Einer kam heim aus Afghanistan - Heinz-Joachim Simon - E-Book

Einer kam heim aus Afghanistan E-Book

Heinz-Joachim Simon

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Beschreibung

Niemand siegt in Afghanistan. In einer dramatischen Geschichte wird sichtbar, warum immer noch das Sprichwort gilt: Wem die Götter schaden wollen, den schicken sie nach Afghanistan. Als der Sohn des Hamburger Bauunternehmers in Afghanistan von den Taliban entführt wird, schickt er seinen zweiten Sohn Peter Gernot in die Hölle eines zerrissenen Landes. Bei dem Versuch, den Bruder zu befreien, kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit kriminellen Banden, korrupten Generälen, Warlords und den Selbstmordkommandos der Taliban. Eindringlich, spannend und atemlos wird von der scheinbaren Unbegreiflichkeit dieses Landes mit seinen überkommenen Strukturen, dem Elend, aber auch der Schönheit erzählt. Und im Hintergrund steht die Frage: Was machen unsere Soldaten eigentlich am Hindukusch? Ein Roman ist nur dann gut, wenn der Leser glaubt dabei zu sein.

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Heinz–Joachim Simon

Einer kam heim aus Afghanistan

Roman

Simon, Heinz-Joachim : Einer kam heim aus Afghanistan. Roman. Hamburg, acabus Verlag 2018

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-675-9

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-674-2

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Der Markt in Marrakesch heißt Djemaa el fna. Manche übersetzen dies mit Platz der Gaukler, andere mit Platz der Gehenkten. Noch immer gibt es dort einen Märchenerzähler, der eine Geschichte vorträgt, die große Verwunderung auslöst:

Mahmud kam in die Steppe und fand unter einer Tamariske einen sterbenden Löwen. Um ihn herum lagen viele tote Hyänen. Sein Leib war aufgerissen, aber sein majestätischer Kopf unversehrt. Mahmud setzte sich zu ihm und sprach zu dem sterbenden Löwen: 

«Lange Zeit warst du der Herr der Steppe, und die Hyänen fürchteten sich vor dir. Jetzt, wo du alt geworden bist, wagten sie sich an dich heran. Sie haben auf deine Schwäche gewartet, aber selbst jetzt noch warst du ein Fürst und hast dich nicht aufgegeben und gekämpft und bist Sieger geblieben. Du hast den höchsten Preis dafür gezahlt. Aber er war es wert. Du warst noch einmal du selbst: ein Krieger.» 

Als Mahmud mit dem Kopf und Fell des Löwen zu den Hütten seines Volkes zurückkam, lief es zusammen und rief verwundert: 

«Allah akbar. Wie konnte dieser große Löwe überwunden werden?» 

Aber das war die falsche Frage. Er wurde nicht überwunden: Er starb nur.

1

«Du musst nach Afghanistan!» sagte mein Vater. 

So fing es an, was mir Schmerzen, Kummer und die Liebe meines Lebens einbringen sollte. 

Es begann in Berlin. Es regnete an diesem Morgen, und ich lief vom Hotel Adlon den Boulevard hinunter, bog in die Charlottenstraße ein und rannte zwischen Schauspielhaus und dem Französischen Dom auf den Gendarmenmarkt, grüßte zu dem Engel auf dem Löwen hinüber und lief weiter zur Oper. Der Wind kam von vorn, und mein Gesicht brannte. Die Regentropfen liefen von meinem Hals in mein T–Shirt. Ich lief über die Stelle, an der die Nazis Bücher verbrannt hatten, lief am Museum für deutsche Geschichte vorbei zum Pergamon–Museum. Ich tat das jeden Morgen, seit ich mit dem Vorstand von German Metal in Berlin war. Ich musste in Form bleiben, schließlich war ich sein Bodyguard, was sich martialisch anhört, denn genau genommen war ich sein Mädchen für alles und zudem ein Statussymbol, das seine Wichtigkeit anzeigte. Schmude war ein mächtiger Mann, mit dem sich die Politiker gern schmückten. In den Wirtschaftszeitungen nannte man ihn einen großen Manager, schließlich hatte er dafür gesorgt, dass sich der Aktienkurs von German Metal verzehnfachte. Die Aktionäre waren mit Schmude zufrieden. Ich hielt den kleinen, übergewichtigen Mann, den ich oft betrunken aus einem Bordell schleppen musste, für einen Scheißkerl ohne Moral und Prinzipien. Nicht dass er mich schlecht behandelt hätte. Im Gegenteil. Er benahm sich zu mir so gönnerhaft wie zu einem Haushund und machte sich keine Gedanken darüber, was ich von ihm hielt. Ständig hatte er das Handy am Ohr und bellte seine Anweisungen hinein, und oft genug erlebte ich, dass die ihm unterstellten Manager Schweiß auf der Stirn hatten, wenn sie vor seinem Allerheiligsten standen.

