, entfuhr es Margherita sicherlich ungeschickt. Tee tranken im Kloster nur die Kranken.
Er schmunzelte, anscheinend fand er Tee ebenso langweilig.
»Einen Wermut dann vielleicht? Oder am besten ein Gläschen von unserem Cabernet Franc? Die erste Ernte nach dem Krieg. Sie fiel aus wie dieser Corriere«, brachte er die Zeitung in der ausgestreckten Rechten in Stellung wie ein Florett, »eher schmal.«
»Nun«, musste Margherita unvermittelt lächeln und sah ihn kurz direkt an. Er hatte nicht nur die warme Stimme, sondern auch die traurigen Augen ihrer Mutter.
»Gegen fünf?«
Margherita erzählte zu Hause nichts. Sie zog sich auch nicht um. Wahrscheinlich ging es um die Auslieferungszeit. Bisher hatte sie ihre Runde immer um die Piazza herum, dann die Via Ricatti hinauf und links durch den Borgo Cavour bis zur Porta Santi Quaranta begonnen, sie war also immer gegen halb neun Uhr früh im Palais Revedin.
Vielleicht wollte der Graf in Zukunft früher von zu Hause aufbrechen und brauchte den Corriere entsprechend zeitiger geliefert? Oder es ging um die Abendausgabe des Gazzettino?
Sie würde ja sehen.
Es war schon dunkel, als sie gegen fünf den Klosterhof kreuzte. Umbertina kam gerade aus dem Gewächshaus, wo sie über den Winter die Küchenkräuter und die Blumen für den Altar zog. Zum Glück fragte sie nicht, wohin Margherita ginge, sondern erinnerte sie nur daran, sie solle pünktlich zum Abendessen zurück sein. Der Neujahrstag war der Geburtstag der Oberin, und erstmals nach den langen, mageren Kriegsjahren, in denen man im Kloster die Versehrten von der nahen Piave-Front mitversorgt hatte, würde man ihn wieder mit dem traditionellen Fischessen feiern können.
»Um acht, verlässlich, bellezza«, warf Margherita ihr quer über den Hof zwei Handküsse zu.
Umbertina nahm sich selbst nie ernst genug, was sie unendlich sympathisch machte, was aber auch dazu führen könnte, dass sie ihr restliches Leben in den Mauern dieses Klosters zubringen würde. Sie war jetzt zwanzig und hatte ihren Sprachfehler nicht korrigiert. Sie schwieg lieber, als die harten Konsonanten konsequent zu trainieren.
Margherita nahm sich, wie sie aus dem Klosterportal in die Via Orsoline einbog, vor, das in diesem neuen Jahr zu ändern. Es müsste sich doch im Städtchen Treviso jemand finden lassen, der genau wie die Grafen Revedin mit dem in Mailand und Turin typischen Akzent sprach, in dem man die Konsonanten nicht verschluckte oder verschliff, sondern feierlich inszenierte?
Oder gar ein von Natur aus gut prononzierender Franzose, wie die Angestellten in ihrem Palais?
Sie müsste für Umbertina einen Lehrmeister finden, der des Französischen oder auch des Deutschen mächtig war, Sprachen, die die Konsonanten von Haus aus gut artikulierten.
Ab der Kreuzung mit der Via Ricatti ging sie den Borgo Cavour die linken Häuserfront entlang, unter den Arkaden, aus deren Geschäften und Lagerräumen noch etwas Licht aufs Trottoir fiel. Es war zwar kein Krieg mehr, und auch die Spanische Grippe war endlich überwunden, doch die Straßenbeleuchtung war noch genauso durchlöchert wie die Dörfer und Felder hin zum Piave-Fluss, an dem die Frontlinie gegen die Österreicher verlaufen war.
Wie sie gehungert und gefroren hatten über diese vergangenen fünf Winter!
Margherita schaute am Kutschermantel ihrer Mutter hinunter. Sie war nie füllig gewesen wie Lisetta, doch jetzt konnte man sie trotz ihrer Jugend abgemagert nennen. Ja, bis zum Gürtel des Mantels war da nichts, kein Bauch, kaum ein Busen. Und so konkav nach innen gewölbt sahen alle Schwestern und Gesindefrauen des Klosters aus.
Das neue Jahr 1920 müsste endlich ein gutes Jahr werden!
Nach dem fatalen Einbruch der Front von Caporetto, genauer gesagt dem 27. Oktober 1917 – Margherita erinnerte sich an die Titelseite des Corriere, als wäre es die von heute gewesen –, hatte der königliche Generalkommandant Luigi Cadorna gemeinsam mit dem damaligen königlichen Premierminister Orlando das gesamte Piave-Gebiet zum Kriegsgebiet erklärt und alle männlichen Bewohner zwischen fünfzehn und sechzig Jahren zum »Endeinsatz« eingezogen. Dieser »Bando Cadorna« war zum geflügelten Wort für ein zynisches Abschlachten von Unterernährten, Unausgebildeten und Krüppeln geworden. Darüber hinaus zum Synonym für eine breit angelegte Täuschung der Bevölkerung: Man begann den Kindern in der Schule zu erzählen, wenn die Österreicher und die Deutschen kämen, schlügen sie ihnen die Hände und die Füße ab.
Glücklicherweise hatte Margherita mit der Mutter und den Schwestern zumindest tageweise, wenn die Stadt bombardiert wurde, aufs Land nach Dosson fliehen können, wo sie bei Margheritas Malerfreund Ettore Tito und seiner Mutter Unterschlupf gefunden hatten.
Sie ging die Arkaden des Borgo Cavour bis zur Kreuzung mit der Via San Liberale, dann den Vorgarten der Kirche von Sant’Agnese entlang. Die Hofeinfahrt und die Beletage des Palais Revedin waren hell erleuchtet, und im Toreingang erwartete sie Jacques.
»Buona sera, Signorina«, sagte er in seinem gebrochenen Italienisch – und mit seinen herrlich kadenzierten Rs.
Jacques kannte Margherita, seit sie die Zeitungen austrug, also seit einem Dutzend Jahren. Er war, blutjung aus Paris hierher in die Provinz verschleppt, ursprünglich der Kutscher der Contessa Maria, der Mutter der zwei jungen Grafen Revedin, gewesen. Leider war diese, eine leidenschaftliche Dressurreiterin, schon in den ersten Jahren des Jahrhunderts während einer Fuchsjagd ihrer Cousins Visconti im lomellinischen Schloss Sartirana beim Sprung über den letzten Wassergraben der Jagdstrecke gestürzt und noch vor Ort ihren Verletzungen erlegen. Die gesamte Aristokratie Norditaliens war damals zu ihrem Begräbnis nach Treviso gekommen.
»Jacques, wohin?«, entgegnete Margherita betont trocken, sie wollte auf keinen Fall wie offizieller Besuch wirken.
»Nach mir«, schmunzelte Jacques. Er war gut zehn Jahre älter als sie, hatte sie aber seit dem ersten Tag, an dem sie die Zeitungen ins Palais geliefert hatte, immer empfangen wie eine gute Bekannte, nicht wie eine Lieferantin.