Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die überhebliche Großstadtjournalistin Sarah Karft versetzt den österreichischen Bundeskanzler, um an ein Interview mit dem Hollywoodstar Edward Norton zu kommen. Äußerst erbost darüber, schickt sie ihr Chef kurzerhand nach Kärnten, um einen Bio-Bauern zu interviewen. Als Sarah schließlich im Ort "Äußere Einöde" in topmodischen High Heels bäuerlichen Grund betritt, ahnt sie nichts von den folgenschweren Entdeckungen, die sie bald machen wird. Der gutaussehende Chefredakteur der Villacher Regionalzeitung, der sich über sie lustig macht, lässt ihr Herz dennoch höher schlagen. Als sie einander näher kommen, wendet er scih entschieden von ihr ab. Eine Beziehung mit ihm scheint unmöglich zu sein ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 417
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Gewidmet allen kleinen Bio-Bauern, die mutig gegen Goliath kämpfen und allen Menschen, die an ihren Ideen zur Umsetzung für einen respektvollen Umgang mit Mensch, Tier und Natur festhalten und nicht aufgeben.
Und für Werner,
meinen Ehemann, besten Freund und Förderer,
sowie meine Kinder Nicolas, Ian und Jasmin.
Mögen sie dieses Ansinnen weitertragen ...
Suzanne Réko, 1978 in Salzburg geboren und dort aufgewachsen, verließ nach Abschluss akademischer Studien ihre Heimatstadt und wohnte einige Jahre in Wien, Heidelberg und in Leipzig. Derzeit lebt sie mit ihrer Familie wieder im schönen Salzburger Land. Neben zeitgenössischen und historischen Romanen schreibt sich auch Thriller und Krimis.
Du mein´ liebe Freude, wo bist du zu Haus?
Ach sag´ mir´s wo wohnst du, mein Herzallerliebst?
Ich such´ dich bei Tische, dort wo man gut isst
beim Tanz, bei Musik, ja, dort wo man schön singt.
Die richtige Freude dort findet man nicht
vor Säufern und Tänzern da läuft sie davon.
Ich such dich auf Wiesen, wo Blumen blühn,
im Wald, wo die Vöglein singen schön.
Die fröhlichen Vögel, die Blumen schön, sie haben die Freude
für ein junges Herz.
Zum Schluss finde ich
die Freude doch
am Dorfplatz da drüben, erreich ich sie doch.
Schau dort,
ja dort,
ja dort spielt sie mit Kindern lieb
bei ihnen, dort ist sie zu Haus.
Du, mein´ liebe Freude
wo bist du zu Haus´,
wo bist du zu Haus´,
wo bist du zu Haus´?
Ach sag´ mir´s wo wohnst du,
mein Herzallerliebst, mein Herzallerliebst, mein Herzallerliebst?
Auf Berg und im Tale dir laufe ich nach,
ich möchte dich sehen und möcht´ dich berührn,
und möcht´dich berührn,
und möcht´ dich berührn.
„Freude, wo bist du zu Haus?“, Slowenisches Volkslied
„Was du dir diesmal geleistet hast, liebe Sarah, wird nicht ohne Konsequenzen bleiben. Ich denke, das ist dir klar.“
Chefredakteur Matthias Hüttinger lehnte sich auf seinem schweren Drehstuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während er sein Gegenüber erzürnt musterte.
„Ja, aber es war nicht meine Schuld“, versuchte Sarah Brunner (Lesern der „Allgemeines Österreich“ als Sarah Kraft bekannt) ihren Vorgesetzten zu beruhigen. „Ich habe doch versucht, an Edward Norton ran zu kommen und deswegen die Zeit übersehen. Ich meine Edward Norton! So eine Gelegen...“
„Edward Norton fällt nicht in deinen Aufgabenbereich.“
„Ach, komm schon, Matthias, ich wusste nicht, dass der österreichische Bundeskanzler interessanter für unsere Leser ist als Ed...“
„Ich kann mich nur sehr über dich wundern. Wir sind doch nicht die K.-Zeitung, oder?“ Er schüttelte unwillig den Kopf. „Hätte mir echt denken können, dass du noch nicht für die große Story bereit bist!“
„Doch, bin ich! Wirklich!“
„Man lässt den Bundeskanzler nicht warten! Oder besser gesagt, man versetzt ihn nicht!“
„Du tust so, als wäre er Barak Obama!“
„Natürlich! Er mag zwar nicht der mächtigste Mann der Welt sein, aber immerhin fühlt er sich so.“
„Pah!“ Sarah betrachtete angelegentlich ihre schön manikürten Fingernägel. Besonders stolz war sie auf die Swarovski-Steine, die auf den Nägeln glitzerten.
„Auf alle Fälle habe ich eine Story für dich, bei der kannst du nicht allzu viel falsch machen.“
„Na toll!“
„Du fährst nach Kärnten zu einem Bio-Bauern.“
„Nach Kärnten?“
Hüttinger nickte entschieden.
„Zu einem Bio-Bauern?“
„Bravo, du hast die Challenge verstanden.“
„Das kann doch nicht dein Ernst sein! Bei der Thematik fang ich an zu gähnen! Siehst du?“
Demonstrativ gähnte sie.
Hüttinger ignorierte sie und reichte ihr die Adresse über den Tisch.
„Du fährst hin, machst ein Interview, schreibst einen netten Bericht und wenn du zurückkommst, habe ich vielleicht etwas Anspruchsvolleres für dich.“
Sie starrte ihn ungläubig an.
„Verhaue es nicht“, riet er ihr und erwiderte ihren Blick.
„Dürfte nicht allzu schwer sein“, grummelte sie. „Ich meine, so ein Bauer hat doch ein einfaches Gemüt. Ich hoffe, er versteht meine Fragen.“
„Kann mir kaum vorstellen, dass du allzu schwierige Fragen zusammenkriegst.“
„Bist aber wieder nett.“
„Jedem, was er verdient. Und nun raus hier, ich hab noch Wichtigeres zu tun.“
Sarah erhob sich und steckte die Adresse in ihre Jeanstasche.
„Wann soll ich fahren?“
„Am besten sofort.“
„Na super.“
„Byeiii!“
Bevor Sarah die Redaktion verließ, hatte sie eine Praktikantin damit beauftragt, bei besagtem Bauern anzurufen und sie anzukündigen. Erst als sie ein Okay erhalten hatte, packte sie ein paar Sachen in einen Koffer, warf diesen in den Kofferraum ihres Minis und machte sich auf den Weg nach Kärnten.
Es war früher Nachmittag, als sie in Villach von der Autobahn abfuhr und sich auf die B 98 in Richtung Arriach in den Verkehr einordnete.
Die Strecke zog sich in die Länge und als Sarah das Ortsschild „Äußere Einöde“ passierte, kamen ihr die ersten Zweifel, noch auf dem richtigen Weg zu sein. Ihr Navi allerdings deutete unbeirrt die gleiche Richtung an – aber es wäre nicht das erste Mal, dass es sich irrte. Um sicher zu gehen, wendete sie den Wagen und fuhr ein paar Kilometer zurück nach Treffen am Ossiachersee. Gegenüber vom Hotel Kichler-Wirt parkte sie und stieg aus. Es war ziemlich wenig los hier, stellte sie fest und blickte sich um. Das Schild einer ortsansässigen Zeitung sprang ihr ins Auge und sie las: „Villacher-Land-Aktuell“. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei um ein kleines regionales Blatt, das mehr Anzeigen als anspruchsvollen Journalismus für seine Leser bereithielt. Sie konnte sich den pausbackigen, rotwangigen Chefredakteur geradezu bildlich vorstellen, wie er hinter einem mit Papierstapeln übersäten Schreibtisch thronte und einen Schweinebraten mampfte.
Sarah verdrehte die Augen. Es konnte ja nicht schaden, sich den Kollegen vorzustellen und vielleicht bei dieser Gelegenheit ein wenig mehr über den Bauern und den richtigen Weg zu diesem zu erfahren.
