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Mit dem Namen Aschinger ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte verbunden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wusste in Berlin jeder, dass man in Aschingers Restaurant zur erschwinglichen Erbsensuppe Schrippen nach Belieben bekam, und die Bierquellen waren eine stadtbekannte Institution. Als der Bauernjunge Sebastian Lorenz 1932 aus der Provinz nach Berlin kommt, um hier Arbeit zu finden, kann er sein Glück kaum fassen: Von Fritz Aschinger höchstpersönlich, der den von Vater und Onkel gegründete Konzern inzwischen leitet, wird er als Zapfgehilfe eingestellt und steigt binnen weniger Monate zu dessen Privatsekretär auf. Hautnah erlebt er die Größe und Macht des Aschinger-Konzerns, aber auch dessen zunehmende Verstrickung in die Politik der Nationalsozialisten. Mit der Übernahme des arisierten Kempinski-Konzerns scheint das Aschinger-Imperium auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Doch Deutschland und Aschinger steuern unaufhaltsam auf eine Katastrophe zu.
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Seitenzahl: 913
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Heinz-Joachim Simon
Der große Aschinger
Roman
Jaron Verlag
Originalausgabe
1. Auflage 2012
© 2012 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
www.jaron-verlag.de
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der Literatur-Agentur Axel Poldner – Dr. C. Buchen, Berlin.
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin, unter Verwendung eines Bildes der akg-images (»Der Balkon des Alexanderplatzes«, 1933)
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN 9783955521844
Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Zitat
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Drum, alter Meister, weiser Faustus, Du alter Vater des betagten, vieldurchschwärmten Menschengeistes. Du alte Erde, altes deutsches Land mit dem Maß deiner Wahrheit, deines Ruhmes, deiner Schönheit und Magie und deinem Verderben; und du, dunkle Helena, die du in unserem Blut glühst, du große geliebte Königin und Zauberin, du dunkles, dunkles Land, du altehrwürdig geliebte Erde …
Thomas Wolfe
Erstes Buch
Einer brach auf gen Ithaka …
Er tanzte, als sein Vater starb. Es war ein schöner Januartag, und die Sonne stand hoch. Der Himmel war wolkenlos, und das Eis schimmerte wie eine Silberplatte. Von den Kufen seiner Schlittschuhe spritzte das Wasser in goldenen Funken hoch.
Es war viel Jungvolk auf dem See vor dem Kloster in Lindow. In jenem Jahr war der See zugefroren, was sich schon lange nicht ereignet hatte, und jeder aus der Stadt, ob er nun Schlittschuhe hatte oder nicht, war auf dem Eis. Sebastian Lorenz drehte eine Runde nach der anderen. Die Schlittschuhe hatte ihm der Sohn des Schulzen geliehen. Winkend stand dieser am Ufer, um seine Schlittschuhe wieder einzutreiben. Doch Sebastian achtete nicht darauf und ließ sich durch den Schwung auf die Mitte des Sees hinausführen.
Sebastian war ein junger Mann mit einem ernsten, schmalen Gesicht und dunklen Haaren. Auf dem Gymnasium zu Neuruppin folgte ihm so manches Mädchenauge, doch der Ernst, die nachdenkliche Strenge in seinem Gesicht hielt sie davon ab, ihm ein aufforderndes Lächeln zu schenken. Er galt als hochmütig, einige nannten ihn arrogant oder eingebildet. Auch an der Schule hatte er wegen seiner Respektlosigkeit und Wildheit nicht den allerbesten Ruf, und die Lehrer waren sich einig, dass es mit ihm einmal ein böses Ende nehmen würde. So manches Mal hatten sie den Vater kommen lassen, um ihn zu ermuntern, den Sohn von der Schule zu nehmen. Sebastians Schulnoten verdienten diese Aufforderung, doch der alte Lorenz nahm den Lehrern diesen Plagegeist, wie die ihn nannten, nicht ab und beharrte, dass der Sohn auf der Schule verblieb.
Von der Kirchturmuhr schlug die Glocke. Sebastian hielt inne, lauschte ihrem Klang und wusste nicht, warum ihn der Ton heute aufhorchen ließ, hatte er diesen doch schon so oft gehört. Er zuckte mit den Schultern und glitt weiter über das Eis. Statt der Glocke hörte er nun einen Wiener Walzer und träumte davon, auf dem Wiener Kongress, als man Europa neu aufteilte, ein wichtiger Mann gewesen zu sein, ein Fürst mit Gefolge, in einer prächtigen Uniform mit goldenen Epauletten, umschwärmt von den Frauen und bewundert vom Volk. Doch er war nur der jüngere Sohn des Bauern Lorenz, nicht einmal achtzehn Jahre alt und von dem Gedanken gequält, nicht mehr zu sein als das, wofür sein Vater ihn hielt. Der gab nicht viel auf seinen Spross, der sich auf dem Hof ungeschickt anstellte, und schalt ihn faul, nutzlos und verdorben. Auch Sebastian erwartete nicht viel von seiner unmittelbaren Zukunft. Und doch wandelte ihn manchmal die Ahnung an, dass er etwas in sich hatte, das andere nicht hatten, wenn er auch nicht sagen konnte, was dies war. Es äußerte sich nur in seinen Traumbildern, die ihn als Begleiter Talleyrands oder Metternichs oder gar des Zaren sahen oder als Mitglied der Körner’schen Schwarzen Schar.
Sebastian Lorenz liebte Bücher, vor allem die der Franzosen. Angefangen hatte es mit Dumas, mit dessen Musketieren und dem Grafen von Monte Christo, bis er auf Victor Hugo stieß und Les Misérables las und den Glöckner von Notre Dame. Dann folgte Balzac, und Sebastian wurde zum Rastignac, der sich in der Welt der Reichen und Schönen seinen Platz erkämpfte.
Sein Vater folgte seiner Lesewut mit Argwohn, und das überbordende Bücherregal sah er als einen Beweis dafür, dass der Sohn aus der Art geschlagen war. »Woher hat er das nur? Ein Lorenz ist der nicht!«, sagte er ein um das andere Mal zu seiner Frau und blickte sie vorwurfsvoll an. Sie war gewohnt, nicht darauf zu antworten und den Kopf zu senken. Sie liebte diesen jüngeren Sohn, seine Ernsthaftigkeit, seine dunklen, suchenden Augen und seine feinen Gesichtszüge, die ein Abbild ihres Gesichtes waren.
Der Ältere, Wilfried, war nach dem Vater geraten. Ein untersetzter, breitschultriger junger Mann mit derben Fäusten, der bereits als Halbwüchsiger hinter dem Pflug gegangen war und bei Aussaat und Ernte eine zupackende Art hatte. Bereits mit vierzehn war Wilfried von der Schule abgegangen, und der Vater hatte es hingenommen, weil er seine Freude daran hatte, wie sich dieser Sohn um das Land kümmerte und mit den Tieren umging.
