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Können Bilder töten? Können die Werke des großen Picasso Mordlust auslösen? Eine geheimnisvolle Mordserie hält die Kunstwelt und die Öffentlichkeit in Atem. Es beginnt in Berlin. In der Nationalgalerie wird die Kuratorin tot aufgefunden. Ein Bild von Picasso aus der Minotaurus-Serie fehlt. Bald stößt Hauptkommissar Huntinger auf einen ähnlichen Mord in der Nähe von Dachau. Es beginnt eine atemlose Jagd durch die Museen Europas. Morde in Avignon und Paris. Stets sind Frauen die Opfer. Alle waren entweder in Museen oder Galerien tätig. Immer wieder stehen die Verbrechen mit den Minotaurus-Bildern in Verbindung. Es sind Bilder voller Gewalt. Stiermenschen, die sich Frauen unterwerfen. Der Serienmörder scheint sich mit dem Minotaurus zu identifizieren. Er tötet die Frauen und belohnt sich dafür mit einem Picassobild. Die Zeit wird knapp. Hauptkommissar Huntinger weiß, dass der Minotaurus weiter töten wird. Denn der Ursprung dieses Falles liegt in der Vergangenheit des Dritten Reiches, in der Erziehung der Kinder. Dem Kommissar sitzt der heiße Atem des Minotaurus' im Nacken. Das Zusammentreffen mit dem Mörder auf dem Berghof Hitlers wird zum dramatischen Höhepunkt eines außergewöhnlichen Krimis. www.heinz-joachim-simon.de
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Seitenzahl: 395
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Heinz-Joachim Simon
Der Picassomörder
Huntinger und das Geheimnis des Bösen
Kriminalroman
Simon, Heinz-Joachim: Der Picassomörder. Huntinger und das Geheimnis des Bösen, Hamburg, ACABUS Verlag 2012
Originalausgabe
PDF-ebook: ISBN 978-3-86282-098-6
ePub-ebook: ISBN 978-3-86282-099-3
Print: ISBN: 978-3-86282-097-9
Lektorat: Silke Meyer, ACABUS Verlag
Umschlaggestaltung: Gregor Middendorf, middendorf-movies
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… denn ich, der Herr, dein Gott,
bin ein eifriger Gott,
der da heimsucht der Väter Missetat
an den Kindern
bis in das dritte und vierte Glied …
Moses 2.20.5
1. Berlin, Juli 2010. Kommissar Huntinger ermittelt in Berlin
2. In der Haut des Minotaurus
3. Ein Ort, der die Hölle war
4. Eine ganz normale Kleinstadt
5. Huntinger erhält einen Vortrag in Psychologie
6. Zärtlich ist das Licht der Côte d’Azur
7. Huntinger im Labyrinth
8. Das Rendezvous mit dem Schicksal
9. Der Minotaurus in seinem Wahn
10. Eine überraschende Entdeckung
11. Der Tod am Nachmittag … in Arles
12. Der Minotaurus wird gestellt
13. Im Bauch von Paris
14. Im Schatten des Eiffelturms
15. Der Minotaurus amüsiert sich
16. Huntinger bekommt Schwierigkeiten
17. Huntingers schlimmste Nacht
18. Eine unheimliche Begegnung mit der Vergangenheit
19. Die Richtstätte auf 1800 Meter Höhe
Sie kamen mit ihren „Uräh“-Rufen heran und stürmten auf das Schauspielhaus zu. Aber es beeindruckte ihn nicht. Es hatte ihn auch nicht in Stalingrad beeindruckt, wo er kurz vor der Kapitulation noch ausgeflogen worden war. Und es beeindruckte auch nicht seine Kameraden von der Waffen-SS, die sich hier am Gendarmenmarkt im Schauspielhaus verschanzt hatten. Sie würden noch einmal kämpfen. Er beugte sich tief über das Sturmgewehr. Kommt nur, dachte er. Kommt nur. Wir sind Krieger. Er hatte keine Angst. Nie Angst gehabt. Nun fiel ihm wieder der Vater ein. Wie er drohend vor ihm stand, und dann kam die Faust. Ja, vor ihm hatte er Angst gehabt. Aber es hatte ihn hart gemacht. Er drückte den Abzug durch. Ein Deutscher hatte keine Angst. Auch das hatte der Vater gesagt. Damals. Als er noch ein Junge war. Aber nun war er ein Krieger.
Ein seltsamer Ort für eine Leiche. Hauptkommissar Charles Huntinger stand etwas ratlos vor der Toten in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Die Picassoausstellung war das Kunstereignis des Jahres. Besucherrekord. Doch jetzt, am frühen Morgen, war die Galerie noch leer. Draußen drängten sich die Besucher bereits in einer endlosen Menschenschlange. Sie würden noch eine Weile warten müssen, ehe die Galerie aufmachte.
„Der Täter hat eines der besten Blätter von Picasso mitgenommen“, stöhnte Schwiebel, der Museumsdirektor. Ein kleiner, übergewichtiger Mann mit Stirnglatze. Ängstliche Augen. Schweiß auf der Stirn.
„Wie lange ist sie schon tot?“, fragte Huntinger den Pathologen Wurmser, mit dem er sich jeden Freitagabend zu einer Schachpartie in seiner Wohnung am Gendarmenmarkt zusammensetzte. Teuerste Lage in Berlin. Geerbt. Man musste nur die richtigen Großeltern haben.
Wurmser drehte die Tote, nachdem der Fotograf die Leiche aufgenommen hatte, vorsichtig um.
„Nach der Körpertemperatur zu urteilen, seit einer Stunde. Was für eine grässliche Wunde!“, stöhnte Wurmser. Zerknautschtes Uhugesicht. Dicke Brillengläser, die die Augen vergrößerten.
„Hast du so etwas schon mal gesehen?“ Er wies auf die große Wunde im Unterleib.
Um die Leiche hatte sich eine Blutlache gebildet, die bereits festtrocknete. Eine Wunde, so rot und rund wie die Farbkleckse auf den Gemälden von Miró. Scheißvergleich, dachte Huntinger. Dies hier war die Picassoausstellung. Nachdenklich holte er seine Pfeife heraus und steckte sie kalt in den Mund. Die Verletzung war zu groß, um von einem Messer zu stammen. Als hätte man ihr einen Pfahl in den Leib gerammt. Der Museumsdirektor räusperte sich unbeholfen.
„Hier ist rauchen …“
Huntinger winkte ab.
„Die Pfeife ist doch kalt.“
„So etwas habe ich bisher nur bei Leichen nach einem Verkehrsunfall gesehen“, erläuterte Wurmser kopfschüttelnd.
„Ein Auto ist hier wohl kaum durchgerast“, erwiderte Mäusel in ihrer luschen Art. Huntingers Mitarbeiterin war trotz ihrer Jugend bereits Kommissarin. Rotzfrech, aber ein prima Kerl.
Huntinger saugte an seiner Pfeife und sah auf die leere Stelle, wo der Picasso gehangen hatte.
„Diese Frau war also Ihre Mitarbeiterin?“, fragte er den Museumsdirektor.
„Ja. Frau Dennecke war meine Stellvertreterin. Sie war immer die Erste hier im Museum. Sehr tüchtig.“
Ein Rubenstyp, dachte Huntinger. Sehr weibliche Ausstrahlung. Sie war eine attraktive Frau gewesen, obwohl sie die Vierzig bereits überschritten haben mochte.
„Sehen Sie hier“, sagte die Mäusel und ging in die Knie.
Im Kommissariat nannte man sie nur „Maus“. Sie war klein und stämmig. Auf einen etwas unförmigen Körper hatte der Herrgott ein Gesicht gesetzt, das er wohl einem Engel abgeguckt hatte. Durch ihren weiten Pullover wirkte ihr Körper noch unförmiger, als er war. Sie hatte schulterlanges blondes Haar, blaue Augen und einen breiten Mund. Das netteste Lächeln der Welt, wenn sie lächelte. Doch meistens lächelte sie nicht. Meist war sie mit sich und der Welt unzufrieden. Ihr T-Shirt mit der Aufschrift Fuck you gab darüber Auskunft. Andere T-Shirts trugen Aufschriften wie Achtung. Bissiger Hund. Huntinger hatte sich, wie die Kollegen, längst daran gewöhnt.
