Der Kommissar und der Reichstagsbrand - Heinz-Joachim Simon - E-Book

Der Kommissar und der Reichstagsbrand E-Book

Heinz-Joachim Simon

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Beschreibung

Das Ende einer großen Lüge. Propagandaminister Goebbels sagte einmal: "Eine Lüge muss nur groß genug sein, damit sie geglaubt wird." Und dies bewies er, als er den Reichstagsbrand den Kommunisten und Sozialisten in die Schuhe schob. Noch heute wird, trotz zahlreicher Gegenbeweise, daran festgehalten. Kommissar Reinecke - bekannt aus Der Kommissar vom Gendarmenmarkt - kommt den wahren Tätern auf die Spur. Auf der Basis der sorgfältigen Analyse und Dokumentation des Historikers Hans Schneider wird aufgedeckt, dass der Holländer van der Lubbe nur ein Strohmann war. Die Entdeckung, wer wirklich für den Reichstagsbrand verantwortlich war, der zum Ermächtigungsgesetz und den Notverordnungen führte, nach denen bis zum Ende des Dritten Reiches regiert wurde, bringt den Kommissar in Lebensgefahr. Ein Roman, der die wahren Hintergründe des Reichstagsbrandes in einer spannenden Kriminalhandlung bloßlegt. Denn dem Hauptkommissar stemmen sich nicht nur die Nazis entgegen, sondern auch der eigene Polizeiapparat. So deckt er Machenschaften auf, die man noch heute gern "unter der Decke" hält. Ein Roman ist nur dann gut, wenn der Leser glaubt dabei zu sein.

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Heinz-Joachim Simon

Der Kommissar und der Reichstagsbrand

Ein Reinecke Krimi

Simon, Heinz-Joachim : Der Kommissar und der Reichstagsbrand. Ein Reinecke Krimi. Hamburg, acabus Verlag 2018

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-671-1

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-670-4

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Sie haben gesagt, es müsse weitergemacht werden,

und die Kräfte des Guten könnten immer über die

Kräfte des Bösen siegen, wenn man den Preis

zu zahlen gewillt sei. –

Sie haben den Preis gezahlt.

Albert Camus, Fragen der Zeit

PERSONENREGISTER

Jonas Reinecke

Hauptkommissar und Leiter des Berliner Morddezernats. Stößt auf ein Verbrechen, das die Weltgeschichte verändert.

Liebrich und Remker

Seine Assistenten, Nazigegner, müssen allerhand aushalten.

Gelchen

Sekretärin des Hauptkommissars, hat wieder mal Angst um ihren Chef.

Nathalie Komarowski

Deutschrussin, verliebt sich in Reinecke.

Thomas Komarowski

Ihr Sohn, wird entführt.

Haider

Oberster Polizeichef, sympathisiert mit den Nazis.

Dr. Braschwitz

Vorgesetzter von Reinecke, strammer Nazi.

Van der Lubbe

Holländischer Kommunist, wird am Brandort verhaftet.

Dr. Rainer Stechwitz, Zirpin

führen die ersten Verhöre am Brandort durch.

Karl Ernst

Reichstagsabgeordneter und hoher SA–Führer.

Graf von Helldorf

SA–Gruppenführer, weiß vom Reichstagsbrand, bevor es brennt.

Diels

Chef der politischen Polizei.

Josef Goebbels

Gauleiter von Berlin, Feind des Hauptkommissars.

Hans–Georg Gebauer

Gescheiterter Chemiestudent, Mitglied des Führerbegleitkommandos.

Major Schatzschneider

Adjutant Görings, Gebauers Freund.

Hübscher, Rall, Gebauer

SA–Männer des Sturms 101.

Hermann Göring

Reichstagspräsident, der zweite Mann hinter Hitler.

1.

Es war kalt in dem Zimmer, und ihn fröstelte, und er schlug den Kragen hoch.

Was für eine wunderschöne Leiche, dachte Hauptkommissar Reinecke, den die Berliner Presse Brigant getauft hatte.

Er lebte seit Jahren mit diesem Namen, er passte zu seiner Statur, die wuchtig wie ein Felsbrocken war, obwohl man ihn nicht dick nennen konnte. Sein fleischiges rotes Gesicht mit der vorspringenden Nase hätte in jedes Renaissancegemälde gepasst.

Reinecke stieß den großen Hut zurück, der zu seinem Markenzeichen geworden war und der auch zu seinem Spitznamen beigetragen hatte, obwohl dessen Herkunft vielen Zeitungslesern unklar blieb.

Reinecke deutete auf das offene Fenster, und Liebrich, einer seiner Kommissare, schloss es, und alles sah auf den Hauptkommissar und erwartete seinen Kommentar.

Die Frau lag quer über dem Bett. Ihr Körper war von der Scham bis zu den Brustansätzen aufgeschlitzt. Das Blut war von den Betttüchern aufgesaugt worden und zeigte mit der Frau in der Mitte das Abbild eines Schmetterlings. Sie war schlimm zugerichtet und dennoch war sie immer noch schön und wirkte verlockend und zur Hingabe bereit. Sie mochte kaum älter als fünfundzwanzig sein und lag in einer Suite des Hotels Kaiserhof, einem der besten Luxushotels Berlins, das nur noch vom Adlon übertroffen wurde. Wie das angeschlagene Mobiliar und die abgetretenen Teppiche verrieten, war die große Zeit des Kaiserhofs war vorbei.

Man hatte Reinecke um fünf Uhr in seiner Wohnung am Gendarmenmarkt aus dem Schlaf geklingelt, und er hatte seine beiden Kommissare Liebrich und Remker angerufen und sie zum Kaiserhof bestellt. Ein Blick aus dem Fenster hatte ihn belehrt, dass es ein dunkler nasskalter Berliner Morgen war und es lange dauern würde, ehe ein bisschen Licht in die Straßen fiel. Missmutig hatte er sich angezogen und war in seinen dicken dunklen Wintermantel geschlüpft und hatte den schwarzen Borsalino aufgesetzt. Entgegen den Gerüchten um seine Person setzte er ihn zu Hause ab, geschweige denn, dass er ihn im Bett aufbehielt, was die Zeitungen auch schon kolportiert hatten. Denn auch diese und andere Gerüchte gehörten zur Legendenbildung um seine Person. Er war ihnen niemals entgegengetreten, da er der Meinung war, dass die Presse ohnehin schrieb, was sie wollte, und es reine Zeitverschwendung war, ihren Geschichten entgegenzutreten. Er war die vierundsechzig Stufen hinuntergestiegen und hatte den Gendarmenmarkt betreten und tief die frische Luft eingeatmet und dabei zum Schauspielhaus hinübergesehen. Wie immer hatte er dem Cherubim auf dem Löwen zugewinkt, zu dem er in all den Jahren ein tiefes Gefühl der brüderlichen Zuneigung entwickelt hatte. Der Wind hatte ihm kräftig ins Gesicht gefaucht, und er hatte seinen Hut festhalten müssen und war bis zur S–Bahnstation in der Friedrichstraße gestapft und zum Wilhelmplatz gefahren. Das Schaukeln des Waggons hatte ihn wieder müde gemacht.

Als er aus dem Zug stieg, zündete er sich, um munter zu werden, die obligatorische Brasil an. Es wurde von Kollegen behauptet, dass sie ihn noch niemals ohne Zigarre gesehen hätten, was ebenfalls zu den Übertreibungen um seine Person gehörte. Der Portier vor dem Hotel hatte ihn mit einer Verbeugung empfangen. Natürlich kannte er ihn, wie jeder Portier in der Hauptstadt. Sein Bild war oft genug in den Zeitungen erschienen, wenn diese berichteten, dass der Brigant im Rotlichtviertel einen Ruf habe wie der Pfiff aus einer Polizeipfeife. Der Empfangschef war ihm entgegengeeilt, dabei ein Gesicht ziehend, als habe sich der Kaiser selbst im Kaiserhof die Krätze geholt.

„Was für eine entsetzliche Tat, Herr Hauptkommissar!“, hatte er gerufen. „Und das bei uns!“

Der Empfangschef war klein, drahtig und wortgewandt und hatte ein Gesicht wie ein Windhund. Sein Haar glänzte, als hätte er es in ein Fass Öl getaucht. Reinecke mochte ihn nicht. Obwohl er ihn schon seit Jahren kannte, war er ihm nicht sympathischer geworden.

„Ihre Mitarbeiter sind bereits oben“, hatte der Empfangschef geflüstert.

Reinecke war daraufhin, auf der Zigarre kauend, zum Fahrstuhl gegangen.

„Im dritten Stock, Zimmer 114!“, rief ihm der Empfangschef hinterher und war ihm nachgeeilt.

Reinecke hatte den Kopf geschüttelt.

„Nein. Lassen Sie nur. Ich finde den Weg schon allein.“

Während er auf den Fahrstuhl wartete, hatte er zur prächtigen Empfangshalle mit den goldverzierten Säulen hinübergesehen, die sich auch in einem Barockpalast gut ausgemacht hätten, und die braun uniformierten SA–Männer betrachtet, die in den Sesseln lümmelten.

„Was haben die denn hier zu suchen?“, hatte er den Empfangschef gefragt, bevor er die Tür des Fahrstuhls öffnete.

„Herr Hitler weilt bei uns. Sie wissen doch. Es geht das Gerücht, dass er Reichskanzler wird. Herr Hitler beehrt unser Haus seit vielen Jahren, wenn er in Berlin weilt.“

Im Zimmer des Opfers hatte er seine Assistenten begrüßt: Liebrich und Remker, die seit vielen Jahren seine Kommissare waren. Liebrich war ein Mittvierziger mit welligem blonden Haar und der Statur eines Bauern, darin Reinecke ähnelnd. Remker war der Jüngere, Ende dreißig, mit einem schmalen eifrigen Gesicht und flinken dunklen Augen unter dem schwarzen Haar. Entgegen seinem romanischen Aussehen ein Junge von der Waterkant, der geglaubt hatte, in Berlin schneller voranzukommen, worin er sich gründlich irrte, denn trotz vorzüglicher Zeugnisse kam man in Berlin jetzt nur nach oben, wenn man die richtigen Beziehungen und das richtige Parteibuch hatte. Nachdem früher die Sozialdemokraten ihre Leute protegieren konnten, waren es in den letzten Jahren die Deutschnationalen, die die Karriere im Polizeipräsidium bestimmten. Sowohl Liebrich als auch Remker neigten wie ihr Chef den Sozialdemokraten zu.

