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Das Markusevangelium bietet eine Geschichte, die auf zwei Ebenen angesiedelt ist. Zum einen hören wir hier das "Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes", zum anderen handelt der Text vom Jüdischen Krieg, der im Jahr 70 mit der Zerstörung Jerusalems endete, und von den Fragen, mit denen sich die christliche Verkündigung nun konfrontiert sah: Wie war es möglich, dass diese Katastrophe hatte geschehen können – der Evangeliumsbotschaft vom Heilswirken Jesu und von der Nähe des Gottesreiches zum Trotz? Und wie ließ sich Jesus, der auferstandene Messias, so verkünden, dass die ganz und gar unerlöste Wirklichkeit die Worte nicht Lügen strafte? Markus geht einen Weg, den vor ihm vermutlich noch niemand beschritten hat: Er erzählt die Geschichte Jesu als die Geschichte eines gescheiterten Messias. [The Failed Messiah] The Gospel of Mark tells a two-level story. While presenting explicitly "the gospel of Jesus Christ, the son of God", Mark also deals with the Jewish war, which ended in 70 c.e. with the destruction of Jerusalem, and with the questions it posed for the followers of Jesus: How could this happen – in spite of the Good News about the salvation brought by Jesus and about the imminent arrival of the reign of God? And how to proclaim the message of Jesus, the Messiah raised from the dead, without being gainsaid by a utterly non-messianic reality? Faced by these questions, Mark takes a path which has been taken, probably, never before: He tells the story of Jesus as the story of a failed Messiah.
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Seitenzahl: 677
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ARBEITEN ZUR BIBEL UND IHRER UMWELT (ABU)
Herausgegeben von dem Verein Lehrhaus e. V.
Band 5
Andreas Bedenbender
DER GESCHEITERTEMESSIAS
Andreas Bedenbender, Dr. theol., Jahrgang 1964, studierte in Göttingen, Heidelberg, Jerusalem, Berlin und Tübingen. Langjährige Tätigkeit am Institut Kirche und Judentum in Berlin. Seit 1992 Redaktionsmitglied der exegetischen Zeitschrift »Texte & Kontexte«. Seit 2001 Mitglied des Enoch Seminar. Seit 2010 ist er Pfarrer im Entsendungsdienst der Evangelischen Kirche von Westfalen.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Cover: Zacharias Bähring, Leipzig
Bildnachweise: S. VII: Rückseite einer römischen Bronzemünze, Lugdunum, 77/78 n.Chr. (ANS 1954.203.168. American Numismatic Society), S. 281: Paul Klee, Angelus Novus (Original in der Sammlung des Israel-Museums, Jerusalem, Inventarnummer: B87.0994) Bildbearbeitungen: Regine Petersen
Satz: Andreas Bedenbender mit TUSTEP
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-374-06083-2
www.eva-leipzig.de
Dedicated to the members of the Enoch Seminar and to its founder, Gabriele Boccaccini
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Einführung
Kapitel 1.Verhängnisvolles Gottvertrauen. Das »Scherflein der Witwe« im Kontext von Mk 10,46–13,2
1.1.Einleitung
1.2.Auf einmal ist alles anders. Jesus als »Sohn Davids« in Mk 10,46–52
1.2.1.Ein erster Überblick über die Perikope
1.2.2.Mk 10,46 als Einschnitt im Text, oder: Jesus auf den Spuren Elias
1.2.3.Bartimaios
a)Die Begegnung mit Bartimaios als Wendepunkt auf dem Weg Jesu
b)»Nazarener« als messianisches Signalwort im Neuen Testament; Nazareth
c)»der Sohn des Timaios, Bartimaios«
d)Der Mantel des Propheten
e)Zusatz: Die Hoffnung auf das Davidsreich in den frühen (juden)christlichen Gemeinden
1.3.Zur kompositorischen Sonderstellung von Mk 11–12
1.3.1.Die Bedeutung der Bartimaiosepisode für den Fortgang der Handlung
1.3.2.Fragmentarisches, hypothetisches und kontrafaktisches Erzählen in der jüdischen Bibel und in der frühjüdischen Literatur
1.3.3.Plädoyer für eine kohärente Lektüre des Markusevangeliums
1.4.Jesus, das Volk und der Tempel
1.4.1.Die Störung des Geschäftsbetriebs im Heiligtum (Mk 11,11.15–19)
1.4.2.Exkurs zum Ausdruck »Tempelreinigung«
1.4.3.Was wollte der markinische Jesus mit seinem gewalttätigen Auftreten im Tempel bewirken?
a)Wurde das jüdische Volk in den Jahrzehnten vor der Tempelzerstörung durch die Wechsler und die Verkäufer im Bezirk des Heiligtums »beraubt«?
b)Die Ursache für den Zorn des markinischen Jesus: die Beobachtung von Geldgeschäften
c)Der Tempel als Festung der zelotischen »Räuber«
d)Zusatz: »Jesus’ Action in Herod’s Temple« – die Deutung von A. Yarbro Collins
1.4.4.Die ambivalente Rolle des Volkes; seine messianischen Erwartungen
1.4.5.Der Jerusalemer Tempel als Ort religiöser Manipulation
a)Exkurs: die Rolle der im damaligen Judentum und im Evangelium nach Markus
b)Die Warnung vor den (Mk 12,38–40)
c)»Du bist nicht fern vom Königreich Gottes« (Mk 12,28–34)
1.5.Die Peripetie: Die Schriftkundigen, die Witwe und der Tempel (Mk 12,38–13,2)
1.5.1.Die Tat der Witwe
1.5.2.»Gotteskasten« oder »Schatzkammer«?
1.5.3.Das dem Tempel geopferte Leben
1.5.4.Die Reaktion Jesu
1.5.5.Jer 7 als Vorlage für die Tempelkritik des Markusevangeliums
1.5.6.Einwände
a)Joel Marcus
b)Markus Lau
1.5.7.Vergleichstexte
a)Lukas und Matthäus im synoptischen Vergleich mit Markus
b)Eine rabbinische Parallele: Die Synagogen von Lod und das Lehrhaus von Tiberias
c)Die Peripetie im Bellum Judaicum
d)Das Elend der Bevölkerung während der Belagerung Jerusalems in der rabbinischen Literatur: Martha bat Boëthos
1.6.Fazit: Der Messias, der an der Tempelfrömmigkeit und der messianischen Hoffnung des Volkes scheiterte
Kapitel 2.Jesus und der Feigenbaum. Von drei widerspenstigen Fragmenten im Markusevangelium, die einfach nicht zusammenpassen wollen (Mk 11,12–14.22–25; 13,28f.)
2.1.Einleitung
2.2.Ein historischer Kern?
2.3.Zur Einordnung des Satzes »es war ja schließlich auch nicht die Zeit der Feigen« (Mk 11,13d)
2.3.1.Zur Annahme, daß die Suche Jesu auf einer botanischen Fehleinschätzung beruhte
2.3.2.Zur Annahme, daß die Begebenheit mit dem Feigenbaum vom Evangelisten umdatiert wurde
2.3.3.Zur Annahme, daß Mk 11,13d eine nachmarkinische Glosse ist
2.3.4.Zur Annahme, daß der Feigenbaum zur fraglichen Zeit sehr wohl eßbare Früchte hätte tragen können
2.3.5.Zur Annahme, daß die Feigenbaumgeschichte im Überlieferungsprozeß zu einer zeichenprophetischen Handlung umgedeutet wurde
2.3.6.Zur Annahme, daß die Suche Jesu auf einer heilsgeschichtlichen Fehleinschätzung beruhte
2.4.Zur Handlungslogik von Mk 10,46–12,37
2.5.Die kompositorische Rolle des ersten Teils der Feigenbaumgeschichte
2.6.Zum Sinn des Ausdrucks im Markusevangelium
2.7.Die Bedeutung der im Markusevangelium
2.7.1. als eschatologisches Signalwort im Markusevangelium
2.7.2.Mk 14,51 f. als Sinnbild für die Autonomie des messianischen im Markusevangelium
2.8.Zusatz: Das Motiv der »Früchte zur Unzeit« in zwei jüdischen Geschichten
2.8.1.Die rabbinische Geschichte von R. Josse von Joqrat und seinem Sohn
2.8.2. Die Feigen zur Unzeit als Zeichen der Erlösung Israels in den Paraleipomena JeremiouZusatz: Der »Weinberg des Agrippa«, das rabbinische »Lehrhaus von Javne« und das »Galiläa« des Markusevangeliums
2.9.Zwei Argumente gegen die Deutung von V. 13 als Fluchwort
2.9.1.Die Aufforderung, einander zu vergeben (V. 25)
2.9.2. Die Anrede »Rabbi« (V. 21)
2.10.Ein Indiz für die Existenz einer vormarkinischen Fassung der Geschichte: die Wortform (V. 14)
2.11.Die Antwort Jesu (V. 22b–25)
2.11.1.Der (Tempel-)Berg und das Meer (V. 23)
2.11.2.Das Gebet zu Gott und die Bereitschaft, anderen zu vergeben (V. 24f.)
2.12.Zwischenfazit
2.13.»Von dem Feigenbaum lernt ein Rätselgleichnis« (Mk 13,28)
2.13.1.Erläuterungen zur Endzeitrede Jesu (Mk 13)
a)Übersetzung des Textes
b)Die sinnvolle Widersprüchlichkeit der Endzeitrede
2.13.2.Das Rätselgleichnis vom Feigenbaum (V. 28f.)
a)Zur Annahme, daß es in V. 29 um den Feigenbaum aus Mk 11 geht
b)Zur Annahme, daß es in V. 29 um den »Feigenbaum Israel« geht
2.14.Zusatz: Einige Hinweise zur frühen Rezeptionsgeschichte der Feigenbaumpassagen des Markusevangeliums
2.14.1.Die glättende Überarbeitung im Matthäusevangelium
a)Mt 21,18–22 par. Mk 11,12–14.20–24
b)Mt 24,32f. par. Mk 13,28f.