Die Lorenz’ hatten den größten Hof und die besten Felder in Schönberg, einer kleinen Stadt östlich von Neuruppin gelegen. Der alte Lorenz war Bürgermeister und Ortsgruppenführer zugleich und hielt viel auf Hitler, und weil er es tat, hielten auch die anderen Bauern im Dorf viel von den Nationalsozialisten. Seit er in Berlin im Sportpalast den Führer gehört hatte, war er sicher, dass der Deutschland zu neuer Größe führen und die Fesseln des Versailler Vertrages abstreifen würde und dass die Bauernschaft in ihm einen Fürsprecher hatte. Er hasste die Roten, aber mehr noch hasste er die Juden, und er machte sie verantwortlich für den Ärger mit den Banken, den er dann und wann hatte. Er war verschuldet, nicht deswegen, weil sein Land nicht viel einbrachte, sondern weil er einer Leidenschaft frönte, die jedem anderen im Dorf Befremden und Kopfschütteln eingebracht hätte. Er liebte Pferde und hatte eine Zeitlang großes Glück mit seiner Zucht, die sogar in Fachkreisen einen nicht unerheblichen Ruf genoss, bis dann seine Tiere eine seltsame Krankheit befiel, so dass er alle töten lassen musste. Der Aufbau einer neuen Zucht verschlang viel Geld – noch mehr Geld aber verschlang seine Wettleidenschaft, die sich in Hoppegarten austobte. Es war anfangs ein Spiel gewesen, das dem Gedanken entsprang, auf diese Weise den Aufbau der Zucht beschleunigen zu können, und wurde schließlich zum verbissenen Laster, das ihm die Tage vergällte. So weinte seine Frau jedes Mal, wenn er in seinem Sonntagsanzug nach Hoppegarten fuhr, denn sie wusste, mit welchem Gesicht, mit welcher Wut er zurückkommen würde und dass sie es dann auszubaden hatte, seine Tiraden anhören musste, die den Juden galten und sich bald auf die Nächsten richtete, den artfremden Sohn, diesen Stubenhocker und Bücherwurm, und das Weib, das ihm nichts recht machen konnte.
Helge, der Sohn des Schulzen von Lindow, kam nun schlitternd über das Eis. Sie waren in derselben Klasse, und doch trennte sie vieles. Helge war Klassenprimus, und er, Sebastian Lorenz, saß in der letzten Reihe und galt als hoffnungsloser Fall. Man war sich im Lehrerkollegium einig, dass er durchs Abitur fallen würde.
»Schnall die Schlittschuhe ab, du sollst sofort nach Hause kommen!«, rief Helge.
»Warum?«, fragte Sebastian, verärgert darüber, so aus seinen Tagträumen gerissen zu werden.
»Einer eurer Knechte kam eben. Er wartet am Ufer auf dich.«
»Was ist denn passiert?« Sebastian sah zum Ufer hinüber, an dem so viele standen und dem Treiben auf dem See zusahen. Einen ihrer Knechte vermochte er nicht zu erkennen. Sie hatten zwei, Wilhelm und Hans, und beide hätten Brüder sein können, so ähnlich sahen sie sich. Beide waren untersetzt, stark und so gute Arbeiter wie Esser. Während Hans dem Wilfried anhing, hatte sich zwischen Wilhelm und Sebastian eine geheime Komplizenschaft gebildet. Wilhelm mochte es, wenn ihm Sebastian von Austerlitz erzählte, von dem Sieg Napoleons bei den Pyramiden oder ihm Heines Weber vorlas. Hans dagegen hielt das wie sein Idol Wilfried für Spökenkiekerei und schalt Wilhelm, dass dieser sich mit so einem Spinner abgab.
Seufzend schnallte Sebastian die Schlittschuhe ab und gab sie Helge zurück. »Danke, es sind gute Schlittschuhe. Weißt du, was los ist?«
»Das soll dir euer Knecht mal selber sagen!«, erwiderte Helge und schnallte sich nun selbst die Schlittschuhe an.
Sebastian zuckte wegen der ausweichenden Antwort mit den Achseln. Was hatte der Streber nur?, dachte er, während er über das Eis zum Ufer zurückschlidderte. Es war immer noch hoher Nachmittag. Die Glocken hatten aufgehört zu läuten.
»Was ist denn los, Wilhelm?«, rief er diesem zu, als er ihn am Ufer entdeckte und einige Enten zur Seite gescheucht hatte.
Wilhelm machte ein ernstes Gesicht, nahm ihn beim Arm und führte ihn am verfallenen Kloster vorbei zu dem Gasthof an der Hauptstraße, wo sein Gespann stand.
»Nun sag schon, was ist denn los?«
»Der Bauer ist …« Der Knecht brach ab und bestieg den Kutschbock des Landauers. Sebastian folgte ihm, und Wilhelm löste die Zügel und nahm die Peitsche. Er schnalzte mit der Zunge. »Hü, ihr Faulpelze!« Dabei ließ er die Peitsche über die Pferderücken knallen, ohne dass die Schnur die Tiere berührte.
»Mach es doch nicht so spannend!«
»Der Bauer ist … tot.«
»Was?«
»Er hatte sich nach dem Mittagessen hingelegt, und als die Bäuerin ihn wecken wollte, fand sie ihn tot neben dem Sofa liegen. Er ist friedlich eingeschlafen. Er hatte wohl einen Herzschlag.«
»Das kann doch nicht sein …«, stammelte Sebastian.
Alfred Lorenz war in den Fünfzigern gewesen, und nie hatte man ihn krank erlebt. Selbst wenn er zu viel getrunken hatte, war er aufgestanden und aufs Feld gegangen und hatte so unerschütterlich gewirkt wie ein Gebirge. Und nun war dieser Fels so sang- und klanglos aus seinem Leben verschwunden?
Sebastian empfand keine Trauer, nicht einmal Bedauern oder gar Mitleid. Sein Vater und er waren sich immer fremd geblieben, und er konnte sich nicht erinnern, dass der Vater ihn als Kind in den Arm genommen oder gar geherzt hatte. In letzter Zeit hatten ihre Auseinandersetzungen an Intensität zugenommen, weil er, Sebastian, nicht in den Staatsdienst eintreten wollte, was Alfred Lorenz für die einzige ehrbare Alternative hielt, wenn man kein Bauer sein wollte. Doch Sebastian verspürte keine Lust dazu, verstaubte Akten zu wälzen, Ärmelschoner zu tragen und vor Menschen zu katzbuckeln, die Arcole nicht kannten und Balzac für eine französische Cognacmarke hielten. Oft hatten sie darüber gestritten, dass er nicht wie sein Bruder Wilfried in die SA eintreten wollte und es schon abgelehnt hatte, der Hitlerjugend beizutreten, wo Wilfried bereits als Scharführer zu einiger Anerkennung gekommen war. Sebastian mochte diesen Hitler nicht, sein Geschrei nicht, seinen Hass nicht und auch nicht seine pöbelnden Garden. Er mochte nicht die kackbraunen Hemden, die Dummheit und Grobheit der SA, ihr trunkenes Gegröle und ihre Vulgarität. Er hasste ihr Nibelungengeschrei und das Gefasel von der Auserwähltheit der Arier. Sicher hatte auch das wilde Gerede seines Vaters daran Anteil, dass er sie verabscheute. Für Deutschtümelei hatte er zu viel gelesen. Die einzigen Fächer, in denen er gute Zensuren hatte, waren Deutsch und Geschichte, er hatte Seneca und Cicero gelesen und hatte sogar über Heraklit, Platon und Aristoteles einige Kenntnisse. Vor allem aber liebte er die Franzosen und träumte davon, in Paris zu leben, über die Rue Saint-Honoré zu schlendern und mit Danton und Camille Desmoulins im Le Grand Véfour zu speisen. Er gab dem Vater recht, dass er aus der Art geschlagen war und niemand in Schönberg die gleichen Leidenschaften wie er hatte. Er war nicht wie sein Vater oder sein Bruder und wollte es auch nicht sein. Und nun war der Alp seiner Kindheit tot. Doch was würde nun werden? Aus Andeutungen des Vaters wusste er, dass sie hoch verschuldet waren. Sebastian ahnte, dass die veränderten Umstände auch seinen Lebensweg verändern würden.