Mäusel wies auf seltsame Striche in der Blutlache neben dem Kopf der Leiche. „Sieht aus wie ein Ziegenbock.“
„Hm“, brummte Huntinger. „Was für ein Bild fehlt denn?“
Er sah hoch auf die Wand, an der endlos viele Zeichnungen von Picasso hingen. Alle zeigten einen Menschen mit Stierkopf, der über üppig proportionierte Frauen herfiel oder sie umarmte oder mit ihnen wollüstig das Lager teilte.
„Eines aus der Minotaurusserie. Ein besonders schönes Blatt. Es zeigt den Minotaurus mit einem Dolch. Eine Radierung aus dem Jahr 1933. Ein ähnliches Motiv hat er auch für die Zeitschrift Minotaure entworfen.“
„Will der Mörder uns damit etwas sagen?“, fragte Otto Pressel, auch er ein Kommissar aus Huntingers Abteilung. Ein dürrer Hagestolz, der in seiner nachlässigen Kleidung immer aussah, als würde er unter den Brücken von Berlin schlafen. Nicht verheiratet. Extrem zuverlässig. Ging nur lustlos in den Feierabend.
Huntinger zuckte mit den Achseln. „Schon möglich.“
„Aber wenn er auf das Bild scharf war, warum diese grässliche Verstümmelung? Womit hat er die Frau getötet?“
„Mit einer Eisenstange“, mutmaßte Wurmser und stand stöhnend auf. „Könnte eine spitze Eisenstange gewesen sein.“
„Ach, Quatsch. Man geht doch nicht mit einer Eisenstange ins Museum“, wehrte Mäusel unwirsch ab.
„Versuch’ mehr herauszubekommen“, brummte Huntinger seinem Freund Wurmser zu. „Dieser Saal bleibt heute gesperrt, damit die Spurensicherung ihre Arbeit tun kann.“
Der Museumsdirektor zuckte zusammen.
„Das wird die Besucher gar nicht freuen. In diesem Saal hängen die schönsten Radierungen von Picasso. Besucher aus aller Welt kommen wegen der Ausstellung nach Berlin.“
„Mord in der Picassoausstellung! Die Zahl Ihrer Besucher wird sich in den nächsten Tagen verdoppeln“, warf die Mäusel ein und wies den Fotografen an, die seltsame Zeichnung im Blut der Toten aufzunehmen.
„Wieso?“, fragte Schwiebel begriffsstutzig.
„Na, eine Tote vor einem Picassobild, das wird die Boulevardzeitungen zu Höchstleistungen anspornen. Die Besucher werden sich hier mit wohligem Schauer umsehen“, sagte Mäusel und zwinkerte dem Fotografen zu.
Nachdenklich ging Huntinger die Bilderreihe entlang. Er verstand nicht viel von Kunst. Die kubistische Phase von Picasso mochte er nicht. Von den neuen Malerfürsten wie Baselitz und Pollock hatte er noch weniger Ahnung. Den Immendorff, den mochte er. Café Deutschland und Ähnliches. Auch diese Picassozeichnungen mit mythenhaften Szenen sprachen ihn an, erinnerten ihn an archaische Zeiten, als Griechenlands Götter noch unter den Menschen weilten und sich mit den Erdenweibern paarten. So eine Zeichnung hätte er gern gehabt, weil sie mit seinem Hobby, griechische Geschichte und Philosophie, in Einklang stand. Wie Albert Camus hätte er ausrufen können: Die Welt, in der ich mich am wohlsten fühle, ist der griechische Mythos.
Schwiebel war ihm gefolgt und erklärte die Bedeutung der Zeichnungen: „Sie drücken das Archaische im Mann aus. Picasso war außerdem ein großer Aficionado. Er besuchte alle Stierkämpfe in Arles und Nîmes. Ein Anhänger des Männlichkeitskults. Ein Macho natürlich, aber ein Genie, das den wahren Kern des Mannes auszudrücken verstand.“
Huntinger schmunzelte. Der kleine glatzköpfige und übergewichtige Museumsdirektor war nun wirklich kein Ausbund von Männlichkeit.
„Auch den wahren Kern des Weiblichen?“
„Was meinen Sie?“, fragte Schwiebel irritiert.
„Die Frauen sehen alle sehr zum Geschlechtsverkehr bereit aus. Die weiblichen Attribute sind überdimensioniert.“
„So kann man es auch sehen“, sagte Schwiebel. Der missbilligende Ton war kaum zu überhören.
Huntinger blieb vor einem Bild stehen, auf dem sich ein Stiermann mit gewalttätiger Gebärde über einen hingestreckten Frauenleib mit prallen Brüsten beugte.
„Ja. Picasso war ein Mann, der die Frauen liebte“, sagte der Museumsdirektor.
„Danach sehen die Bilder aber nicht aus“, widersprach Huntinger. „Ich würde sagen, er machte sie sich untertan.“
„Sie mögen Picasso nicht?“, fragte der Museumsdirektor; die Zunge wieselte über seine Lippen.
„Oh doch. Aber nicht jede Phase von ihm. Ich bin etwas altmodisch. Mein Kunstverständnis endet eigentlich mit den Impressionisten.“
„Das ist schade. Ihnen entgeht …“
„Ich weiß.“
Sie gingen zu ihren Leuten zurück, die noch immer um die Leiche herumstanden.
„Pressel, kümmern Sie sich mal um die Frau. Wohnung, etc. War sie verheiratet?“, wandte sich Huntinger an den Museumsdirektor.
„Nein. Geschieden. Sie lebte allein“, stotterte dieser verlegen.
Huntinger verstand.
„Sie kennen sie näher?“
„Wir haben seit drei Jahren zusammengearbeitet.“
„Ich meine privat.“
Der Museumsdirektor wurde noch röter. Unangenehm berührt zog er die Achseln hoch. „Nun gut. Wir waren einmal ein Paar. Aber das ist längst vorbei.“
„Wer wurde Ihr Nachfolger?“
„Das weiß ich nicht. Keine Ahnung“, stotterte Schwiebel. „Sie hat mir den Laufpass gegeben, schon bald, nachdem sie auf meine Fürsprache hin stellvertretende Direktorin geworden war“, fügte er verbittert hinzu.
Armes Schwein, dachte Huntinger. Danach hat er keine Frau mehr gehabt.
„Wie konnte der Mörder eigentlich in die Galerie einbrechen? Wie ich hörte, wurde hier doch eine aufwendige Alarmanlage installiert. Aber es gab keinen Alarm.“
„Die war ausgeschaltet. Habe ich schon gecheckt“, rief Pressel herüber. „Und, Chef, nun kommt’s! Die Tote hatte die Wachmannschaften unten in der Kantine zu einem kleinen Frühstück eingeladen. Eine Zeit lang war hier oben keiner vom Wachpersonal.“
Dem Museumsdirektor fiel die Kinnlade herunter.
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, würgte er heraus.
„Stimmt aber“, erwiderte Pressel grinsend. „Habe das Sicherheitspersonal schon in die Mangel genommen.“
„Unsere Tote war also eine Komplizin? Interessant. Pressel, umso wichtiger ist es, die Nachbarn der Dennecke zu befragen. Vielleicht wissen die etwas von einem Freund.“
„Wird gemacht, Chef.“
„Soll ich nicht die Befragung der Nachbarn übernehmen? Um diese Zeit werden meist Frauen zu Hause sein“, bot sich Mäusel an.
„Gut. Sie gehen mit Pressel“, stimmte Huntinger zu, denn Pressel war in seiner nüchternen Art kein besonders einfühlsamer Befrager.