Beide erkannten sofort, dass der Hauptkommissar schlechter Laune war.

Reinecke saß in der Hocke und betrachtete über die Leiche gebeugt die schöne Tote.

„Und?“, fragte er und sah zu Liebrich hoch.

„Sie hat sich als Lieselotte Peffgen eingetragen. Zweiundzwanzig Jahre jung, wohnt in Wilmersdorf. Tänzerin im Friedrichstadtpalast. Bisher nicht auffällig geworden.“

„Das Kind kann sich kaum ein solches Zimmer im Kaiserhof leisten.“

„Ist wohl so“, stimmte Liebrich achselzuckend zu.

„Und was ist das?“

Reinecke deutete auf die weiße Rose, die neben dem Kopfkissen lag.

„Keine Ahnung, Chef.“

Reinecke brummte unwillig.

„Sie ist wohl in Begleitung des SA–Führers Ernst ins Hotel gekommen. Ernst ist außerdem Abgeordneter der NSDAP“, setzte er schnell hinzu.

„Ein Nazibonze also. Wo ist der Kerl?“

„Er hat nebenan ein Zimmer.“

„Gibt es eine Verbindungstür?“

„Ja. Aber die ist verschlossen“, erwiderte Liebrich.

„Ist die Dame vergewaltigt worden?“

„Der Arzt meinte, auch ohne Obduktion könne er bereits sagen, dass sie heftigen Geschlechtsverkehr gehabt haben muss.“

„Heftigen Geschlechtsverkehr? Was soll das heißen?“

Liebrich deutete auf den Arzt. Reinecke erhob sich aus der Hocke und winkte den Arzt heran, der gerade dabei war, seine Tasche zusammenzupacken. Dieser, ein kleines Männchen, kam mit vorsichtigem Blick auf Reineckes Miene, zögernd heran.

„Todeszeitpunkt ungefähr zwei Uhr. Die Vagina ist heftig malträtiert worden. Ich nehme an, dass sie mit mehreren Personen Geschlechtsverkehr hatte. Alles Weitere kann ich erst nach der Obduktion sagen.“

„Hm“, brummte Reinecke unzufrieden und wandte sich an Liebrich.

„Sehen wir uns diesen Ernst gleich mal an. Lasst Aufnahmen machen. Habt ihr sonst irgendetwas Auffälliges entdeckt?“

„Wahrscheinlich fand hier eine kleine Feier statt“, erwiderte Remker. „Dort auf dem kleinen Tisch steht ein Sektkübel. Die Flasche ist halbleer. Unter dem Tisch stehen weitere Flaschen. Leer. Und außerdem zwei leere Flaschen Korn und drei Bierflaschen.“

„War ja eine gewaltige Fete“, stellte Reinecke fest und sah seine beiden Assistenten nachdenklich an.

„Wie viele Gläser?“, fragte er weiter, dabei große Rauchwolken paffend, die nun den süßlichen Geruch von Blut, Parfum und Alkohol überdeckten.

„Eine Menge Gläser mit erstklassigen Fingerabdrücken. Eines zeigt die Spuren von Lippenstift“, erwiderte Remker.

„Das wär’s?“

„Ja“, bestätigte Liebrich. „Mehr haben wir nicht.“

„Ich will den Obduktionsbericht noch heute Nachmittag auf dem Tisch haben!“, rief er dem Arzt zu, der daraufhin, als erwarte er noch Schlimmeres, den Kopf einzog und eifrig nickte.

Der Fotograf machte nun seine Aufnahmen.

„Sucht noch einmal den Raum ab. Ich will, dass ihr alles auf den Kopf stellt. Aber auch wirklich alles“, raunzte Reinecke, kniff die Augen zusammen, bückte sich und hob neben dem Bett einen Zigarettenstummel mit einem Goldmundstück hoch.

„Seht mal, so etwas meine ich!“, sagte Reinecke und reichte Liebrich den Zigarettenstummel. „Hier war einer dabei, der sehr exquisit raucht.“

„Es ist kein Lippenstift dran. Das Mädchen war es nicht“, sagte Remker eifrig.

„Wie sieht der Aschenbecher aus?“

Liebrich lief zu dem Tisch und hob den Aschenbecher hoch.

„Zigarettenkippen ohne Goldmundstück und einige Zigarrenstumpen.“

„Wurde das Kind von mehreren Tätern abgeschlachtet?“ fragte Liebrich mit Grauen in der Stimme.

„Glaube ich nicht. Diese Schlachterei sieht nach einem Psychopathen aus“, erwiderte Reinecke.

„Kann ich irgendetwas für Sie tun?“, meldete sich der Empfangschef am Zimmereingang, dabei entsetzt das Mädchen anstarrend. „Wann wird die Leiche abtransportiert?“, setzte er hinzu.

Reinecke nickte Liebrich zu, und dieser antwortete genauso brummig wie sein Chef.

„Das Mädchen wird gleich abgeholt. Aber Sie können einstweilen das Zimmer nicht benutzen. Es wird versiegelt.“

„Aber … wie lange denn? Es hat sich fast die gesamte Führung der NSDAP angesagt“, erwiderte der Empfangschef unglücklich.

„So lange, bis wir das Zimmer nicht mehr brauchen“, beschied ihm Liebrich lapidar.

„Dass dies gerade heute passieren muss, wo der Führer vielleicht zum Reichskanzler berufen wird!“, jammerte der Empfangschef.

„Du bleibst hier und suchst noch einmal jeden Millimeter ab, Liebrich!“, befahl Reinecke, ohne den Empfangschef noch eines Blickes zu würdigen. „Remker, du kommst mit zu diesem SA–Führer. Mal sehen, was der uns davon erzählen kann, welchen Spaß er hier gehabt hat.“

Reinecke drängte sich am Empfangschef vorbei auf den Flur. Sie gingen zur nächsten Tür, und Reinecke klopfte. Er sah auf seine Armbanduhr. Sieben Uhr. Draußen war es immer noch dunkel. Da sich in dem Zimmer nichts rührte, klopfte Reinecke noch einmal. Dann sah er neben der Tür eine Klingel und läutete mehrmals. Endlich hörten sie Geräusche. Jemand schloss auf und riss die Tür so heftig auf, dass sie zurücktreten mussten.

„Was zum Teufel …!“ rief ein schmaler gut aussehender Mann im Nachthemd und wischte sich dabei die verwuschelten Haare aus der Stirn.

„Herr Ernst?“, fragte Reinecke.

„Ja. Was wollen Sie?“

„Ziehen Sie sich etwas über. Wir haben ein paar Fragen“, sagte Reinecke und ging an ihm vorbei in die Suite und registrierte das Chaos in dem Zimmer: die Flaschen auf dem Tisch und auf dem Teppichboden; Kleidungsstücke, die unordentlich über die Möbel geworfen waren.

„Was wollen Sie denn?“, wiederholte der SA–Führer und kam ihm nach, sich dabei heftig das Gesicht reibend, als müsse er erst seine Lebensgeister zurückholen, um das, was gerade passierte, richtig einzuordnen können.

„Polizei!“, rief Remker und zeigte seine Polizeimarke.

„Na und …? Ich bin Reichstagsabgeordneter. Haben Sie schon mal was von Immunität gehört?“

„Ziehen Sie sich etwas an!“, herrschte ihn Reinecke noch einmal unbeeindruckt an und setzte sich in den goldverzierten Sessel; es roch nach Alkohol und kaltem Rauch.

Der SA–Mann klaubte seine Sachen auf und verschwand im Schlafzimmer. Von dort drangen Stimmen zu ihnen herüber.

Remker sah Reinecke bedeutungsvoll an.

„Scheint ja eine dolle Nacht gewesen zu sein.“

Nach einer Weile kam Ernst heraus und hinter ihm eine hochgewachsene Blondine mit mädchenhaften unausgereiften Gesichts–zügen, denen man aber, nach einem Blick auf ihre stattlichen Brüste, weniger Aufmerksamkeit schenkte.

„Wer sind Sie?“, fragte Remker.

„Elvira Schmidt“, stammelte die Frau.

„Meine Verlobte“, setzte Ernst hinzu. „Nun sagen Sie doch endlich, was los ist. Was nehmen Sie sich heraus? Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie sprechen? Ich bin …“

„Ich weiß“, schnitt ihm Reinecke das Wort ab. „SA–Führer und Reichstagsabgeordneter. Ich weiß.“

„Ich kenne den Führer und zukünftigen Reichskanzler persönlich.“

„Na, dann haben Sie ja eine honorige Bekanntschaft und werden uns gern helfen. Wo waren Sie heute Nacht? Genau genommen, wo waren Sie vor fünf, sechs Stunden?“

„Das geht Sie einen feuchten Kehricht an!“

Reinecke zog an seiner Zigarre und zupfte sich die Nase.

„Na schön. Dann machen wir eine hochoffizielle Sache daraus. Ich werde einen Antrag beim Reichstagspräsidenten stellen, dass Ihre Immunität aufgehoben wird, weil Sie in Verdacht stehen, an einem Mord beteiligt gewesen zu sein.“

Reinecke tat nun so, als wäre das Gespräch für ihn abgeschlossen und erhob sich.

„So warten Sie doch!“, hielt ihn der SA–Führer auf. „Ja, wir haben drüben ein bisschen gefeiert. Aber ich war nicht die ganze Zeit dabei. Ich hatte auch hier meine … Verpflichtungen.“

Er grinste dabei schief, und das Mädchen warf ihm einen bösen Blick zu und lief ins Schlafzimmer zurück.

„Ich weiß, es ist nebenan ein bisschen wild zugegangen“, setzte Ernst hinzu.