2.14.2.Die explizierende Ausgestaltung des Gleichnisses vom Feigenbaum in der Offenbarung des Petrus
2.14.3.Die heilsgeschichtliche Interpretation von Mt 21,19 (par. Mk 11,14) durch den Kirchenvater Hieronymus
2.14.4.Die Verarbeitung eines Zentralgedankens der Feigenbaumgeschichte des Markusevangeliums in der Geschichte vom Oberzöllner Zachäus (Lk 19,1–10)
2.15.Jesus und der Feigenbaum
Kapitel 3.Das zerstörte Gefäß. Die Salbung von Bethanien (Mk 14,3–9)
3.1.Die Salbung von Bethanien in ihrem engeren Kontext: Mk 14,1–11
3.2.Die »Zerstörung« des Alabastron (V. 3) und die »Vernichtung« des Öls (V. 4)
3.2.1.Vorbemerkung zur Übersetzung von V. 3: Warum »Alabastron«?
3.2.2.Die Zerstörung des Alabastron
a)Das Zerbrechen des Gefäßes war vermutlich unüblich und überflüssig
b)Das Zerbrechen des Gefäßes hätte vom Evangelisten nicht erwähnt werden müssen
c)Zur Übersetzung: »sie zerstörte« oder »sie zerbrach«?
3.2.3.Ein Hinweis auf den Tod Jesu?
3.2.4.Das Zerstören eines Gefäßes in der biblisch-frühjüdischen Tradition
3.2.5.Die des Öls
3.2.6.Der Sinn der Rede vom
3.3.Die Frau: eine Zeichenprophetin, die die Züge Zions trägt
3.4.Die Salbung
3.4.1.Eine messianische Salbung
3.4.2.Das Hoheslied und Brautmetaphorik
a)Öl und Narde im Hohenlied
b)Die biblische Metaphorik von Braut und Bräutigam im Zusammenhang mit Jerusalem
c)Jesus als Bräutigam in den kanonischen Evangelien
d)Die Rede von »Braut und Bräutigam« in den Gerichtsankündigungen und den Heilsverheißungen der Bibel
e)Das »echte« Nardenöl – ein Zeichen für die Treue und das Vertrauen Zions?
3.5.Die an der Frau geübte Kritik
3.5.1.Die Kritiker erkennen Zion nicht
3.5.2.Der tiefere Sinn der Kritik
a)Die »Vernichtung« (V. 4)
b)»Dies Salböl hätte verkauft werden können (…) und (der Erlös) den Armen gegeben werden« (V. 5)
3.6.Die Reaktion Jesu
3.6.1.»Sie hat es vorweggenommen, meinen Leib zu salben zum Begräbnis« (V. 8)
3.6.2.»Wo immer das Evangelium in der ganzen Welt verkündet wird, wird auch gesagt werden, was diese getan hat« (V. 9)
3.6.3.»Zu ihrem Gedächtnis« (V. 9)
a)Vorüberlegungen zur Frage, aus welchem Grund in der Zielgruppe des Markusevangeliums von Zions Liebestat die Rede sein soll
b)Ein Gedenken Gottes
3.6.4.»Arme habt ihr allezeit und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun. Mich aber habt ihr nicht allezeit« (V. 7)
3.6.5.»An mir hat sie ein gutes Werk getan« (V. 6)
3.7.»Als er in Bethanien war, im Hause Simons des Aussätzigen, (darnieder)liegend« (V. 3)
3.7.1.Das Haus des Aussätzigen
3.7.2.Das Darniederliegen
3.7.3.Das Haus Simons
3.7.4.Bethanien
3.8.Zum Ende
Kapitel 4.Am Ende kommt alles noch einmal zusammen. Die Frauen in Sichtweite des Kreuzes und am Grab Jesu (Mk 15,40f.; 15,47–16,8)
4.1.Die Frauen am Kreuz und am Grab. Eine Übersicht über die vier kanonischen Evangelien
4.2.Die Frauen in Sichtweite des Kreuzes und am Grab Jesu im Markusevangelium
4.2.1.Die Maria des kleinen Jakobus und des Joses Mutter
4.2.2.Salome
4.2.3.Maria Magdalena
a)Das Massaker von Magdala/Tarichea im Jahr 67 n.Chr.
b)Die Bedeutung des Massakers von Magdala/Tarichea für das Markusevangelium
Kapitel 5.Das vom Krieg verstörte Evangelium nach Markus
5.1.Die Aporie des Markusevangeliums
5.2.Unausgesprochen beim Namen genannt. Verdeckte Spuren des Jüdischen Krieges im Markusevangelium
5.2.1.Von Cäsarea Philippi nach Jerusalem – Jesus und Vespasian
5.2.2.Das Massaker von Tarichea
a)Sturmstillung und Seewandel
b)Die Blindenheilung von Bethsaida
c)Maria Magdalena
5.2.3.Jerusalem
a)Die Kreuzigung zwischen zwei »Räubern« (Mk 15,27); das Zerreißen des Tempelvorhangs (Mk 15,38); Salome (Mk 15,40; 16,1)
b)Das Zerbrechen der Tempelsteine (Mk 13,2); das »Greuelbild der Verwüstung« (Mk 13,14)
5.3.Die Ursachen der Katastrophe
5.3.1.Der Tempel als »Räuberhöhle« (Mk 11,17); das Scherflein der Witwe (Mk 12,41–44)
5.3.2.Zusatz: Das »kommende Königreich unseres Vaters David« (Mk 11,1–10)
5.4.Ein solidarisch mitleidender Messias
5.4.1.Das Zerbrechen des Salbgefäßes (Mk 14,3)
5.4.2.Barabbas (Mk 15,7)
5.5.Wo der Messias an seine Grenzen stößt
5.5.1.Die Masse der Geplagten
5.5.2.Die Jünger
5.5.3.Der Tempel
5.5.4.Das Volk und der des Gottesreiches
5.5.5.Ein segensreiches Geschehen entwickelt sich, ohne von Jesus gesteuert oder auch nur verstanden zu werden
5.6.Markus – ein Zeuge ohne Botschaft
Kapitel 6.Ausblick: Ja und Nein. Das Matthäusevangelium als Gegenerzählung zur markinischen »Frohen Botschaft am Abgrund«
6.1.Der Jüdische Krieg
6.1.1.Die Enttabuisierung der Zerstörung Jerusalems und ihre Deutung als Strafgericht Gottes: der Kauf des Töpferackers (Mt 27,3–10)
a)Vom Prophetenmord zum Blutacker
b)»Sein Blut über uns und unsere Kinder!« (Mt 27,25)
c)Die Anknüpfung an Jeremia: Töpferkrug und Ackerkauf
d)Der Blutacker als Begräbnisplatz für Fremde (Mt 27,7)
e)Zusatz: Matthäus und Rabbi Akiva
6.1.2.(Jesus) Barabbas (Mk 15,5–15 par. Mt 27,15–26)
6.1.3.Nicht länger eine Ursache der Zerstörung: die dysfunktionale Rolle des Tempels
6.1.4.Die Trauer um Jerusalem und um die Opfer des Krieges
6.1.5.Der Jüdische Krieg in Galiläa
a)Die Sturmstillung (Mk 4,35–41 par. Mt 8,18–27)
b)Der Seewandel (Mk 6,45–52 par. Mt 14,22–33)
c)Die Heilungen in Genezareth (Mk 6,53–56 par. Mt 14,34–36); Maria Magdalena
6.1.6.Die Salbung von Bethanien (Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13)
6.1.7.Der Feigenbaum, der keine Früchte hatte (Mk 11,12–14.20–24 par. Mt 21,18–22)
6.2.Weitere Aspekte
6.2.1.Die Jünger und die
6.2.2.Die Tora, die Lehre Jesu und die »Satzungen der Ältesten«
a)Die Tora und die Lehre Jesu
b)Die »Satzungen der Ältesten«
6.2.3.Die Stellung zum synagogal verfaßten Judentum und zu Israel
a)Das synagogal verfaßte Judentum und die Perspektive der Rettung Israels im Matthäusevangelium
b)Der Sinn des »machet zu Jüngern alle Völker in Mt 28,19
c)Das synagogal verfaßte Judentum und die »matthäische Gemeinde«
d)Der markinische Jesus als Retter der Synagoge
6.2.4.Die bleibende Unterschiedenheit von Juden und Heiden
a)Weisung für Israel und Weisung für die Völker: die Speisungsgeschichten bei Markus und Matthäus
b)Exkurs: Die noachidischen Gebote des rabbinischen Judentums und ihre Vorgeschichte
6.2.5.Von Markus ignoriert, von Matthäus ausgeschlossen: die Samaritaner
6.2.6.Jesus
6.2.7.In welchem Sinne ist Jesus für Matthäus der erwartete »Sohn Davids«?
6.3.Zusammenfassung
Anhang
Erläuterungen zu den Übersetzungen der Quellentexte, zur Zitierweise und zum Stellenregister
Literaturverzeichnis
I.Sprachliche Hilfsmittel
II.Quellen
III.Sekundärliteratur
Stellenregister
Autorenregister
Endnoten
Im Jahre 66 n.Chr. brach in Jerusalem ein Aufstand gegen die Römer aus, der von einem unbeirrbaren Vertrauen auf den Gott der Bibel getragen und von entsprechend hohen Erwartungen begleitet war. Zunächst konnten die Aufständischen tatsächlich einige spektakuläre Erfolge verzeichnen; dann aber schlug Rom um so entschiedener zurück. Von Norden her marschierte eine römische Armee erst in Galiläa, dann in Judäa ein, Jerusalem wurde eingeschlossen und recht genau vier Jahre nach Beginn der Revolte erobert; anschließend fiel alles, was von der Stadt und ihrem Tempel noch übrig geblieben war, einer systematischen Zerstörung zum Opfer. Viele Aufständische und noch weit mehr Nichtkombattanten hatten den Versuch, das Joch des Imperiums abzuschütteln, zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem Leben bezahlt. Jene aber, die dem Hunger, dem Schwert und dem Kreuz entgangen waren, fanden sich nun zum großen Teil in die Sklaverei wieder.