Sie reckte das Kinn ein wenig in die Höhe – schließlich schrieb sie für eine ziemlich bekannte Großstadtzeitung – öffnete die Tür und trat ein.
Obwohl hier auf dem Land, strömte doch dieser spezielle Redaktionsgeruch auf sie ein: Jene leise knisternde Spannung lag in der Luft, die sie hier unter keinen Umständen erwartet hatte. Nun gut, vielleicht hielten ja hier sogar schnöde Anzeigen die Redaktion in Atem … Gleich neben dem Eingang stand so etwas wie ein Empfangstisch, der jedoch nicht besetzt war – was Sarah nicht wirklich überraschte. Die Tür zu einem angrenzenden Büro stand offen und Sarah steuerte darauf zu. Die nächste Überraschung erwartete sie, als sie in den Raum spähte und hinter einem Schreibtisch (der sehr aufgeräumt wirkte) einen Mann - man könnte ihn durchaus als stattlich bezeichnen - sitzen sah, der auf einen Computerbildschirm starrte und in rasender Geschwindigkeit einen Text tippte. Er schien in seine Arbeit derart versunken zu sein, dass er ihre Anwesenheit nicht bemerkt hatte. Sarah räusperte sich und klopfte an den Türrahmen. Er tippte den Satz zu Ende und blickte auf.
Ein Lächeln teilte seine Lippen, als er aufstand und auf sie zu kam.
„Grüß Gott“, sagte er mit tiefer, freundlicher Stimme und reichte ihr die Hand. Meine Güte, er war mindestens dreißig Zentimeter größer als sie!
„Hallo“, erwiderte sie und um sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen, setzte sie wieder ihren hochnäsigen Gesichtsausdruck auf und meinte arrogant: „Ich suche den Chefredakteur, wenn es hier so etwas überhaupt gibt.“
Das Lächeln verschwand und er deutete mit einer Hand auf einen Stuhl, der seinem Schreibtisch gegenüberstand.
„Das bin ich. Was kann ich für Sie tun?“
Sarah ließ sich in den Sessel sinken und seufzte.
„Wunderbar. Ich bin Redakteurin beim ‚Allgemeines Österreich‘ und muss für einen Artikel in einem dieser Kaffs hier einen Bio-Bauern interviewen.“
Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, verschränkte die Arme und lehnte sich abwartend zurück.
„Und?“
„Nicht dass Sie denken, dass ich mich normalerweise mit derart zweitklassigen Themen befasse – ich mache einem meiner Kollegen einen Gefallen.“
Er lüpfte eine Augenbraue, während er sie distanziert betrachtete.
„Und was habe ich damit zu tun?“
„Erstens habe ich mir gedacht, es kann nicht schaden, wenn ich mich mal vorstelle, schließlich sind wir ja trotzdem so etwas wie Kollegen.
Zweitens ...“
„Trotz was?“
„Wie?“
„Trotz was sind wir Kollegen?“
„Nun ja, trotzdem, dass sie für ein kleines Anzeigenblatt arbeiten und man das ja nicht wirklich als Journalismus bezeichnen kann. Das meinte ich. Ich meine, wenn Sie bei der New York Times wären, würde die Sache ganz eindeutig sein, aber so … ach, wo war ich? Vielleicht brauchen sie ja mal einen journalistischen Rat, Sie können mich gerne fragen, wenn Ihnen etwas unklar ist. Satzformulierungen und so ...“
„Sehr nett.“
„Aber ich wollte ja eigentlich sagen, dass ich diesen Bauern irgendwie nicht finde. Es kann doch nicht sein, dass nach der ‚Äußeren Einöde‘ die Welt weitergeht? Ich meine, wir leben ja nicht mehr im Mittelalter, ich weiß, dass ich dahinter nicht von der Erdscheibe fallen werde, aber ich frage mich: Lebt da noch etwas? Ich will mich da echt nicht verfahren, es könnte ja sein, dass sich das Navi irrt und dann stehe ich irgendwo auf einem Waldweg und kann nicht mehr wenden. Die ganze Natur und nur mehr ich. Macht mir echt Angst.“
„Kann ich mir vorstellen.“
„Sehr schön, Ihr Einfühlungsvermögen, eine durchaus wichtige journalistische Fähigkeit. Weiß zwar nicht, wozu Sie das brauchen, bei dem Job, den Sie hier machen, aber mir hilft‘s.“
„Also, um ehrlich zu sein, manchmal habe ich damit schon Probleme, verstehen Sie?“ Er kratzte sich betont einfältig am Kinn. „Ich meine, wenn wieder so eine Anzeige aufgegeben wird für einen Abend mit den ‚Gebiertigen Viellachern‘.“
Sarah blickte ihn ein wenig mitleidig an und bemerkte nicht, dass er begonnen hatte, sie aufs Korn zu nehmen. „Gebiertige Viellacher?“
„Das ist so eine Musikgruppe hier.“
„Verstehe. Na ja, nehmen Sie‘s nicht zu schwer. Was will man hier denn auch erwarten?“
„In Ihrem Fall wohl nicht viel.“
Nun begann er mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln.
„Meine werte Kollegin, also bitte, kommen wir zum Punkt. Wohin müssen Sie?“
„Dieser Mann heißt Salcher. Der Hof origineller Weise ‚Salcherer-Hof‘.
Schon davon gehört?“
„Ja, ist mir ein Begriff. Wissen die dort, dass Sie kommen?“
„Hoffentlich! Meine Praktikantin hat mich angekündigt. Allerdings weiß man ja nie genau, ob die einen verstehen. Ich meine, so ein Bauer ist doch eher einfach gestrickt, oder? Dem wird so eine Konversation mit einem Stadtmenschen ziemlich schwer fallen.“
„Durchaus möglich. Die Bauern hier kommen ja kaum weg von den Weiden.“
Seine grünen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während er sich wieder zurücklehnte und sie musterte.
„Wahrscheinlich hat er den Hauptschulabschluss mit Mühe geschafft.“
„Gut möglich. Sie können nur froh sein, dass er einen Telefonanschluss hat!“
„Das bin ich wirklich, das können Sie mir glauben! Ich meine, es beruhigt, wenn man mitten in der Nacht aufwacht und man weiß, man kann zur Außenwelt Kontakt aufnehmen. Bin überzeugt, ein Handynetz oder so gibt’s hier sicher nicht … Da ist es wirklich sehr, sehr, sehr … tröstlich, wenn man zumindest auf ein Festn... “ „Sie wollen dort übernachten?“
„Hab ich mir so gedacht. Warum nicht?“
„Nur so, war nur eine Frage. Sie legen also keinen Wert auf fließendes Wasser - und ein Plumpsklo bringt sie auch nicht aus der Fassung?“
„Wie, Plumpsklo?“
„Naja, Sie wissen schon ...“
„Die haben kein WC?“
„Bin mir nicht sicher.“
„Strom?“
„Doch, das schon. Würde dafür aber nicht die Hand ins Feuer legen.“
Entsetzt starrte sie ihr Gegenüber an, dessen Miene keine Gefühlsregung verriet.
„Nun vielleicht sollte ich mir doch ein Hotel hier in der Nähe suchen.“
„Wäre vielleicht nicht die dümmste Idee.“
„Gut, zuerst werde ich aber mal zu dem Hof fahren. Wenn Sie so freundlich wären, mir den Weg zu skizzieren?“
„Gerne.“ Er nahm einen Zettel von einem Block und zeichnete ihr die Route auf.
„Wollen Sie sofort hinfahren?“
„Natürlich! Je eher ich die Sache hinter mir habe, desto schneller kann ich diesem Ende der Welt den Rücken zukehren. Warum fragen Sie?“
„Soweit ich weiß, kommt der Bauer erst am Abend auf den Hof.“
„Und wenn schon, ich werde ihn schon finden. Kann ja nicht weit sein, oder?“
Der Chefredakteur der ‚Villach-Land-Aktuell‘ zuckte mit den Achseln und reichte ihr die Skizze.
„Viel Glück“, sagte er.
„Danke!“
Sie erhob sich, legte ihre Visitenkarte auf seinen Tisch und stolzierte Richtung Tür.