„Macht hier weiter. Wir sehen uns nachher im Präsidium“, brummte Huntinger, nickte dem Museumsdirektor zu und verließ die Halle.
Vor der Nationalgalerie zündete er sich seine Pfeife an. Die Warteschlange war noch länger geworden. Nachdenklich sah er auf das große Plakat, das die Ausstellung anpries. Ein großes Selbstbildnis von Picasso. Was für unergründliche Augen, dachte Huntinger. Das Gesicht eines ägyptischen Amunpriesters. Ich hätte ihn gern kennengelernt, gestand er sich ein. Denn auch er, Huntinger, war vom alten Schlag und dem Maler obendrein in seiner Statur nicht unähnlich, wenn man ihn, den Fünfzigjährigen, auch nicht so gut aussehend nennen konnte. Mit seiner Größe und der Wucht seines Körpers füllte er jeden Raum.
Zurück im Präsidium empfing ihn die Kleinschmidt, seine Sekretärin, wie jeden Morgen mit einer Tasse Earl Grey. Er hatte die Kleinschmidt von seinem Vorgänger übernommen, der sie als Seele der Abteilung bezeichnet hatte. Huntinger war erst seit Kurzem in Berlin. Nach vielen Schwierigkeiten hatte er es geschafft, hierher versetzt zu werden. Noch einmal eine Herausforderung, hatte er sich gesagt.
„Ein interessanter Fall?“, fragte sie und setzte sich zu ihm an den Schreibtisch.
Eine unschöne Frau, auf die Vierzig zugehend, groß, fast hager, aber mit besonders schönen langen Beinen. Wegen ihrer unvorteilhaften Kleidung strahlte sie nur wenig Weiblichkeit aus. Doch Huntinger mochte sie. Eine tüchtige Person. Loyal und mit einem großen Gerechtigkeitssinn. Sie ließ nichts auf Huntinger kommen und nahm seine Eigenheiten mit großer Nachsicht hin. Niemand durfte es wagen, in ihrer Gegenwart etwas Nachteiliges über Huntinger zu sagen. Ihre spitze Zunge war bei Untersuchungsrichtern und Staatsanwälten gefürchtet.
Er schilderte ihr kurz den Tatbestand. Sie rührte nachdenklich in ihrem Joghurt, nickte dazu, als habe sie genau dies erwartet.
Huntinger schüttelte den Kopf und seufzte nachdenklich.
„Sie scheint den Mörder reingelassen zu haben. Eine schöne rubensartige Frau in den besten Jahren.“
„Der Mörder dürfte jünger gewesen sein, und sie hat noch einmal auf einen goldenen Spätsommer gehofft“, mutmaßte die Kleinschmidt.
„Woraus schließen Sie das?“, fragte Huntinger stirnrunzelnd.
„Sie hat für ihn alles riskiert. Liebeswahn. Torschlusspanik. Ein junger Mann lässt sie sich noch einmal jung fühlen. Sie war ihm verfallen“, schloss sie bestimmt.
„Auf jeden Fall muss der Mörder ein Kunstbesessener sein“, erwiderte Huntinger und wechselte so das Thema. Vielleicht hofft die Kleinschmidt auch noch einmal auf einen goldenen Spätsommer mit einem jungen Mann, dachte er.
„Er will das Bild für sich behalten“, fuhr Huntinger fort. „Auf dem Kunstmarkt kann man so ein Bild nicht anbieten. Es ist zu bekannt. Der Mörder ist mit großer Kaltblütigkeit vorgegangen. Vielleicht haben Sie recht. Es könnte ein junger Mann sein. Ein alter Zossen geht nicht so ein Risiko ein. Ach, nichts als Spekulationen!“, schloss er unzufrieden.
„Der Mord ist erst vor wenigen Stunden passiert“, tröstete ihn die Kleinschmidt.
Huntinger riss ein Streichholz an und tauchte das auflodernde Feuer in den Pfeifenkopf seiner Haggis. Eine knubbelig aussehende Pfeife. Nach der Werbung zu urteilen, hatte sie den Namen von jenem seltsamen Mischwesen, Vogel und Säugetier zugleich, das angeblich in den schottischen Highlands lebte und das die Jäger vergeblich zu schießen versuchten, weswegen diese eifrig dem Scotch zusprachen. Eine seltsame, gut ausgedachte Legende eines Pfeifen- und Whiskyherstellers.
Das Telefon klingelte. Die Kleinschmidt nahm ab.
„Jawohl, Herr Polizeipräsident. Er ist bereits eingetroffen. Er kommt sofort zu Ihnen. Sofort. Ja.“
Sie legte auf und griff wieder zum Joghurtbecher.
„Krassel kann es wieder einmal nicht erwarten. Der Untersuchungsrichter Dremmler und Staatsanwalt Strenger sind bereits bei ihm. Das Trio Infernale wittert einen Fall, der ihm Publizität einbringt.“
Huntinger erhob sich stöhnend, steckte die Pfeife in den Mund und brummte: „Wenn Maus eintrifft, soll sie in den Computer schauen, ob Ähnliches schon einmal passiert ist. Mord im Museum oder in der Nähe einer Ausstellung. Ach ja, sie soll checken, ob bei Frauenmorden auffällige Wunden registriert wurden.“
„Geht in Ordnung, Chef.“
Er ging paffend die Treppe zum nächsten Stock hoch, wo die Räume des Allgewaltigen waren. Wie immer verschmähte er den Paternoster, dessen Enge er hasste. An dem Zerberus vorbei, der ihn von Anfang an nicht gemocht hatte, klopfte er kurz an der Tür und riss sie dann auf.
Das Trio Infernale unterbrach das Gespräch und sah ihm missmutig entgegen. Ohne die Aufforderung abzuwarten, warf sich Huntinger in den letzten freien Sessel vor dem Schreibtisch Krassels.
„Da sind Sie ja endlich! Also, wie ist der Status?“, herrschte ihn der Polizeipräsident an.
Gelassen erzählte Huntinger, was er bisher wusste. Der Polizeichef mochte ihn ebenso wenig wie die beiden anderen. Er war ihnen zu alt, zu wenig eloquent und schien von den neuen forensischen Methoden wenig zu halten. Insgeheim machten sie sich über seine veralteten dunklen, von Pfeifenaschenspuren geprägten Zweireiher lustig. Bei dem Allgewaltigen nahm Huntinger es hin. Er hatte schon in Bochum ständig Ärger mit seinen Vorgesetzten gehabt. Sie waren nun einmal allein auf ihre Karrieren bedacht, hatten Angst vor Fehlern und schlechter Presse. Hier in Berlin gab es genug Fallgruben, Intrigen und Machtstränge, die einem zum Verhängnis werden konnten. Aber all das ließ Huntinger kalt. Dremmler und Strenger waren ihm dagegen von Herzen unsympathisch, und er ließ sie dies spüren. Mit ihren engen, schwarzen Bossanzügen, ihren kalten, jungen Gesichtern und gegelten Haaren könnten sie geklonte Doppelgänger jener Typen in den Banken sein, die skrupellos und geldgeil die Finanzkrise ausgelöst hatten.
„Wir müssen davon ausgehen, dass Täter und Opfer sich kannten und die stellvertretende Museumsdirektorin dem Mörder geholfen hat.“
„Der Fall wird ungeheuren Staub aufwirbeln“, freute sich Dremmler. „Ja. Der Fall muss schnellstens aufgeklärt werden“, unterstützte ihn Strenger beflissen.
„Wir dürfen vor allem keine Fehler machen. Dieses Bild von Picasso ist ein entsetzlicher Verlust für die Kunstwelt“, klagte Krassel.
„Der Regierende Bürgermeister hat mich bereits angerufen. Er drängt auf schnelle Aufklärung. Für Berlin ist es ein enormer Imageschaden!“
„Ja, ganz entsetzlich“, echote Dremmler.