Daß die Katastrophe, in die der Aufstand mündete, für den weiteren Gang der jüdischen Geschichte epochemachend war, muß nicht eigens betont werden; was aber bedeutet sie für die damalige Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus? – In einem bahnbrechenden Aufsatz, der 1982 in der Zeitschrift TEXTE & KONTEXTE erschienen ist, wurde von T. Veerkamp dargelegt: Die synoptischen Evangelien sind ohne diesen Krieg überhaupt nicht zu verstehen; bis in den Aufbau hinein werden sie von ihm geprägt, und auch ihre sogenannte »Christologie« reagiert in erheblichem Maße auf das, was sich in Galiläa, Judäa und Jerusalem während der Jahre 66–70 zugetragen hatte. Am deutlichsten ist dies im Mk-Ev zu erkennen – einer Schrift, die wohl um das Jahr 70 entstanden ist und noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Kriegereignisse steht1.
Folgt man dem Gedankengang Veerkamps, so erweist sich das Mk-Ev als eine Geschichte, die auf zwei Ebenen angesiedelt ist. Zum einen hören wir hier das »Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes«, zum anderen handelt der Text vom Jüdischen Krieg und von den Fragen, mit denen sich die christliche Verkündigung nun konfrontiert sah: Wie war es möglich, daß diese Katastrophe hatte geschehen können – der Evangeliumsbotschaft vom Heilswirken Jesu und von der Nähe des Gottesreiches zum Trotz? Und wie ließ sich Jesus, der auferstandene Messias, so verkünden, daß die ganz und gar unerlöste Wirklichkeit die Worte nicht Lügen strafte?
Während der letzten Jahrzehnte ist auch eine Reihe anderer Forscher zu dem Eindruck gelangt, daß die Zerstörung Jerusalems für Markus ein Trauma darstellte. So formuliert W. Kelber 1974, 1:
»(T)he gospel [scil.: of Mark, A. B.] came into existence sometime after A.D. 70 under the impact of the city’s devastation. This thesis rests on the claim that there was a body of Christians directly involved in and deeply affected by the fall of Jerusalem. For them, as for their fellow Jews, the disaster caused dreadful physical suffering and hardship. (…) Without Jerusalem the people were bereft of orientation in space and time, at once displaced and without future. With the fall of the city their entire basis of existence had collapsed.«
In die gleiche Richtung geht S. Freyne 2011, 189:
»Mark’s historico-mythic narrative addresses a genuine sense of trauma and loss for those Galilean Jews – Jesus-followers and non-Jesus-followers alike – who had survived the Roman purge.«
Vgl. schließlich noch G. Theißen 1999, 400:
In der Hauptsache kann den drei gerade zitierten Äußerungen nur zugestimmt werden. Jedoch kommt der von mir vertretene Ansatz im Unterschied zu Kelber ohne die Annahme aus, zu den Opfern in Jerusalem habe notwendig auch eine christliche Gemeinschaft gehört; im Unterschied zu Freyne sieht er den Text nicht primär am Denken und den Erfahrungen speziell galiläischer Juden orientiert; im Unterschied zu Theißen setzt er nicht die Existenz einer markinischen Gemeinde voraus2.
Indem Markus die Geschichte Jesu in die Geschichte des Jüdischen Krieges hineinerzählt, findet er zu einer Möglichkeit, ein an sich unaussprechliches Geschehen in poetischer Verfremdung zur Sprache zu bringen: Das Leiden eines ganzen Volkes spiegelt sich in der Passion eines einzelnen Juden. Der Preis, den der Evangelist für dieses Verfahren zahlt, ist hoch. Denn nun schlägt die Sprachlosigkeit, mit der er im Blick auf die Ereignisse des Jüdischen Krieges zu kämpfen hatte, auf die von diesen Ereignissen zusätzlich aufgeladene Geschichte Jesu durch und führt dazu, daß es unmöglich wird, von Jesus – dem Gekreuzigten, dem Auferweckten – weiterhin stimmig und kohärent zu reden. Sehr klar gesehen wurde dies von St. Lücking 2002, 161:
»Die Erfahrung des Jüdischen Krieges und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels wird im Markusevangelium durch die aktualisierte Nacherzählung von Leiden und Tod Jesu aufgearbeitet. (…) Markus [will] seine Leser und Zuhörer dazu befähigen, die Ambivalenz ihrer Situation zu ertragen. (…) Wenn es zutrifft, daß das Markusevangelium der erste schriftliche Text ist, der das Leben, Leiden und Sterben Jesu erzählt, könnte im zeitgeschichtlichen Hintergrund des Jüdischen Krieges der Schlüssel für die Entstehung der Gattung Evangelium liegen: Erst die aktuelle Krisenerfahrung macht es möglich, hinter der Botschaft von der Auferstehung das Leiden und Sterben Jesu als eine traumatische Krise des christlichen Glaubens zu erinnern, in der Jesus selbst sich von Gott und allen Menschen verlassen fühlt und in der die Jünger Jesu in jeder Hinsicht versagen. Für Markus ist die Krise so grundlegend, daß er nicht einmal wagt, die Auferstehung zu erzählen, sondern es bei der Auferstehungsbotschaft beläßt, die von den Figuren der erzählten Welt nicht weitergegeben wird.«
Als Ganzes genommen, präsentiert das Mk-Ev eine Aporie: Die christologisch begründete Heilsgewißheit und die Erfahrung tatsächlicher Heillosigkeit stehen in einem unauflösbaren Widerspruch. Wie der Text sich dagegen sperrt, das reale Leid auf irgendeine Art – und sei es durch Verweis auf die Auferstehungshoffnung – zu bagatellisieren, so sperrt er sich auch dagegen, die vom Glauben an die Auferstehung Jesu akzentuierte Erwartung des Gottesreiches preiszugeben. Die beiden Pole, zwischen denen sich diese Spannung aufbaut, sind der Beginn des Textes und sein Ende. Die Geschichte, die so selbstbewußt und programmatisch anhebt – »Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes … Stimme eines Rufenden: In der Wüste bereitet den Weg des Herrn!« (Mk 1,1.3) –, sie mündet in einen Schlußsatz, in dem wir über die mit der Osterbotschaft überforderten Frauen hören: »Und niemandem sagten sie etwas; sie fürchteten sich nämlich« (16,8). Dort die Evangeliumsverkündigung in der Wüste, hier die stumme Flucht vom Grab – eine größere Diskrepanz ist kaum denkbar. Gerade diese Diskrepanz aber gilt es bei der Lektüre des dazwischenliegenden Textes auszuhalten.
Das hier skizzierte Verständnis des Mk-Ev gestattet es, eine ganze Reihe von sonderbaren und sperrigen Einzelheiten des Textes besser zu verstehen. Allerdings sollte nicht übersehen werden: Jeweils für sich betrachtet, lassen diese Details oft auch andere Erklärungen zu – und am Ende bleibt immer noch die Notmaßnahme, sie als inzwischen bedeutungslos gewordene und im einzelnen nicht mehr sicher zu erhellende Traditionsrelikte einzustufen (sie also weniger zu erklären als wegzuerklären). Die These, daß das Mk-Ev in, mit und unter der (Leidens-)Geschichte Jesu ein Kriegstrauma verarbeitet, wird daher um so einleuchtender sein, je zahlreicher die Indizien sind, auf die sie sich stützen kann.
Basierend auf einer Reihe von Aufsätzen, die zwischen 1995 und 2011 in TEXTE & KONTEXTE erschienen sind, habe ich vor sechs Jahren in einem ersten größeren Entwurf gezeigt, wie etliche Perikopen des Mk-Ev mit dem gerade skizzierten Textverständnis zusammenpassen. Dieser Entwurf wurde bei der Evangelischen Verlagsanstalt publiziert; er trägt den Titel »Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusvangelium und der Jüdische Krieg«. In der Folgezeit habe ich weitere Textabschnitte unter derselben Fragestellung untersucht und dabei aus Vergleichsgründen auch das Mt-Ev verstärkt in den Blick genommen. Wieder wurden die Ergebnisse sukzessive in TEXTE & KONTEXTE veröffentlicht. (Für die Einzelheiten vgl. das Literaturverzeichnis am Ende des Buches.) Ich freue mich, eine systematisierte und ergänzte Fassung nun erneut bei der Evangelischen Verlagsanstalt herausbringen zu können.
Zum Aufbau des Buches: In den ersten vier Kapiteln werden mehrere Abschnitte aus Mk 11–16 analysiert. Da jede dieser Untersuchungen für sich verständlich sein soll, kommt es an einigen Stellen zu Doppelungen. Das fünfte Kapitel bündelt die exegetischen Resultate sowohl des vorliegenden Buches als auch des vorangegangenen. Im sechsten Kapitel wird umrissen, zu welchen Resultaten es führt, wenn die hier für das Mk-Ev entwickelte Lektüreweise auf das Evangelium nach Matthäus angewandt wird.