„Sie waren also dabei. Bis wann?“

„Etwa bis halb zwei. Was ist denn los?“

„Die Peffgen ist tot“, sagte Remker.

„Nein. Das kann nicht …!“, erwiderte Ernst erschrocken.

„Oh doch. Man ist mit ihr nicht gerade rücksichtsvoll um–gegangen,“ warf Reinecke ein.

„Als ich ging, lebte sie noch und war … sehr lebendig.“

„Sie kennen das Mädchen?“

„Nein. Das war so: Wir waren zuerst in Aschingers Bierquelle in der Potsdamer Straße. Irgendjemand hat sie aufgegabelt. Sie wissen doch, wie das so ist. Wir hatten tüchtig getankt, und dann kommt man mit den Mädchen ins Gespräch. Sie war sofort damit einverstanden, mitzukommen.“

„Sie wissen ihren Namen?“

„Ja. Nein. Ich weiß nur, dass sie Lieselotte heißt.“

„Dann sind Sie hierhergegangen?“, fragte Reinecke barsch.

„Nicht gleich. Wir waren erst noch in einer anderen Bierquelle in der Friedrichstraße. Dann sind wir hierher.“

„Wer alles?“, fragte Reinecke streng und kaute dabei auf seiner Zigarre.

„Nun, einige Kameraden vom 101. SA–Sturm. Rall, Gebauer, Hübscher, Tendler, Horch und ich.“

„Und? Wie ging es weiter? Waren Sie auch dabei?“, wandte sich Reinecke an die Verlobte, die wieder reingekommen war und sich über das Negligé einen Morgenmantel geworfen hatte, der ihren stattliche Busen nur unvollkommen verbarg.

„Nein. Ich habe hier in meinem Bettchen brav gewartet.“

Sie warf Ernst einen wütenden Blick zu.

„Sie war nicht dabei!“, bestätigte Ernst hastig.

„Na gut. Und wie ging es weiter?“ wiederholte Reinecke ungeduldig und erhob sich und ging vor Ernst und der Frau auf und ab, die ihn dabei unsicher beobachteten.

„Wir haben an der Bar mit einigen Bekannten aus der Entourage des Reichstagspräsidenten noch ein paar gekippt und sind dann hier hoch.“

„In das Zimmer von der Peffgen?“

Ernst nickte.

„Wer hat das Zimmer bezahlt? Wer hat die Peffgen unten ins Gästebuch eingeschrieben?“ fragte Remker. „Sie hatte doch kaum das Geld, um hier logieren zu können.“

„Keine Ahnung. Wir waren alle ganz schön angeheitert.“

„Ihr wart sturzbesoffen!“ sagte Remker mit bösem Lächeln.

„Ja doch. Ich kann mich gar nicht mehr an alles erinnern.“

„Das wäre aber besser. Was lief dann ab?“ fragte Reinecke weiter.

„Wir haben getrunken und …“

„Und was?“

„Na ja. Sie hat sich ausgezogen und die Jungs haben sie nacheinander vorgenommen. Nun, Sie wissen schon. Aber sie wollte es. Wirklich. Sie war damit einverstanden, dass alle …“

„Sie auch?“ fragte Remker grinsend.

Nach einem Blick zu seiner Verlobten nickte er zögernd.

„Ich war doch besoffen.“

„Du Schwein!“ kommentierte das Mädchen.

Der SA–Mann drehte sich um und knallte ihr eine.

„Was sind denn das für Manieren!“ mahnte Reinecke.

„Sie braucht das von Zeit zu Zeit“, erwiderte Ernst grinsend.

Die Frau fing an zu weinen und Reinecke winkte Remker zu und dieser führte sie in das Schlafzimmer.

„So intim sollten Sie nicht werden, wenn wir dabei sind“, sagte Reinecke kühl. „Sie neigen wohl zu Gewalttätigkeit.“

„Ich neige zu gar nichts“, erwiderte Ernst unwirsch. „Mit dem Tod der Schickse drüben habe ich nichts zu tun.“

„Sie hatten mit ihr Geschlechtsverkehr“, erinnerte ihn Reinecke kalt.

„Wir hatten alle mit ihr Geschlechtsverkehr.“

„Und dann?“

„Na, dann habe ich mich getrollt.“

„Wer blieb von den anderen noch?“

„Keine Ahnung!“ sagte Ernst mit finsterem Gesicht.

Reinecke lächelte ironisch. Remker kam zurück und nickte Reinecke zu.

„Sie heult sich auf dem Bett aus.“

„Wo sind die Herrschaften?“ fragte Reinecke und zündete sich die Zigarre an, die ihm ausgegangen war.

„Welche Herrschaften?“

„Markieren Sie nicht den Schlaumeier, sonst bin ich doch noch gezwungen …“

„Sie schlafen, nehme ich an“, sagte Ernst schnell.

„Sind alle hier im Hotel?“

„Ja. Wir gehören zur Begleitmannschaft des Führers. Eine große Ehre.“

„In welchen Zimmern schlafen die Kerle?“

„Das weiß ich nicht.“

„Sie wissen recht wenig. Sie sind doch, wenn ich mich bei euren Rängen richtig auskenne, so etwas wie ihr Anführer.“

„Jawohl! Das bin ich“, sagte Ernst stolz.

„Remker, du gehst mit Liebrich zum Empfangschef und holst dir dort die Zimmernummern und trommelst die ganze Bande aus dem Bett und bringst sie nach unten in die Empfangshalle. Dort sind sicher Konferenzräume, wo wir die Bande verhören können.“

„Wir sind keine Bande!“ empörte sich Ernst und starrte Reinecke feindselig an. Sein Kopf war hochrot. Er schien sich jetzt nur mühsam zurückhalten zu können.

Reinecke zuckte mit den Achseln und ging zur Tür und sagte beim Hinausgehen: „Immunität hin oder her. Ich rate Ihnen, heute Nachmittag ins Präsidium zu kommen, damit wir ein Protokoll aufnehmen können. Im Übrigen sollten Sie Berlin nicht verlassen. Remker, nimm seine Adresse auf.“

„Ich habe mit der Sache nichts zu tun!“ schrie ihm Ernst hinterher.

Auf dem Flur kam ihm Liebrich entgegen.

„Gab’s noch etwas?“ fragte Reinecke.

„Nee. Nichts. Sie hatte jedoch kein Höschen dabei.“

„Was hatte sie nicht?“

„Nee, Chef!“ erwiderte Liebrich grinsend. „Wir haben kein Höschen gefunden. Sie ist ohne Höschen mit der SA durch die Kneipen gezogen. Die war zu allem bereit.“

„Dabei sah sie so unschuldig aus.“

„Tja, Chef, das ist nun einmal eine andere Generation.“

Reinecke stutzte und machte kehrt und ging in das Zimmer des SA–Führers zurück.

„Was rauchen Sie?“ fragte er Ernst.

„Ich rauche nicht. Der Führer sieht es nicht gern, wenn seine Leute rauchen“, erwiderte der SA–Führer, der dabei war sich eine Krawatte umzubinden.

Remker hatte einen Notizblock in der Hand und notierte gerade die Adresse.

„Kannst gleich mitkommen“, warf ihm Reinecke zu und ging wieder hinaus.

„Stell fest, ob sie nicht doch eine Professionelle ist“, sagte er zu Liebrich, der auf dem Flur gewartet hatte.

„Ist sie nicht, Chef. Jedenfalls ist sie nicht registriert. Die hat wohl tatsächlich freiwillig mitgemacht.“

„Ein unbescholtenes Mädchen ohne Höschen?“ brummte Reinecke. Er verstand die neue Generation nicht mehr, wenn er auch in seinem Wissen über das Spektrum der Liebe in den letzten Jahren einiges hinzugelernt hatte. Er dachte an seine große Liebe, die Gräfin von Radensleben, die ihm gezeigt hatte, wie schön und befriedigend ein gesundes Sexualleben sein konnte und ihn von manchen Vorurteilen und falscher Scham befreit hatte. Dank ihr war er in diesen Dingen ein anderer Mensch geworden. Ihre Liebe war mittlerweile in einer angenehmen Kameradschaft versandet. Sie waren gar zu unter–schiedlich. Aber gern dachte er immer noch voller Sentimentalität an die Zeit ihrer ersten Liebe, als er den Fall in Neuruppin mit der Schwarzen Reichswehr gelöst hatte. Er seufzte.

Der Empfangschef kam sofort hinter der Rezeption hervor, als er Reinecke erblickte und ließ sein obligatorisches „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ folgen.

„Ja. Können Sie. Ich brauche einen Konferenzraum, wo ich die SA–Bande verhören kann.“

„SA–Bande?“ fragte dieser pikiert.

„Ja. Wie soll man sonst diese Schweinehunde nennen?“

„Ich würde mit solchen Äußerungen vorsichtig sein. Es geht das Gerücht, dass Herr Hitler vielleicht noch heute Reichskanzler wird. Dann wird sich manches ändern.“

„Und nicht zum Guten!“ knurrte Reinecke.

Der Empfangschef zuckte mit den Achseln und ging voran und zeigte ihm hinter einer Spiegelwand einen kleinen Raum mit einem Tisch für zehn Personen, der sich gut für ein Verhör eignen würde.

„Kann ich Ihnen etwas bringen?“

„Ja. Bringen Sie mir eine große Kanne Kaffee und drei Tassen für mich und meine Leute.“

„Nichts für die anderen, die Herren von der SA?“

„Nein. Nichts!“ sagte Reinecke, legte seine abgebrannte Zigarre im Aschenbecher ab und zündete sich eine neue an.

Der Empfangschef verschwand. Reinecke rückte die Möbel zurecht, stellte den Tisch quer und drei Stühle dahinter. Die anderen Stühle stellte er vor den Tisch. Wie ein Tribunal, dachte Reinecke zufrieden. Liebrich kam herein.