„Womit ist die Frau denn getötet worden?“, fragte Strenger und starrte missbilligend auf die kalt gewordene Pfeife in Huntingers Hand. Es war ihm anzusehen, dass er es für einen Affront hielt, dass Huntinger so offensichtlich im Büro des Polizeipräsidenten zeigte, dass er gegen das Rauchverbot in öffentlichen Räumen verstieß.
Krassel sah mittlerweile darüber hinweg, da der Neue trotz seiner Respektlosigkeit und veralteten Methoden eine Erfolgsquote hatte, die ihn unangreifbar machte. Huntinger war sein bestes Pferd im Stall. Wenn sich Dremmler und Strenger über ihn beschwerten, wehrte er sie mit der Bemerkung ab: „Ich weiß. Ich weiß. Er ist unerträglich, aber er hat Erfolg. Seltsamerweise mag ihn sogar die Presse.“
„Das wissen wir nicht“, beantwortete Huntinger Strengers Frage. „Es muss ein großer Gegenstand gewesen sein, der sich wie ein Pfahl in ihre Brust gebohrt hat. Eine derartige Wunde habe ich noch nicht gesehen.“
„Der Mörder wird wohl kaum mit einem Pfahl in die Nationalgalerie marschiert sein“, höhnte Dremmler.
„Wohl kaum“, stimmte Huntinger gelassen zu, zog sein Pfeifenbesteck aus der Tasche und bohrte in der Asche seiner Pfeife.
„Machen Sie jetzt nur nicht Ihren Stinkkolben an!“, knurrte Dremmler. „Ich kann den Geruch nicht ertragen, und im Übrigen wissen Sie doch, dass …“
„Ich weiß“, unterbrach ihn Huntinger. „Sie ist doch auch gar nicht mehr an.“
„Was werden Sie tun? Der Regierende verlangt eine schnelle Aufklärung“, riss Krassel das Gespräch wieder an sich und klopfte herrisch mit seinem Mont Blanc auf die Schreibtischplatte.
„Das Übliche erst einmal. Die Nachbarschaft des Opfers befragen, die Wohnung durchsuchen. Nach Mordfällen forschen, die einen ähnlichen Charakter hatten.“
„Was? Wie? Ein Wiederholungstäter?“, fragte Dremmler ungläubig. „Wäre möglich.“
„Was ist denn das für ein Bild?“
„Es zeigt einen stierköpfigen Mann, der einen Dolch in der Hand hält.“ „Ein Minotaurus?“, fragte Strenger ehrfürchtig.
„Nun, dann will ich Sie nicht weiter in Ihren Pflichten aufhalten. Sie haben sicher viel zu tun“, entließ ihn Krassel. „Wie gesagt, der Regierende erwartet …“
„Wir tun unser Bestes“, versprach Huntinger, ein „Wie bei jedem Fall“ konnte er sich dann doch nicht verkneifen.
Er schlug sich auf die Knie und ging hinaus. Er wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als er Strenger zischen hörte: „Unverschämt wie immer!“
Huntinger machte die Tür wieder auf, steckte seinen Kopf ins Amtszimmer und sagte grinsend: „So, wie es reinschallt, schallt es auch heraus! Meine Herren, ich wünsche einen guten Tag.“
Er schloss die Tür, und der Zerberus sah ihn unwillig an.
„Ihre Insubordination wird Ihnen noch einmal das Genick brechen“, keifte die Rothaarige.
„Schon möglich“, gab Huntinger zu. „Aber eher brechen Sie sich die Finger an diesem Ding da.“
Er nickte in Richtung Computer, steckte sich die Pfeife an und ging aus dem Vorzimmer.
„Na, war’s schlimm?“, fragte die Kleinschmidt neugierig wie immer, denn sie war jedes Mal höchst besorgt, wenn sich Huntinger zum Allmächtigen begab, da sie nur zu gut wusste, dass ihr Chef wenig Respekt vor diesem zeigte und auch seine Verachtung vor den übereifrigen Justizvollstreckern nicht verbergen konnte.
„Das Übliche“, knurrte Huntinger und ging zu Mäusel und Pressel, die auf ihre Computer einhackten.
„Wieder zurück? Was hat es gebracht?“, fragte er.
„War eine elegante Wohnung. Stilmöbel und so. Goldgerahmte Bilder.
Perserteppich. Alles vom Feinsten“, antwortete Pressel. „Im Badezimmer lag Rasierzeug. Sie hat also einen Kerl gehabt.“
„Und Sie, Maus? Was haben Sie erfahren?“
Eigentlich passte der Spitzname nicht zu ihr. Magdalena Mäusel konnte so kriegerisch sein, dass selbst eine Elefantenherde Angst bekommen hätte.
„Eigentlich nüschts. Nur eine der Nachbarinnen hat sie einmal mit einem Mann gesehen. Einem jungen Mann. Sie konnte ihn aber nicht beschreiben.“
„Ich habe es doch gesagt. Ein junger Mann hat ihr den Kopf verdreht. Sie war ihm …“, rief die Kleinschmidt herüber.
„Wir sind jetzt dabei die unaufgeklärten Fälle abzuchecken“, unterbrach die Mäusel mit einem unwilligen Blick zur Sekretärin.
„Na, dann macht mal weiter“, knurrte Huntinger und ging in sein Büro, öffnete das Fenster und sah hinaus auf die Stadt, die er lieben gelernt hatte. Er mochte ihre Ungebärdigkeit, ihren schnellen Takt und die Geräusche der Großstadt, die so ganz anders klangen als im geruhsamen Bochum. Anfangs hatte er sich nicht vorstellen können, hier heimisch zu werden, aber Berlin war mit Sicherheit die aufregendste Stadt Deutschlands. Selbst in der Nacht hörte das Pulsieren, der Herzschlag der Stadt, nicht auf. Er ging gern durch das nächtliche Berlin, besonders durch Berlin-Mitte, und genoss das Singen der Autoreifen, die Geräusche der Busse und S-Bahnen und die Musik aus den Bars in den Sommernächten, wenn die Türen überall offen standen.
Das Telefon lärmte. Er nahm ab. Wie abgesprochen meldete sich Wurmser.
„Also, über die Tatwaffe kann ich dir immer noch nichts sagen. Ich habe sogar in der Literatur geblättert. Ergebnislos. Sie ist um sieben Uhr, plus/minus eine halbe Stunde, gestorben und hatte vorher Geschlechtsverkehr. DNA bekommst du noch.“
„Ist nicht viel.“
„Nein. Kommst du heute Abend?“
„Weiß noch nicht. Kommt darauf an, wie sich das hier noch entwickelt.“
Sie trafen sich jeden Freitag zum Schachspiel und leerten dabei eine gute Flasche Maltwhisky, wenn Huntinger nicht seinen geliebten Calvados mitbrachte. Manchmal stieß die Nachbarin hinzu, ein Callgirl, dem Wurmser einen Teil seiner riesengroßen Wohnung vermietet hatte und das sich gern mit ihnen unterhielt, da die beiden Männer in ihr nur eine schöne und intelligente Frau sahen und nichts anderes von ihr erwarteten. Huntinger war gern mit den beiden zusammen. Auch deswegen, weil ihn der Blick aus Wurmsers Penthouse über den Gendarmenmarkt begeisterte.
„Glaubst du, dass sie mit ihrem Mörder geschlafen hat?“, fragte Wurmser.
„Möglich. Er hat sie gebumst und dann umgebracht. Eine naheliegende Hypothese. Darüber würde ich mich gern einmal mit deiner Nachbarin unterhalten.“
„Ein interessantes Gesprächsthema für unseren nächsten Schachabend!“, erwiderte Wurmser lachend. „Also bis dann.“
Huntinger hatte kaum aufgelegt, als die Mäusel mit triumphierendem Gesicht in sein Büro kam und mit einigen Blättern wedelte.