Wilhelm schnalzte mit der Zunge, und die beiden Schimmel fielen in einen munteren Trab. Sie fuhren über die Brücke aus Lindow heraus und nahmen die lange Lindenallee nach Schönberg. Der Bauernhof der Lorenz’ lag am Ende des Ortes. Neben der riesigen Scheune und den Viehställen nahm sich das Wohnhaus fast wie eine Puppenstube aus. Es war mit Efeu bewachsen und machte zur Straße hin nicht viel her. Das Wertvolle an dem Hof waren die große Scheune, die imposanten Stallungen aus rotem Backstein und der Acker dahinter, der bis zum Horizont, bis zum Wald nach Herzberg reichte. Es war gutes Land, sofern man in Brandenburg – in des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse, wie es im Reich hieß – überhaupt von gutem Ackerland sprechen konnte. Ohne die Leidenschaft des Vaters für die Pferde hätten die Lorenz’ ein sicheres Auskommen gehabt.
Als sie in den Hof fuhren, sah Sebastian bereits das halbe Dorf versammelt. Mit betroffenen Gesichtern standen sie ratlos und verloren wirkend vor dem Haus und steckten die Köpfe zusammen. Alle fragten sich, was nun aus dem Dorf werden sollte, denn der alte Lorenz hatte ihm Richtung und Haltung gegeben und war ein geachteter Mann gewesen, der für sie in der Kreisverwaltung so manches erreicht hatte.
An der Tür nahm ihn Lehrer Thyssen in Empfang, der mit dem Vater und dem Nachbarn Garchke und zuletzt auch mit Wilfried jeden Samstagabend einen gepflegten Skat gespielt hatte. Er war Sebastians Lehrer bis zur vierten Klasse gewesen und hatte ihn so manches Mal getröstet, wenn er vom Vater drangsaliert worden war. Sebastian liebte den kahlköpfigen Mann mit der Uhrkette vor dem mächtigen Bauch und der roten, skrofulösen Nase, die von blauen Äderchen durchzogen war. Von ihm hatte er Dumas’ Der Graf von Monte Christo und Die drei Musketiere bekommen, die ihm eine neue Welt erschlossen und ihn in seinen Tagträumen bestärkt hatten.
»Mein Junge, du musst tapfer sein«, sagte Lehrer Thyssen und drückte ihn behutsam an sich.
Die Ermahnung war nicht nötig, denn es gab für Sebastian keinen Grund zu verzagen. Aber er konnte ja nicht sagen, dass ihm der Tod des Alps gleichgültig war, mehr noch, wie eine Befreiung vorkam. Pflichtschuldig machte er ein trauriges Gesicht und ging in die Wohnstube, wo er seinen Vater auf dem Sofa liegen sah. Ein starkes, fleischiges Gesicht mit einer schiefen Nase und einem mächtigen Kiefer. Seine Augen waren geschlossen. Und doch ging für Sebastian nichts Beruhigendes von ihm aus, sondern er wirkte auf ihn wie eine Drohung, als habe er vor, wieder aufzustehen und seine Befehle zu brüllen.
Die Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Sofa. Ihre Augen waren tränenlos und leer, sie hob hilflos die Arme und ließ sie wieder sinken. »Komm, nimm Abschied von deinem Vater!«, sagte sie.
Hinter ihr stand Wilfried. Auch er ohne Tränen, die Hände in die Hüften gestützt, als könne er es nicht abwarten, endlich die Herrschaft über Familie und Hof übernehmen zu können. Weil es Anstand und Sitte verlangten, trat Sebastian an das Sofa und senkte den Kopf. Er empfand keine Liebe zu dieser leblosen Hülle, dafür hatte er ihn noch am Morgen gehasst, genauso wie an den vorangegangenen Tagen und solange er denken konnte. Er war von seinem Fleisch, aber nicht von seinem Geist, und was in ihm steckte, war aus der Linie der Mutter, deren Bruder sich in Frankfurt an der Oder einen Namen als Architekt gemacht hatte und deren Cousin sich in Berlin als Kapellmeister durchschlug und sogar ein Engagement im Wintergarten gehabt hatte. Nutzloses Geschmeiß, Judenschwengel, wie der Vater ihre Sippe nannte, Tagediebe und Bankerte aus dem Sächsischen. Ihnen schrieb er zu, dass ihm der jüngste Sohn so fremd war.
Zwei Tage mussten sie mit dem Toten aushalten. Die Verwandtschaft kam, die Brüder des Vaters, die ihn auch nicht gemocht hatten, die Brüder und Cousins der Mutter, die den Alfred Lorenz zeit seines Lebens verachtet hatten, weil er die Schwester oder Cousine ein Leben führen ließ, das nur von Vorhaltungen und Kälte geprägt war.
Sie sahen sie nun von ihrer Not befreit. Nein, trotz der dunklen Kleidung und den ernsten Gesichtern trauerte von der Verwandtschaft niemand, nur die Bauern von Schönberg wähnten, einen Führer verloren zu haben.
Am dritten Tag trug ihn die SA aus dem Haus. Der Pfarrer schritt voran, und die Gemeinde sang zu Alfred Lorenz’ Gedenken. Niemand aus dem Dorf fehlte. Aus Lindow und Neuruppin waren Amtspersonen gekommen, auch sie mit ernsten Gesichtern, und der Gauleiter von Berlin hatte seinen Stellvertreter geschickt. Die Beerdigung des alten Lorenz brachte eine Vielzahl von Leuten zusammen, die sich nie wiedertreffen würden. So trugen sie ihn denn zum Friedhof neben der Kirche, und der Pfarrer tat so, als sei er sehr bewegt. Von den Frauen wurden Taschentücher an die Augen gedrückt, und die Bauern schnäuzten sich.
Brandenburgische Erde fiel auf den Sarg, nachdem der Leichnam mit Seilen hinabgelassen worden war, und der Pfarrer wiederholte vor der Grube noch einmal, was er bereits in der Kirche gesagt hatte, sprach von dem rechtschaffenen und erfüllten Leben des Alfred Lorenz, seiner Sorge um das Wohlergehen des Dorfes, von seiner Liebe zum deutschen Vaterland und seinem Umhegen der Familie, von seiner Hilfsbereitschaft und seinem starken Willen. Vieles war übertrieben, manches gelogen, und noch mehr wurde ausgelassen. Die Witwe jedoch weinte nicht. Mit glanzlosen Augen und dem schwarzen Kleid, das sie noch bleicher und älter wirken ließ, sah sie aus wie ein Schatten ihrer selbst. Was würde sie nun tun, wenn ihr niemand den Tag vergällte, wenn sie niemand anhielt, dies oder jenes zu tun, wenn dieser Alp, an dessen Seite sie sich verbraucht hatte, nun nicht mehr ihre Seele bedrückte? Er war fort und ließ nichts zurück als ein riesiges Loch in ihrer Seele.