„Wir haben sie aus dem Bett geholt. Einer lag mit einem Mann im Bett. Haben alle einen richtigen Kater. Nüchtern sind die noch nicht.“

„Widerstand?“

„Nein. Waren alle viel zu überrascht.“

„Remker soll sie einzeln hereinschicken. Du machst das Protokoll.“

„Mach ich, Chef. Was halten Sie von dem Fall?“

„Wird schwierig werden“, gab Reinecke zu. „Vor allem dann, wenn wir es mit der Politik zu tun bekommen. Wenn Hitler tatsächlich Reichskanzler wird, können wir mit Sicherheit damit rechnen, dass sich die Politik einmischt. Man wird uns ganz schön Sperrfeuer geben.“

„Aber es ist doch ein Sexualmord.“

„Ja. Und wir werden sehen, ob auch unter einem Adolf Hitler noch das Gesetz gilt.“

„So schnell wird er es nicht abschaffen können. Immerhin ist Hindenburg noch Reichspräsident.“

„Hoffen wir, dass du Recht behältst. Ich würde mich verdammt freuen, wenn unsere Demokratie einen Hitler aushält. Aber viel Hoffnung habe ich nicht.“

„Sie sehen zu schwarz, Chef.“

„Möglich. Aber nun wollen wir uns mal die Kerle vornehmen.“

Reinecke zog seinen Mantel aus und setzte sich. Seiner Miene war nicht anzusehen, dass er sich Sorgen machte.

2.

Ein kleiner Mann mit einem viel zu großen Kopf humpelte in das Vernehmungszimmer. Jeder in Berlin kannte die zwergenhafte Erscheinung. Goebbels, der Gauleiter der Nazis in der Reichshauptstadt, ließ sich höchstpersönlich dazu herab, Reinecke mit bösen Augen anzufauchen:

„Ach, wieder einmal der Brigant, Hauptkommissar Reinecke bei seinem Kampf gegen die völkischen Kreise.“

„Wenn diese unappetitliche Morde verüben, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Oben liegt ein totes Mädchen. Fünfundzwanzig Jahre alt. Von den Brüsten bis zum Nabel aufgeschlitzt. Soll ich darüber hinwegsehen? Ihre Leute haben mit ihr gefeiert, hatten Geschlechts–verkehr mit ihr und waren die letzten, die mit ihr zusammen waren. So sieht es jedenfalls im Moment aus. Also machen Sie keinen Wind und lassen Sie uns unsere Arbeit tun.“

„Wenn wir erst einmal an der Macht sind, werden Sie sich einen anderen Ton angewöhnen!“ fauchte Goebbels und bleckte seine Zähne.

„Ich werde auch dann Halunken als Halunken bezeichnen und einen Mörder als Mörder!“

„Wir Nationalsozialisten verzeihen nicht. Wir wissen, wer unsere Feinde sind und haben ein Gedächtnis wie Elefanten.“

„Ach, haben Sie das Gesetz gebrochen?“ fragte Reinecke grinsend und zupfte an seiner Nase.

„Wieso? Ich?“ fragte Goebbels empört.

„Nun, meine Feinde sind in der Regel Gesetzesbrecher und Mörder.“

„Sie sind ein unverschämter Kerl. Wenn der Führer die Macht übernommen hat, wird es ein deutsches Recht geben, deutsche Gesetze und eine deutsche Polizei. Und wir werden unsichere Kantonisten und Sozis und Judenfreunde wie Sie …“

„Na, was denn?“

„Sie werden schon sehen!“

„Darf ich Ihre Intervention so interpretieren, dass Sie dagegen sind, dass Ihre Leute befragt werden, um sie als Täter auszuschließen?“

„Oh, ich weiß, was Sie wollen. Ich weiß es nur zu gut. Sie sammeln Schuldbeweise gegen meine Kampfkameraden.“

„Ich werde die Wahrheit herausfinden.“

Goebbels starrte ihn hasserfüllt an und machte eine wegwerfende Handbewegung und murmelte:

„Das war nicht das letzte Wort.“

„Das denk ich mir“, erwiderte Reinecke kühl.

Mit hochrotem Kopf humpelte Goebbels hinaus. Reinecke wusste, dass er in Goebbels einen Feind hatte. Es war nicht der erste Zusammenstoß mit dem Gauleiter von Berlin. Aber er hatte nicht vor, sich von diesem Mann einschüchtern zu lassen.

Liebrich, der die ganze Zeit mit unruhigem Gesicht zugehört hatte, räusperte sich und fragte:

„War das klug, Chef?“

„Nein. War es nicht“, gab Reinecke zu. „Aber dieser Mann ist ein Krimineller, so wie alle in der Naziführung. Es sind Gangster.“

„Was wird jetzt aus Deutschland?“ fragte Liebrich beklommen. „Wenn es stimmt, was man so hört, sind die Gangster dabei, den Staat zu übernehmen.“

„Sieht so aus. Al Capone übernimmt Chicago. Wir wissen, was sie für Ganoven sind. Deswegen dürfen wir nicht den Mund halten.“

„Den man sich leicht verbrennen kann.“

„Hm“, stimmte Reinecke zu. „Aber das Risiko muss man schon eingehen. Es muss doch ein paar Leute geben, die nicht mit den Wölfen heulen. Wir sind Deutschland und nicht dieses Pack.“

Remker steckte seinen Kopf herein.

„Kann ich sie hereinschicken? Sie stehen schön aufgereiht vor der Tür. Ich habe den Eindruck, dass sie die Hosen voll haben. Goebbels hat versucht ihnen Mut zu machen. Von wegen deutscher Mut, deutscher Geist. Vom Kampf gegen die Reaktion hat er gefaselt. SA–Führer Ernst ist auch dabei. Wollte unbedingt seine Leute begleiten.“

„Schön. Aber Ernst brauchen wir einstweilen nicht. Schick den ersten herein und dann nimm hier neben mir Platz. Liebrich macht das Protokoll.“

„Großes Tribunal, was?“ feixte Remker und winkte den ersten SA–Mann herein und schloss hinter ihm die Tür und setzte sich neben Reinecke. Unsicher um sich blickend trat der SA–Mann vor den Tisch.

„Wie heißen Sie?“ fragte Liebrich und der SA–Mann antwortete in strammer Haltung, die Hände an der Hosennaht.

„Helmut Tendler, SA–Mann seit 1925.“

„Wohnort?“

„Neukölln, Hermannstraße 25.“

„Es ist der Kerl, der einen Mann namens Horch im Bett hatte“, flüsterte Liebrich Reinecke ins Ohr.

„Nun erzählen Sie mal, was letzten Abend abgelaufen ist“, sagte er dann zu Tendler gewandt.

Reinecke überließ Liebrich erst einmal die Gesprächsführung. Tendler bestätigte, was Ernst bereits ausgesagt hatte; unter anderem, dass Ernst als Erster gegangen sei. Sie hätten danach noch eine Weile getrunken und mit Lieselotte herumgealbert. So um vier Uhr seien alle zusammen gegangen. Das Mädchen habe noch gelebt.

„Wie habt ihr sie kennen gelernt?“ mischte sich Remker ein.

„Sie hat sich an uns rangemacht. Regelrecht rangeschmissen hat sie sich, als sie hörte, dass wir zum Führerbegleitkommando gehören. Es begann in Aschingers Bierquelle. Sie wollte das, was passiert ist. Sie hat uns ziemlich bald gestanden, dass sie unter dem Rock kein Höschen anhabe.“

„Hatten Sie mit ihr Geschlechtsverkehr?“ mischte sich nun Reinecke ein.

Tendler zuckte zusammen und errötete und nickte.

„Nicht nur … ich“, stammelte er.

„Und der Mann in Ihrem Bett?“ fragte Liebrich.

„War ein Kamerad. Er hatte kein Zimmer mehr bekommen. Der Kaiserhof ist voll belegt.“

„Reden Sie keinen Schwachsinn!“ herrschte ihn Remker an. „Wir kriegen es ja doch raus. Sind Sie homosexuell veranlagt?“

Tendler bekam einen roten Kopf und verneinte dies energisch.

„Nein, wir von der SA sind keine …, na, Sie wissen schon.“

„Das ist doch ein Witz!“ prustete Remker. „Es gibt doch genug Histörchen um den großen Männer–Verführer, Stabschef Röhm.“

„Davon weiß ich nichts“, beeilte sich Tendler zu sagen.

„Er trägt auf zwei Schultern“, beharrte Remker.

„Lass es gut sein“, hielt ihn Reinecke zurück.

„Der wievielte warst du, der …?“ herrschte Liebrich ihn an.

„Der zweite. Nach Rall habe ich mit ihr geschlafen.“

„Was rauchst du?“ fragte Reinecke ruhig.

„Juno“, sagte der SA–Mann irritiert und zog ein Päckchen aus der Tasche.

Reinecke nickte Liebrich zu und dieser nahm es, besah sich den Inhalt und gab es zurück.

„Du kannst gehen“, beschied ihm Liebrich und sah dabei Reinecke an.

„Ja. Aber du kommst heute Nachmittag ins Präsidium und unterschreibst das Protokoll.“

Der SA–Mann nickte eifrig und wandte sich der Tür zu.

„Halt!“ hielt ihn Reinecke auf. „Noch eine Frage. Hast du die Rose aufs Bett gelegt?“

„Was für eine Rose?“ stammelte Tendler erstaunt.

„Du hast keine Rose im Zimmer gesehen?“ insistierte Liebrich.

„Nein, keine.“

„Bist du dir ganz sicher?“

„Ganz sicher.“

„Das wär’s!“ sagte Reinecke und Tendler stolperte hinaus.

„Was meinen Sie, Chef? Lügt der Kerl?“

„Glaube ich nicht“, brummte Reinecke unzufrieden. „Also der Nächste.“

Remker sprang auf und kam mit einem ängstlich blickenden Mann herein, der sofort lossprudelte:

„SA–Mann Rall, wohnhaft in Kreuzberg …“

Der Mann war klein und schmächtig und machte nicht den Eindruck eines brutalen Schlägers. Er hätte vom Habitus her auch ein Kontor–angestellter sein können, stellte sich aber als Schustergeselle vor. Er bestätigte im Wesentlichen die Aussagen von Ernst und Tendler.