„Ich habe eben mit einem Kommissar Schneckenberger in der Nähe von Dachau gesprochen. Dort ist voriges Jahr eine Frau ermordet worden, die eine ähnliche Wunde wie unser Opfer hatte. Er hat mir sofort gemailt und bereits Fotos geschickt. Scheint sehr tüchtig zu sein. Allerdings hat er einen fürchterlichen Dialekt. Der Mann ist kaum zu verstehen. Sehen Sie sich das mal an.“
Sie legte die Blätter auf den Schreibtisch. Auch dieses Opfer war eine gut aussehende Frau in den besten Jahren. Auch sie ein Rubenstyp. Die Wunde war genau so groß und schrecklich wie die der Dennecke.
„Die gleiche Handschrift“, stimmte Huntinger zu. „Wer ist die Frau?“ „Nun kommt’s! Sie hat eine bekannte Galerie in München gehabt. Sie wurde in Dachau, in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers, gefunden, genau neben dem Tor mit der berüchtigten Aufschrift Arbeit macht frei.“
„Seltsam. Was für Bilder hat sie denn verkauft?“
„So neumodisches Zeug. Warhol, Polke und Konsorten. Aber auch Bilder von Picasso und Braque. Was das für Bilder waren, wusste er nicht mehr. Aber dass sie Bilder von Picasso hatte, war ihm noch in Erinnerung. Es ist ja auch eine Weile her.“
„Sonst noch ähnliche Morde?“
„Nein. Und dieser Fall wurde nie aufgeklärt.“
„Gut. Ich muss ohnehin nach München. Ich werde mir in Dachau mal diesen Kommissar vornehmen. Vielleicht kann ich noch mehr aus ihm rausbekommen.“
„Kann ich mitkommen, Chef?“
„Nein. Ich habe außerdem noch in München zu tun. Etwas Privates.“ Huntinger wurde rot. Seit einem Jahr hatte er ein Verhältnis mit einer bekannten Schauspielerin, die im gleichen Alter wie er war und als Charakterschauspielerin und Filmkommissarin gute Einschaltquoten hatte. Bis jetzt war es ihnen gelungen, ihre Beziehung vor der Presse geheim zu halten.
„Chef, ich kann ja nach Dachau fahren und schon mal die Lage sondieren. Ich habe ohnehin noch eine Menge Urlaub gut. Außerdem täte mir ein kurzer Tapetenwechsel nicht schlecht.“
„Na schön, wenn Sie Ihren Urlaub dafür opfern wollen.“
„Mach ich doch gern, Chef“, sagte sie und lief schnell wieder aus seinem Büro.
Kopfschüttelnd sah ihr Huntinger nach.
Die Kleinschmidt kam herein und brachte ihm eine frisch gebrühte Tasse Earl Grey.
„Womit haben Sie denn die Maus so glücklich gemacht? Sie strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als sie aus Ihrem Zimmer kam.“
„Ach, nichts weiter. Ich habe ihr nur erlaubt, nach Dachau zu fahren.“
„Aha. Und Sie fahren auch nach Dachau?“
„Ja. Aber erst muss ich nach München.“
„So?“, fragte sie gedehnt.
„Schauen Sie mal.“
Huntinger zeigte ihr die Bilder der Münchener Toten, und sie schüttelte erschrocken den Kopf.
„Das ist ja grauenhaft.“
„Wir haben es also mit einem Serientäter zu tun. Die Wunde ist eindeutig von der gleichen Art wie die unseres Opfers. Und obendrein verkaufte die Frau auch Picassos. Jetzt haben wir einen Faden, an dem wir zupfen können.“
Belsen kam rein und wedelte mit zwei Eintrittskarten.
„Chef, ich habe für heute Abend zwei Karten für Hertha gegen Frankfurt geschenkt bekommen. Wollen Sie mitkommen?“
Manfred Belsen gehörte auch zu seinem Team. Er war ein rundgesichtiger, glatzköpfiger kleiner Mann, der ganz für seine Freizeitvergnügen lebte. Er war nicht der Klügste, aber ein zuverlässiger Arbeiter. Huntinger akzeptierte, dass nicht jeder sein Leben nach dem Beruf ausrichtete. Er mochte den kleinen Kerl, obwohl er ihm manchmal mit seinen Einladungen zum Kegeln und Skat oder mit seiner Hertha-Leidenschaft auf die Nerven ging.
„Nein. Ich muss Koffer packen. Frau Kleinschmidt, sehen Sie mal zu, dass ich morgen früh einen Zug nach München bekomme.“
„Geht’s um den Mord in der Nationalgalerie?“, fragte Belsen mit enttäuschtem Gesicht.
„Ja. Und Sie können mal bei Interpol anfragen, wie es europaweit mit ähnlichen Morden aussieht.“
„Sie glauben, dass …“
„Ich glaube gar nichts. Aber wir wollen auf Nummer sicher gehen. Picasso hat in Spanien und in Frankreich gelebt. Unser Mörder hat irgendetwas mit Picasso zu tun. Also, schauen Sie mal, wie es aussieht. Könnte ja sein, dass er dort auch sein Unwesen getrieben hat.“
„Mach ich, Chef. Aber das Spiel ist heute Abend. Ich muss beizeiten los. Gleich morgen kümmere ich mich darum. Wollen Sie nicht doch mitkommen? Sie fahren ja erst morgen. Vielleicht gewinnt Hertha ja mal wieder.“
„Nein, danke. Vielleicht ein andermal. Hertha spielt ja nicht zum letzten Mal.“
„Aber wenn die so weitermachen, dann wohl nicht mehr lange in der Bundesliga.“
„Nicht den Mut verlieren“, verabschiedete Huntinger den enttäuschten Kommissar.
„Wann werden Sie wieder zurück sein, Chef?“, fragte die Kleinschmidt.
„Spätestens Freitag, schätze ich.“
„Und wenn Krassel anruft, was soll ich dem sagen?“
„Erzählen Sie ihm von einem ähnlichen Mord in Dachau.“
„Und für die Dachaugeschichte brauchen Sie wirklich die Mäusel dort?“, fragte sie unwillig.
„Ist doch schön, wenn man eifrige Mitarbeiter hat.“
„Seit Sie hier sind, ist Maus in der Tat sehr eifrig geworden!“, sagte die Kleinschmidt spitz und rauschte aus dem Büro.
Huntinger war mit seinen Gedanken längst wieder beim Fall. Es entwickelt sich, dachte er. Ich muss mir ein Buch über Picasso kaufen, damit ich den Kerl besser verstehe. Was interessiert den Mörder an diesem Maler? Ihm fiel ein, wann er das erste Mal von Picasso gehört hatte. Er war noch ein Junge gewesen, Lehrer Köpke hatte ihnen im Zeichenunterricht Bilder von berühmten Malern gezeigt. Van Gogh, Rembrandt, Monet und Cézanne, aber eben auch Picasso, deren kubistische Bilder er damals grauenhaft gefunden hatte. Mittlerweile wusste er, dass der Maler ein Jahrhundertgenie gewesen war. Aber die kubistischen Bilder hätte er sich immer noch nicht in seine Wohnung gehängt.
Die Kleinschmidt kam mit einem Packen Papier rein.
„Hier. Ich habe aus dem Internet mal einiges über Picasso ausdrucken lassen. Es gibt noch viel mehr.“
„Sie haben wohl meine Gedanken erraten. Sie sind eine großartige Frau!“, lobte Huntinger.
Die Kleinschmidt strahlte und ging glücklich wieder hinaus.
Huntinger blätterte die Papiere durch. Was für ein faszinierender Fall!, dachte er zufrieden. Wenn er allerdings gewusst hätte, dass dieser Fall einer der schwierigsten seiner Laufbahn werden würde, hätte sich seine Zufriedenheit spürbar in Grenzen gehalten.