Nun wissen Sie, womit ich, Peter Gernot, mein Geld verdiene. Ich bin also kein bedeutender Mann, und mein Intelligenzquotient liegt auch nicht über dem Durchschnitt. Ich muss gestehen, dass ich das schwarze Schaf der Familie bin, das Ergebnis einer Liaison meines Vaters mit einer Verkäuferin. Erst als meine Mutter starb, hat mich mein Vater bei sich aufgenommen und mir seinen Nachnamen verpasst. Doch ich war mehr geduldet als geliebt. Im Gegensatz zu meinem Stiefbruder Detlef habe ich nicht das Abitur geschafft, also auch nicht studiert und meine Zeit lange damit vertan, mich mit einer Band herumzutreiben. Ich spiele ganz ordentlich Gitarre, und meine Stimme reicht dafür aus, Bob Dylans Songs nachzukrächzen, und auch den Mick Jagger bekomme ich ganz ordentlich hin. Wenn ich Street Fighting Man herauskotzte, kam Stimmung in den Laden. Ich war einmal verheiratet, und es ging natürlich schief, weil ich die Gesellschaft von Jim Beam und Jack Daniels mit den Kumpels allemal bevorzugte.

Nun bekommen Sie keinen falschen Eindruck von mir. Ein abgewrackter Typ bin ich nicht, von Keith Richards keine Spur im Gesicht, obwohl ich sicher eine Zeit lang sein Bruder im Geiste war. Ich habe schon immer gern Sport getrieben. Ich habe Handball gespielt und beim Biathlon war ich sogar für die Olympiamannschaft vorgesehen, bevor ich unserem Trainer eine verpasste, als er die Italiener Spaghettifresser und die Türken Kanaken schimpfte. Ich kann Rassis­mus nun einmal schlecht vertragen. Sein gebrochener Unterkiefer beendete jedenfalls meine sportliche Karriere. 

Wenn man nicht gerade ein Einstein oder ein Arschkriecher ist und zudem die Statur eines Zehnkämpfers hat, sind die Möglichkeiten, Geld zu verdienen, recht eingeschränkt. Als unsere Band wegen der Mädchen auseinanderfiel, lernte ich in einer Muckibude den Leibwächter eines Ministers kennen. Nachdem ich ihn beim Judo ein paar Mal auf die Matte gelegt hatte, stellte er mich seinem Boss vom Security–Service vor. Da ich so unwichtige Fähigkeiten wie Karate vorweisen konnte und aus Biathlonzeiten ein guter Schütze war, wurde ich von ihm engagiert. Ich habe also aus meiner körperlichen Verfassung einen Beruf gemacht. Es gibt schlechtere.

Als ich durch die Charlottenstraße zurück zum Adlon trabte, winkte mir der Portier vor dem Regent wie jeden Morgen zu. Ich mochte den langen Kerl und grüßte zurück. Wir waren beide im gleichen Club Die Angeschissenen der Gesellschaft.

Als ich durch die Friedrichstraße lief und mir, bei der VW–Niederlassung auf der Stelle tretend, wieder einmal den Bentley ansah, klingelte mein Handy. Ich nahm natürlich an, dass der «Herr des Stahls» meiner bedurfte und holte das Telefon aus meiner Adidashose. Doch es war mein Vater, und dies war ein noch nie da gewesenes Ereignis. Wir standen nicht besonders gut miteinander.

«Wo bist du, Peter?» fragte er ohne Umschweife. 

Ich sagte es ihm, und er forderte mich auf, sofort  nach Hause zu kommen.

«Was ist denn los?» fragte ich erstaunt, trennte mich mit wehmutsvollem Blick von dem Bentley und nahm meinen Lauf wieder auf.

«Ich brauche dich. Du musst nach Afghanistan. Detlef wird seit Tagen vermisst. Vermutlich ist er entführt worden.»

Ich war überrascht über diese Forderung. Schließlich war ich für den Baulöwen Philipp Gernot immer eine Null gewesen, und er hatte sich Mühe geben müssen, nicht das Gesicht zu verziehen, wenn er mich sah. In meiner Kindheit war dies nicht besonders aufbauend. Meinen Werdegang hatte er als Bestätigung seiner Einschätzung betrachtet. Ich hieß für ihn immer nur der Leibwächter.