„Wir haben der Frau nichts getan!“ beteuerte er. „Sie wollte … nun, Sie wissen schon. Es hat ihr nichts ausgemacht, es mit allen zu tun. Es machte ihr sogar großen Spaß.“

„Reden Sie doch nicht so einen Unsinn!“ unterbrach ihn Reinecke. „Sie können mir doch nicht weismachen, dass eine Frau es mit einer ganzen Bande von euch treiben wollte.“

„Wir haben ihr versprochen, dass wir sie dem Führer vorstellen würden“, gestand er schließlich mit hängendem Kopf. „Deswegen war sie wohl bereit, es mit … Sie war ja schließlich auch sturzbetrunken.“

„Das mit dem Führer war doch eine Lüge, oder?“ fragte Liebrich weiter.

„Ja. Soviel Einfluss haben wir nicht. Wir sind doch kleine Lichter. Und der Führer lässt solche Frauen ohnehin nicht an sich heran.“

Auch die Frage nach der Zigarettenmarke und der Rose erbrachte keine neuen Erkenntnisse. Von einer Rose wisse er nichts.

„Nun wissen wir wenigstens, warum die Frau die Schweinerei mitgemacht hat“, sagte Remker, als Rall draußen war. „Die war scharf auf den Führer.“

„Eine Hysterikerin“, brummte Reinecke. „Dieser mediokre Führer hat auf manche Frauen eine erstaunliche Wirkung.“

„Hans–Georg Gebauer, wohnhaft in der Lietzenburger Straße 3“, stellte sich der Nächste vor. Ein offenes Gesicht, blondes Haar und hellblaue Augen. Er sah aus, wie sich die Nazis einen Edling der Germanen vorstellten. Ein Frauentyp. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern zeigte er keine Angst, sondern lächelte freundlich. Er habe Chemie studiert und bei der Petrochemie gearbeitet, aber seine Stellung in der großen Depression verloren, erzählte er freimütig.

„Nun schildern Sie mal, wie das mit der Lieselotte Peffgen war.“

„Ich war es, die sie kennen gelernt hat“, gab Gebauer unumwunden zu. „Sie lächelte mir dauernd zu und da sie sehr gut aussah, bin ich zu ihr hin und habe sie gebeten, doch zu uns an den Tisch zu kommen. Sie war sofort damit einverstanden, als sie hörte, dass wir in Berlin zum Führerbegleitkommando gehören.“

„Ich denke, dafür hat er eine Extratruppe?“ warf Reinecke ein.

„Ja. Die Schutzstaffel, auch SS genannt. Aber in Berlin werden wir zusätzlich zu seinem Schutz abkommandiert. Es gibt hier zu viele Kommunisten.“

Eigentlich ein sympathischer junger Mann, dachte Reinecke. Ihm gefiel seine Art, wie er ohne Zögern die Fragen beantwortete. Seine Eloquenz ließ darauf schließen, dass er aus einem guten Elternhaus kam. Warum war ein so aufgeweckt wirkender junger Mann bei den SA–Rüpeln gelandet?

„Was ist Ihr Vater?“ fragte er, um den Hintergrund des jungen Mannes zu erfahren.

„Mein Vater … ist Richter in Leipzig.“

„Ist Ihr Vater damit einverstanden, dass Sie Mitglied der SA sind?“

Gebauers Augen flackerten.

„Nein“, sagte er schließlich. „Mein Vater ist Mitglied beim Stahlhelm. Er ist ehemaliger Frontsoldat. Hauptmann a.D. Er hängt den alten Zeiten nach. Aber ich bin für das neue Deutschland. Die Nationalsozialisten werden Deutschland von den Fesseln des Versailler Vertrages befreien. Ich bin für Hitler. Mein Vater lehnt ihn ab. Wir haben uns deswegen zerstritten.“

„Wie konnten Sie in so eine unappetitliche Sache hineingeraten?“ fragte Reinecke streng.

„Ja. Ich weiß. Es ist unser nicht würdig“, erwiderte Gebauer mit gesenktem Kopf. „Es ist eine widerliche Geschichte. Ich schäme mich dafür.“

„Wann sind Sie gegangen?“

„Um vier Uhr. Mit den anderen. Wir sind alle gegangen.“

„Das wissen Sie so genau?“ blaffte Liebrich.

„Ja. Ich habe auf die Uhr gesehen, weil ich mir Sorgen machte. Ich bin heute dafür eingeteilt, den Herrn Gauleiter zum Reichstags–präsidenten zu begleiten. Ich weiß, dass wir eine Schweinerei begangen haben. Aber wir waren alle betrunken und dieses Mädchen hat mitgemacht. ‚Der nächste Herr, die gleiche Dame’ hat sie dabei geträllert. Sie war vielleicht eine Nymphomanin, aber das entschuldigt uns natürlich nicht.“

„Und der wievielte Herr waren Sie?“ fragte Liebrich mit ironischem Lächeln.

„Ich habe nicht mit ihr geschlafen.“

Liebrich sah erstaunt seinen Chef an.

„Das ist ja mal etwas ganz Neues. Ernst, Tendler, Rall haben den Beischlaf zugegeben. Und Sie wollen nicht mitgemacht haben?“

„Nein. Die Kameraden haben mich deswegen auch gehörig auf die Schippe genommen. Aber mir war es zu … unhygienisch.“

„Aber Sie waren im Zimmer“, stieß Remker nach.

„Ja. Ich habe … zugesehen.“

„Der Herr Gebauer war also ein Voyeur“, stellte Remker fest.

„Nein. So einer bin ich nicht“, verteidigte sich Gebauer. „Ich war viel zu betrunken und habe die meiste Zeit im Sessel gedöst.“

„Als sie gingen, in welchem Zustand befand sich das Mädchen?“ mischte sich Reinecke wieder ein.

„Sie war total hinüber. Sie schlief, glaube ich.“

„Sie kannten das Mädchen also vorher nicht?“ fragte Reinecke stirnrunzelnd.

„Nein“, erwiderte Gebauer leidenschaftlich. „Ich habe sie in Aschingers Bierquelle zum ersten Mal gesehen.“

„Na gut. Sie kommen heute Nachmittag ins Präsidium.“

„Zum Protokoll unterschreiben, nicht wahr?“ fragte Gebauer, eifrig bemüht, Reinecke zufrieden zu stellen.

„Haben Sie eine Rose auf dem Bett gesehen?“

„Wo? Auf dem Bett? Nein“, sagte Gebauer mit verwundertem Gesicht. „In dem Zimmer waren keine Blumen.“

„Sind Sie sich da ganz sicher?“

„Ganz sicher. Ich liebe Blumen.“

„Rauchen Sie eigentlich?“

„Nein. Ich rauche niemals. Der Führer …“

„Schon gut. Ich weiß, der Führer ist ein Ausbund an Tugend.“

„Sie können mir glauben, Herr Hauptkommissar, mir tut die ganze Sache leid. Es wird mir eine Lehre sein“, sagte Gebauer und stand stramm und ging mit schnellen energischen Schritten hinaus.

„Ein Junge aus gutem Hause“, kommentierte Liebrich unzufrieden. „Aber mir war er ein bisschen zu reumütig.“

Reinecke zuckte mit den Achseln. Er kannte Liebrichs Vorbehalte gegen das Großbürgertum.

„Er hat eben eine gute Erziehung genossen. Schade, dass ein solcher Junge bei den Nazis landet. Er ist einer von den Idealisten, die sich aus Verzweiflung über den Zustand des Landes den Nazis angeschlossen haben. Wen haben wir noch?“

„Diesen Kerl, der mit Tendler im Bett lag, und dann diesen Hübscher.“

„Den Bettgenossen nehmt ihr euch nachher vor. Also, schickt den Hübscher herein.“

Hübscher kam vorsichtig um sich blickend in den Vernehmungsraum. Er war groß, fast zwei Meter, und sehr schlank und trug eine Nickelbrille.

„Wilfried Hübscher, wohnhaft in Charlottenburg, Lietzenburger Straße 2.“

„Sie sind dann ja ein Nachbar von Gebauer.“

„Ja. Wir sind Freunde. Wir haben uns bei Petrochemie kennen gelernt.“

„Aber Sie arbeiten dort nicht mehr.“

„Bei der Depression mussten sie Leute entlassen und da gab es eine Intrige, und obwohl wir zu den Fähigsten gehörten, haben sie uns entlassen. Wir gehörten nicht zu denen, die den Chefs in den Hintern kriechen.“

„Sie fühlten sich also ungerecht behandelt?“ fragte Liebrich.

„Jawohl. Es war eine Schweinerei.“

„Was war denn das für eine Intrige?“ fragte Reinecke und beugte sich gespannt über den Tisch.

„Man warf uns vor, Chemikalien entwendet und verkauft zu haben. Aber das ist nicht wahr. Eine Intrige eben. Der Abteilungsleiter wollte uns nur loswerden.“

„Na schön. Dann erzählen Sie einmal, was in der Nacht abgegangen ist.“

Hübscher bestätigte fast wörtlich, was die anderen ausgesagt hatten. Er war Raucher und zeigte eine Packung R 6 vor. Auch zur Rose konnte er keine Aussage machen.

„Glauben Sie, dass die das vorher abgesprochen haben?“ fragte Liebrich, als Hübscher gegangen war.

„Möglich“, stimmte Reinecke zu.

„Aber einer von ihnen muss der Täter sein“, brummte Liebrich und sah seinen Chef herausfordernd an.

„Ja. Komisch, dass niemand die verdammte Rose gesehen haben will“, sagte Reinecke nachdenklich. „Das verkompliziert die ganze Sache.“

„Warum? Ich könnte auch nicht sagen, ob in einem Zimmer Blumen waren.“

„Eine weiße Rose auf einem Kopfkissen? So etwas fällt nun einmal auf. Aber selbst der Blumenfreund Gebauer will sie nicht gesehen haben.“

„Der Mord könnte also nach dem Abgang der SA passiert sein?“

„Könnte. Davon müssen wir ausgehen.“

„Der Fall wird immer komplizierter. Wir haben noch den Ernst draußen.“

„Na, den nehme ich mir noch einmal vor!“ erwiderte Reinecke und stand auf. „Macht ihr nur mit dem Bettbruder weiter.“

Er zog sich seinen Mantel an und ging hinaus und winkte Ernst zu, der vor dem Besprechungszimmer inmitten seiner SA–Leute saß. Ernst folgte ihm in die Empfangshalle und sie setzten sich in eine der Sitzgruppen.