„Und, wie gesagt“, meinte sie und blickte über die Schulter zurück, „Sie können mich jederzeit kontaktieren, sollten Sie Rat brauchen.“
Damit schwebte sie aus dem Raum und er biss leicht wütend die Zähne zusammen. Der Tussi würde er es schon noch zeigen.
Dank der genauen Skizze des Chefredakteurs fuhr Sarah bereits 20 Minuten später auf den „Salcherer-Hof“. Bis auf das Muhen vereinzelter Kühe war es still. Sarah stieg aus und blickte sich um. Der Salcherer-Hof war groß und U-förmig angelegt. Rechter Hand befand sich das Bauernhaus und linker Hand ging es zu den Stallungen, verbunden wurde das Ganze durch ein Wirtschaftsgebäude, in dessen Mitte ein Durchgang auf die Wiesen dahinter führte. Mehrere Autos mit ausländischen Kennzeichen parkten im Hof und Sarah wunderte sich darüber, was deren Besitzer hier zu suchen hatten. Ein Streichen an ihren Füßen ließ sie nach unten blicken und sie entdeckte eine kleine Katze, die sich an sie schmiegte.
„Bist du aber süß!“, stellte Sarah fest, bückte sich, wobei sie darauf achtete, dass ihr Rock nicht über die Knie rutschte, und hob das schnurrende Kätzchen auf den Arm.
„Weißt du, wo ich den Bauern finde?“
Sie wandte sich zur Eingangstür des Bauernhauses, die von bunten Blumen in schweren Terracottatöpfen eingerahmt eine wahre Augenweide war. Das Holz der Tür war dunkel und schwer und schien schon sehr alt zu sein. Entschlossen ging sie darauf zu und klopfte, dabei rief sie laut „Halloooo!“
Nicht lange und die Tür öffnete sich. Eine Frau in den mittleren Jahren stand vor ihr und blickte sie fragend an.
„Was kånn i für Sie tan?“
„Hallo, ich bin Sarah Kraft von der ‚Allgemeines Österreich‘. Ich soll ein Interview mit Herrn Salcher führen. Eine meiner Assistentinnen hat mich bereits angekündigt.“
„I nimm an, Sie sprechen von meim Sohn?“
„Michael Salcher. Vielleicht Ihr Mann?“
„Mei Sohn. Er is gråd nit da.“
„Das hat der Heini vom hiesigen Blatt auch angenommen. Egal, wo finde ich ihn?“
„Der Heini?“
„Der Chefredakteur von, na, wie heißt denn nochmal die Regionalzeitung von hier?“
„Viellacher-Land-Aktuell.“
„Genau.“
„Sie warn entn?“
Die Frau blickte sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
„Warum nicht? Wie gesagt, ich bin hier, um Ihren Sohn zu interviewen.
Das heißt Fragen zu stellen und darüber einen Artikel für die Zeitung zu schreiben. Sie verstehen, was ich meine?“
„Ja“, meinte Frau Salcher vorsichtig, „Aber er kimmt erst am Abend.
Sie sollten ihn anrufen und einen Termin måchn.“
„Ich könnte aber auch einfach hier auf ihn warten. Wo kann ich übernachten?“
„Tuat ma leid, hier gibt es keine Möglichkeit. Mia san ausgebucht.“
„Ausgebucht?“
„Feriengäste.“
„Hier?“
Sarah blickte sich entgeistert um. Deswegen also die Autos. Aber wer, bitteschön, machte hier freiwillig Urlaub?
„Ja. Urlaub auf dem Bauernhof is sehr beliebt. Des wissn se sogar in Teilen Wiens.“
„Oh, nun ja, jeder, wie er will. Dann werde ich mir mal ein Hotel in der Nähe suchen.“
„Tuans des! Ah und rufen Se an, bevor Se das nächste Mal keman.“
„Ja, klar.“
Sarah setzte die Katze vorsichtig auf den Boden und wandte sich zu ihrem Auto um.
„Wiedersehen!“, rief ihr Frau Salcher hinterher und Sarah winkte mit einer Hand zurück.
Im Hotel Kichler-Wirt gab es noch freie Zimmer und Sarah stellte ein wenig erschöpft ihre Reisetasche in einem davon ab. Irgendwie war der Tag bisher nicht gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Jetzt würde sie zuerst aber mal etwas essen gehen. Sie setzte sich in den Gastgarten und bestellte bei einem leicht merkwürdigen Kellner. Dann blickte sie auf die andere Straßenseite in Richtung der „Villacher-Land-Aktuell“-Redaktion. Weit war sie ja nicht gekommen.
Gegen 17.00 Uhr sah sie den Chefredakteur die Tür abschließen und mit dem Auto davonfahren. Er hatte sie nicht gesehen und sie machte keine Anstalten, sich bemerkbar zu machen.
Um 19.00 Uhr war sie wieder in ihrem Zimmer und griff zum Telefon, um den Bio-Bauern anzurufen. Eine Frau hob ab und Sarah erkannte an der Stimme, dass es sich um die Mutter des „Königs vom Salcherer-Hof“, wie sie ihn mittlerweile heimlich nannte, handelte. Sarah stellte sich vor.
„Ach ja, i hol ihn. Kånn aber ein paar Minuten dauern. Er is grad beim Melken.“
„Ich warte.“
Sarah setzte sich aufs Bett und begann, mit dem Fuß zu wippen. Sie hörte die Frau weggehen, Türen schlagen, Stimmen, die irgendwo im Hintergrund sprachen, eine laute Maschine, die wohl in den Hof gefahren wurde, etwas auf den Boden fallen. Sie hörte wieder Schritte, Kinderlachen, eine Katze miauen und sie wartete geschlagene 20 Minuten. Dann endlich näherten sich schwere Schritte dem Telefon.
„Ja?“ Die Stimme klang wirklich unterbelichtet und Sarah verdrehte die Augen.
„Hallo, hier spricht Sarah Kraft von der ‚Allgemeines Österreich‘.
Meine Assistentin hat Sie bereits angerufen und darüber informiert, dass ich kommen werde.“
„Wås? Wer?“
„Meine Assistentin. Ich soll Sie interviewen. Das heißt, ich stelle ein paar Fragen und Sie antworten. Dann schreibe ich darüber einen Artikel und danach wird es in der Zeitung gedruckt.“
„Wie? Eine Zeitung? Aber worüber wolln se denn schreiben?“
„Ja, ich soll über die Arbeit auf einem Bio-Bauernhof schreiben. Das hat meine Assistentin Ihnen aber bereits erklärt!“
„Kånn mi nit erinnern.“
Sarah seufzte. Ungefähr so hatte sie es sich vorgestellt.
„Ich bitte Sie, ich bin den weiten Weg von Wien gekommen, um mit Ihnen zu sprechen und Ihnen bei der Arbeit kurz über die Schulter zu schauen. Es dauert nicht lange. Wann haben Sie Zeit?“
Kurz war es am anderen Ende der Leitung still.
„Na ja, wenn Se extra aus Wien keman seint ...“
„Ja, nur um mit Ihnen zu sprechen. Also, darf ich vorbeikommen?“
„Äh, na guat. Morgen.“
„Wunderbar! Wann?“
„6.30 Uhr.“
„Am Abend?“
„Na, in da Frua. Da bin i im Stall.“
Sarah holte tief Luft.
„Um 6.30 Uhr in der Früh? Sie meinen am Morgen?“
„Ja, da kinan mia reden. I muass mi nur nebenbei um die Kiah kimmern.“
„Haben Sie noch einen anderen Termin frei?“
Sie konnte fast durch den Hörer hören, wie sich seine Gehirnrädchen drehten. Meine Güte, schlimmer hatte es wohl kaum kommen können!
„Ja.“
„Wann?“
„Übermorgen.“
„Sehr schön. Zu welcher Uhrzeit?“
„6.30 Uhr.“
„Sie wollen mich wohl verarschen?“
„A naaa, sonst håb i keine Zeit fia so a Gesprächdings. Also, wenn Se reden wolln, miassn Se lei um die Uhrzeit keman.“
„Gut, dann bringen wir es morgen hinter uns. Ich werde um 6.30 Uhr im Stall sein.“
„Pfiardi“, sagte er und legte auf.