Die Glocken läuteten, und Sebastian dachte an den Moment auf dem Eis, als er sie läuten hörte und das Wasser in goldenen und violetten Funken von seinen Füßen hochsprang. Nach der Grablegung ging es in den Eichkrug zum Totenschmaus, und die Tafel war mit belegten Broten reichlich gedeckt. Es gab Kuchen und Kaffee, Bier und Schnaps, und bald waren viele angetrunken.
Sebastian suchte die Gesellschaft der Rosensteins, die der Vater als Abkömmlinge von Juden beschimpft hatte, was sie vielleicht in fernen Zeiten auch gewesen sein mochten, die aber längst so christlich lebten wie der alte Lorenz. Der Cousin der Mutter, ein Musiker, nahm ihn beiseite.
»Was willst du nun tun, Junge?«, fragte er mit besorgtem Unterton. Er war ein kleiner Mann in dunklem Frack und Zylinder, mit feingliedrigen Fingern, die gekonnt die Klaviertasten bewegen konnten, und dem gleichen schmalen Gesicht der Mutter.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Sebastian.
»Wann machst du dein Abitur?«
»Im nächsten Jahr – wenn ich es schaffe.«
»Steht es so schlecht?«
Sebastian nickte, dachte an die Lehrer, die vom Vater angehalten waren, ihn scharf ranzunehmen, die dessen Verachtung für Sebastian teilten und ihn nur auf der Schule duldeten, weil der Alte in derselben Partei wie sie war, also den Nationalsozialisten anhing. »Die Schule macht mir keine Freude, und außer in Deutsch und Geschichte habe ich nur Vierer und Fünfer«, gestand Sebastian.
»Die Schule und das Leben sind nicht nur zur Freude da«, antwortete würdevoll der Cousin der Mutter.
»Das mag sein. Ich weiß aber noch nicht, was ich tun werde. Ich weiß nur, dass ich auf keinen Fall Bauer werden will, Knecht meines Bruders, oder Staatsbeamter, Inspektor gar, was sich mein Vater immer vorstellte. Wilfried wird den Hof übernehmen.« Sebastian sah zu seinem drei Jahre älteren Bruder hinüber, der neben dem Pfarrer saß und ein wichtiges Gesicht machte, so andeutend, dass er nun der Lorenz war, der im Dorf das Sagen haben würde.
»Irgendein Talent hat jeder«, beharrte der Cousin, ein ehemaliger Kapellmeister, der längst ohne Kapelle war und seine Rente damit aufbesserte, dass er Klavierstunden gab und in obskuren Bars auf die Tasten hämmerte. »Man muss aus seinem Leben etwas machen«, setzte er hinzu.
»Ich weiß von keinem Talent.«
»Ich hörte von deiner Mutter, dass du gern liest.«
»Stimmt, das ist aber kein Talent.«
»Du könntest Philosophie oder Pädagogik studieren.«
»Und Lehrer werden?«, fragte Sebastian entsetzt und dachte sofort an die Lehrer auf dem Gymnasium zu Neuruppin, die mit verschränkten Armen auf dem Rücken und mit ausgetrockneten, bleichen Gesichtern zwischen den Schulbänken auf und ab gingen.
»Nein, niemals!«
»Irgendwie musst du aber dein Brot verdienen.«
Es war keine Verstocktheit. Er hätte dem stets freundlichen Onkel gern etwas Konkretes genannt. Aber er hatte kein Talent für Musik, und daraus, dass er Balzacs Menschliche Komödie gelesen hatte und einige Romane Zolas kannte, war auch nichts herauszuholen, womit sich Geld verdienen ließ. Aber der Cousin der Mutter ließ sich nicht abweisen.
»Wenn du einmal in Berlin bist, besuche mich! Ich würde dir raten, in die Großstadt zu kommen, da hast du mehr Möglichkeiten. Und vielleicht findest du eine Tätigkeit, die dir Freude und Befriedigung verschaffen kann.« Er drückte ihm ein paar Reichsmark in die Hand.
Sebastian nahm sie gern, denn der Vater hatte ihn stets kurzgehalten.
Am Abend rief ihn die Mutter zu sich. Die Trauergäste waren längst gegangen, und auch die Rosensteins hatten sich mit besorgten Gesichtern verabschiedet. Nach ihren Blicken zu Wilfried hin glaubten sie nicht an eine Verbesserung des Schicksals der Schwester oder Cousine. Sebastian hatte sich in seinem Zimmer verkrochen. Als er wieder in die große Stube mit der niedrigen Decke trat, saß die Mutter mit Wilfried am Tisch. Sie machten beide ernste Gesichter.
»Vater hinterlässt uns nicht viel«, nahm Wilfried das Wort. »Wir werden die Zucht verkaufen müssen, um die dringendsten Schulden bezahlen zu können, und wir werden einen der Knechte entlassen. Es wird lange dauern, bis ich das Erbe schuldenfrei habe. Ich weiß von Vaters Testament. Er überträgt mir als Ältestem die Wirtschaft und alles, was dazugehört. Dir vermacht er fünftausend Reichsmark, aber wegen der Hypotheken werde ich sie dir nicht gleich auszahlen können. Mit dem Gymnasium ist Schluss, das können wir uns nicht mehr leisten. Wir brauchen jede Hand auf dem Hof.«
»Mit mir kannst du nicht rechnen«, sagte Sebastian trotzig.
»Was willst du dann tun? Hier müßig herumhocken?«
»Ich werde nach Berlin gehen.«
»Um dort was zu tun?«
»Das weiß ich nicht, aber irgendetwas werde ich schon finden.«
»Bub, was willst du in der großen Stadt? Du wirst verhungern oder unter die Räder kommen!«, klagte die Mutter. Für ihren Jüngsten hatte sie stets mehr Zärtlichkeit empfunden als für Wilfried, und sie machte sich Sorgen wegen seiner Zukunft. »Was soll nur werden?«, fragte sie ratlos.
»Du wirst uns nicht auf der Tasche liegen!«, sagte Wilfried entschlossen. »Der Anwalt Stöckler in Neuruppin hat eine Lehrstelle zum Anwaltsgehilfen ausgeschrieben.«
»An so etwas habe ich eigentlich nicht gedacht«, wehrte sich Sebastian.
»An was dann? Mit deinem ollen Balzac kannste hier nicht rumsitzen! Es ist abgemacht: Du gehst zum Stöckler und stellst dich vor. Er ist Parteimitglied und wird dich deswegen anderen Bewerbern vorziehen. Ich fahre morgen bei ihm vorbei und klär das schon mal vorab.«
»Ich kann mir das nicht besonders spannend vorstellen.«
»Spannend? Darauf kommt es nicht an. Andernfalls hilfst du mir hier auf dem Hof. Such es dir aus! Du wirst die ersten Jahre ohnehin nicht viel mehr als das übliche Lehrgeld bekommen, und wir werden dich durchfüttern müssen. Aber du bist mein Bruder, und da will ich nicht kleinlich sein. Also, überleg es dir!«
Ich habe keine andere Wahl, dachte Sebastian unglücklich. Von wegen »Jeder trägt den Marschallstab im Tornister« und was sie einem sonst so auf der Schule erzählten!