„Nun, sind Sie zufrieden, Herr Hauptkommissar? Meine Leute sind unschuldig wie die Lämmer.“

„Na, mir kamen sie alle eher wie schwarze Schafe vor.“

„Aber es liegt nichts gegen sie vor“, hakte Ernst eifrig nach.

„Wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen.“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass meine Jungs keine Mörder sind. Kann ich gehen?“

„Haben Sie eine Rose auf dem Bett bemerkt oder im Zimmer Rosen gesehen?“

„Nein!“ erwiderte Ernst verblüfft. „Was soll denn das?“

„Sie können gehen!“ sagte Reinecke kühl.

Unzufrieden sah er dem SA–Führer nach, der sich in der Lobby zu Goebbels setzte, der mit einigen anderen braunen Würdenträgern zusammen saß. Reinecke sah die beiden miteinander tuscheln und Goebbels bleckte sein Gebiss und winkte spöttisch herüber. Reinecke sah weg und zündete sich die ausgegangene Zigarre an. Jemand warf sich in den Sessel, den Ernst freigemacht hatte. Reinecke nickte seinem Gegenüber zu. Sie kannten sich. Es war Jeremias Augenthal, den alle nur Jerry nannten und der Journalist bei der Vossischen war und zu den Zeitungsleuten gehörte, die Reinecke schätzte.

„Das ist vielleicht eine Bande!“ knurrte Augenthal und wies zu dem Kreis um Goebbels hinüber. „Wenn ich mir vorstelle, dass die heute die Regierung übernehmen, könnte ich das Kotzen kriegen.“

„Also stimmen die Gerüchte?“ fragte Reinecke.

„Darauf können Sie einen lassen. Der senile alte Kerl, unser Großer Heerführer, der uns schon 1918 in die Scheiße geritten hat, wird uns als Reichspräsident nun endgültig dem Deibel ausliefern.“

„Ich denke, er verachtet den Gefreiten Hitler.“

„Sein Sohn und die ganze Kamarilla um ihn herum haben ihn so lange bearbeitet, dass er nun weichgekocht ist. Hindenburg weiß doch nicht mehr, was läuft und ist ein Spielball der Elbjunker, und die glauben, Hitler für ihre Interessen benutzen zu können. Es kommen böse Zeiten auf uns zu.“

Reinecke zog sein Zigarrenetui hervor und bot Augenthal eine Zigarre an. Seine Kommissare wussten, dass dies eine Aus–zeichnung war

„Nee, lassen Sie mal, Brigant. Ich rauche lieber meine Zigaretten.“

Augenthal beugte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm.

„Nun sagen Sie mal, was ist hier abgegangen?“

„Sie wissen von dem Mord?“

„Klar. Man hat doch so seine Beziehungen.“

„Der Portier?“ fragte Reinecke schmunzelnd.

„Nein. Der Barmann drüber. Aber das bleibt unter uns.“

Reinecke erzählte ihm in kurzen Worten, wie sie die Frau vorgefunden hatten und was das Verhör der SA–Männer bisher ergeben hatte.

„Sie halten sie für unschuldig?“

„Wir haben keine Beweise. Sie geben sich gegenseitig ein Alibi. Im Moment muss ich davon ausgehen, dass ein geheimnisvoller Rosenfreund das Mädchen aufgeschlitzt haben könnte.“

„Ein geheimnisvoller Unbekannter? Sie glauben daran?“

„Im Moment bin ich nach allen Seiten offen.“

„Sagten Sie aufgeschlitzt?“

„Ja. Warum?“

„Es gab da mal so einen Fall in München und auch in Hamburg.“

„Ach ja? Das ist interessant. Stimmt, ich erinnere mich nun. Wir werden das mal genauer untersuchen.“

„Es könnte ein Serientäter sein.“

„Könnte“, gab Reinecke zu. „Dann kommt eine Menge Ärger auf uns zu. Das sind immer die unangenehmsten Geschichten, weil ihr damit die Leute verrückt macht.“

„Wir?“

„Ja. Ihr. Die Presse.“

Remker kam angelaufen.

„Nüscht! Auch die Befragung von diesem Horch hat nichts gebracht. Er hat das gleiche hergebetet wie Tendler. Aber der Kerl ist mit Sicherheit vom anderen Ufer.“

„Das interessiert mich nicht. Aber auf den ersten Blick steht das Alibi der gesamten Bande.“

„Nun, einer von ihnen könnte doch zurückgegangen sein.“

„Richtig. Wir werden die Bande weiterhin im Auge behalten. Hier, unser Freund von der Presse hat mich an zwei Geschichten in Hamburg und München erinnert. Setzt euch ans Telefon und befragt die Kollegen und lasst euch die Akten zuschicken. Mal sehen, vielleicht bringt es was. Wir sehen uns nachher im Präsidium.“

„Dann habe ich Ihnen also geholfen“, freute sich Jerry Augenthal. „Wenn das so ist, sind Sie mir demnächst mal einen Gefallen schuldig.“

Reinecke kniff ein Auge zu und schmunzelte. Augenthal sprang auf und winkte zur Bar hinüber, wo ein schlaksiger Mann mit einem Fotoapparat stand.

„Dann werde ich mir eine Aufnahme holen, geht das in Ordnung?“

„Sie wollen die Schulden aber schnell eintreiben!“ knurrte Reinecke und deutete zu Liebrich hinüber, der gerade aus dem Konferenzsaal kam und dabei in seinem Notizbuch blätterte.

„Wenden Sie sich an meinen Kollegen dort. Er wird sie hoch begleiten. Aber in ihrem Artikel will ich nichts über einen Serienmörder lesen. Das ist noch reine Spekulation.“

„In Ordnung. Aber wenn es sich bestätigt, sagen Sie es mir zuerst.“

„Melden Sie sich morgen bei mir. Vielleicht weiß ich dann mehr.“

„In Ordnung, Brigant. Mache ich.“

Als Reinecke in der Lobby an der Gruppe um Goebbels vorbei ging, sprang dieser auf.

„Hörte soeben von SA–Führer Ernst, dass die Befragung nichts ergeben hat, was unsere Männer belastet.“

„Sie geben sich alle ein Alibi“, gab Reinecke missmutig zu.

„Nationalsozialisten ermorden keine Frauen.“

„Nein? Dann ist ja alles in Ordnung.“

„Sie sind wohl enttäuscht, Brigant? Ich mag Sie nicht, Reinecke.“

„Das geht in Ordnung. Es beruht schließlich auf Gegenseitigkeit.“

„Na, in ein paar Tagen werden Sie nicht mehr so leichtfertig tönen. Heute ist unser großer Tag.“

„Wenn Sie das sagen.“

„Es wird sich in Deutschland in nächster Zeit alles ändern. Alles.“

„Das sagten Sie schon einmal“, erwiderte Reinecke ungerührt und drehte sich um und ging hinaus.

Der Wind sprang ihn an und trieb ihm den Regen ins Gesicht. Unbeeindruckt stapfte er weiter durch den Regen.

„Extrablatt! Hitler ist Reichskanzler!“ schrie ein Zeitungsjunge über die Straße. Reinecke ging zu ihm und gab ihm zwanzig Pfennig, nahm die Zeitung und las die Bestätigung, dass das Unglück passiert war. Nach wenigen Metern war die Zeitung nass und schwarze Rinnsale liefen über die Buchstaben. Er knüllte das Blatt zusammen und warf es in den Papierkorb vor dem S–Bahneingang.

Als Reinecke sein Zimmer im dritten Stock des Präsidiums betrat, saß Gelchen, seine Sekretärin, vor dem Radioapparat und hörte Nachrichten. Gelchen war von Anfang an bei ihm. Sie ging auf die Vierzig zu und war der Typ ‚burschikoses Mädchen von nebenan’, mit dem man Pferde stehlen konnte. Ihr Gesicht war nicht schön zu nennen, aber die Lachfalten um den Mund, die graublauen Augen und die Sommersprossen nahmen einen sofort für sie ein. Es gab Zeiten, da war sie verliebt in ihren Chef gewesen, aber sie hatte es akzeptiert, dass er Privatleben und Dienst auseinander hielt. Trotzdem handelte sie Fremden gegenüber, als wäre er ihr Eigentum und verteidigte ihn mit eifersüchtiger Hartnäckigkeit. Sie sah sich als Teil der Legende um den gefürchteten Hauptkommissar, den Briganten von Berlin. Reinecke sah in ihr so etwas wie eine kleine Schwester und schätzte besonders ihre Korrektheit, Zuverlässigkeit und ihren praktischen Sinn. Sie war die von allen akzeptierte Seele der Abteilung.

„Hitler ist Reichskanzler!“ empfing sie ihn mit fassungslosem Gesicht.

„Ja. Die Extrablätter haben es auch schon gebracht. Nun ist es passiert. Sie haben den Wolf zum Schäfer gemacht.“

„Vielleicht wird es doch nicht so schlimm.“

„Wenn er nur die Hälfte davon in die Tat umsetzt, was er in seinem Buch angekündigt hat, dann gnade uns Gott. Bringen Sie mir mal einen schönen Kaffee, ich bin seit heute Morgen unterwegs. Ein Schittwetter ist draußen. Und dann die Akten, bitte. Mal sehen, was sonst noch heute Nacht passiert ist.“

„Es war ausgesprochen ruhig. Wie sieht die Sache im Kaiserhof aus?“

„Nicht gut, Gelchen. Gar nicht gut!“ wiederholte der Kommissar und ging in sein Zimmer, das mit der Goethebüste auf dem Schreibtisch einst für Gerede im Präsidium gesorgt hatte. Mittlerweile hatte man sich aber auch daran gewöhnt. Er warf sich in den Sessel und wischte sich das regennasse Gesicht ab.