Immer noch bin ich für die Zeit dankbar, die ich vor zehn Jahren als Junior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald verbringen durfte. Wie schon die »Frohe Botschaft am Abgrund« ohne sie nicht zustande gekommen wäre, so auch das vorliegende Buch. Dr. Annette Weidhas sowie Stephan Selbmann und Christina Wollesky von der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig danke ich für eine Betreuung des Textes, die stets von Entgegenkommen und Hilfsbereitschaft geprägt war. Bei der Suche nach einer geeigneten Reproduktion der Judaea-capta-Münze erhielt ich entscheidende Unterstützung von Thomas Kollatz und Timo Kissinger, M. A. Die graphische Aufbereitung sowohl dieses Bildes (S. VII) als auch des von Paul Klee stammenden Angelus Novus (S. 281) übernahm mit großem Engagement Regine Petersen. Die Korrektur des Buches lag in den bewährten Händen von Nadine Kalweit und Marula Richter. Durch zahlreiche stilistische Verbesserungsvorschläge haben sich beide um die Klarheit der Darstellung verdient gemacht. Wie der Text enden sollte, wurde mir erst klar, als ich die Frage, wo im Buch der richtige Platz für den Angelus Novus sei, intensiv mit Regine Petersen diskutierte. Auch dafür danke ich ihr sehr.
Ostseebad Binz, im März 2019
Andreas Bedenbender
Wie im Buch »Frohe Botschaft am Abgrund« umfangreich entfaltet und in der Einführung der vorliegenden Arbeit noch einmal kurz notiert, steht hinter dem Mk-Ev eine Aporie. Auf der einen Seite stellt der Jüdische Krieg, der zur Zerstörung Jerusalems und seines Tempels führte und unter den Aufständischen, vor allem aber in der Zivilbevölkerung, Opfer in großer Zahl forderte, für Markus die Glaubwürdigkeit der Evangeliumsverkündigung grundsätzlich in Frage. Denn was war die Botschaft vom nahe herbeigekommenen Reich Gottes wert, wenn vierzig Jahre später eine derartige Katastrophe über das Volk Gottes hereinbrechen konnte? Bei nüchterner Betrachtung scheint nichts um das Urteil herumzuführen, daß das »Evangelium von Jesus Christus« gescheitert ist und daß auch Jesus als Messias gescheitert ist. Auf der anderen Seite aber ist Markus nicht bereit, diesem Evangelium und diesem Messias den Abschied zu geben, er hält an beidem fest. Das vielleicht deutlichste Sinnbild der Aporie, in der er sich wiederfindet, steht am Schluß seines Werkes: Die mit der Osterverkündigung betrauten Frauen sind von ihrer Aufgabe ganz und gar überfordert und geraten in einen Zustand sprachloser Furcht (Mk 16,8).
Markus läßt es jedoch nicht dabei bewenden, die Aporie im Zentrum seines Textes ein ums andere Mal zu umkreisen und sich ihr gewissermaßen auf einer Spiralbahn anzunähern. Zugleich nämlich fragt er nach den Gründen für die gerade geschilderte absurde Situation: Wie ist es zu erklären, daß das »Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes« (Mk 1,1) Israel nicht die Rettung gebracht hatte, wie ist es zu erklären, daß es trotz der Frohen Botschaft von der Auferstehung des Einen und von der Nähe des Gottesreiches zum Krieg Jerusalems gegen Rom – und zum Triumph Roms über Jerusalem – gekommen war? Diese doppelte Zielsetzung führt, wenn nicht zu einem Bruch in der Handlungslogik, so doch zumindest zu einer ganz erheblichen Spannung im Textaufbau:
Von Mk 8,31–10,45 – d.h. von der ersten Leidensankündigung bis hin zu der Aussage, daß der Menschensohn gekommen sei, sein Leben zu geben als Lösegeld für viele – wird der Text vom kommenden Leiden und Sterben Jesu bestimmt, von der Notwendigkeit dieses Geschehens und von seinen Folgen1.
Ab dem Beginn des 14. Kapitels ist die Handlung dann erneut deutlich auf die Passion hin ausgerichtet, und schon in Kap. 13 gibt es zwei Stellen, die mit der markinischen Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu zusammenhängen: Das Zerbrechen der Tempelsteine, das Jesus in 13,2 voraussagt, entspricht dem Zerreißen des Tempelvorhangs in der Stunde seines Todes (vgl. 15,37f.), und die Bedrängnisse in jüdischen Synagogen und vor heidnischen Gerichten, auf die sich seine Anhängerschaft einstellen muß, korrespondieren mit dem, was ihm selber erst vom Hohen Rat und dann von den Römern angetan wird (vgl. 13,9 mit 14,53–65; 15,1–20).
Dazwischen aber – von Mk 10,46 bis zum Ende von Mk 12 – laufen die Dinge in eine andere Richtung: Jesus hier nicht der leidende, sondern der tätige, das Geschehen bestimmende Christus, er heilt (10,52), er handelt in Vollmacht (11,27–33) und weist seine Gegner zurecht (vgl. 11,33; 12,27)2.
In einer Hinsicht ist Jesus dabei sogar aktiver als je zuvor im Mk-Ev. Denn in Mk 1–10 trat er immer erst dann in Auseinandersetzungen ein, wenn er sich herausgefordert sah oder den Widerstand seiner Gegner spürte3. Im Bereich des Heiligtums aber sucht Jesus gleich viermal von sich aus die Konfrontation, d.h., statt zu reagieren, agiert er: bei der sogenannten Tempelreinigung (11,15–19), mit dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern (12,1–12), mit der Frage nach dem Davidssohn (12,35–37) und mit der Warnung vor den Schriftgelehrten (12,38–40).
Die Mitglieder des Hohen Rates sinnen in Mk 11–12 zwar auf den Tod Jesu, aber vorerst sind ihnen noch die Hände gebunden, sie kommen mit ihren Plänen nicht voran (vgl. 11,18.32; 12,12.37). Auch das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1–12), in dem Jesus von der Ermordung des »geliebten
Sohnes« spricht, dient nicht dazu, die Leserschaft (oder jene, die Jesus im Text zuhören) auf das spätere Geschehen von Golgatha vorzubereiten. Denn Jesus sagt hier etwas anderes als an den einschlägigen Stellen in Mk 8–10, und seine Worte erfüllen einen anderen Zweck. Auf dem Weg nach Jerusalem erfahren die Zwölf: Jesus – der Menschensohn – geht in den Tod, weil er leiden und sterben muß (vgl. 8,31), er wird von den Hohenpriestern, Schriftgelehrten und Ältesten an die Heiden ausgeliefert, damit diese ihn töten (vgl. 10,33f.), und er wird sein Leben als »Lösegeld für viele« geben (10,45). Im Gleichnis töten die Weingärtner (d.h. die Hohenpriester und ihre Spießgesellen) »den Sohn« hingegen selbst, von einer heilvollen Wirkung dieses Todes hören wir nichts (im Gegenteil: die Weingärtner werden wegen ihrer Tat sowohl den Weinberg als auch ihr Leben verlieren), und der Tod des Sohnes entspricht keineswegs dem Willen des Vaters (vgl. 12,6). Kurz: Jesus stirbt hier nicht nach dem Ratschluß Gottes und aufgrund einer heilsgeschichtlichen Notwendigkeit, sondern einzig deshalb, weil seine Kontrahenten sowohl böse als auch dumm sind. Im Gleichnis entspricht die Ermordung des Sohnes dem, was die Weingärtner zuvor schon etlichen Knechten des Weinbergbesitzers angetan hatten, d.h. der markinische Jesus versteht seinen eigenen drohenden Tod analog zu der Ermordung früherer Propheten (vgl. dazu Mt 23,29–37 und umfassend Steck 1967). Vor allem aber handelt es sich von der Gesprächssituation her bei dem Gleichnis nicht um eine poetisch eingekleidete Darstellung einer feststehenden Zukunft, sondern um eine Warnung: Jesus gibt dem Volk zu verstehen, in welcher Gefahr er sich sieht, er zeigt den Hohenpriestern, daß er ihre Machenschaften durchschaut, und legt ihnen zugleich in prophetischer Manier nahe, von ihrem bösen Weg umzukehren. Das Gleichnis zwingt den Hohen Rat nicht, in die Verdammnis zu gehen – genausowenig wie das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen (Mt 25,1–13) irgendwelche Menschen dazu zwingt, auf die Ankunft des Menschensohnes nicht vorbereitet zu sein. Solche Gleichnisse werden typischerweise erzählt, damit die Realität gerade einen anderen Verlauf nimmt.
Die Passionserwartung, die die vorangehenden Kapitel des Mk-Ev beherrschte, ist in den Kapiteln 11 und 12 wenn nicht verschwunden, so doch stark zurückgetreten. Deshalb legt sich der Gedanke nahe: Hätte Jesus bleibenden Erfolg gehabt, als er sich an einer Neugestaltung des Tempelbetriebs versuchte – weg von der »Räuberhöhle«, hin zum »Bethaus für alle Völker« (11,17) –, und wäre ihm die Korrektur der messianischen Erwartungen des Volkes (vgl. 12,35–37) wirklich gelungen, dann wäre seine Passion überflüssig geworden. Lange sah es danach auch aus. Noch am Ende von 12,37 findet sich das Fazit: »Der große (oder: ein großer) Volkshaufen hörte ihn gern.«
Damit stehen wir vor der Frage, die in dem vorliegenden Kapitel behandelt werden soll: Was hat den Erfolg der Reformbemühungen Jesu dann doch verhindert und ihn als Messias scheitern lassen?
Die Frage, was es mit dem Scheitern Jesu auf sich hat, macht es erforderlich, den Abschnitt Mk 10,46–13,2 insgesamt in den Blick zu nehmen und einige der gerade knapp skizzierten Zusammenhänge noch einmal ausführlicher zu untersuchen. Zunächst ist allerdings zu klären, wieso es überhaupt zu dem abrupten Umschwung kommen kann, in dem die Hoffnung auf Rettung den in Mk 8–10 so dominanten Gedanken an das Kreuz verdrängt. Dreh- und Angelpunkt ist die Geschichte von der Begegnung zwischen Jesus und Bartimaios (Mk 10,46–52):
46Dann kamen sie nach Jericho. Und als er aus Jericho hinausgegangen war – samt seinen Jüngern und einem beträchtlichen Volkshaufen –, saß der Sohn des Timaios, Bartimaios, ein blinder Bettler, neben dem Weg.