Er war mit sich zufrieden. Es war ganz leicht gewesen und vor allem besser als in den anderen Fällen. Die dumme Kuh hatte sich gewehrt. Das hatte den Spaß erhöht. Er stellte sich vor, was in ihr vorgegangen sein mochte. Er kicherte. Am Morgen hatten sie noch einmal miteinander geschlafen. Er hatte es ihr tüchtig besorgt. Sie war glücklich gewesen. Wie geil sie gequietscht hatte. Und später war sie nicht einmal überrascht gewesen, als er den Wunsch äußerte, ihn mit den Picassos einen Augenblick allein zu lassen. Er wolle einmal, ein einziges Mal in seinem Leben einen dieser wunderbaren Picassos in den Händen halten, hatte er ihr gesagt. Die Schickse hatte ihm geglaubt, die Wächter nach unten zum Frühstück geschickt und die Alarmanlage ausgeschaltet.
„Da hast du einen Saal von Picassos ganz für dich allein“, hatte sie gesagt, stolz darauf, ihm dies zu ermöglichen. Als er ihr dann die Waffe in den Bauch stieß, hatte sie kräftig gefurzt und ihn angesehen, wie sie ihn immer beim Orgasmus angesehen hatte, dann hatte sie geflüstert: „Warum? Warum nur? Ich tue doch, was du …“ Sie hatte noch die Kraft gehabt auf ihn einzuschlagen, und er hatte ihr das spitze Ding noch stärker in den Leib gedrückt. Dann war es vorbei gewesen. Und nun war das Bild in seinem Besitz, und er saß im Zug und wartete darauf, dass dieser endlich den Bahnhof verließ. Zufrieden klopfte er auf die Aktentasche neben sich.
Er, der sich zu Ehren des Meisters selbst Minotaurus nannte, lehnte sich glücklich zurück und schloss die Augen. Dies war nun schon das dritte Original, das er von Picasso hatte. Schade, dass er nicht genug Zeit gehabt hatte, um noch mehr Bilder mitzunehmen. Aber eines Tages würde er alle Bilder der Minotaurusserie besitzen. Eine Unmutsfalte erschien auf seiner Stirn. Er dachte an zu Hause und was ihn dort erwarten würde. Niemand von ihnen wusste, wer er wirklich war. Sie kannten ihn nicht.
Oh ja, sie würden ihn fürchten. Alle würden ihn fürchten. Die Museumsdirektoren, die Mäzene, die Professoren, die ganze Kunstbande. Versager waren sie alle. Durchschnitt. Und diese Kretins hatten ihn durch die Aufnahmeprüfung fallen lassen, hatten nicht erkannt, dass er, genauso wie der Meister, eine Welt erschaffen konnte. Zu ungelenk, ‚Architekturzeichnerei‘ hatten sie ihm bescheinigt. ‚Versuchen Sie es mit einem anderen Studium‘, hatten sie ihm empfohlen. Ihn, den Minotaurus, hatten sie abgewiesen. Er ballte unwillkürlich die Hände. Dann öffnete er die Augen und sah aus dem Fenster. Der Zug hatte die Stadt verlassen. Die Landschaft draußen flog vorbei. Wald. Immer nur Wald. Er hasste den Wald. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Sein Atem ging heftiger. Was hatte er alles ertragen müssen. Den Hohn des Vaters, die mitleidigen Blicke der ganzen Familie.
„Nicht einmal zur brotlosen Kunst taugst du! Nun kannst du dich aufs Geschäft konzentrieren“, hatte der Vater gefordert.
Doch am schlimmsten war der Alte gewesen, der Großvater. Verächtlich hatte er abgewunken und ‚Versager!‘ geraunzt.
Er versuchte an etwas anderes zu denken. An die Frauen, über die er sich gebeugt hatte, über die er hergefallen war wie der Minotaurus. Macht hatte er über sie gehabt. Sie hatten vor Lust geschrien. Ja, das war schon besser. Es tat gut daran zu denken. Er war der Minotaurus. Er klopfte zärtlich auf die Aktentasche. Das war der Beweis. Er bekam eine Erektion. Er hätte jetzt liebend gern gewichst. Aber im Abteil saßen noch drei andere Fahrgäste. Spießer! Ein ältliches Ehepaar und ein distinguiert aussehender, dunkel gekleideter Mann, der den Börsenteil der FAZ las. Offensichtlich ein Geschäftsmann.
Wenn die drei wüssten, mit wem sie reisten. Wenn die wüssten, was er am Morgen getan hatte, was er schon zweimal zuvor getan hatte … und niemand war auf ihn gekommen. Jetzt hatte er einen Steifen, und sie wussten es nicht. Würden es nie erfahren.
Er musste dreimal umsteigen, ehe er zu Hause war; eine Kleinstadt mit einem schönen, rot angestrichenen Rathaus im Renaissancestil. Man lebte vom Tourismus. Deutsche Kleinstadtidylle. Man grüßte sich achtungsvoll. Aber sie wussten nicht, wen sie grüßten. Wenn sie das wüssten, dachte er lustvoll.
Er betrat das rosafarbene Haus gegenüber dem Bräustüberl. Ging durch die große Wohnhalle in den Salon. Die Familie war beim Abendessen.
„Schön, dass du uns wieder mal die Ehre gibst“, sagte der Vater.
„Wie war die Ausstellung?“, fragte die Mutter.
„Ganz ausgezeichnet“, sagte er und setzte sich an den Tisch. „Die Ausstellung zeigt das ganze Spektrum der Kunst des Picasso.“
„Hast du wieder mit entarteter Kunst deine Zeit verplempert?“, grollte der Großvater und dann, zum Vater gewandt: „Er sollte zur Bundeswehr gehen. Ist zwar eine lahme Truppe und nicht zu vergleichen mit uns von der Waffen-SS, aber immerhin: Militär bleibt Militär. Vielleicht machen sie einen Mann aus ihm.“
Er musste an sich halten, um nicht herauszulachen. Er war mehr Mann als sie alle zusammen. Nun ja, einst war der Großvater ein deutscher Held gewesen. Aber nun war er alt und ein wenig senil. Wie seinen unendlichen Tiraden zu entnehmen war, hatte er unter SS-General Hermann Fegelein irgendwo im Osten Juden in die Pribjet-Sümpfe gejagt. Bis zum Schluss hatte Großväterchen gekämpft, selbst als die Generäle bereits kapituliert hatten. Der alte Geißbock konnte nicht wissen, dass er, der Minotaurus, vom gleichen Schlag war.
„Er hat mehr Dresche bekommen als ich, und es hat nichts genützt“, klagte der Vater. „Er verlässt sich darauf, dass er erbt.“
Er kannte dies zur Genüge. Manchmal hatte er den Eindruck, dass ihn der Vater hasste.
„So sind die Jungen. Verweichlicht, faul und ohne Courage. Früher haben wir in den Führerschulen aus Bengeln Männer gemacht!“, hetzte der Alte.
„Du hast ihn zu sehr verwöhnt“, brummte der Vater und sah zu seiner Frau hinüber, die zweite bereits, die sich immer noch so kleidete, als sei sie knapp über zwanzig. Mit ihrer schlanken Figur und dem langen blonden Haar konnte sie, von hinten gesehen, immer noch Männer auf dumme Gedanken bringen. In ihrem faltenlosen Gesicht spannte sich die Haut und gab ihr ein maskenhaftes Aussehen. Sie lächelte selten. Der Chirurg war gut und teuer gewesen, aber nicht so gut, die Zeit aufhalten zu können.