Fassungslos starrte Sarah auf den Hörer. Das konnte ja heiter werden!
Es war viel zu früh, um aufzustehen, aber immerhin wollte Sarah zurück nach Wien und der Bauer schien nicht sehr kooperativ zu sein. Als wäre der König vom Salcherer-Hof so begehrt, dass er nur in Herrgottsfrüh eine Audienz gewähren konnte! Der Mann hatte wirklich einen Verstand wie ein Schmalspurochse. Mit Gedanken dieser Art hielt sie sich wach, während sie die einsame Strecke in Richtung Arriach entlangfuhr. Gähnend erreichte sie den Hof, stellte den Wagen ab und ging zu den Stallungen. Licht fiel aus dem Inneren und bildete ein leuchtendes Rechteck auf dem Boden vor der geöffneten Tür. Der Hof strahlte betriebsame Ruhe aus.
„Hallo?“, rief Sarah und trat in den Stall, der nach Dung und Heu roch.
Einige Meter entfernt stand ein Mann neben einer Kuh und untersuchte gebückt ihr Euter. Beim Klang ihrer Stimme richtete er sich auf und drehte sich um. Überrascht erkannte sie den Chefredakteur der „Villacher-Land“.
„Was machen denn Sie hier?“, fragte Sarah überrascht.
„Ich warte auf den Bauern“, entgegnete er. „Was Sie hier machen, kann ich mir ja denken.“
„Ja, er hat gesagt, ich könnte ihn um diese Zeit hier antreffen.“
„Er wird sicherlich gleich kommen.“
Er beugte sich wieder zu der Kuh und fingerte an dem Melkzeug herum.
„Dürfen Sie das?“
„Sicher. Ich helfe ihm immer mal wieder.“
Sarah verzog das Gesicht, kehrte zum Eingang zurück und blickte in den Hof.
„Hier stinkt´s nach Stall“, stellte sie fest und rümpfte angewidert die Nase.
„Was Sie nicht sagen.“
Eine Weile schwiegen sie.
„Darf ich mich aus journalistischer Neugierde heraus erkundigen, welche Fragen Sie dem Bauern stellen wollen?“
Sarah kehrte zu ihm zurück.
„Selbstverständlich. Also zuerst möchte ich wissen, wie viele Kühe er hat.“
„Aha.“
„Und wie lange er dafür braucht, sie zu melken.“
„Das interessiert Ihre Leser?“
„Pah, keine Ahnung, was die überhaupt an dem Thema interessieren könnte!“, stöhnte sie und gähnte. „Ist das alles öd!“
„Und weiter?“
„Dann hab ich mir gedacht, ich frag ihn, ob er eine spezielle Lieblingsfarbe bei den Kühen hat.“
„Lieblingsfarbe?“ Er richtete sich auf und ging zur nächsten Kuh, der er zart aufs Hinterteil klopfte.
„Schon mal aufgefallen, dass Kühe unterschiedliche Farben haben?
Schwarz, braun usw.“
„Mir schon, bin überrascht, dass Sie es bereits entdeckt haben.“
„Sie denken wohl, nur weil ich in der Großstadt lebe, habe ich vom Landleben keine Ahnung?“
„Den Eindruck haben Sie mir vermittelt.“
„Da irren Sie sich aber gewaltig!“
Sarah ging wieder zur Tür und blickte über den Hof, der in graues Dämmerlicht gehüllt war. Ein leicht rötlicher Schimmer hatte sich auf einen der gegenüberliegenden Berggipfel gelegt, der in großer Entfernung hinter dem Hof aufragte.
„Wann kommt er denn endlich?“
„Und welche hochkarätigen Fragen haben Sie sich noch ausgedacht?“
„Ob er schon mal bei einer Sendung wie ‚Bauer sucht Frau‘ mitgemacht hat.“
Nun starrte er sie ungläubig an. Eine Haarsträhne war ihm ins Gesicht gefallen, die er nun mit einer Hand nach hinten schob.
„Nicht Ihr Ernst!“
„Doch, warum nicht? Wie soll denn so einer sonst eine Frau finden?“
Er zuckte mit den Achseln.
„Das stellt allerdings wirklich ein Problem dar. Mit der Schulausbildung und den Sprachproblemen die er hat, vom Stottern ganz zu schweigen … Der findet keine.“
„Er stottert? Ist mir am Telefon gar nicht aufgefallen.“
„Wahrscheinlich hat er nicht viel gesagt.“
Sarah überlegte kurz.
„Hat er nicht.“
„Aber das Stottern fällt nicht so auf wie sein Hinken.“
„Er hinkt auch noch?“
„Natürlich, oder wieso denken Sie sonst, braucht er für das bisschen Arbeit hier auf dem Hof den ganzen Tag! Ein gesunder Mann hat das im Handumdrehen gemacht. Aber Michael braucht halt leider für alles um Einiges länger.“
Mittlerweile war der Chefredakteur bei der nächsten Kuh angelangt.
„Meine Güte!“, entfuhr es ihr, „Da hilft dann nicht mal Bauer sucht Frau.“
„Sie sagen es. Aber nun weiter, welche Fragen möchten Sie ihm noch stellen?“
„Welche Tiere er sonst noch hat.“
Nun hielt er in der Arbeit inne, richtete sich zu seiner kompletten Größe auf und betrachtete sie belustigt.
„Ich glaube, Sie schreiben eigentlich für die Spatzenpost?“
Sarah verschränkte empört die Arme.
„Wieso?“
„Nun ja, Ihre Fragen haben, gestatten Sie mir die Offenheit, Kindergartenniveau. Hätte mir nie gedacht, dass ich der Großstadtreporterin mal einen kleinen Rat geben darf. Der da, im Übrigen, lautet: Stellen Sie andere Fragen!“
„Wie können Sie es wagen!“, schnaubte Sarah wütend. „Sie kleiner Vorortjournalist!“
Sie reckte ihr Kinn in die Höhe und funkelte ihn herausfordernd an.
„Wenn Sie schon so klug sind, welche Fragen würden Sie denn stellen?
Da bin ich jetzt aber seeehr neugierig!“
Gelassen ging er weiter zur nächsten Kuh.
„Meine Wenigkeit würde Fragen stellen wie: In Deutschland gibt es immer weniger Bio-Bauern, die ihr Überleben allein durch die Landwirtschaft sicherstellen können. Kann man diesen Trend auch in Österreich beobachten?“
Sarah starrte ihn an. „Die Frage versteht er ja nicht einmal.“
Unbeirrt fuhr er fort: „Oder: Was bedeutet Land Grabbing? Wie wirkt es sich auf die österreichischen Bauern aus? Oder: Wie, denken Sie, würde sich das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA auf die europäische Landwirtschaft auswirken und im Besonderen auf Österreich?“
„Hören Sie sofort auf!“
„Oder: Sollte ein Bio-Bauer seine Tiere zum Schlachter transportieren lassen? Wie stehen Sie dazu?“
„Das ist doch nicht zu fassen! Wofür halten Sie sich? Mr. Oberklug?“
„Oder: Die heutige Landwirtschaft unterliegt einem stetigen Wandel.
Was hat sich in den letzten 20 Jahren verändert?“
„Jetzt seien Sie doch endlich still! Ich gehe jetzt und suche den Bauern höchstpersönlich!“
Schnaubend stapfte sie aus dem Stall, über den Hof und klopfte rücksichtslos gegen die Tür des Bauernhauses.
Frau Salcher öffnete.
„Er is im Stall“, sagte sie freundlich.
„Nein, ist er nicht. Dort ist nur dieser schreckliche Mensch von der Zeitung. Ihren Sohn habe ich nirgendwo gesehen.“
Frau Salcher blickte Sarah an, als wäre diese geistesgestört.