„Sie sollen gleich zu Haider kommen. Er hat schon vor einer Stunde angerufen. Sofort, hat er gesagt.“

Gelchen stellte ihm die Tasse Kaffee auf den Schreibtisch und sah ihn besorgt an.

„Ich sollte Ihnen einen schönen Tee mit Rum machen. Sie werden sich noch eine Erkältung holen.“

„Hm!“ brummte Reinecke und trank den Kaffee und blätterte in den Akten. „War ja wirklich eine ruhige Nacht.“

„Sagte ich doch. Übrigens, Haider sagte sofort!“ mahnte Gelchen.

„Sagt er das nicht immer?“

„Er scheint neuerdings sehr obenauf zu sein.“

„Wenn die Nazis den Laden übernehmen, wird er wohl Polizeichef von Berlin werden.“

„Oh je, er ist nicht gerade Ihr Freund.“

„Nein. Ist er nicht.“

„Chef, ich mache mir Sorgen“, sagte Gelchen und stellte sich breitbeinig vor seinem Schreibtisch auf, die Hände in die Hüften gestützt.

„Der Kaffee ist gut. Sie machen den besten Kaffee der Welt“, lobte er sie.

Aber das verschonte ihn nicht vor ihren Befürchtungen. Sie setzte sich nun auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und schlug die langen wohlgeformten Beine übereinander, auf die sie mit Recht stolz war. Das Beste an mir sind meine Beine, hatte sie Liebrich einmal gestanden, da er zu den Männern gehörte, die sie wie einen großen Bruder behandelte.

„Sie nehmen die Entwicklung viel zu leicht, Brigant!“ klagte sie. „Was wird aus uns, wenn die Braunen hier das Sagen haben? Die bekommen es fertig und versetzen Sie in irgendein Provinznest und wir müssen uns dann mit irgendeinem Nazi herumschlagen. Vielleicht verlangt der sogar, dass wir morgens ‚Heil Hitler’ brüllen.“

„Erst einmal sind ihnen andere Positionen wichtiger. Ich glaube nicht, dass sie sich gleich um die ganz gewöhnliche Kriminalität kümmern werden. Wir werden also den Hintern zusammenkneifen und weiter unsere Pflicht tun.“

Trotzdem hatte Reinecke kein gutes Gefühl, als er sich zum Polizeipräsidenten aufmachte. Er teilte durchaus Gelchens Befürchtungen. Aber Haider brauchte ihn. Schließlich hatte er Reineckes Erfolge immer sich selbst gutschreiben können, was aber seine Eifersucht auf Reineckes Popularität bei den Zeitungsschreibern nicht gemildert hatte.

Als er das Vorzimmer des Vize betrat und die rothaarige Sekretärin beim Lackieren ihrer Fingernägel störte und sie nur kurz ihre Tätigkeit unterbrach und ihm respektlos zunickte, wusste er, dass es diesmal wirklich schlimm kommen würde.

„Gehen Se rein. Nu gehen Se schon. Er wartet schon auf Sie“, sagte sie böse lächelnd.

Wie der Herre, so’s Gescherre, dachte Reinecke grimmig. Er nahm den Hut nicht ab, als er das Allerheiligste betrat.

3.

„Der Liebling der Berliner Boulevardpresse gibt uns endlich die Ehre!“ empfing ihn Haider höhnisch lächelnd hinter seinem viel zu großen Schreibtisch.

Wie immer trug er Polizeiuniform. Er hatte in letzter Zeit Speck angesetzt. Die Uniform spannte um seinen Bauch. Er wäre ein gut aussehender Mann, wenn er nicht diesen übellaunigen Zug um den Mund hätte, dachte Reinecke. An diesem Morgen schien er guter Dinge zu sein. Reinecke wusste, dass dies kein gutes Zeichen war.

„Ich war im Kaiserhof. Sicher haben Sie schon …“

„Habe ich!“ unterbrach Haider ihn und wies auf die Sesselgruppe und stand auf und warf sich ihm gegenüber in den Sessel.

Haider deutete auf die Zigarrenkiste auf dem kleinen Marmortisch. Reinecke schüttelte den Kopf.

„Ich bleibe bei meinen Brasil.“

Haider klappte die Kiste auf und nahm sich eine Zigarre heraus und steckte sie sich an und wedelte das Streichholz aus. Reinecke hatte sich ebenfalls eine Zigarre angezündet und wartete, die Hände über die Knie gelegt. Er reagierte nicht auf Haiders anzüglichen Blick auf seinen Hut. Sie mochten sich nicht. Es hatte in all den Jahren zu viel Ärger zwischen ihnen gegeben. Haider neidete es dem Hauptkommissar, dass er meistens in der Presse gut weg kam und diese seinen Spitznamen aus dem Rotlichtviertel populär gemacht hatte. ‚Der Brigant entlarvt den Hammermörder’. Diese und ähnliche Schlagzeilen hatte Haider jedes Mal die Zornesröte ins Gesicht getrieben. Wenn er vor die Presse trat, um Erfolge zu verkünden, kamen die Journalisten jedes Mal auf den Briganten zu sprechen, was Haider als demütigend empfand. Wenn er eine Möglichkeit sah, es Reinecke heimzuzahlen, so nutzte er dies und nun, seinem Unheil verkündenden Lächeln nach zu schließen, schien er etwas gefunden zu haben, was seine Rachlust befriedigte.

Reinecke saß statuenhaft in dem Sessel, regungslos wie ein Buddha, etwas vorgebeugt, und starrte durch Haider hindurch und dieser spürte, wie gleichgültig er Reinecke war, presste die Lippen zusammen und stieß hervor:

„Was haben Sie denn nun wieder im Kaiserhof angerichtet?“

„Nichts. So weit sind wir noch nicht.“

„Wissen Sie, wer mich gerade angerufen hat?“

Reinecke zog die Schultern hoch und machte ein bewusst gelangweiltes Gesicht.

„Göring. Der Reichstagspräsident und unser preußischer Innenminister höchstpersönlich. Gleich nachdem er heute vereidigt wurde, hat er bei mir angerufen, ob ich denn meine Leute nicht im Griff habe.“

„Na so was!“ kommentierte Reinecke unbeeindruckt.

„Sie haben es wohl noch immer nicht begriffen. Es ist eine neue Zeit angebrochen. Jetzt, wo die Regierung der Nationalen Bewegung die Macht übernommen hat, ist es vorbei mit der sozialistischen Vetternwirtschaft. Jetzt kommt es auf die rechte Gesinnung an. Jeder hat sich der Volksgemeinschaft unterzuordnen und …“

„Haben Sie mir irgendetwas vorzuwerfen?“ unterbrach ihn Reinecke.

„Was ich Ihnen vorwerfe?“ japste Haider und sah ihn verstört an und stotterte vor Wut: „Nun … Sie haben … also, Göring hat sich beschwert, dass Sie das Führerbegleitkommando belästigt haben. Sie sollen die SA–Männer auf schikanöse Weise ins Kreuzverhör genommen haben und …“

„Ich habe nur das getan, was ich tun musste. Die Bande war mit dem Opfer zusammen, hat eine Orgie mit ihr veranstaltet, was sie auch zugegeben hat.“

„Bande?“ keuchte Haider. „Es waren die Männer des Führers.“

„Ich hätte auch Hitler befragt, wenn er sich an der Schweinerei beteiligt hätte.“

„Sind Sie des Wahnsinns? Wie können sie den Führer und Reichskanzler im gleichen Atem mit solchen Dingen nennen.“

„Vor dem Gesetz sind nun mal alle gleich.“

„Sie verstehen nichts! Mann, begreifen Sie endlich, was passiert ist. Es findet eine nationale Revolution statt.“

„Und was hat diese so genannte Revolution mit meinem Fall zu tun?“ fragte Reinecke unbeeindruckt.

„Sie ahnungsloser Fachidiot, begreifen Sie es wirklich nicht oder tun Sie nur so?“ schnaubte Haider und sah seinen Hauptkommissar an, als wäre er ein Kind.

„Ich begreife, dass Sie Schiss vor den neuen Herren haben.“

„Werden Sie nicht auch noch unverschämt. Hat sich denn irgendein Verdachtsmoment gegenüber den SA–Männern ergeben?“

„Nein. Wir befinden uns ja auch erst im Anfangsstadium der Ermittlungen.“

„Wie steht es mit den Alibis?“ fragte Haider und lehnte sich zufrieden grinsend im Sessel zurück und zog genüsslich an seiner Zigarre.

„Die Kerle geben sich gegenseitig ein Alibi.“

„Wie ich hörte, war die Nutte noch quicklebendig, als die SA das Zimmer verließ.“

„Sie sind gut informiert.“

„Ich habe auch meine Informationsquellen…“

„Es gibt, nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen, folgende Möglichkeiten: 1. Sie haben es getan und sich abgesprochen; 2. einer von ihnen ist später noch einmal zu der Peffgen gegangen und hat sie umgebracht und 3. eine andere Person hat sich in ihr Hotelzimmer geschlichen und sie massakriert.“

„Und das Motiv?“

„Ja. Wenn wir das wüssten, wären wir schon weiter.“

„Aber Sie haben keinen blassen Schimmer“, erwiderte Haider höhnisch.

„Der Mord ist erst ein paar Stunden her. Im Augenblick recherchieren wir nach allen Seiten. Ganz gewöhnliche Polizeiarbeit. Es gibt allerdings einen Verdachtsmoment, das es sich um einen Serienmörder handelt.“

„Gut. Gut. Machen Sie in dieser Richtung weiter.“

„Nein. Nicht gut. Wenn es ein Serienmörder ist, wird er weiter morden. Das wird eine Menge Wirbel verursachen. Sie wissen doch, wie die Presse auf so etwas abfährt.“

„Damit werden Sie fertig werden müssen. Sie sind doch der Liebling der Presseleute. Aber kommen wir zum Kern. Ich sage es unumwunden: Sie sind mir schon lange ein Stein im Schuh. Jetzt, wo Hitler die Macht übernommen hat, wo Göring preußischer Innen–minister ist, kann ich mir keine Schwachstelle im Präsidium erlauben. Sie sind ein leidlich guter Kriminaler, der von der Presse zum Wundermann hochgejubelt wurde, aber politisch sind Sie ein Risikofaktor. Sie haben kein Fingerspitzengefühl und erkennen nicht die Veränderungen. Wie ich weiß, tendieren Sie sogar zu den Sozis. Gut, Sie haben ausgezeichnete Verbindungen zum Großkapital. Dieser Michael Singer, Ihr Freund, ein Bruder des Großindustriellen Rolf Singer, kennt höchste Kreise der Berliner Gesellschaft und sogar der Reichswehr. Sie glauben wohl, dass Sie deswegen unangreifbar sind? Aber das ist vorbei. Jetzt zählt nur noch, wer die nationale Bewegung unterstützt. Bedingungslos. Hitler ist an der Macht und nun wird sich alles ändern!“

„Das hat man mir heute schon einmal gesagt“, brummte Reinecke und streifte sorgfältig die Asche seiner Zigarre ab.