47Als er hörte: Es ist Jesus, der Nazarener, begann er zu schreien und zu sagen: Du Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner!
48Und viele fuhren ihn an, daß er schweige. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
49Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Man rief den Blinden und sagte zu ihm: Fasse Mut, steh auf, er ruft dich!
50Da warf er seinen Mantel fort, sprang auf, kam zu Jesus.
51Jesus ergriff das Wort und sagte: Was willst du, daß ich für dich tue? Der Blinde aber sagte ihm: Rabbuni, daß ich wieder sehe!
52Und Jesus sagte ihm: Geh hin! Dein Vertrauen hat dich gerettet. Und sogleich sah er wieder, und er folgte ihm nach auf dem Wege.
Während Jesus in Mk 10,45 noch der »Menschensohn« ist, der sein Leben gibt, läßt er es sich in 10,47f. gefallen, vor aller Ohren als »Sohn Davids« um Hilfe angerufen zu werden. Das ist ein neuer Ton, denn als »Sohn Davids« trat Jesus im Mk-Ev bislang nicht in Erscheinung. Auch stellt diese Bezeichnung mehr als nur schmückendes Beiwerk dar, sie steht im Zentrum der Worte des Bettlers. »Du Sohn Davids« erklingt nicht nur zweimal, sondern an der ersten Stelle geht es dem Namen Jesus voran, an der zweiten bildet es die einzige Anrede.
Daß Jesus hier förmlich darauf behaftet wird, der Sohn Davids zu sein, ist von weitreichender Bedeutung, denn damit wird das Stichwort »David« vorgegeben, das die begeisterte Menge beim anschließenden Einzug in Jerusalem aufgreift. Der Jubel, mit dem sie auf Jesus reagiert, schlägt eine Brükke von dem, »der da kommt im Namen des Herrn«, hin zu dem »kommenden Reich unseres Vaters David« (vgl. Mk 11,10). Das kann nur bedeuten, daß jene, die so rufen, der gleichen Ansicht sind wie die Schriftgelehrten (vgl. Mk 12,35): Der erhoffte Messias ist der »Sohn Davids«, er wird das alte Davidsreich in seiner ganzen Macht und Herrlichkeit wiederherstellen4.
Jesus selbst greift den Namen Davids weder in der Bartimaiosszene noch im Anschluß an sie auf, aber plötzlich bewegt er sich auf messianischen Pfaden. Die coram publico erfolgende Requirierung des Esels, die er in Mk 11,2f. in Auftrag gibt, läßt den folgenden Einzug wie eine Inszenierung von Sach 9,9 wirken:
Juble laut, Tochter Zion, jauchze, Tochter Jerusalem, sieh, dein König kommt zu dir, gerecht und siegreich ist er, demütig und auf einem Esel reitend, auf einem Fohlen, einem Eselsfohlen5.
Insgesamt erweckt Mk 10,46–11,10 den Eindruck, Jesus lasse jetzt die Maske fallen, er wolle also als Messias in Erscheinung treten und nehme dabei zumindest billigend in Kauf, als davidischer Messias angesehen zu werden.
Orientiert man sich an der Erzähllogik, die den Text von Mk 8,27–10,45 bestimmt, kommt dies höchst überraschend. Als Christus/Messias wirkt Jesus geradezu wie eine Gegengestalt zum legendären König David, der seine Feinde ringsum mit militärischer Gewalt unterworfen hatte, und bereits der Zusammenhang 8,27–33 (Petrusbekenntnis – 1. Leidensankündigung – Richtungsstreit zwischen Petrus und Jesus) macht deutlich: Der leidende Menschensohn soll sich gegen die Erwartung eines machtvollen Messias durchsetzen. Der Messiastitel scheint sogar an sich heikel zu sein. Denn während Jesus keine Scheu hat, von sich als dem »Menschensohn« zu reden, und zwar auch außerhalb des Jüngerkreises (vgl. 2,10.28; 8,38), lehnt er es in 8,30 ausdrücklich ab, als Christus bekannt zu werden.
Die »vielen«, die Bartimaios in 10,48 das Wort abschneiden wollen, damit er die laute Anrede »du Sohn Davids« aufgibt, scheinen also ganz im Sinne Jesu zu handeln. Die Entsprechung reicht bis in die sprachliche Gestaltung hinein: In 8,30 heißt es von Jesus: »Und er fuhr sie an daß sie niemandem von ihm sagten.« In 10,48 finden wir ganz parallel: »Und viele fuhren ihn an (6), daß er schweige.«
Was also ist in Mk 10 anders als in Mk 8, warum kann der messianische »Sohn Davids« mit seiner Wundermacht nun auf einmal die Vorstellung vom »Menschensohn, der sein Leben gibt«, in den Hintergrund treten lassen? Wenn es im Text überhaupt eine Erklärung gibt, dann muß sie zwischen dem »Menschensohn« in 10,45 und dem »du Sohn Davids« in 10,47 zu finden sein, also wohl in V. 46.
Gregory (Scotland Yard detective): »Is there any other
point to which you would wish to draw my attention?«
Holmes: »To the curious incident of the dog in the night-time.«
Gregory: »The dog did nothing in the night-time.«
Holmes: »That was the curious incident.«
Arthur Conan Doyle, The Adventure of Silver Blaze
Hier noch einmal der Vers im Wortlaut:
46Dann kamen sie nach Jericho. Und als er aus Jericho hinausgegangen war – samt seinen Jüngern und einem beträchtlichen Volkshaufen –, saß der Sohn des Timaios, Bartimaios, ein blinder Bettler, neben dem Weg.
Die ersten beiden Zeilen befremden. Nach dem »Und sie kamen nach Jericho« wäre zu erwarten gewesen, daß dort anschließend irgend etwas passiert; eine völlig ereignislose Stippvisite sollte kaum des Erzählens wert sein. Ginge es dem Autor aber allein darum, den Namen »Jericho« zu Gehör zu bringen7, hätte er einfach schreiben können: »Und als er an Jericho vorübergezogen (oder: durch Jericho hindurchgezogen) war …«
Die beiden Seitenreferenten des Markus haben die erzählerische Anomalie beseitigt, indem sie – auf jeweils andere Art – vereinfachten. Statt »Dann kamen sie nach Jericho. Und als er aus Jericho hinausgegangen war« finden wir in Mt 20,29: »Und als sie aus Jericho hinausgegangen waren …« In Lk 18,35 heißt es: »Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam …« Auch sonst ist mir in der biblisch-frühjüdischen Literatur keine Stelle bekannt, an der wir expressis verbis hören, daß ein Ort betreten und sofort wieder verlassen wird.
Der amerikanische Historiker und Religionswissenschaftler Morton Smith trat 1973 mit einem fragmentarisch erhaltenen griechischen Text an die Öffentlichkeit: angeblich die Abschrift eines Briefes, der von Clemens von Alexandrien stammte. Smith gab an, den Text 1958 im Kloster Mar Saba entdeckt zu haben. Clemens – oder »Clemens«? – warnt in diesem Schreiben vor einer gnostischen Verfälschung des Mk-Ev, erklärt aber zugleich, es gebe eine Überarbeitung des Mk-Ev, die vom Evangelisten selbst stamme. Dieser habe nämlich zunächst in Rom das allgemein bekannte Mk-Ev geschrieben, später aber in Alexandrien eine zweite, »geistlichere« Fassung erstellt, die das kanonische Evangelium an mehreren Stellen ergänzte. Obwohl diese von der Gemeinde in Alexandrien geheimgehalten worden sei, hätten die Karpokratianer den Wortlaut in Erfahrung gebracht und dann durch weitere Ergänzungen manipuliert.
Als Beispiel für einen Zusatz, der von Markus selber stamme, führt Clemens den Beginn von Mk 10,46 an: »(Er kommt nach Jericho.) Und es waren dort die Schwester des Jünglings, den Jesus liebte, und seine Mutter und Salome; und Jesus nahm sie nicht auf.«8
Auf der Grundlage der hier vorgelegten Deutung ergibt diese Ergänzung überhaupt keinen Sinn. Das ist aber nicht weiter von Bedeutung. Denn nach überwiegender Einschätzung sind die Ergänzungen des Mk-Ev, von denen Clemens (oder »Clemens«) spricht, jünger als alle vier kanonischen Evangelien; mit dem historischen Autor des Mk-Ev haben sie nichts zu tun. Darüber hinaus gibt es sogar starke Indizien dafür, daß es sich bei dem Brief um eine moderne Fälschung handelt9.
Für eine moderne Betrachtungsweise, die einerseits an erzählerischer Stimmigkeit interessiert ist, andererseits bei antiken Werken immer mit Textverlust und Textverderbnis rechnet, erweist sich der Beginn von Mk 10,46 zunächst als irritierend. Bei genauerer Überlegung wird jedoch deutlich: Die in 10,46 erkennbare Leerstelle der Erzählung, die durch die Ortsangabe »Jericho« eigens betont wird, ist höchst sinnvoll. Sie schafft den Freiraum, den der Handlungsfaden des Textes benötigt, um seine Laufrichtung sprunghaft zu ändern.
An einer Schlüsselstelle der Handlung gezielt lückenhaft zu erzählen und diese Lükkenhaftigkeit durch die Art der Darstellung zugleich hervorzuheben ist ein eigenartiges Verfahren, aber es paßt zu Markus. Auch in 15,47–16,1, wo es um die Grablegung Jesu geht, markiert er einen Punkt, an dem die Handlung diskontinuierlich wird, mit Hilfe auffälliger Auslassungen10: indem er Salome in 15,47 (anders als in 15,40 und 16,1) nicht erwähnt und indem er den »vorübergegangenen Sabbat« in 16,1 außerhalb des Geschehens läßt (vgl. dagegen Mt 27,62–66; Lk 23,56b).