Zwei Jahre musste Sebastian in der Anwaltskanzlei Stöckler ausharren, ehe das Schicksal eingriff und ihn aus ihr befreite. Doch er hatte bald gelernt, systematisch zu arbeiten und – was vielleicht noch wichtiger war – dass ein Gesetz eine neue Wahrheit bekam, wenn man es mit Selbstbewusstsein und Leidenschaft vortrug. Er konnte dem alten Stöckler so einiges an Schauspielkunst abschauen. Gleichwohl verachtete er diesen und manchmal auch das Büro, das ihn wie eine Geierhöhle dünkte. Es war dunkel und vollgestopft mit Akten, so dass man sich kaum rühren konnte. Die Möbel hatten schon zu Kaiserzeiten antiquarischen Wert, und auf allen Papieren lag Staub.
Bürovorsteher war der Anwaltsgehilfe Brösel, ein langer Hagestolz und leidenschaftlicher Nationalsozialist mit stets schlecht rasiertem Gesicht und gelber, ausgetrockneter Haut. Sebastian wurde schon übel, wenn dieser in seine Nähe kam, denn neben einem säuerlichen Altherrengeruch hatte Brösel einen Atem, der der Pestilenz gleichkam. Natürlich verabscheute er Sebastian, zum einen, weil er jung war, und zum anderen, weil er ihm, wie er mit Recht meinte, nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte. Wenn Sebastian später von der Arbeit im Anwalts- und Notarbüro Stöckler träumte, dann wachte er schweißnass auf, so wenig geeignet hielt er sich für den Beruf. Und was er zu tun bekam, hätte auch jeder Analphabet, wie er zu Hause murrte, erledigen können.
Er trug also die Akten ins Gericht, protokollierte auf einen Wink von Stöckler die Aussagen von Klägern und Zeugen und vertiefte sich in die Gesetze, die in einem so gestelzten Deutsch formuliert waren, dass man sie wieder und wieder lesen musste und dennoch nicht verstand. Mit dem großen Stöckler hatte er wenig zu tun, und er, Sebastian, war für diesen auch zu unbedeutend, um mehr als einen Knurrlaut und einen barschen Zuruf, dies oder jenes zu tun, von ihm zu hören. Stöckler war stramm rechts, und sein Adlatus stand ihm in nichts nach. Zur Mittagszeit saßen die beiden, umringt von den zwei weiblichen Bürokräften, mit einer Tasse Kaffee in der Hand in dem Kabuff neben Stöcklers Büro, und der Anwalt hielt großartige Reden über den Zustand Deutschlands und Europas und erklärte die Weltpolitik.
So vergingen zwei Jahre, in denen ihm der Bruder oft genug zu verstehen gab, dass er ihn für einen unnützen Esser halte, und natürlich hatte ihm Stöckler gesteckt, dass Sebastian nur eine sehr mäßige Hilfe im Anwaltsbüro war.
»Wir werden den Jungen zeitlebens auf der Tasche liegen haben«, klagte Wilfried gegenüber der Mutter, worauf diese nur immer hilflos die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
In der Garnisonsstadt Neuruppin war man sehr kaiserlich, genauer preußisch-königlich eingestellt, hatte man doch dem preußischen König zu verdanken, dass die Stadt nach dem großen Brand wiederaufgebaut worden war. Es waren nicht viele, die mit der SA marschierten, als der Gauleiter von Berlin, ein koboldhafter Mensch mit einem Hinkefuß, seine Kohorten nach Neuruppin rief, um mit ihnen durch die Stadt zu marschieren und »Deutschland, erwache!« zu brüllen, allein zu dem Zweck, hier bei den kasernierten Soldaten für die Idee der nationalen Erweckung zu werben. Das Personal der Kanzlei stand am offenen Fenster und jubelte unter Stöcklers Anweisung den braunen Kohorten zu.
Als die gerade am Denkmal König Wilhelms vorbeimarschierten, fiel ein Schuss. In Berlin war dies nichts Besonderes, hier in der Behaglichkeit der kleinen Provinzstadt hingegen eine unerhörte Begebenheit. In Neuruppin hatten die Kommunisten keine große Anhängerschaft, aber einige gab es doch, und aus deren Reihen kam der Schuss, der zwar nichts anrichtete, jedoch die SA auseinanderspritzen ließ. Sofort wurde unter den Zuschauern am Straßenrand der Schuldige gesucht. Sebastian sah, wie sie einen jungen Mann mit Ballonmütze verfolgten, sah diesen auf ihr Haus zulaufen, die grölenden SA-Leute im Gefolge. Sein Brötchengeber grölte blutgeil mit und feuerte die SA an. Sebastian aber schlich sich aus dem Zimmer und lief hinunter in den Flur, wo ihm auch schon mit gehetzten Augen der junge Mann mit der Ballonmütze entgegenkam. Erschrocken sah der ihn an.
»Keine Angst, komm!«, flüsterte Sebastian. Während unten die SA schon polterte, lief er dem Kommunisten voran und führte ihn in die Kanzlei. Der Flur war leer. Noch standen alle in Stöcklers Büro und sahen auf die Straße, wo eine wilde Hatz auf die vermeintlichen Kommunisten in Gang war. Sebastian stieß den Rotfront-Mann in den Aktenraum, der außer Regalen nur noch eine Leiter enthielt und den Staub von einigen Generationen. Er hoffte, dass man hier nicht so schnell auf Aktensuche ging. »Warte hier! Und keinen Mucks, bis sie wieder …« Er legte den Finger auf den Mund, und der junge Mann nickte dankbar. Sebastian ging in Stöcklers Büro zurück. Man schien seine Abwesenheit nicht bemerkt zu haben.
Nun polterte es an der Tür zur Kanzlei. Stöckler sah sich stirnrunzelnd um und ging zum Flur. Drei SA-Männer drängten herein.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte Stöckler mit strenger Miene.
»Hier ist der rote Bastard rein!«, stammelte der Anführer, und sein Blick flog über die Anwesenden.
»In unserer Kanzlei befindet sich kein Roter. Niemals!«, erwiderte Stöckler mit hochrotem Kopf.
»Aber wo soll er denn sonst …«
»Was weiß ich! Bei uns ist er jedenfalls nicht. Haben Sie nicht gesehen, dass vor unserem Fenster die Hakenkreuzfahne hängt?«
»Entschuldigung, dann ist er wohl auf dem Dachboden«, sagte der SA-Mann, nickte seinen Schlägerkumpanen zu, und sie stolperten hinaus.
»Sie müssen noch Zucht und Ordnung lernen. Na, wo gehobelt wird, da fallen halt Späne an«, sagte Stöckler.
Sie hörten draußen die SA-Leute nach oben toben und bald wieder zurückkommen. Sie verharrten noch einmal vor der Kanzleitür, dann erfolgte ein Ruf, und sie polterten die Treppe hinunter. Mit einem Rechtsanwalt und Notar, der sich mit der Hakenkreuzfahne zu ihnen bekannte, wollten sie keinen Ärger bekommen.
»Dann wollen wir mal wieder an die Arbeit gehen«, sagte Stöckler und klatschte in die Hände.