Draußen im Vorzimmer hörte er Haiders rothaarige Sekretärin hell lachen. Es stimmte nicht, dass Reinecke Beziehungen zum Großkapital hatte. Michael Singer, der Bruder des Großindustriellen Rolf Singer, war sein Freund. Reinecke wohnte in seinem Haus am Gendarmenmarkt, oben in einer Mansarde, mit einem schönen Ausblick über den Platz. Sie trafen sich regelmäßig zum Schach und um über Gott und die Welt und die politische Entwicklung zu philosophieren, die sie beide ähnlich sorgenvoll beurteilten. Michael Singer war Professor an der Humboldtuniversität und hatte mit dem Singerschen Wirtschaftsimperium nichts zu tun, außer natürlich, dass er Inhaber eines gehörigen Aktienpaketes war. Die Geschäfte führte sein Bruder Rolf Singer. Aber er hatte nicht vor, dies Haider auf die Nase zu binden. Sollte dieser ruhig glauben, dass er über ausgezeichnete Verbindungen zur Spitze der Wirtschaft verfügte.

„Ich sage es Ihnen noch einmal, damit Sie es endlich kapieren: In Deutschland ist eine Revolution passiert. Niemals werden sich die Nationalsozialisten wieder aus der Regierung drängen lassen.“

„Das wäre dann ein Putsch.“

„Beurteilen Sie es, wie Sie wollen. Ich werde das Amt umorganisieren. Leiter sämtlicher Ressorts wird Dr. Reiner Stechwitz. Ein fähiger Mann. Ein Akademiker, der weiß, wie man sich beim Aufbau eines neuen Staates zu verhalten hat.“

„Die Regierung Hitler ist erst seit ein paar Stunden im Amt und Sie organisieren das Präsidium um? Das nenne ich Chuzpe und vorauseilenden Gehorsam.“

Haider lief rot an.

„Ihre Frechheiten werden Ihnen noch vergehen! Sie sind Dr. Stechwitz von nun an unterstellt!“ zischte Haider und drückte seine Zigarre wie eine Zigarette aus, was Reinecke einen unwilligen Laut entlockte.

„Warum rauchen Sie eigentlich Zigarren, wenn Sie sie nicht mögen?“

„Was soll das?“ fragte Haider irritiert.

„Man drückt eine Zigarre nicht aus, sondern lässt den Stumpen ausgehen.“

Es war nicht das erste Mal, dass Reinecke ihn darauf aufmerksam machte.

„Werden Sie nicht komisch. Sie sind von nun an nicht mehr der Hauptabteilungsleiter der Mordkommission. Sie leiten von nun an die Abteilung ‚Schwere Strafdelikte’ und sind direkt Dr. Stechwitz unterstellt und ihm berichtspflichtig.“

„Strafdelikte? Also für schwere Raubüberfälle und den gesamten Klumpatsch?“

„Ja. Natürlich auch Morde. Aber das ist von nun an nur ein Teil ihrer Aufgaben.“

Reinecke war der Titel egal. Aber durch diese Veränderung würde noch mehr Arbeit auf seine Abteilung zukommen, die bisher schon unterbesetzt war.

„Dafür brauche ich mehr Leute.“

„Nein. Begreifen Sie endlich. Die Zeiten sind vorbei, wo Sie sich auf dem Hosenboden ausruhen und auf Ihre Beziehungen verlassen konnten. Wenn die Völkischen sich eingerichtet haben, werden die Straftaten ohnehin nachlassen. Sie werden mit Liebrich und Remker auskommen müssen. Und sollte es wirklich mal eng werden, fordern Sie von Dr. Stechwitz Verstärkung an.“

Die Umorganisation bedrückte Reinecke zwar, aber Stechwitz würde das Problem werden. Er kannte ihn nur flüchtig, wusste aber, dass er ein hundertprozentiger Nazi war. Oft genug hatte er in der Kantine davon schwadroniert, was die Nazis anstellen würden, wenn sie eines Tages an die Macht kämen. Reinecke war einmal mit ihm aneinander geraten, als dieser am Nebentisch vom ‚unwerten Leben’ faselte. Er hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er sich mit solchen Äußerungen außerhalb des Gesetzes stelle und ihm an den Kopf geknallt, dass er Stechwitz für jemanden halte, dessen Wert nicht sehr hoch einzuschätzen sei. Stechwitz hatte sich auf ihn stürzen wollen, aber als sich Reinecke vom Tisch in voller Größe erhob und ihn gelassen ansah, hatte er dies schleunigst sein gelassen. So dumm war er dann doch nicht, sich mit jemandem einzulassen, der durch seine mächtige Gestalt nicht an einen Schreibtischarbeiter, sondern eher an einen brandenburgischen Bauern erinnerte.

„Ihr Büro wird Herr Dr. Stechwitz übernehmen. Sie ziehen mit Ihrer Gruppe in den obersten Stock. Ich brauche Dr. Stechwitz in meiner Nähe, auf dem gleichen Stock. Während wir hier plaudern, wird Ihr Büro ausgeräumt. Sie können also nachher gleich Ihre neuen Räume inspizieren.“

Die genannten Gründe waren nur vorgeschoben. Haider wollte ihn demütigen. Was für ein Kleingeist, dachte Reinecke und paffte den Rauch aus und sah Haider unverwandt an und dieser senkte den Blick. Er holt nach, was er sich seit Jahren verkneifen musste, dachte Reinecke. Nach Görings Anruf nahm er wohl an, dass die neuen Herren den Briganten nicht schätzten und wagte sich nun aus der Deckung hervor.

„In Ordnung“, knurrte Reinecke scheinbar ungerührt.

Er hatte nicht vor, eine Betroffenheit zu zeigen, die er ohnehin nicht empfand. Es war ihm egal, wo er arbeitete. Er machte sich nur Sorgen, wie seine Mitarbeiter die Degradierung aufnehmen würden.

„Das war es dann?“ fragte Reinecke und erhob sich.

Haider, der ihn unentwegt beobachtet und auf Wut, Enttäuschung oder gar Einwände gelauert hatte, wusste erst nichts zu sagen.

„Also, Sie müssen das verstehen“, schob er schließlich eine Entschuldigung nach. „Wir müssen uns auf die neuen Zeiten einrichten. Warum begreifen Sie nicht, was die Stunde geschlagen hat? Sie haben sich oft genug mit den Nationalsozialisten angelegt, waren genau so ein Michael Kohlhaas wie unser ehemaliger Polizeichef, der Jude Weiß. Der Krug geht so lange …“

„Es ist Ihr Krug!“ sagte Reinecke, tippte an den Hut und wollte gehen.

„Sie halten mich mit dieser Geschichte im Kaiserhof auf dem Laufenden, ja?“

„Ich denke, Stechwitz ist jetzt mein Vorgesetzter. Dem bin ich doch berichtspflichtig.“

„Natürlich. Ja doch. Aber in dieser Angelegenheit will ich selbst auf dem Laufenden bleiben. Stechwitz muss sich ja erst einarbeiten.“

„Na schön. Wenn Sie es so wollen“, brummte Reinecke und ging grußlos hinaus.

Die Rothaarige an der Schreibmaschine telefonierte und sah hoch und deckte die Muschel ab und sagte anzüglich:

„War wohl kein so angenehmes Gespräch, Brigant?“

„War es hier noch nie!“ erwiderte Reinecke und ging hinaus.

Aus alter Gewohnheit schlug er den Weg zu seinem Büro ein. Als er das Vorzimmer betrat, war dies bereits leer geräumt. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer war offen. An seinem Schreibtisch saß bereits Stechwitz und grinste ihm entgegen. Der Goethekopf war bereits verschwunden und die Schränke leer geräumt. Auch die Topfblumen auf dem Fensterbrett, die Gelchen hingebungsvoll pflegte, waren fort. Sie hatten gründlich und schnell gearbeitet. Die haben sich richtig Mühe gegeben, dachte Reinecke grimmig.

„Da sind Sie ja, Reinecke“, sagte Stechwitz.

Ein kühl aussehender schmaler Mann mit einem Gelehrtengesicht, Mittelscheitel und einem Augenzwicker auf der langen Nase.

„So ändern sich die Zeiten, Brigant. Aber ich will keinen Ärger mit Ihnen. Meine Ressorts müssen funktionieren. Einmal in der Woche, am Montag, findet zukünftig die ‚Große Lage’ statt, jeden Mittwoch ist ‚Kleine Lage’. Nicht länger als fünfzehn Minuten. Ich will keine Details hören, sondern Ergebnisse, den Stand der Ermittlungen. Alle Berichte an den Polizeipräsidenten gehen über meinen Schreibtisch. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, lieber Reinecke, dass hier moderne kriminalistische Arbeit betrieben wird. Ich will nichts über Ihre berühmte ‚Nase’ und Ihr Bauchgefühl hören. Wir werden unbarmherzig, ich wiederhole, brutalstmöglich gegen Straftäter und Reichsfeinde wie Kommunisten und Sozigesindel vorgehen!“

„Wenn diese Straftaten begangen haben, sicher!“ stimmte Reinecke zu. Er hatte nichts anderes von Stechwitz erwartet und verbarg seine Verachtung nicht. Stechwitz war intelligent genug, dies zu bemerken.