Sollen wir die erste Hälfte von 10,46 also als Indiz dafür nehmen, daß die Welt des Mk-Ev neben der erzählten auch eine unerzählte Seite hat und daß unsere Kenntnis dieser Welt darum notwendigerweise unvollständig ist? – In Anbetracht der Relevanz des in Rede stehenden Sachverhalts – auf einmal agiert Jesus, als führe ihn sein Weg nicht unweigerlich ans Kreuz – wäre dies ein reichlich dürftiges Indiz, und außerdem bliebe unklar, warum der Ort, an dem die Handlung eine Lücke aufweist, ausgerechnet Jericho ist. Weshalb hat Markus nicht einfach geschrieben: »Dann kamen sie in ein Dorf. Und als er aus dem Dorf hinausgegangen war …«?
Im Mk-Ev begegnet Jericho hier zum ersten und einzigen Mal, aber in der jüdischen Bibel hat der Ort eine Vorgeschichte. Gleich zwei biblische Traditionen könnten für das Verständnis von Mk 10,46–52 von Bedeutung sein: Jericho ist die erste Stadt im Lande Kanaan, die von den Israeliten erobert wird (vgl. Jos 2–6), und später kommt der Prophet Elia auf dem Weg zu seiner Himmelfahrt durch Jericho (vgl. 2 Kön 2). Der Reihe nach!
a) Sollte der Bezug zum Josuabuch entscheidend sein, wäre der Weg Jesu als Aktualisierung der biblischen Landnahmegeschichte zu verstehen. Diese Sicht wird von Joel Marcus 2009, 758, vertreten:
»Jesus, the new Joshua, (…) begins his climactic ›invasion‹ of Judaea by passing through Jericho on his way up to Jerusalem.«
Der triumphale »Einzug in Jerusalem« hätte dann nicht erst in der Nähe des Ölbergs begonnen, sondern schon viel früher. Ein solches Verständnis würde durchaus in die religiöse Vorstellungswelt des damaligen Judentums passen.
Im Rahmen der messianischen Erwartungen, die während der Jahrzehnte vor der Tempelzerstörung im Umlauf waren, konnte der Jordandurchquerung unter Josua und dem Einsturz der Mauern Jerichos große Bedeutung beigemessen werden. Dies zeigt sich an zwei Vorfällen, von denen Josephus berichtet: Um das Jahr 45 n. Chr. führt ein jüdischer Charismatiker namens Theudas eine große Menschenmenge an den Jordan, indem er verheißt, er werde eine Teilung des Wassers bewirken, so daß alle mühelos hindurchziehen könnten. Der römische Statthalter Fadus läßt die Menge niederreiten und Theudas töten11. – Zur Zeit des Statthalters Felix versammelt ein »Ägypter« viele Menschen auf dem Ölberg, von wo aus er die Mauern Jerusalems durch sein Wort zum Einsturz bringen will. Wieder wird das Spektakel von den Römern blutig beendet12. In beiden Fällen glaubte die Besatzungsmacht offenbar nicht, es mit einer harmlosen Narretei zu tun zu haben.
Allerdings wird die Theorie, durch die Erwähnung Jerichos habe der Evangelist auf die biblische Josuageschichte zurückgreifen wollen, bei näherer Betrachtung wieder zweifelhaft. Warum hören wir in Mk 10 dann nicht explizit von einer Jordanüberquerung13, und warum wurde Jesu Aufenthalt in Jericho nicht stärker ausgestaltet? Deshalb wird alles Augenmerk nun auf den zweiten möglichen Schriftbezug zu richten sein.
b) Das 2. Kapitel im 2. Buch der Könige fängt an:
1Und zu der Zeit, da der HERR Elija im Sturmwindin den Himmel auffahren liess,ging Elija mit Elischa aus Gilgal fort.
2Und Elija sprach zu Elischa: Bleibe du doch hier, denn nur mich hat der HERR nach Bet-El gesandt. Elischa aber sprach: So wahr der HERR lebt und so wahr du lebst,ich werde nicht von dir lassen! So gingen sie hinab nach Bet-El.
3Und die Prophetenjünger, die in Bet-El waren,gingen hinaus zu Elischa und sagten zu ihm: Weisst du, dass der HERR deinen Herrn heute hinwegnimmt,hoch über dein Haupt hinweg? Und er sagte: Das weiss auch ich. Schweigt!
4Und Elija sagte zu ihm: Elischa, bleibe du doch hier,denn nur mich hat der HERR nach Jericho gesandt. Er aber sprach: So wahr der HERR lebt und so wahr du lebst,ich werde nicht von dir lassen! So kamen sie nach Jericho.
5Und die Prophetenjünger, die in Jericho waren,traten zu Elischa und sagten zu ihm: Weisst du, dass der HERR deinen Herrn heute hinwegnimmt,hoch über dein Haupt hinweg? Und er sagte: Das weiss auch ich. Schweigt!
6Und Elija sagte zu ihm: Bleibe du doch hier, denn nur mich hat der HERR zum Jordan gesandt. Er aber sprach: So wahr der HERR lebt und so wahr du lebst,ich werde nicht von dir lassen! So gingen sie beide.
7Auch fünfzig von den Prophetenjüngern waren mitgegangen,blieben aber in einiger Entfernung abseits stehen, die beiden aber traten an den Jordan.
Im Mk-Ev gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Jesus und dem Propheten Elia. Daß etliche Menschen Jesus für den wiedergekommenen Elia halten14, weist bereits in diese Richtung, und das gleiche gilt für die ebenfalls im Volk verbreitete Einschätzung, Jesus sei ein auferstandener Johannes15; schließlich wird der Täufer im Mk-Ev mindestens andeutungsweise mit Elia gleichgesetzt16. Auf dem Berg der Verklärung erscheint Elia gemeinsam mit Mose, um sich mit Jesus zu bereden (Mk 9,4). Dann heißt es in V. 8 von den Jüngern:
Und plötzlich, als sie umherblickten,
sahen sie niemanden mehr bei sich als Jesus allein.
Dies wird wohl so zu deuten sein: Wer Jesus sieht, sieht zugleich »Mose und Elia«, es gibt keine Tora jenseits ihrer Auslegung durch (den markinischen) Jesus und keine Prophetie, die auf »ein anderes Evangelium« wiese.
Vor allem aber ist Elia im Mk-Ev auch in dem Sinne der Vorläufer Jesu, daß dieser einen Teil der Wege Elias tatsächlich abschreitet. Die Begegnung zwischen Jesus und der Syrophönizierin im Gebiet von Tyros (Mk 7,24–30) wirkt wie eine Variation von 1 Kön 17,9–24, wo der Aufenthalt Elias bei der Witwe von Zarpat geschildert wird. Zarpat lag laut V. 9 nahe bei Sidon, und daß Jesus laut Mk 7,31 anschließend durch Sidon zieht, unterstreicht den Zusammenhang noch einmal17.
Angesichts dieser topographisch akzentuierten Verbindungslinie zwischen dem markinischen Jesus und dem Elia der Bibel sollten wir hellhörig werden, wenn Jesus in Jericho den Weg Elias zum zweiten Mal kreuzt. Die Reiserichtung ist unterschiedlich – Elia zieht von Jericho zum Jordan, Jesus kommt vom Jordan nach Jericho –, aber beide befinden sich auf ihrem (vorerst) letzten Weg auf Erden: Während Elia seiner Himmelfahrt entgegengeht, hat Jesus die Kreuzigung vor sich. Hier wie dort gibt es prophetische Vorankündigungen – im Falle Elias sind es die Worte der Prophetenjünger in Bethel und Jericho, bei Jesus seine drei Leidensweissagungen. Genau genommen erfahren wir von den Prophetenjüngern in Jericho nichts, was wir nicht schon aus Bethel wüßten (und noch vorher vom biblischen Erzähler), und auch Elisa erfährt nichts Neues. Aber die Wiederholung gibt dem Geschehen zusätzliches Gewicht, sie unterstreicht seine Bedeutsamkeit, darum ist sie sinnvoll.
Wenn nun nach Elia auch Jesus Jericho betritt, dann sollte zumindest ein bibelkundiges Publikum erwarten, gleich gebe es wieder etwas zu hören, das sich auf die Passion beziehe: sei es aus dem Munde Jesu, der die Leidensankündigung ein weiteres Mal modifizieren und ausgestalten könnte18, sei es aus dem Munde einer prophetischen Gestalt19. Denkbar wäre insbesondere, daß ein Bezug zwischen der Kreuzigung Jesu und der Himmelfahrt Elias hergestellt würde20. Aber nichts von alledem geschieht – weil bei dem Besuch in Jericho eben gar nichts geschieht.
Stellen wir uns die Szene einmal aus der Perspektive des markinischen Jesus vor. Er weiß, sein Weg führt ans Kreuz, und er weiß auch, es »muß« geschehen – aber das bedeutet nicht, daß er diesen Weg gehen will. In der Gethsemaneepisode (Mk 14,32–42) sagt er zu Petrus und den beiden Zebedäussöhnen:
34bMeine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wacht!
Dann geht es weiter:
35Er ging ein wenig vor, fiel auf die Erde und betete, daß, wenn es möglich wäre, die Stunde an ihm vorüberginge.
36Und er sagte: Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Becher fort von mir. Aber nicht, was ich will, sondern was du (willst)!