„Natürlih is er dort und wenn Se den Chefredakteur vom ‚Villacher-Land‘ meinen, redn ma von ein und derselben Person.“
Verwirrt fixierte Sarah ihr Gegenüber.
„Das kann doch wohl nicht wahr sein ...“
Kurz stand sie regungslos da und starrte die Bäuerin an, dann fühlte sie noch mehr Wut in sich aufsteigen. „Na, warte, der kann was erleben!“
Sie machte mit den Fingern eine Bewegung, die wirkte, als würde sie ihre Krallen ausfahren. Abrupt machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte zornbebend zum Stall zurück.
Michael Salcher war nirgendwo zu sehen.
„Wo sind Sie? Warten Sie nur, wenn ich Sie finde!“, kreischte sie. Die Kühe blickten mit großen Augen in ihre Richtung.
Am Ende des Stalles führte eine Tür in einen angrenzenden Raum, aus dem ohrenbetäubender Maschinenlärm zu hören war. Entschlossen ging sie darauf zu. Er stand neben einem riesigen Milchbehälter und kontrollierte eine Anzeige.
Sie rempelte ihn von hinten unsanft an und er drehte sich um.
„Das werden Sie mir büßen!“, fauchte sie. „Mich so zu verarschen!“
„Oh, wie ich sehe, haben Sie ein wenig recherchiert. Kann nie schaden, bevor man ein Interview führt.“
Sie sprachen beide lauter, um den Lärm zu übertönen.
„Ich werde jetzt fahren!“
Eilig wandte sie sich um und hastete durch den Stall. Diese ganze Reportage war ein einziges Desaster! Und wenn sie ihren Job verlor – es würden sie hier keine zehn Kühe länger halten. Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter und hielt sie zurück.
„Nun sind wir quitt“, sagte er, doch sie stieß ihn fort und würdigte ihn keines weiteren Blickes.
„Oh nein, da irren Sie sich. Das sind wir noch lange nicht!“
Mit diesen Worten verließ sie den Stall, setzte sich in ihr Auto, knallte die Tür zu und fuhr mit aufheulendem Motor vom Hof.
Kurz vor halb acht Uhr war Sarah bereits wieder im Hotel und beschloss, sich mit einem ausgedehnten Frühstück zu beruhigen. Sie war noch immer wütend und fest entschlossen, ihren Chef davon zu überzeugen, diese Reportage auf sich beruhen zu lassen. Am Frühstücksbuffet schaufelte sie sich Unmengen an Essen auf zwei Teller – obwohl sie genau wusste, dass sie nur einen Bruchteil davon essen würde (natürlich wegen der Linie – die Freude am Essen hatte sie sich schon vor einigen Jahren abgewöhnt). Auf dem Weg zu ihrem Tisch entdeckte sie diverse Tageszeitungen ausliegen, darunter – wie könnte es auch anders sein – die VLA.
„Vlaaaaa“, murmelte sie angewidert, griff aber dennoch mit spitzen Fingern danach.
„Antibiotikaresistente Keime in sechs von sieben Hühnerfleischproben“, titelte das Blatt. Als Aufmacher blickten den Leser abgemagerte, apathische Hühner aus Massentierhaltung an.
Sarah ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Nach einem Anzeigenjournal sah das nun allerdings nicht aus. Natürlich hatte den Leitartikel der Chefredakteur höchstpersönlich geschrieben und während sie durchblätterte, entdeckte sie, dass anscheinend mehrere Redakteure für die Zeitung arbeiteten. „Fairtrade-Siegel für Arbeitsbedingungen auch innerhalb der EU?“, stand auf Seite zwei und Sarah las über die immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen innerhalb der EU, insbesondere für Erntehelfer in Spanien und Deutschland. Laut der Quelle lebten sie wie Sklaven ohne jegliche Rechte und der Autor forderte, dass ein Fairtrade Label auch auf inländischen Produkten den Käufer über die sozialen Hintergründe informieren sollte. Sarah blätterte wieder auf die Titelseite und las den Bericht über Massentierhaltung, den Einsatz von Antibiotika und deren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen. So erfuhr sie, dass in der Humanmedizin in Österreich jährlich 45 Tonnen und in der Veterinärmedizin 60 Tonnen Antibiotika eingesetzt würden. Ein Arzt wurde zitiert, der berichtete, dass in Krankenhäusern Resistenzen nicht behandelt werden könnten, dass Landwirte oft genau diese Resistenzen aufwiesen und man dadurch unter anderem schon an einer Lungenentzündung sterben könnte.
Enorme Kosten für das Krankensystem entstünden dadurch, dass die Patienten isoliert behandelt werden müssten und das Pflegepersonal gezwungen sei, die Kleidung nach jedem Kontakt zu wechseln, usw.
Als Ausweg führte Salcher die Rückkehr zur regionalen, kleinen Bio-Landwirtschaft an, bei der die Besatzdichte der gehaltenen Tiere und die Haltung artgerecht wäre. Auch erläuterte er, dass der Bio-Bauer Antibiotika erst einsetzte, wenn alle anderen Maßnahmen, z.B. pflanzliche Heilverfahren, nicht wirkten. Zum Schluss appellierte er an den Leser, den Fleischkonsum einzuschränken und dafür qualitativ hochwertiges Fleisch zu kaufen, dessen Herkunft geklärt ist.
„Puh“, machte Sarah und lehnte sich zurück, dann griff sie nach einer Semmel, schnitt sie entzwei und bestrich sie. „Meine Güte, wer soll so etwas lesen?“
Kauend legte sie die VLA beiseite und angelte sich die Allgemeines Österreich. Auch hier der Titel „Skandal: Antibiotika in Hühnerfleisch!“
Sarah las auch diesen Artikel und war überrascht, dass er bei weitem nicht das Niveau hatte, sowie fundiertes Hintergrundwissen vermittelte, wie der Artikel in der VLA.
„Immerhin werden wir österreichweit gelesen“, sagte sie zu sich selbst, legte auch diese Zeitung beiseite und konzentrierte sich auf das Essen.
Es schmeckte so lecker und sie musste sich widerwillig eingestehen, dass man die Nähe zum Bauern aus Wurst und Brot durchaus herausschmecken konnte – die Butter allerdings war ein wenig gewöhnungsbedürftig. Ein Glück, dass sie nicht hier wohnte, bei dem Essen würde sie aufgehen wie Germteig!
Nach dem Frühstück ging sie auf ihr Zimmer und wählte Hüttingers Nummer.
„Matthias“, sagte sie, nachdem er sich gemeldet hatte, „ich komme heute zurück. Das bringt hier nichts.“
„Heute schon die Schlagzeilen gelesen?“, fragte ihr Chef ruhig.
„Ja.“
„Dann weißt du ja, dass alle Blätter voll mit dem Hühnerfleisch-Skandal sind.“
„Ja.“
„Die K.-Zeitung betitelt es wie folgt ‚Hühnerfleischskandal – Werden wir nun alle sterben?‘“
„Wie dramatisch. Hab ich heute noch nicht gesehen, dafür aber so ein Regionalblatt von hier.“
„Was schreiben die?“
„‚Antibiotikaresistente Keime in sechs von sieben Hühnerfleischproben‘.“
„Ziemlich hochgestochen. Versteht das dort überhaupt wer?“
„Keine Ahnung.“
„Wie dem auch sei, ich denke, du hast es kapiert.“
„Was kapiert?“
„Dass du bleiben wirst. Ich werde in der Redaktionskonferenz einbringen, dass wir eine mehrteilige Reportage zum Thema Biolandbau machen werden. Genauer gesagt, du wirst sie machen, da du nun schon mal direkt vor Ort bist.“
„Wie bitte?“
„Du wirst deinen Bauern für die nächsten zwei Wochen auf Schritt und Tritt verfolgen und aus ihm alle Informationen herausquetschen, die du kriegen kannst. In der Wochenendausgabe werden wir deine neuesten Erkenntnisse dann drucken. Verstanden?“
„Nein, hör mal, Matthias, das kann unmöglich dein Ernst sein! Ich werde das nicht machen!“
„Wirst du nicht?“ Sogar durch das Telefon konnte sie seinen Unmut hören. „Nun, dann brauchst du gar nicht zurückkommen. Wird kein großer Verlust für unsere Zeitung sein.“
„Was soll das heißen?“ Sarah wurde blass und ließ sich aufs Bett fallen.