„Ach, Schatz, was du immer hast“, hauchte sie und verdrehte die Augen. „Kannst du den Jungen nicht in Ruhe lassen. Auf den Internaten ging es lange nicht so lax zu, wie du immer glaubst. Ich weiß dies schließlich ganz genau. Du hast den Jungen ja nie besucht.“
„Unfug!“, donnerte der Großvater und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Der Führer hat einmal gesagt, dass die Lehrer alle nichts taugen. Nur eine strenge Zucht, wie bei den Spartanern, bringt eine Jugend hervor, die für unser Volk Ehre einlegt. Strenge, Zucht, Disziplin, jawoll. Was man liebt, das züchtigt man. Es hat meinem Jungen nicht geschadet, dass ich ihm mit der neunschwänzigen Katze das Fell gegerbt habe.“
Der Vater nickte selbstgefällig und grinste: „Jawoll. Mit einer neunschwänzigen Peitsche hat er mich verdroschen. Ohne Zucht wächst kein gerader Halm. Und auf den Napolas, den Führerschulen, haben sich die Lehrer auch keinen Zwang angetan. Es wurde jeden Tag tüchtig geprügelt.“
„Ihr kennt nur ein Thema, Gewalt und Prügel, und nennt das Zucht und Ordnung“, wehrte er sich, der nun bereits drei Picassobilder in seinen Besitz gebracht hatte.
„Der Junge hat recht“, stellte sich die Stiefmutter auf seine Seite. „Können wir nicht einmal über etwas anderes reden?“
„Eure Brut ist verweichlicht“, keuchte der Großvater. „Verkorkst. Verdorben. Als Deutschland kapituliert hatte und der Führer nach heroischem Kampf auf den Stufen der Reichskanzlei gefallen war, habe ich noch mit meinen Kameraden am Gendarmenmarkt gekämpft. Wir waren Männer.“
„Jawohl, Herr Sturmbannführer“, sagte der Vater missmutig. „Wir wissen um deine Meriten im Kampf um Berlin.“
„Auf den Stufen der Reichskanzlei, das ist doch Blödsinn“, warf der ein, der sich als Minotaurus fühlte. „Wir wissen doch alle, dass er sich feige selbst umgebracht hat.“
Wenn ihr wüsstet, dachte er lustvoll.
„Siegerpropaganda!“, geiferte der Alte. „Lügen! Und so etwas wird in diesem Hause nachgeplappert.“
„Es wird Zeit, dass die Herumgammelei ein Ende hat“, schrie der Vater und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Lange sehe ich mir das nicht mehr an. Spätestens in vier Wochen will ich wissen, was du aus deinem Leben machen willst. Du wirst in der Firma mit einem Praktikum beginnen.“
„Ich werde mir erst einmal eine Auszeit nehmen“, trotzte er, den stolz erhobenen Kopf des Minotaurus’ vor Augen. Nur fort. Weg von hier, dachte er.
„Auszeit?“, krächzte der Großvater. „Was’n das?“
„Ich gehe nach Frankreich und verbessere mein Französisch. Wenigstens ein halbes Jahr.“
„Ja, verplempere deine Zeit. In deinem Alter war ich schon in Dachau und habe dort für Ordnung gesorgt. Dann hat mich Fegelein geholt. Das war ein Kerl. Schneidig. Die Frauen sind dem nur so hinterhergelaufen. Übrigens wurde er später sogar Hitlers Schwager.“
„Ich habe gelesen, dass Hitler ihn wegen Fahnenflucht erschießen ließ“, widersetzte er sich dem Großvater. „So doll kann es mit deinem Fegelein nicht gewesen sein.“
„Lügen!“, kreischte der Alte. Der Speichel lief ihm über das Kinn. „Alles Lügen! Bestimmt war es eine Intrige von dem hinterhältigen Bormann. Die Amis haben unsere Jugend verdorben. Das Volk bekam eine Gehirnwäsche und aus den Deutschen wurden Jammerlappen. Genusssüchtige Weicheier. Aus einem Soldatenvolk wurden Krämer. Überall sieht man heute Schieber, Türken, Neger und Itaker auf den Straßen. Und die Kinder drängeln sich in diesen amerikanischen McDonald’s-Läden und fressen schwammige Boulettenbrötchen.“
„… und trinken Coca Cola“, warf die Mutter mit unbewegtem Gesicht ein. Es blieb unklar, ob sie zustimmte oder dies ironisch meinte. Manchmal bekam sie kurze Anfälle von Widerspruchsgeist.
„Die Zeiten haben sich geändert“, versuchte der Vater den Alten zu beruhigen. „Auch wir machen Geschäfte mit den Amerikanern. Gute Geschäfte.“
„Es ist enervierend“, klagte die Mutter. „Großvater redet nur über die glorreichen Zeiten und du, mein Lieber, mäkelst dauernd an dem Jungen herum und hast nur deine Geschäfte im Sinn. Tag für Tag böse Worte. Ich kann den Jungen verstehen, dass er eine Auszeit haben will. Ich könnte auch eine Auszeit gebrauchen.“
„Kommt nicht infrage! Du bleibst hier. Auszeit? Wenn ich so etwas Schlappes schon höre. Niemand nimmt hier eine Auszeit.“
„Egal, was du denkst. Ich gehe nach Frankreich“, erwiderte er, der sich als Minotaurus fühlte, und sprang auf, warf die Serviette auf den Tisch und ging in sein Zimmer.
Dort öffnete er die Aktentasche, nahm die herrliche Zeichnung heraus, betrachtete sie lustvoll und heftete sie mit Stecknadeln an die Wand, an der zahlreiche Bilder aus der Minotaurusserie hingen. Von der wassergefleckten Tapete war kaum etwas zu sehen. Er hatte es durchgesetzt, dass in seinem Reich nicht neu tapeziert wurde. Alles sollte beim Alten bleiben. Deswegen hing auch noch das Modellflugzeug, der Doppeldecker des ‚Roten Barons‘, über seinem Schreibtisch. Das war ein Kerl, dachte er. Pour le Mérite-Träger. Bis auf drei Bilder waren alles nur Drucke. Im Hause erkannte niemand, dass hier auch Originale hingen, die Hunderttausende wert sein mochten. Vater hatte sein Reich seit Jahren nicht mehr betreten. Damals hatte er über das Plakat an der Tür gewettert, das er aus Spanien mitgebracht hatte und einen Stierkampf mit El Cordobes ankündigte. Nie hatte er ihm etwas recht machen können. Zufrieden sah er die Bilder an. Eines Tages würden alle Bilder Originale sein. Er ging zu dem schweren Schreibtisch, den ihm der Großvater vererbt hatte, und setzte sich, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah auf die beiden gekreuzten Stierkampfdegen und die rote Capa über seinem Bett. Auch darüber hatte der Vater damals geschimpft. „Tierquälerei“, hatte er geschrien. „Ein Deutscher liebt die Tiere.“
Er dachte an Frankreich. Es war ein spontaner Einfall gewesen, aber auch jetzt fand er ihn noch gut. Er würde dorthin gehen, wo der große Meister gelebt hatte. Wollte weg aus dem muffigen Kaff, aus der Enge, vor allem weg von Vaters Schikanen. Er war ein Künstler. Eines Tages würde er wieder malen. Dazu brauchte er kein Studium. Dem Vater würde gar nichts anderes übrig bleiben, als ihn zu unterstützen. Er würde eine kleine Gemäldegalerie in München aufmachen. Ja, das würde es sein. So eine, wie sie die Elisabeth hatte. Sie war die zweite gewesen, für die er zum Minotaurus geworden war. Von ihr hatte er die wunderbare Zeichnung, auf der der Minotaurus die Frau überwältigt. Vor dem Konzentrationslager hatte er Elisabeth umgebracht. Warum wollte sie sich auch unbedingt am frühen Morgen ein Konzentrationslager ansehen? Er hatte sie gegenüber dem Tor auf einem mit Buschwerk bewachsenen Hügel gefickt und ihr danach das spitze Ding in den Bauch gestoßen. Genauso wie der blöden Kuh in Berlin. Wie dumm doch die Weiber waren. Alle fielen auf ihn herein. Ja, das mit der Galerie war eine gute Idee. Geld genug hatte der Vater ja. Mehr Geld, als sie je würden ausgeben können. Sollte der Alte ruhig meckern.