Ein Jesus, der noch in Gethsemane eine solche »Hoffnung wider alle Hoffnung« in sich trägt, wird sie auch schon vorher in sich getragen haben. Deshalb müßte er, als der Aufenthalt in Jericho – ausgerechnet in Jericho – ereignislos blieb, stutzig geworden sein; warum gab Gott kein Zeichen, das ihn auf seinem Weg bestärkte? Genau an dieser Stelle aber, gleich nach dem Verlassen Jerichos, findet sich die Bartimaiosepisode mit ihrem Davidssohnbekenntnis. Die Handlung von Mk 11–12 wirkt so, als habe Jesus hierin einen Wink des Himmels gesehen, der ihm eine neue Richtung zeigte.
Wenn die Bartimaiosgeschichte tatsächlich als ein Wink des Himmels zu verstehen sein sollte, was wäre dann ihr Sinn? Die Umstehenden deuten das Geschehen so (und müssen es wohl auch so deuten), daß einem Blinden gelungen ist, woran alle Sehenden gescheitert waren: den »Sohn Davids« ausfindig zu machen. Auf der Linie dieser Deutung könnte Jesus aus der Begegnung mit Bartimaios lernen: Auch Menschen, die zunächst einmal blind sind – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne –, mögen dank der Gnade des Himmels dennoch imstande sein, in ihm den Sohn Davids, d.h. den Messias, zu erkennen21; so werden sie bereit für den Weg der Nachfolge. Aus dieser Interpretation des zeichenhaft verstandenen Geschehens ergäbe sich für Jesus das Ziel, das ganze Volk Israel davon zu überzeugen, daß er der eine erhoffte Sohn Davids sei; denn der Glaube an ihn als den davidischen Messias würde das Volk davor bewahren, gegen Rom in den Krieg zu ziehen. Da Jesus nach der Logik des Mk-Ev sterben »mußte«, weil das Volk Gottes in der Wirklichkeit getötet worden war, könnte er, wenn das Volk am Leben bliebe, selber am Leben bleiben.
Aber die folgenden Perikopen werden deutlich machen: Jesus versteht die Szene nicht in dieser Weise, für ihn ist Bartimaios kein Prophet. Er selber sieht sich zwar als Christus an, also als Messias, aber keineswegs zugleich als Sohn Davids, und er hält eine solche Sicht, wie 12,35–37 deutlich genug zeigt, sogar für bedenklich. Der Glaube, er sei der Sohn Davids, ist folglich nicht Teil der Lösung, er ist Teil des Problems. Darum interpretiert Jesus die Bartimaiosepisode anders: Es ist ihm gelungen, einen Blinden, der ihn in seiner Blindheit für den Sohn Davids gehalten hatte, sehend werden zu lassen, so daß er ihm am Ende »auf dem Wege nachfolgte«. Diese Heilung war zunächst einmal nur ein Einzelfall, aber sie mußte kein Einzelfall bleiben. Immerhin hatte sich nun gezeigt, daß eine Abkehr von der verblendeten »Sohn-Davids-Hoffnung« überhaupt möglich war. Warum sollte so etwas dann nicht auch beim ganzen Volk gelingen? Das ist die Rettungsperspektive, die der markinische Jesus in der Begegnung mit Bartimaios erkennt, das ist das neue Ziel, das er sich vorgibt. Deshalb macht er sich nun auf, um das, was ihm gerade irgendwo unterwegs und fast im Vorübergehen gelungen ist, dort zu wiederholen, wo das Volk sein Zentrum hat: im Tempel von Jerusalem.
Die gerade vorgestellte Deutung der Bartimaiosepisode steht und fällt mit der Annahme, Bartimaios habe sich (im Sinne des Mk-Ev) geirrt, als er Jesus für den »Sohn Davids« hielt. Ein Irrtum läßt sich hier natürlich nur dann annehmen, wenn zugleich ein Weg aufgezeigt wird, auf dem Bartimaios auch ohne eine prophetische Eingebung zu dieser Überzeugung gelangen konnte. Glücklicherweise müssen wir nicht lange nach einem solchen Weg suchen, denn schon vor fast 70 Jahren hat A. Farrer auf der Basis des Wortlauts der Perikope die Gedankenwelt der Textfigur Bartimaios wie folgt rekonstruiert:
»Hearing that Jesus the Nazarene is passing by, he interprets Nazar as Nesser, the Branch from the stock of Jesse, of whom Isajah has prophesied (Is. XI,1).«22
Bartimaios wäre demnach das Opfer einer (im Sinne des Mk-Ev) fehlerhaften Bibeldeutung gewesen; aber der Irrtum schlug für ihn zum Guten aus.
Wie in Mk 10,47a eine messianische Aufladung des Wortes plausibel gemacht werden kann, so auch in dem Satz, den die Magd im Hof des Hohenpriesters an Petrus richtet: »Auch du warst doch mit d(ies)em Nazarener, d(ies)em Jesus« (Mk 14,67). Die herausgehobene Stellung des zeigt eine besondere Betonung an, vergleichbar der, die wir aus 10,47b kennen: »Du Sohn Davids, Jesus«. Sinnvoll scheint daher eine explizierende Wiedergabe mit: »Auch du warst doch mit diesem ›Davidssproß‹, diesem Jesus.«
Die anderen beiden des Mk-Ev, 1,24 und 16,6, weisen allerdings nicht in diese Richtung.
a) In Mk 1,24 schreit ein »Mensch mit einem unreinen Geist« Jesus an (genau genommen ist es wohl der Geist, der aus ihm spricht):
Was hast du mit uns zu schaffen, Jesus, Nazarener? Du bist gekommen, uns zu vernichten! Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!
Um David (etc.) scheint es hier nicht zu gehen. Was das »Nazarener« aber statt dessen anzeigen soll, ist nicht auf Anhieb zu erkennen.
In der Literatur zum Mk-Ev wird teilweise im Anschluß an O. Bauernfeind vertreten, der Dämon habe Jesus, der da vor ihm stand, als »Nazarener« bezeichnet, um ihn eindeutig zu identifizieren und dadurch um so sicherer in seine Schranken zu verweisen23; der Dämon versuchte sich also an einer magischen Beschwörung. Wie Bauernfeind weiter ausführt:
»Der magische Zweck erforderte sowohl möglichst genaue Rezitierung des zauberkräftigen Spruches wie auch möglichst zutreffende Anrede (…). Diesen Anforderungen konnte keine andere Anredeform so gerecht werden, wie die vorliegende.«24
Wenigstens zwei Argumente sprechen gegen Bauernfeinds Erklärung. 1. Bei dem Wort handelt es sich nicht um einen feststehenden Beinamen Jesu. Andernorts in den Evangelien wird Jesus als »(der) Nazoräer«, und als »Jesus von/aus Nazareth«25 bezeichnet (oder angeredet). Sollte man diese sprachlichen Differenzen allerdings für bedeutungslos halten und deshalb alle drei Ausdrucksweisen zusammennehmen, bleibt die Zahl der Belege immer noch überschaubar26.
An mehreren Stellen der Evangelien und der Apostelgeschichte werden dem Namen Jesu Erläuterungen beigegeben, die nichts mit einem Ort Nazareth zu tun haben. So wählt der Dämon »Legion«, der Jesus in Mk 5,7 herausfordert, die Anrede: »Jesus, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten«. In Mt 26,69 ist Jesus für die erste Magd, die Petrus im Hof des Hohenpriesters wiedererkennt, »Jesus der Galiläer«, in Mt 27,17.22 spricht Pilatus von »Jesus, der Christus genannt wird«, und in Apg 19,13 hören wir über mehrere jüdische Exorzisten, die die von Paulus bewirkten Dämonenaustreibungen mitbekommen hatten, daß sie ihr Glück anschließend mit der Formel versuchten: »Ich beschwöre euch bei dem Jesus, den Paulus verkündigt.«
Schließlich ist zu bedenken: »Nazareth« begegnet weder bei Paulus noch in der übrigen Briefliteratur des Neuen Testaments. Lediglich in der Apostelgeschichte sieht es anders aus: Immerhin fünfmal hören wir hier von »Jesus (Christus), dem Nazoräer«, dazu je einmal von »Jesus von Nazareth« und von der »Sekte der Nazoräer«27. Aber wir können diesen Sprachgebrauch eines einzigen Textes (der noch dazu um einiges jünger ist als das Mk-Ev) nicht einfach zur Norm erklären, an der sich die Auslegung von Mk 1,24 zu orientieren habe. Urteilen wir nach den neutestamentlichen Texten insgesamt, dann gehörte die Rede von »Jesus von Nazareth« in den frühen Gemeinden nicht zum selbstverständlichen Allgemeingut.
2. Wie gezeigt, ist Bauernfeind der Ansicht, »keine andere Anredeform« sei so zutreffend (im Sinne von eindeutig) wie die Formulierung »Jesus, Nazarener«. Das muß jedoch bezweifelt werden. Im Judentum der neutestamentlichen Zeit war »Jesus« ein verbreiteter Name. Sofern es den galiläischen Ort Nazareth damals wirklich gegeben hat28, könnten gleichzeitig mit dem Protagonisten des Mk-Ev noch weitere von dort stammende Träger dieses Namens in der Nachbarschaft bekannt gewesen sein. Übrigens finden sich in den Evangelien etliche Formulierungen, die im Sinne der Argumentation Bauernfeinds besser, weil stärker eingrenzend, sind: z.B. »Jesus, der Prophet aus Nazareth« (Mt 21,11) oder »Jesus, der Sohn Josephs, aus Nazareth« (Joh 1,45) oder »Jesus, der Baumeister, der Sohn der Maria und Bruder von …« (Mk 6,3).
b) In Mk 16,6 sagt der »junge Mann« zu den Frauen am leeren Grab:
… Jesus sucht ihr, den Nazarener, den Gekreuzigten. Er ist erweckt worden; er ist nicht hier …
Wieder gibt es kein klares Indiz dafür, daß auf den (davidischen) Messias verweist; im Gegenteil. Denn wie die Frauen betrachtet auch der doch wohl himmlische Jüngling Jesus als »Nazarener«. Demzufolge kann es im Sinne des Mk-Ev – trotz 10,47 – nicht grundsätzlich verkehrt sein, Jesus so zu bezeichnen.