Ich dachte gar nicht daran, auf seine Forderung einzugehen. 

«Ich habe einen Job!» stellte ich mich stur. «Ich kann nicht so mir nichts dir nichts hier Leine ziehen.»

«Job? Lächerlich. Es wird doch noch ein anderer Muskelprotz deine Stelle einnehmen können. Es gibt schließlich genug von deiner Sorte.»

Väterchen war wieder richtig lieb. Bei ihm stand ich irgendwo zwischen Hartz IV–Empfänger und Hippie. Mein Stiefbruder dagegen war sein Liebling und auch der designierte Nachfolger in seinem Bauladen. Ja, die Gernots sind stinkreich. Die Gernot Hoch– und Tiefbau Aktiengesellschaft war kein Häuslebauer, sondern zog Wolkenkratzer in Dubai hoch und baute Straßen überall auf der Welt. Mein Vater vermischte also genug schlechten Beton, und Brüderchen würde eines Tages die Geschäfte weiterführen, wenn mein Vater die Zügel aus der Hand gab. Aber davon war er noch weit entfernt.

«Du kannst endlich auch einmal etwas für die Familie tun!» bellte er.

Als wenn die Familie je etwas für mich getan hätte, außer mir in meiner Kindheit ein Dach über dem Kopf zu geben und mich am Katzentisch durchzufüttern. Manche hielten dies für eine großzügige Leistung des Alten. Aber es bleibt etwas zurück, wenn man in einem Haus als Bastard aufwächst.

«Was soll ich in Afghanistan? Was stellst du dir vor?» fragte ich, um nicht nur die Weigerung im Raum stehen zu lassen. 

«Ihn suchen, was sonst!? Lösegeld übergeben. Immerhin geht es um deinen Bruder.»

«Halbbruder!» korrigierte ich. «Für solche Geschichten gibt es Behörden, die Verbindungen dorthin haben. Bestimmt gibt es bereits einen Krisenstab, dem du Beine machen kannst.»

«Das Außenministerium ist eingeschaltet, aber ich traue den Sesselfurzern in Berlin nicht. Bis die in die Gänge kommen, kann es zu spät sein.»

In dem Punkt war ich durchaus seiner Meinung, aber deswegen war ich noch lange nicht bereit, meines Bruders Hüter zu spielen, um einmal die Bibel zu bemühen. So besonders waren Detlef und ich auch nie miteinander ausgekommen, was noch leicht untertrieben ist. Mit Strebern und Arschkriechern habe ich schon immer Probleme gehabt.

«Du bist mein Sohn, Peter. Ich kann von dir verlangen, dass du herkommst und einmal Pflichten für die Familie übernimmst!»

«Ich habe mit deinem Laden nichts zu tun. Wenn du dem Krisenstab nicht traust, dann schick doch einen von deinen vielen hoch bezahlten Managern nach Afghanistan. Du hast doch genug Lakaien, die das gern für dich tun. Versprich eine Prämie, und du wirst dich vor Hilfswilligen nicht retten können.»

«Ich will, dass du das tust. Ich habe dich noch nie um etwas gebeten. Du kommst sofort her und fliegst dann  nach Kabul. Du bist mir das schuldig!»

Mit diesem Trompetenstoß glaubte er, mich weich gekocht zu haben. So heftig war er mir in letzter Zeit noch nie gekommen. Für die Familie war ich ein Thema, über das zu sprechen sich nicht lohnte. Als feststand, dass ich ein Versager war, setzte man eine unglückliche Miene auf, wenn irgendein Ahnungsloser das Gespräch auf mich brachte. Meine Stiefmutter seufzte immer, wenn sie mich sah, was besagen sollte, dass sie sich einen angenehmeren Anblick vorstellen konnte. Nur meine Stiefschwester Irene muss ich von all dem ausnehmen. Sie hat mir stets zur Seite gestanden, wenn es wieder einmal hoch herging, weil ich Vaters Erwartungen nicht erfüllt hatte. Sie war genau so ein rebellischer Geist wie ich und kein bisschen etepetete. Auch ihr ging die ganze hanseatische Gesellschaft und ihr Getue an ihrem Allerwertesten vorbei. 

Das Haus meines Vaters lag an der Rothenbaumchaussee, nicht unweit vom NDR. Es gibt in Hamburg zwar bessere Gegenden, aber es war das Haus meines Großvaters, und mein Alter gab nun einmal viel auf Tradition. Irene war nicht gerade in Ungnade gefallen, aber renommieren tat die Familie auch nicht mit ihr, zumal sie einen Pakistani geheiratet hatte, der in Vaters Bauladen Ingenieur war. Ein tüchtiger, netter Kerl. Dass er Muslim war, hatte sich nie als Problem herausgestellt. Ich hatte ihn auch nie auf einem Gebetsteppich rutschen sehen, und für Vaters Asiengeschäfte war er ein Glücksfall. Abdurrahman, den wir alle Abdu nannten, hatte Vater die besten Verbindungen nach Pakistan und Afghanistan eingebracht. Jedenfalls bauten wir Straßen und auch anderes im Fernen Osten. 