„Dass ich jemand anderen schicken und dich nicht weiter bei unserer Zeitung beschäftigen werde.“
„Warte!“ Sarah schluckte schwer. „Das kannst du doch nicht machen!“
„Und ob ich das kann! Es gibt eine Menge junger Redakteure die sich um so eine Story und deinen Job reißen würden.“
„Aber, verstehst du nicht? Ich hasse diesen Ort!“
„Ist mir egal. Du kannst dich jetzt entscheiden. Ich muss weiter! Wie du weißt, beginnt das Meeting in wenigen Minuten.“
Sarah schloss die Augen und dachte nach. War es die Abneigung gegen Salcher wert, dass sie ihren Job aufgab? Zwei Wochen … was waren schon zwei Wochen? Sie würde diese überstehen und vielleicht fand sie ja irgendeine Möglichkeit, die ganze Sache zu umgehen.
„Gut. Ich mache es.“
„Fein. Ich erwarte deinen ersten Bericht am Freitag.“
Ohne einen Gruß legte er auf, sichtlich äußerst genervt von ihr. Wie es schien, hielt er also nicht wirklich viel von ihrer Arbeit, sonst wäre er nur ein klein wenig auf sie eingegangen. Sie erhob sich, warf ihr Handy in ihre Handtasche und verließ mit einer hoffnungsvollen Idee im Hinterkopf das Hotel.
Die Sonne schien bereits warm auf sie hernieder und sie überquerte die Straße, während sie tief einatmete. Das ganze Ambiente erinnerte sie an die wenigen Urlaube, die sie als Kind mit ihrer Familie in Kärnten gemacht hatte. Ach, wie gerne wäre sie noch einmal klein und geborgen! Doch nun war sie hier und musste die wehmütige Sehnsucht unterdrücken, denn gleich würde sie dem Mann gegenübertreten, den sie aus tiefstem Herzen verachtete. Wie er sie an der Nase herumgeführt und dann über sie gelacht hatte! Niemals würde sie das vergessen! Auch an den Gesichtsausdruck seiner Mutter, als diese mit ihr sprach, würde sie sich ihr Leben lang erinnern. Sie biss die Zähne zusammen und öffnete die Tür zur VLA-Redaktion. Das Erste, was sie hörte, als sie eintrat, war Lachen, das aus einem anderen Raum, als dem des Chefredakteurs, kam. Trotzdem ging sie zu Salchers Bürotür und klopfte.
Niemand antwortete. So steuerte sie den Raum an, aus dem sie nach wie vor Stimmen hören konnte, klopfte und öffnete, ohne auf eine Antwort zu warten, die Tür.
Salcher, ein weiterer Mann und eine junge Frau drehten sich in ihre Richtung und blickten sie verwundert an.
„Entschuldigung“, murmelte Sarah, „ich konnte niemanden finden.“
„Schon gut, wir sind alle hier“, meinte Salcher sachlich und zu seinen Mitarbeitern gewandt, „Darf ich vorstellen, das ist Sarah Kraft, eine Kollegin aus Wien, sie schreibt für die AÖ.“
„Hallo“, sagten die beiden und lächelten.
„Ich dachte, Sie wären längst abgereist?“, meinte nun Salcher wieder Sarah zugewandt.
„Nein“, brachte Sarah zähneknirschend hervor. „Deswegen wollte ich kurz mit Ihnen sprechen.“
Er musterte sie süffisant.
„Wir haben gerade Redaktionsmeeting – sind voraussichtlich in einer Stunde fertig. Wenn Sie so lange warten würden?“
Sarah errötete leicht und wich zurück.
„Natürlich. Ich komme später wieder.“
Sie hasste es, wenn sie rot wurde! Unwirsch schloss sie die Tür hinter sich und floh geradezu aus der Redaktion ins Freie. Welch ein aufgeblasener Gockel!, dachte sie bei sich. Passte wirklich auf einen Bauernhof, dieser Widerling!
Was sollte sie nun tun? Sie beschloss, in ihr Zimmer zu gehen und die Zeit totzuschlagen. Sie hasste es, wenn sie warten musste! Sie hasste es, wie er sie weggeschickt hatte! Sie hasste es, wie ihr Chef mit ihr gesprochen hatte! Am liebsten hätte sie geschrien!
Sie warf sich aufs Bett und trommelte auf ihren Polster ein. Dann umklammerte sie ihn mit den Armen und biss hinein. Nun hätte sie am liebsten geweint. Mit Anfang dreißig lag sie nun hier auf einem Hotelbett, irgendwo im Nirgendwo und hatte soeben von der Welt vor Augen geführt bekommen, dass sie sich die unentbehrliche Position, die sie für ihre Umwelt schon längst innehaben wollte, noch nicht gesichert hatte. Aber irgendwann, irgendwann würde sie die gefeierte Journalistin Sarah Kraft sein, Preise und Auszeichnungen würden ihre Wohnung zieren und alle Welt würde Wert auf ihre Meinung legen. Sie würde Artikel für die Titelseite schreiben – vielleicht hätte sie sogar eine eigene Zeitung – Politiker würden sie einladen, um sich mit ihr gut zu stellen, Schauspieler würden sie bitten, über ihren neuen Film zu berichten, denn eine Zeile aus ihrer Feder entschied über den Erfolg bei den Massen. Sie hätte sehr viel Geld (mehr, als sie es ohnehin schon gewohnt war), ein schönes Haus, Dienstboten und … einen Mann.
Vielleicht einen Mann. Der musste sie anbeten, sie als sein Zentrum sehen, sein Leben um sie planen und dann, dann würde sie niemals vergessen werden. Ach ja, ein Buch würde sie schreiben, einen in mehrere Sprachen übersetzten Bestseller über wer weiß was – sie hatte noch keine Idee – aber alle würden es lesen. Alle würden es lieben – auf der ganzen Welt würde man sie kennen. Eine Autobiografie vielleicht, über ihr Leben, das wäre doch ein Thema. Noch war es allerdings nicht so weit. Noch lag sie hier, auf einem Hotelbett und wartete, dass dieser unwichtige Mensch, dieser Bauer, Zeit für sie hatte. Zeit. Für sie! Sie musste nur daran denken, um erneut den Kochtopf in ihrem Inneren zum Brodeln zu bringen. Als ihr Handy plötzlich klingelte, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie blickte auf das Display, erkannte aber die Nummer nicht.
„Kraft?“
„Ich hätte jetzt kurz Zeit.“ Sie erkannte seine Stimme sofort.
„Woher haben Sie diese ...“
„Stand auf Ihrer Visitenkarte. Sie haben Sie mir dagelassen, damit ich Sie anrufen kann, sollte ich einen journalistischen Rat benötigen.“
„Ach ...“ Sarah schloss die Augen. Es war alles so peinlich!
„Also, was ist? Kommen Sie jetzt?“
„Ja. Ich beende nur noch schnell meinen Artikel, dann mache ich mich auf den Weg. Kann noch ein paar Minuten dauern.“
„Zu welchem Thema?“, fragte er interessiert.
„Was?“
„Der Artikel, an dem Sie schreiben.“
Sarah biss sich auf die Unterlippe, während sie fieberhaft über ein Thema nachdachte.
„Die Spatzenpost“, erwiderte sie schließlich und legte auf.
Dann trat sie vor den Spiegel und musterte sich eingehend. Sie sah ein wenig aus wie ein aufgescheuchtes Huhn. Sie fand ohnehin, dass sie ohne Make-up nicht viel hermachte, aber heute schien nicht mal das Make-up zu helfen. Ihre Schlupflieder schienen besonders schwer auf die Augen zu drücken – ein Erbe ihres Vaters – und dieser elende Mitesser am Kinn schien geradezu rot zu blinken. Sie fuhr mit dem Abdeckstift darüber, aber er ließ sich nicht komplett verdecken. Kein Wunder, dass Salcher keinen Respekt vor ihr hatte! So, wie sie daherkam! Mutlos schlüpfte sie in ihre hochhackigen Schuhe, strich den Rock glatt und machte sich auf den Weg zu ihrem Feind, dem König vom Salcherer-Hof.