Der Anwaltsgehilfe Brösel warf Sebastian einen gehässigen Blick zu und lief zum Abstellraum. Sebastians Hände wurden feucht. Doch schon stürzte der Kommunist wie ein gehetztes Wild heraus, und ehe Stöckler und Brösel den Mund zubekamen, war er durch den Flur und wieder aus der Kanzlei heraus.
»Wie zum Teufel kommt der Kerl in die Kanzlei?«, brüllte Stöckler.
»Da muss ihm wohl jemand geholfen haben«, sagte Brösel und blickte Sebastian feindlich an.
»Lorenz, hast du den Roten hereingelassen?«, donnerte Stöckler.
»Ich habe bei dem Jungen noch nie ein gutes Gefühl gehabt«, setzte Brösel hinzu.
»Junge, gestehe, du hast den Roten hereingelassen!«, brüllte Stöckler.
»Ja, das habe ich!«, gab Sebastian zu. »Irgendjemand musste ihm doch helfen, die Kerle hätten ihn sonst umgebracht. Ich wollte nicht wegen unterlassener Hilfeleistung Ärger bekommen. Der Mob ist doch außer Rand und Band.«
»Hört euch das an, jetzt kommt der uns noch mit dem Strafgesetzbuch!«, entsetzte sich Brösel.
»Ich habe nur nach Recht und Gesetz … Ich denke, wir sind doch Vertreter von Recht und Gesetz!«, sagte Sebastian trotzig und mit bleichem Gesicht.
»Mob? Wie redest du von den nationalen Kräften! Du hast also tatsächlich …« Brösel schüttelte den Kopf, nahm das Taschentuch und wischte sich die Stirn. »Er bringt unsere Kanzlei in Verruf!«, hetzte er.
»Junge, du packst jetzt deine Sachen und verlässt sofort unsere Kanzlei. Ich will dich hier nicht mehr sehen. Du bist fristlos entlassen«, sagte Stöckler bestimmt.
»Ein Kommunistenfreund in unserer Kanzlei!«, kreischte Brösel.
»Ich bin kein Kommunist, ich wollte mir nur nicht unterlassene Hilfeleistung vorwerfen lassen …«
»Verschwinde!«, schnauzte Stöckler.
Sebastian zuckte mit den Schultern und ging zu seinem Schreibtisch. Er packte die Brotdose in die Aktentasche, zog die Schublade auf, nahm Der Tod in Venedig heraus, was ihm ein wütendes Schnauben von Stöckler eintrug, und ging hinaus.
»Lass dich nie wieder hier sehen!«, rief ihm Brösel triumphierend hinterher.
Sebastian war nicht traurig, weder entsetzt noch deprimiert. Er nahm es hin, wie es gekommen war. Ihm war es nur recht. Das Kapitel Anwaltsgehilfe hatte er hinter sich. Als er auf die Straße trat, waren die Kolonnen bereits zum Bahnhof weitermarschiert. Die Zuschauermenge begann sich zu verlaufen. Als Sebastian an der Fontane-Apotheke vorbeikam, löste sich aus dem Eingang ein junger Mann. Winkend kam er auf ihn zu.
»Vielen Dank«, sagte der Mann mit der Ballonmütze. »Ich weiß nicht, was die mit mir angestellt hätten, wenn du mir nicht zu Hilfe gekommen wärst … Hast du deswegen Ärger bekommen?«
»Ja, mein Vorgesetzter hat mich rausgeschmissen.«
»Verflucht!«, sagte der Kommunist, ein hochgewachsener junger Mann mit einem bleichen, ausgemergelten Gesicht und groben Händen.
»Das ist nicht so schlimm, es war ohnehin die Hölle.«
»Jedenfalls hast du bei mir etwas gut. Ich heiße Kowalski, und wenn du mal in die Bredouille kommst, dann …«
»Ich bin schon in der Bredouille, aber dabei wirst du mir nicht helfen können.«
»Das stimmt«, gab Kowalski stirnrunzelnd zu. »Ich habe ja selbst keine Arbeit.«
»Das kann ich mir denken. Ihr hättet nicht schießen sollen.«
»Glaub nicht, dass es einer von uns war! Keiner von uns hatte eine Waffe. Wir haben nur ›Rot Front!‹ gebrüllt und ›Nieder mit der Reaktion!‹. Ich weiß auch nicht, wer da die Nerven verloren hat.« Kowalski schlug Sebastian auf die Schulter, hob die geballte Faust und lief die Straße zum Paradeplatz hoch.
Sebastian kam am Bahnhof vorbei, wo immer noch SA-Männer auf den Zug nach Berlin warteten. Sie schwadronierten vom kommenden Sieg und dass sie den Neuruppinern gezeigt hätten, wer bald in Deutschland die Macht übernehmen würde. Ein breitschultriger SAMann kam mit lauerndem Blick zu Sebastian und hauchte ihm seinen fuseligen Atem ins Gesicht.
»Bist wohl auch einer von der Reaktion, so wie du aussiehst! Nun mach mal den deutschen Gruß und ruf ›Heil Hitler‹!«
»Guten Tag, mein Herr«, antwortete Sebastian und wollte sich abwenden, aber der SA-Mann hielt ihn am Arm fest.
»Los, mach schon, ich will ›Heil Hitler‹ hören!«
»Ich habe Ihnen doch höflich einen guten Tag gewünscht. Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Hört euch das an!«, grölte der SA-Mann seinen Leuten zu.
»Mach den Grünschnabel fertig, und hau ihm eine in die Fresse!«, hetzten diese, und Sebastian sah zu den Reisenden hinüber, die keine Uniform trugen. Aber diese taten so, als hätten sie anderes zu tun, und starrten an ihm vorbei in die Gegend. Der SA-Mann packte Sebastian an der Hemdbrust und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht. Sebastian fiel zu Boden. Doch der SA-Mann dachte nicht daran aufzuhören und gab ihm ein paar heftige Fußtritte, die Sebastian aufschreien ließen. Und wer weiß, was ihm noch passiert wäre, wenn in diesem Moment nicht der Zug nach Berlin eingelaufen wäre. Eine Trillerpfeife erklang, und der SA-Mann ließ von Sebastian ab, warf ihm noch einen drohenden Blick zu und bestieg mit seinen Kameraden den Zug.
»Du hättest ruhig den Gruß entbieten können«, sagte ein vornehm gekleideter Herr mit Bowler. »Das hat man davon, wenn man sich abseits stellt.«
Sebastian zuckte mit den Schultern und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Mit diesen Leuten will ich nichts zu tun haben!«, erwiderte er trotzig. Genau mit solchen Leuten paktierte Vater und paktiert Wilfried, dachte er erbittert. Sebastian war anfangs kein politischer Mensch, ihn hatten nur die rüden Attacken des Vaters, sein Bramarbasieren und seine Ausfälle gegenüber der jüdischen Verwandtschaft zum Gegner der Nationalsozialisten gemacht. Aber nun, da er am eigenen Leibe erfahren hatte, dass diese so handelten, wie sie redeten, wusste er, dass er niemals mit diesen Leuten etwas gemein haben würde.
Als er in Schönberg den Hof betrat, schlug die Mutter, die gerade die Hühner gefüttert hatte, die Hände über dem Kopf zusammen.