Spiegelt sich in der Rede vom in Mk 1,24; 16,6 vielleicht einfach die Erinnerung daran, daß der »historische Jesus« nun eben tatsächlich aus dem Ort Nazareth gekommen war? Das ist möglich, aber wenig wahrscheinlich. Erstens entspräche es nicht der Art des Markus, historische Fakten einfach deshalb zu berücksichtigen, weil es »wirklich so gewesen ist«. Die Geschichte, die er erzählt, hat in ihren wesentlichen Zügen etwas zu bedeuten. Warum hätte es für ihn eine Rolle spielen sollen, ob Jesus nun in Nazareth herangewachsen war oder beispielsweise in Kapernaum? Zweitens ist zu bedenken: Nazareth wird in keinem uns bekannten Text erwähnt, der den Evangelien chronologisch vorangeht oder mit ihnen ungefähr zeitgleich entstanden ist. Und blicken wir über die Evangelien hinaus, so hören wir erst deutlich später wieder von diesem Ort.
In seiner zu Beginn des 4. Jh. n.Chr. verfaßten »Kirchengeschichte« zitiert Eusebius von Caesarea den christlichen Schriftsteller Sextus Julius Africanus, der um die Wende vom 2. zum 3. Jh. die wohl erste christliche Weltchronik verfaßte. An einer Stelle erwähnt Sextus beiläufig die jüdischen Dörfer Nazareth und Kochaba, von denen aus die »Herrenverwandten« sich über das übrige Land verbreitet haben sollen (H. E. 1,7,14)29. Darüber hinaus haben wir noch eine in Caesarea gefundene Synagogeninschrift, die aus dem 3. Jh. stammt und ein galiläisches (nzrt) als Wohnort einer Priestersippe ausweist30. Ob diese Siedlung dort ihren Platz hatte, wo das heutige Nazareth liegt, wissen wir nicht, denn literarische Quellen, die Nazareth lokalisieren, gibt es erst seit dem 4. Jh. Wie B. J. Diebner 1992/1993, 148, hervorhebt,
»kennen wir ›Nazareth‹ ausserhalb der biblischen Tradition als ›Ort‹ im südlichen Galiläa aus Eusebs Onomastikon (…) und aus der Rezeption des Hieronymus (…). Das ist die Zeit eines bereits blühenden christlichen Pilgertourismus’ im Heiligen Lande.«31
Das Onomastikon des Eusebius von Caesarea ist ein alphabetisch geordnetes Verzeichnis der biblischen Ortsnamen, das später von Hieronymus als Liber locorum et nominum ins Lateinische übersetzt und zugleich erweitert wurde. In seiner Ausgabe des Liber locorum weist G. Röwekamp darauf hin, daß die Angaben, die erst Eusebius und dann Hieronymus zur geographischen Lage von Nazareth machen, nicht ganz zu der modernen Lokalisierung des Ortes passen32. Der Fehler, so Röwekamp, könnte älter sein als das Werk des Eusebius:
»Der Ort wurde vielleicht schon im 3. Jh. mit (…) am ›Hermonim‹, 8 km südöstlich von Nazareth, identifiziert.«33
Allerdings sind auch etliche weitere Angaben, die Eusebius im Onomastikon macht, sonderbar und ungenau34, deshalb gestattet die Sachlage nicht, dem im Neuen Testament erwähnten Nazareth eine reale Existenz rundweg abzusprechen. Ebensowenig ist es jedoch möglich, hier von einer unbezweifelbaren Tatsache auszugehen. An dem Ort, der heute Nazareth heißt, hat es schon in neutestamentlicher Zeit (und noch früher) eine Siedlung gegeben, das ist archäologisch erwiesen35, aber trug der Ort damals schon diesen Namen? Das neutestamentliche Nazareth könnte durchaus an einer anderen Stelle gelegen haben! Zum Glück müssen wir uns mit der Frage nach dem realen Nazareth nicht weiter beschäftigen, denn für unsere Argumentation spielt sie keine entscheidende Rolle. Falls es nämlich zur Zeit des Neuen Testaments in Galiläa eine Siedlung namens Nazareth gegeben hat, dann handelte es sich dabei um ein ganz und gar unbedeutendes Provinznest36; eine war der Ort (trotz Mt 2,23; Lk 1,26 etc.) sicher nicht. Den Beinamen »von Nazareth«/»Nazarener«/»Nazoräer« hätte man Jesus aber doch wohl nur dort geben können, wo Nazareth bekannt war, also in der näheren Umgebung. Lassen wir Mk 1,24 parr. beiseite (hier redet ein Dämon, der über übernatürliches Wissen verfügt), dann paßt innerhalb der Evangelien einzig Joh 1,45f. in ein galiläisches Milieu37. Davon abgesehen ist Jesus nie dort »der Nazarener/Nazoräer«, wo man es erwarten sollte, nämlich in der Wahrnehmung von Galiläern. Wohl aber bezeichnet ihn die Magd des Hohenpriesters von Jerusalem in Mk 14,67 als »den Nazarener«, und ähnlich ist er für die Magd in Mt 26,71 sowie für den römischen Statthalter Pilatus im Joh-Ev »der Nazoräer«. Viel näher hätte es gelegen, wenn diese Textfiguren ganz wie die Magd in Mt 26,69 von »Jesus dem Galiläer« gesprochen hätten.
Zusätzliche Zweifel an der Überzeugung, der »historische Jesus« sei im »historischen Nazareth« aufgewachsen, weckt Mt 2: Nachdem Jesus schon in Bethlehem geboren worden war, um die Schrift zu erfüllen (vgl. V. 5), zogen seine Eltern laut V. 23 später nach Nazareth, »auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen.«38 Daß Jesus tatsächlich in Bethlehem Ephrata geboren worden sei, wird in der historisch-kritischen Forschung für gewöhnlich bezweifelt: Das Motiv der Schrifterfüllung, so das Gegenargument, habe die Erinnerung an den wahren Geburtsort überlagert. Schon nach dieser Logik sollte nun aber auch die Herkunft aus Nazareth nicht für selbstverständlich gehalten werden, denn Matthäus bezeugt ja die Vorstellung, der Messias habe aus Nazareth kommen müssen.39
Selbst wenn die Herkunft Jesu aus Nazareth unhistorisch sein sollte, muß diese Tradition nicht auf dem Boden der Vorstellung entstanden sein, Jesus sei der von Jesaja verheißene nezer; es gibt alternative Herleitungsmöglichkeiten. Damit die Darlegung nicht ausufert, sei nur ein einziger Hinweis gegeben: Daß die (Juden-)Christen in Apg 24,5 als die »Sekte der Nazoräer« bezeichnet werden, weist nicht zwangsläufig auf den »Nazoräer« Jesus zurück; vielmehr könnte die Rede von »den Nazoräern« umgekehrt dazu geführt haben, daß Jesus zum Nazoräer wurde – und dann schließlich auch aus Nazareth kam40. Allerdings entscheidet die Genese des Begriffs nicht über den Sinn, der ihm später beigelegt wurde, und die Evangelien des Neuen Testaments sowie die Apostelgeschichte gehören bereits in die Zeit der zweiten und dritten Generation der Jesusgläubigen. Wo in diesen Texten von Jesus von Nazareth die Rede ist oder wo Jesus als bezeichnet wird, kann grundsätzlich immer ein Bezug auf Jes 7,11 mitschwingen.
Bei der Suche nach einer Erklärung für das »Nazarener« in Mk 1,24; 16,6 ist als weitere Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß das Wort auf einige Verse aus den Gottesknechtsverheißungen Deuterojesajas verweist.
In Jes 42,6 begegnet die Wortform we-ezzarekha die auf nazar »bewahren«, bezogen werden kann: Der Knecht Gottes wird als Licht für die Heiden »bewahrt«. Weiter ist Jes 49,6 zu berücksichtigen: Der Knecht Gottes läßt die nezure Jisrael41 die »Bewahrten Israels«, umkehren und wird zum Licht der Heiden. Allerdings ist es ebenso möglich, das we-ezzarekha in Jes 42,6 auf jazar »erschaffen«, zurückzuführen, deshalb streiten sich hier die Exegeten wie die Übersetzer. Für »bewahren« o.ä. entscheiden sich Luther 1534 und 1544 sowie Buber und die Zürcher Übersetzung von 2007, für »schaffen« die Einheitsübersetzung von 2016 und die Lutherbibel 2017. Die mit diesem Übersetzungsproblem verbundenen interpretatorischen Fragen sind derart komplex, daß sie den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen würden.
So oder so wirkt das im Umfeld des Gottesknechtes auftretende nazar jedoch längst nicht so stark akzentuiert wie das nezer in Jes 11,1. Daß Jesus zum »Nazarener« wurde, weil der Gott Israels seinen Knecht (möglicherweise) »bewahrte«, scheint unwahrscheinlich. Eher schon konnten die entsprechenden Verse dort, wo Jesus bereits aus anderen Gründen als »Nazarener« galt, sekundär auf ihn bezogen werden; daß die Gottesknechtstradition die Ausgestaltung der Geschichte Jesu in den synoptischen Evangelien vielfältig geprägt hat, ist unbestritten. Aber auch dies führt uns nicht näher an die beiden fraglichen Stellen in Mk 1 und Mk 16 heran – was sollen etwa die Worte des in Panik geratenen Dämons in Mk 1,24 mit dem »Licht für die Heiden« zu tun haben?
Am einfachsten läßt sich der dargestellte Befund wie folgt erklären: Bereits vor der Abfassung des Mk-Ev war Jesus in der christlichen Überlieferung zum Nazoräer/Nazarener und zu »Jesus von Nazareth« geworden.