Natürlich saß er wieder vor dem Bildschirm und bearbeitete die Tastatur, als sie eintrat. Er blickte auf, deutete auf einen Stuhl und beendete die Zeile.
„Also?“, fragte er schließlich, faltete die Hände und lehnte sich zurück.
„Ich hätte nicht gedacht, Sie so bald wiederzusehen.“
Sarah versuchte ein entspanntes Lächeln, was angesichts ihrer verkrampften Gesichtsmuskulatur kläglich misslang.
„Ich möchte Ihnen einen Deal anbieten.“
„Einen Deal?“ Nicht wirklich interessiert lüpfte er die Augenbrauen.
Eine mittelbraune Haarsträhne fiel ihm in die Stirn und er strich sie mit einer Hand zurück. Wieso war ihr nicht schon längst aufgefallen, wie kräftig und schwielig diese war?
„Ja.“
„Bin gespannt. Lassen Sie mal hören.“
„Mein Chefredakteur bildet sich ein, angesichts des aktuellen Lebensmittelskandals, eine mehrteilige Reportage in der Zeitung zu bringen.
Ich soll nun also für mindestens zwei Wochen hier bleiben und Ihnen sozusagen Tag und Nacht folgen. Welch schreckliche Vorstellung!“
„Auch in der Nacht?“, schmunzelte er.
„Das war nur so eine Metapher. Natürlich nicht während Sie schlafen.“
„Sehr beruhigend. Ich kann nicht schlafen, wenn jemand neben mir schnarcht.“
Entgeistert starrte sie ihn an.
„Wie kommen Sie auf die Idee, ich würde schnarchen?“ Sarah blitzte ihr Gegenüber wütend an.
„Nun ja, da sie unter Tags keine Ruhe geben, würde es mich sehr wundern, wenn es des Nachts anders wäre.“
Baff brachte sie kein Wort heraus, senkte nur den Blick und überlegte, was sie ihm als nächstes an den Kopf knallen könnte. Mit einer Hand strich sie über ihren rechten Oberschenkel.
„Nun gut, Sie wollten mir einen Deal anbieten.“
Sarah verschränkte ihre Finger und blickte wieder auf.
„Da Sie in der Lage sind, relativ interessante Artikel zu schreiben, dachte ich mir ...“
„Ah, haben Sie wieder recherchiert?“
Sarahs Knöchel begannen weiß hervorzutreten. Dieser Mann war zu schlagfertig und zu gleichgültig für sie. Er war beinhart, er hatte kein Mitleid, er kostete seinen Sieg aus. Sie beschloss, seinen Zwischenkommentar zu ignorieren.
„Ich dachte mir, da Sie und ich keinen großen Wert auf eine Zusammenarbeit legen, könnten Sie mir einfach einen spannenden, mehrteiligen Artikel schreiben, den ich dann meinem Chefredakteur sende und Sie hätten dann eine große Leserschaft, allerdings unter meinem Namen.“
Belustigt fixierte er sie.
„Irgendwie komme ich nicht umhin, mir folgende Fragen zu stellen: Erstens, weshalb sollte ich das tun und zweitens, weshalb sollte ich das tun?“
„Um auf beide Fragen gleichzeitig zu antworten,“, erwiderte sie und richtete sich ein wenig auf, „dann sind Sie mich los und, wie gesagt, sie würden einmal österreichweit gedruckt werden.“
Nun begann er herzhaft zu lachen und rieb sich die Augen.
„Hören Sie auf zu lachen! Das ist mein voller Ernst!“
Er beruhigte sich und schüttelte den Kopf. „Ihnen ist sicherlich klar, dass ich auf einen solchen Deal nicht eingehen werde.“
Sarah sprang auf.
„Bitte! Es ist doch nur eine Kleinigkeit für Sie!“
Nun erhob er sich ebenfalls, ging auf die Tür zu und hielt sie ihr auf.
„Sie können mich gerne begleiten. Tag und ...“, mit einem leisen Lächeln fügte er „Nacht.“ hinzu. „Mehr ist nicht drin. Ihren Artikel müssen Sie schon selber schreiben und den Stoff dafür werden Sie sich hart erarbeiten müssen. Aber ich verspreche, Ihnen zu helfen. Gut?“
Bleich blickte sie ihm in die Augen, während sie ebenfalls zur Tür ging.
„Ich erwarte Sie um 17.00 Uhr auf dem Hof.“
Schnell wandte sie ihr Gesicht ab, damit er ihr Entsetzen nicht sehen konnte.
„Ach, und Sarah, ziehen Sie sich andere Schuhe an.“
Damit schloss er die Tür hinter ihr und sie wäre fast in Tränen der Enttäuschung ausgebrochen. Die junge Frau, die sie bereits bei dem Meeting gesehen hatte, warf ihr einen kurzen Blick zu, den Sarah ignorierte. Hastig stürzte sie ins Freie, dabei wäre sie fast gestolpert.
Diese blöden High Heels! Schnell eilte sie zu ihrem Wagen, stieg ein und fuhr in Richtung Villach davon. In einem hatte er recht, dieser Bauer, sie brauchte dringend neue Schuhe – denn ihre Designer-High-Heels würde sie sich auf diesem matschigen Hof nicht ruinieren lassen!
Sie würde ihre Schuhe nicht vor die Säue werfen und erst recht nicht vor Männer, die nicht einmal, ja, was konnten die nicht einmal? Nicht einmal wussten, dass Paris eine Stadt in Frankreich war! Aber auch das wusste er sicherlich, musste sich Sarah zerknirscht eingestehen.
Vollbeladen kehrte sie einige Stunden später zu ihrem Auto zurück. Wenn sie schon mal dabei war, auf Country-Style umzusteigen, dann ordentlich. Schließlich mussten die Schuhe zum restlichen Outfit passen und da sie nur zwei Kostüme eingepackt hatte – sie war ja von einem kurzen Aufenthalt ausgegangen – gab es einiges an ihrer Garderobe zu komplettieren. Sogar ein Dirndl hatte sie gekauft – rosa mit lila Schürze – denn sie stellte sich vor, dass dies die perfekte Ausstattung für Tage auf einem Bauernhof darstellte. Bei den „Gscherden“, wie Wiener in ihrer meist überheblichen Art die Österreicher außerhalb der Bundeshauptstadt bezeichneten, war es durchaus üblich, sich untertags im Dirndl zu präsentieren.
Somit stellte sie sich auf die ländlichen Gepflogenheiten gleichermaßen ein, wie wenn sie in Indien einen Sari gekauft und getragen hätte. All dies war eine Art Verkleidung und sie genoss es – dies war allerdings der einzige Lichtblick seit ihrer Ankunft in Kärnten – sich an unterschiedlichen Orten neu zu erfinden. Nun war sie also die Bauern-Sarah und genauso wollte sie auch aussehen.
Der positive Nebeneffekt der Shopping-Tour in Villach war außerdem, dass er Sarahs Nerven beruhigt und in gewisser Weise ein kleines Glücksgefühl hatte aufsteigen lassen. Schon als Kind hatte sie gelernt, dass die einzige Möglichkeit mit Kummer umzugehen, jene war, einen Laden zu stürmen und zu kaufen, was einem unter die Finger kam.
Natürlich war der Effekt der Befriedigung nicht von langer Dauer, aber immerhin hatte sie sich bis zum Nachlassen des Hochgefühls bereits wieder ein wenig stabilisiert. Danach war es ihr wieder möglich, sich von den traurigen, enttäuschenden, unangenehmen oder frustrierenden Gedanken abzulenken, die vielleicht eine Reflexion ermöglicht hätten und somit hatte sie nie gelernt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Verdrängung war das große Wort, das sich durch ihr Leben zog wie ein roter Faden, doch auch das hatte sie bis jetzt erfolgreich nicht bemerkt.