»Sebastian, wie siehst du denn aus!«
»Ach, es ist nichts Schlimmes. Die SA wollte mich zum Hitlergruß überreden, und da habe ich nicht mitgemacht.«
»Aber warum denn nicht? Hitler ist ein großer Mann, sagte Vater auch immer. Deswegen lässt man sich doch nicht verprügeln! Nun komm mal rein, damit ich dich verarzte. Hast du sonst noch …«
»Aber nein, nur ein paar blaue Flecke.«
Ihn gurrend und zeternd umspringend und die Welt beklagend, führte sie ihn in die Küche und holte den Verbandskasten. Behutsam tupfte sie seine Wunde an der Stirn und an den Backenknochen mit Jod ab und verpflasterte ihn. »So, bis zur Hochzeit wird alles wieder gut.«
Er musste lachen, obwohl ihn dabei das Gesicht schmerzte. Den Spruch hatte sie zu ihm schon als Kind gesagt, wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte.
Wilfried kam herein und stutzte. »Was machst du denn schon hier? Und wie siehst du aus?«
»Deine Freunde von der SA haben mich …«
»Hast du die SA provoziert?«, fragte Wilfried unwillig.
»Aber nein, ich habe nur nicht ›Heil Hitler‹ rufen wollen.«
»Das geschieht dir recht!«, sagte Wilfried gehässig. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.«
»Wilfried«, mahnte die Mutter, »er ist dein Bruder!«
»Schöner Bruder! Und was suchst du um diese Zeit hier?«
»Ich habe bei Stöckler aufgehört.«
»Was hast du?«, fragte Wilfried empört und sank fassungslos auf die Sitzbank. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Ja, er hat mich rausgeschmissen.«
»Da siehst du es, Mutter, er taugt nicht mal zum Bürohengst! Zu nichts ist er nütze!«
»Was ist denn passiert, Junge? Warum?«, klagte die Mutter und schüttelte besorgt über ihren Jüngsten den Kopf.
»Ich habe mich an Recht und Gesetz gehalten, was der Herr Anwalt nicht für nötig hielt«, erklärte Sebastian und erzählte, was ihm in der Kanzlei widerfahren war.
»Du hast einen Kommunisten versteckt?«, fragte Wilfried entsetzt. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Hältst du es jetzt mit den Roten?«
»Nein, mit Recht und Gesetz!«
»Du bist ein Schwachkopf! Wie kann man sich, wie kann man uns nur in eine solche Situation bringen! Spätestens morgen ist es im Dorf rum, dass Sebastian Lorenz einem Roten geholfen hat. Wie stehen wir dann da! Man hat doch nur Ärger mit dir. Vater hatte schon recht: Du bist kein Lorenz, sondern ein Rosenstein.«
»Junge, sag so etwas nicht!«, jammerte die Mutter.
»Du hast auch Rosenstein-Blut in dir«, sagte Sebastian lächelnd.
»Schluss mit lustig, meine Geduld ist am Ende! Ich habe dich die ganze Zeit durchgefüttert, aber das ist nun vorbei. Du kannst nicht hierbleiben.«
»Da gebe ich dir ausnahmsweise recht«, entgegnete Sebastian.
»Aber was willst du denn tun?«, fragte die Mutter händeringend.
»Was ich schon vor zwei Jahren tun wollte: Ich werde nach Berlin gehen.«
»Was willst du in der Großstadt? Junge, du wirst verhungern und unter die Räder kommen!«, klagte die Mutter.
»Irgendetwas werde ich schon tun können.«
»Denk nicht, dass ich dir Geld für ein Lotterleben in der Stadt geben kann! Du musst endlich selbst mit deinem Leben fertig werden«, sagte Wilfried und schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch.
»Du musst dein eigener Herr werden und dir dein Brot selbst verdienen.«
»Ich will auch gar nichts von dir. Gib mir ein paar Mark, damit ich nach Berlin fahren kann, und damit soll es genug sein!«
»Ach Sebastian, wenn dein Vater nicht diese unselige Leidenschaft für Pferde gehabt hätte, könntest du Abitur machen und studieren. So hatte ich es mir vorgestellt.« Die Mutter schluchzte, was sie bei dem Tod ihres Mannes nicht getan hatte.
Sebastian liebte sie dafür. Aber er nahm das, was jetzt auf ihn zukommen würde, an. Seine Unschlüssigkeit war vorbei, und er wusste nun, was er zu tun hatte. Mit der Unbedenklichkeit der Jugend, mit dem Vertrauen darauf, dass sich schon irgendetwas ergeben würde, bekräftigte er seinen Entschluss, sein Glück in Berlin zu versuchen.
»Mit dir wird es noch ein schlimmes Ende nehmen«, prophezeite Wilfried hämisch. »Du kannst nichts, bist nichts, und mit Bücherlesen allein hat sich noch niemand über Wasser halten können.«
»Ich weiß, dass du mir nicht viel zutraust.«
»Na, der Stöckler wird auch nicht viel von dir gehalten haben, wenn er dich so mir nichts, dir nichts auf die Straße setzt.«
Als Sebastian dann im Bett lag, fühlte er sich wie befreit. Endlich konnte er weg! Weg aus Schönberg, weg aus der muffigen Kanzlei, weg von Brösels Vorhaltungen. Leid tat ihm nur die Mutter. Sie hatte einen Herrn gegen den anderen eingetauscht, denn Wilfried hatte genau die gleichen Eigenschaften wie der Vater und behandelte sie mit derselben herablassenden Gleichgültigkeit. Von der Magd des Vaters war sie nun zur Magd des Sohnes geworden.
Sie war es auch, die noch einmal in sein Zimmer huschte und sich zu ihm aufs Bett setzte. Sie nahm seine Hand und flüsterte unter Tränen: »Was soll aus dir nun werden? Ich mache mir solche Sorgen! Schon als Bub hast du mir Kummer bereitet, dauernd warst du krank. Es ist ein Wunder, dass ich dich durchgebracht habe!«
»Ich werde etwas aus mir machen, Mutter«, versprach er und drückte sie an sich.
»Du hast mich so viel Kraft gekostet. Aber es war es wert, du bist kein Lorenz geworden.«
Sebastian lächelte und strich ihr eine weiße Strähne aus dem Gesicht. Es war seltsam, wie weich ihr Haar war. Sie war einst eine Schönheit – er kannte die Aufnahmen von ihrer Hochzeit –, doch nun hatten die Sorgen und die viele Arbeit sich in ihr Gesicht eingegraben. Ein schwacher Abglanz war immer noch zu sehen, wenn sie lächelte. Nur tat sie dies zu selten.
»Ich verspreche dir, dass ich es zu etwas bringen werde. Ich lasse mich nicht kleinkriegen«, versicherte er noch einmal.
»Ach Junge, du bist ein Träumer. Die vielen Bücher haben dir Dinge in den Kopf gesetzt, die ein Bauernjunge nicht träumen sollte.«
»Ich brauche nur eine richtige Chance. Ich bin ein Rastignac.«
»Wer ist denn das schon wieder? Immer hast du so wunderliche Dinge im Kopf!« Sie streichelte ihm über das Haar. »Ich weiß noch, wie es war, als du geboren wurdest. Es war ein wunderschöner Apriltag, und die Frauen, die zu mir ins Krankenhaus kamen, trugen große Hüte, und die Schwester legte dich mir in den Arm. ›Es ist ein Junge‹, sagte sie mir. ›Er ist gesund, aber Sie werden auf ihn achtgeben müssen, denn er ist etwas zart.‹ Und so war es auch. Ich habe immer auf dich achtgeben müssen. Nun werde ich es nicht mehr tun können. Hier, nimm das, ich habe in all den Jahren etwas gespart. Ich weiß selbst nicht wofür. Vom Haushaltsgeld habe ich immer ein paar Pfennige abgezweigt, und mit den Jahren ist allerlei zusammengekommen.« Sie drückte ihm eine Rolle Geldscheine in die Hand.