Sein Blick fiel auf das Bild, auf dem der Minotaurus von einem blinden Mädchen geführt wurde. Ein billiger Druck. Plötzlich gefiel ihm die Zeichnung nicht mehr. Der Minotaurus sah so hilflos aus. Er sprang auf, nahm das Blatt ab, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Niemals durfte ein Minotaurus Schwäche zeigen. Zufrieden betrachtete er einen anderen Druck: Der Minotaurus bei einem nackten Weib, so selbstsicher und kraftvoll. Er fühlte, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Er musste an die frische Luft. Als er die Treppe hinuntergegangen war, traf er in der Halle auf den Vater.
„Was ist? Wo willst du jetzt noch hin? Es ist zehn Uhr.“
„Ich will noch frische Luft schnappen.“
„Kommt gar nicht infrage, dass du dich um diese Uhrzeit noch herumtreibst. Du bleibst hier! Bist gerade erst nach Hause gekommen und willst schon wieder losziehen? Wahrscheinlich wieder in die City-Bar.
„Ich bin volljährig und kann tun und lassen, was ich will“, sagte er, fühlte die Wut des Minotaurus’ in sich hochsteigen. Er wollte weitergehen, doch der Vater hielt ihn fest.
„Du bleibst hier. Bist du taub? Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, tust du, was ich sage.“
„Lass mich los, sonst …“
„Was sonst? Du gehorchst, du Nichtsnutz!“, schrie der Vater, und der Schlag ließ ihn taumeln.
„Hör auf! Ich warne dich.“
Der Vater packte ihn am Kragen und schlug auf ihn ein. Wieder und wieder.
„Du bleibst hier! Du gehorchst … mir!“, wiederholte er bei jedem neuen Schlag. Ein Boxhieb traf seine Nase, und der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen.
Er holte aus und traf den Vater am Kinn. Dieser ging zu Boden und rutschte über die Marmorfliesen. Fassungslos starrte er den Sohn an.
„Du hast die Hand gegen deinen Vater erhoben? Du hast den geschlagen, dem du das Leben verdankst?“, heulte er.
Der Großvater kam herbeigehumpelt, alarmiert durch den Lärm, und schwenkte seinen silberknaufigen Spazierstock.
„Den Vater geschlagen“, schrie der Großvater und fuchtelte mit dem Stock. „Sodom und Gomorrha. Das kommt dabei heraus, wenn die Kinder keine Zucht kennen, wenn sie nicht in Furcht vor dem Vater aufwachsen.“
Nun stürzte auch die Stiefmutter herbei. „Was ist geschehen?“
„Er hat mich geschlagen“, sagte der Vater und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Sohn.
„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“, keifte die Frau. „Nun hör aber auf mit dem jüdischen Gejammer“, wies der Großvater sie zurecht. „Was der braucht, ist eine harte Hand.“
Der Großvater hob seinen Stock und schlug auf ihn ein. Es tat nicht so weh wie früher. Der Alte hatte keine Kraft mehr. Es schmerzte nur, dass er so behandelt wurde.
„Ihr werdet eines Tages noch vor mir zittern!“, brüllte er wütend, entriss dem Großvater den Stock und warf ihn in die Ecke. „Eines Tages werdet ihr … vor mir zittern!“, wiederholte er kalt und ging hinaus.
„Brauchst gar nicht mehr zurückkommen!“, schrie ihm der Vater hinterher.
Vor der Tür atmete er aus. Dann ging er zu den Garagen und stieg in seinen Porsche, den er als Belohnung für den Abiturabschluss bekommen hatte. Einen Porsche Boxster. Er hätte lieber einen 911er gehabt. Alter Geizhals, schimpfte er auf den Vater und startete den Motor. Als er vor der City-Bar hielt, blieb er einen Augenblick im Wagen sitzen. Was für eine Heimkehr. Aber diesmal hatte er sich nicht alles gefallen lassen. Das mit dem „Nicht wieder zurückkommen“ nahm er nicht ernst. Die Alten würden sich schon wieder beruhigen. Die Hand schmerzte ihn noch von dem Schlag gegen den Vater.
Er stieg aus und ging zur Tür, über der die schadhafte Leuchtreklame in gleichmäßigem Takt aus- und anging und den Namen verkündete. Rotes Licht empfing ihn. Ein Mädchen quälte sich nackt an einer Stange. Silvia, die Schnepfe. Er kannte alle Mädchen hier, hatte sie besprungen, wie er zu sich sagte. Die Bar war fast leer. Nur ein einziger Gast saß an der Theke und starrte in sein Whiskyglas. Elvira, die Bardame, strahlte ihn an.
„Wieder einmal im Lande? Bist weg gewesen?“
Er schwang sich auf den Hocker und bestellte einen Chivas. „Aber einen doppelten.“
„Haste Ärger gehabt?“
„Hör auf! Die Alten haben mal wieder verrückt gespielt.“
„Ich sage immer, man sollte die Alten ab einem gewissen Alter …“
„Hast ja recht.“
Nun erkannte er den anderen Gast. Sie waren in der gleichen Abiturklasse gewesen. Aber er suchte nicht dessen Gesellschaft. Die Familien mochten sich nicht. Schon seit Jahrzehnten stritten sich die Familien, wer in der Stadt das Sagen hatte. Der ehemalige Klassenkamerad sah hoch und nickte ihm zu. Auch er schien keine Lust zu haben, mit ihm zu sprechen. Er legte Geld auf den Tisch und ging grußlos hinaus.
„Eingebildeter Fatzke!“, knurrte er ihm hinterher.
„Aber er ist großzügig“, sagte Elvira, eine große Blondine mit schulterlangem Haar und einem fröhlichen Gesicht. Er kannte sie eigentlich nur guter Laune. Sie tanzte zwar nicht auf der Bühne, war aber kein Kind von Traurigkeit. Wenn man mit Geld nachhalf, machte sie alles mit. Er hatte schon einige Male mit ihr geschlafen, und er wusste, dass sie ihn mochte.
„Darf ich auch was trinken?“, fragte sie direkt. „Champagner?“, schob sie nach.
„Nimm dir gleich eine große Flasche, du gibst ja sonst keine Ruhe.“ „Ich muss schließlich Umsatz machen“, entschuldigte sie sich, griff zum Kühlschrank und holte die Flasche heraus, öffnete sie geschickt und wollte zwei Gläser vollgießen.
„Für mich nicht. Ich bleibe beim Whisky.“
„Ist auch nicht für dich. Ich dachte, dass wir Helga dazu bitten. Sie sitzt dort hinten so einsam. Heute ist aber auch nichts los.“
Er nickte und überlegte, warum er noch nie bei ihr den Minotaurus hatte spielen wollen. Es ging ihm, stellte er fest, vor allem um die Bilder. Er war kein gewöhnlicher Mörder. Elvira winkte dem anderen Mädchen zu. Lasziv die Hüften schwenkend, kam sie heran und setzte sich zu ihnen an die Bar.
„Schön, dich einmal wiederzusehen. Warst lange weg.“
Dabei war er erst vor einer Woche hier gewesen. Er hatte bereits mehrmals mit ihr geschlafen. Schlimm, wenn die Huren zu alten Bekannten wurden.
„War in Berlin“, antwortete er einsilbig.
„Warste auch im Borchardt, wo die ganzen Promis immer rumhängen?“
Sie war eine hübsche Brünette mit fleischigen Armen und einem tonnenschweren Schlafzimmerblick.
„War ich“, gestand er.
„Noch bevor du reinkamst, wusste ich, dass der Abend gerettet ist“, hauchte Helga und drückte sich an ihn.
„Kannste hellsehen?“
„Der Motor. Ich höre jeden Porsche heraus.“
„Ist nur ein Scheißboxster“, sagte er unzufrieden.
„Immerhin. Es ist ein Porsche.“
„Ein Sozialporsche. Mein alter Herr war der Meinung, dass es Gerede gibt, wenn er mir zum Abschluss einen richtigen Porsche schenkt. Von wegen Sozialneid und so.“
„Ich hätte auch gern einen Vater, der mir einen Boxster schenkt. Aber meiner lebt von Hartz IV, und das wenige, das er hat, versäuft er noch.“