So kam sie in einer leicht vergnügten Stimmung ins Hotel zurück und kleidete sich für die Zeit am Bauernhof um. Sie flocht ihr Haar zu zwei artigen Zöpfen, frischte ihr Make-up auf und legte besondere Sorgfalt auf das Binden der Schürzenschleife. Ihre Brüste blinzelten drall aus dem tiefen Dekolleté, das von zarten Spitzen eingerahmt wurde und sie legte eine Kette mit einem großen Herzanhänger um den Hals, dessen Spitze ein weiches Bett in ihrer Fülle fand. Nun fühlte sie sich bereit für was auch immer da noch kommen würde.
Im Hof spielten einige Kinder mit kleinen Katzen, ein Mädchen streichelte einen trägen Kater, der blinzelnd in der Sonne lag und steckte ihm eine Blume ins Fell. Ein paar Hühner gackerten und pickten Körner, immer auf der Suche nach neuer Nahrung. Sarah parkte ihren Wagen an der gleichen Stelle wie zu Tagesanbruch, stieg aus, schloss die Tür und blickte sich um. Der Stall war ebenso geschlossen wie die Tür vom Bauernhof. Die Tür vom Wirtschaftsgebäude stand offen. Sarah ging darauf zu und blickte hinein, konnte jedoch niemanden entdecken. Deswegen beschloss sie, den Durchgang zu passieren, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite des Gebäudes abspielte. Der Boden war mit unregelmäßigen Steinen bedeckt und sie war froh, keine Stöckelschuhe mehr zu tragen. Die Sonne hieß sie auf der anderen Seite willkommen und sie überblickte weitläufige Wiesen, die im satten Grün schimmerten und in wogende Felder übergingen. Linker Hand gewahrte sie in ungefähr fünfhundert Metern Entfernung den Waldrand. Auf der anderen Seite des Tals stiegen die Berge steil in die Höhe. Niemals hätte sie gedacht, dass sie ein derartiger Anblick verzaubern könnte, doch sie fühlte tatsächlich, wie sich ihr Herz weitete. Ein kleines Schaf blickte in ihre Richtung und kam langsam auf sie zu, in Erwartung etwas Leckeres zu Fressen zu bekommen.
„Sorry, ich hab nichts für dich“, sagte sie und lächelte. Das Schäfchen trottete zurück zu seiner Mutter. In dem Moment hörte sie das Trommeln von Hufen und sah auf. Von einer Wiese, die aufgrund des Waldrandes außerhalb ihrer Sicht lag, kam ein Reiter in halsbrecherischer Geschwindigkeit herangaloppiert. Vor einem Gatter hielt er an, sprang vom Pferd, öffnete es, saß wieder auf und ritt weiter in ihre Richtung. Obwohl sie es verzweifelt versuchte – Sarah konnte die Augen nicht von dem Mann wenden und verfolgte atemlos seinen Ritt.
Es galt noch ein Gatter zu öffnen und er nahm sich dieser Aufgabe mit Schwung an. Woher nur nahm Salcher all die Energie, nach einem Tag in der Redaktion, fragte sie sich und erstarrte, als er seinen Blick auf sie richtete. Er war noch zu weit entfernt, abgesehen davon im Gegenlicht, sodass sie seine Züge nicht erkennen konnte. Sarah ballte die Hände zu Fäusten, versuchte aber trotzdem möglichst gelassen zu wirken.
Mittlerweile ritt er auf das Haus zu, doch anstatt in ihre Richtung abzubiegen, verschwand er hinter dem Gebäude. Sie machte sich auf den Weg und folgte dem Verlauf des Hauses, dann bog sie um die Ecke, öffnete und schloss ein Gatter und sah, dass er das Stalltor geöffnet hatte. Das Pferd stand neben ihm. Er drehte sich um, tätschelte seinen Hals und meinte: „Dann gehen wir mal zur verehrten Kollegin, dieser Flortschen .“
In dem Moment entdeckte er, dass sie bereits auf dem Weg zu ihm war. Als er ihre Aufmachung gewahrte, musste er sich sehr beherrschen, um nicht in Lachen auszubrechen.
„Wusste nicht, dass Sie den Titel zur Arriacher Dirndlkönigin anstreben“, meinte er und ließ seine Augen kurz auf ihrem Dekolleté verweilen, bevor er sie wieder auf ihr stark geschminktes Gesicht richtete.
„Will ich auch nicht“, entgegnete sie und stellte fest, dass er Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Dividing Line“ und schwere schwarze Stiefel trug. Wo, bitte schön, waren die Lederhosen?
„Ich dachte mir, dieses Outfit ist meinem Arbeitsplatz für die nächsten zwei Wochen angemessen.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wenn Sie meinen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Eine Jeans hätte es auch getan, oder haben sie so etwas nicht?“
„Zumindest nicht hier“, entgegnete sie. „Aber meine Kleidung ist wirklich nicht der Anlass, weshalb ich hier bin, oder?“
Er nahm das Pferd an den Zügeln und führte es in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sarah beeilte sich, neben ihn zu kommen und genug Abstand zu dem großen Tier zu halten. In diesem Moment begann eine Unruhe einzusetzen, die sie kurz innehalten ließ.
„Was ist das?“, fragte sie und blickte sich um.
„Die Kühe. Sie werden von der Weide in den Stall getrieben.“
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als sie die ersten Kühe in ihre Richtung kommen sah. Es war eine Art Galopp, mit dem sie das Gatter passierten, das Salcher vor wenigen Minuten geöffnet hatte.
„Du meine Güte!“, rief sie entsetzt. „Wir müssen sofort weg von hier!“
Fast hätte sie seinen Arm gepackt und ihn mit sich gezogen.
„Weshalb?“, fragte er und ging ruhig weiter.
Sie rannte die letzten Meter zu dem Gatter, durch das sie vor wenigen Minuten gekommen war, um auf die Stallseite zu kommen und aus Angst, nicht schnell genug zu sein, kletterte sie kurzerhand darüber, wobei sie sorgfältig darauf bedacht war, nicht zu viel Haut zu zeigen. Ohne Hast öffnete er die Holzbarriere und passierte sie mit dem Pferd an seiner Seite. Als er sie geschlossen hatte, ging er weiter und führte das Tier auf die Weide, nahm ihm Zaumzeug und Sattel ab und band es an den Zaun. Dann verschwand er im Wirtschaftsgebäude, kam mit Eimer, Bürste und einem Hufauskratzer zurück und begann, das Pferd zu striegeln. Sie beobachtete ihn dabei. Als er fertig war und dem Tier das Mundstück abgenommen hatte, gab er ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberschenkel und schickte es somit zu den zwei anderen Pferden in den Feierabend. In der Zwischenzeit waren die Kühe im Stall angekommen, ein Landarbeiter, der als letzter die Herde angetrieben und die Gatter geschlossen hatte, hob in Richtung Salcher kurz die Hand und dieser grüßte zurück. Das Muhen der Kühe wehte zu ihnen herüber.
„Sie warten darauf, gemolken zu werden“, erläuterte er, während er ihr Bürste und Hufauskratzer in die Hand drückte und mit den anderen Sachen beladen auf das Wirtschaftsgebäude zuging. Sie begleitete ihn. Er räumte alles auf seinen Platz, dann ging er in einen angrenzenden Raum und nahm einen Eimer, der mit Körnern gefüllt war.
„Das ist das Hühnerfutter.“ Er ging in den Hof hinaus. Als ihn die Hühner sahen, kamen sie mit einer Geschwindigkeit auf ihn zugelaufen, die Sarah ihnen nicht zugetraut hätte. „Das Futter besteht aus Legemehl und Körnern. Natürlich, soweit möglich, alles aus eigenem Anbau. Mais und Weizen kommen von uns, Sonnenblumenöl von einem Bio-Bauern aus dem nächsten Ort.“
„Ist ja wirklich interessant“, meinte sie und verdrehte die Augen.