Sebastian zählte das Geld und schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht annehmen, das sind tausend neue Reichsmark! Du brauchst es für dich.«
»Was brauche ich alte Frau schon! Nimm es, sprich aber nicht mit Wilfried darüber! Ich wusste immer, dass Vater ihm alles vererben würde. Nun hast du mit den tausend Reichsmark ein kleines Startkapital. Gib es nicht für unnütze Dinge aus, sondern für etwas, das dir im Leben weiterhilft – also nicht wieder für Bücher oder gar für Mädchen! Versprichst du mir das?«
Er versprach es ihr. Das mit den Mädchen fiel ihm leicht, denn bisher war er noch nie mit einer Frau zusammen gewesen. Als er zwölf gewesen war, hatte er die Tochter von Bauer Garchke geliebt, weil sie lustig war und lange schwarze Zöpfe hatte, die beim Laufen hin und her flogen, und mit der er hinter der Scheune Doktorspiele gespielt hatte. Aber als sie älter waren und sich begegneten, hatten sie sich nicht angesehen. In dem letzten Jahr auf dem Gymnasium war sie in der Nebenklasse die ungekrönte Königin gewesen, und Helge, der Sohn des Dorfschulzen zu Lindow, behauptete, sie zur Freundin zu haben. Tatsächlich hatte Sebastian die beiden einmal händchenhaltend am Neuruppiner See zum Bootssteg laufen sehen. Ihn aber hatte sie geschnitten und ein hochmütiges Gesicht gemacht. Er nahm an, dass sie mit dem Klassenletzten nichts zu tun haben wollte. Vielleicht erinnerte sie sich auch daran, wie sie ihn und er sie bei den Doktorspielen befummelt hatte. Das waren seine ganzen Erfahrungen mit Mädchen.
»Du wirst mir doch jede Woche schreiben?«, fragte die Mutter, und Sebastian nickte gehorsam.
Als sie gegangen war, las er weiter in den Buddenbrooks über den Niedergang der Familie. Nun, die Lorenz’ waren keine Buddenbrooks, aber vielleicht stand er am Anfang einer Familie, die es zu Reichtum und Ansehen brachte. Er hoffte, dass er in sich etwas finden würde, das ihn über andere hinaushob.
Sie standen in Lindow auf dem Bahnhof, einem kleinen Backsteinbau, der geduckt unter den Wolken vor der Stadt lag. Es war windig und kalt, und es nieselte. Die Mutter schnäuzte sich dauernd, während Wilfried breitbeinig und ungeduldig immer wieder auf die Uhr sehend danebenstand und darauf hoffte, dass der Zug endlich kam.
»Du schreibst mir gleich, wo du untergekommen bist! Onkel Edmund wird dir bestimmt dabei helfen. Schreib mir noch heute Abend, dann habe ich deinen Brief übermorgen hier. Bis dahin werde ich keine ruhige Minute haben.«
»Mutter, er geht doch nicht nach Amerika!«, stöhnte Wilfried gereizt.
Sebastian versprach es. Er verstand die Mutter. Sie würde von nun an allein mit Wilfried leben, und alles würde so sein wie bei dem Alten: der gleiche Ton, die gleichen Anweisungen, die gleiche Freudlosigkeit und das ewige Gerede darüber, wie viel man aus dem Acker herausholen konnte, das ewige Genöle über die Getreidepreise, das geile Lächeln wegen der Trächtigkeit der Stuten und die strengen Ermahnungen, dass man hier und dort sparen musste. Nichts würde sich ändern, und doch würde es anders sein. Denn niemand würde mehr ihren Tagesablauf in Sorge um den Jüngsten in Unordnung bringen, keinen würde sie liebevoll eine Naschkatze schelten oder einen Träumer nennen, und vor allem würde er nicht da sein, um sie in die Arme zu nehmen und sich mit ihr im Kreise zu drehen, und sie würde nicht mehr rufen: »Mein Gott, Junge, ich bin doch keine junge Frau mehr!«
Ein Pfiff kündete den Zug an und wurde von einem Heulton abgelöst. Der Zug rauschte heran, und aus der Wartehalle strömten die Reisenden, meist Arbeiter, die nach Berlin wollten und ermüdet und abgehärmt aussahen, was nicht nur an dem kalten Licht der Bogenlampe lag. Die Lokomotive ließ viel Dampf ab, und die Rauchwolken zogen über den Bahnsteig und hüllten die Wartenden ein. Die Mutter und Wilfried führten Sebastian zu einem Dritte-Klasse-Wagen.
»Nun denn«, sagte Wilfried, »mach es gut und lass von dir hören!« Das war es, was ihm der Bruder mitgab. Ein letztes Mal drückte er die Mutter, deren Gesicht ihm nun noch müder, deren Augen noch trauriger erschienen. »Mutter, ich bin doch nicht aus der Welt!«
Der Pfiff des Schaffners ertönte, und das Stampfen der Lokomotive verstärkte sich. Neue Dampfwolken zogen über den Bahnsteig. Sebastian stieg in den Zug und drängte sich sofort ans Fenster. Die Mutter hielt ihre Hand hoch, ihr Mund war verzerrt und offen, als entfliehe ihr ein Schrei. Dann ruckte der Zug an, und die Mutter und Wilfried wurden kleiner. Nun winkte sie heftig und lief ein paar Schritte hinter dem Zug her, und Sebastian hatte Mühe, seine Tränen zu unterdrücken. Ohne Abitur und mit einer abgebrochenen Lehre, aber einer Menge Bücher im Kopf zog er nach Berlin.
Die Bänke des Großwagenabteils waren gedrängt voll. Viele nutzten die Bahnfahrt, um noch ein wenig zu schlafen. Ihre Kleider waren grob und ihre Hände abgearbeitet. Die Männer trugen blaue Arbeitskittel, die Frauen den billigen Chic der Warenhäuser, den gerade die Mode diktierte, kleine Hütchen mit Blumenimitaten, Röcke, die die Knie gerade bedeckten, Strümpfe, die fast durchsichtig waren. Aber ihre Gesichter zeigten, wenn auch in einer weicheren Ausführung, die gleiche Müdigkeit und Resignation. Es roch nach Schweiß, klammen Kleidern, billigem Parfum und nach dem Rauch schlechter Zigarren. Das gleichmäßige Schaukeln ließ auch Sebastian müde werden, und er träumte, in Alaska zu sein und nach Gold zu graben, um in Frisco ein großes Haus zu führen mit Dienern und Wirtschafterin und Zimmermädchen. Und die Leute blieben stehen, wenn er in einer großen Kalesche durch die Straßen fuhr, und lüfteten ihre Hüte. Da kommt er, der Mann, der in Klondike sein Glück gemacht und den größten Goldklumpen der Welt gefunden hat!
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