Nun wissen Sie, warum die Gernots als stinkreich gelten, was mir nichts nützte, da – wie mein Vater mir vielfach versichert hatte – ich nichts von ihm erwarten konnte. Nun, mein Schwesterchen teilte also meine Abneigung. Sie ähnelte rein äußerlich ein wenig Julie Christie in Doktor Schiwago, und in der Pubertät war ich ganz schön in sie verschossen gewesen. Nein, mehr war da nicht. Aber wenn sie nicht meine Stiefschwester gewesen wäre …

«Du kommst also sofort!» wiederholte mein Vater.

Ich war am Adlon angelangt, stoppte und wischte mir den Regen aus dem Gesicht. Der Portier eilte herbei und hielt mir einen Regenschirm über den Kopf.

«Ich muss erst sehen, dass ich einen Stellvertreter bekomme. Der Job ist erträglich. Ich habe keine Lust, ihn zu verlieren.»

«Job?» schnaubte Vater verächtlich. «Sieh zu, dass du es bis Morgen auf die Reihe bringst! Ich kümmere mich derweil um die Papiere. Dein Flieger geht in drei Tagen.»

«Was hat denn Detlef in Afghanistan zu suchen? Die Drecksarbeit lasst ihr doch immer vom Prekariat erledigen.»

«Er ist in der Nähe von Kandahar. Wir kommen dort seit Wochen nicht mehr voran. Er sollte dort mal den Hammer reinlassen.»

«Da traf er wohl auf den falschen Amboss», konnte ich mir nicht verkneifen.

«Rede kein dummes Zeug. Ich werde dafür sorgen, dass dich in Kabul der Sohn unseres Repräsentanten abholt. Wenn du dir ein Bild gemacht hast, werden wir beraten, was zu tun ist.»

«Also, ich weiß nicht», wehrte ich mich weiter. «Ich halte es für eine Schnapsidee, gerade mich dorthin zu schicken. Ich habe keine Ahnung von deinen Machenschaften dort. Schick doch Abdu hin. Dein Schwiegersohn ist Pakistani und wird dort besser zurechtkommen.»

«Abdu brauche ich hier. Er hat uns gerade das Dubaigeschäft gesichert und muss dafür noch einiges vorbereiten. Habe ich dich jemals um etwas gebeten? Na also. Du machst es.»

Der Alte war nicht dumm. Tatsächlich war es das erste Mal, dass er mich um etwas bat. Er wusste, dass ich mich dem nicht entziehen würde. Nun ja, irgendwie freute ich mich tatsächlich darüber, dass er mich brauchte.

«Was kann ich dort unten schon erreichen? Der Krisenstab hat doch Verbindungen zu Karsai, dem dortigen Präsidenten, und dessen Regierung hat, wie andere Entführungen gezeigt haben, Verbindungen zu den Mudjaheddin.»

«Kannst du nicht einmal, nur ein einziges Mal das tun, worum ich dich bitte?»

Noch nie hatte ich seine Stimme zittern hören, und so strich ich endgültig die Segel.

«Na schön. Ich bin morgen Mittag in Hamburg.»

«Komm gleich in mein Büro am Hafen.»

Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, warum er mich erst einmal in sein Büro zitierte. In seiner Machtzentrale fühlte er sich als Master of the Universe und hatte natürlich ein Heimspiel. Mit edlen Hölzern verkleidet, wirkte es wie das Büro eines Reeders. Er hatte dort sogar eine Wohnung, und es kam oft genug vor, dass er dort und nicht am Rothenbaum schlief. Ich nahm an, dass er dort auch seine Techtelmechtel abwickelte. In solchen Dingen war er sehr diskret. Meine Mutter hatte mir genug von seinen Schweinereien erzählt. Nun, obwohl weit über sechzig, schien er sich auch darin nicht geändert zu haben. Dass die Gernots ein Bauunternehmen im Hamburger Hafen, ein riesiges Areal mit ehemaligen Speichern besaßen, gehörte zu den dunklen Geheimnissen der Familie. Unser Großvater hatte es sich während des Dritten Reiches unter den Nagel gerissen. Ehemals gehörten das Gelände und die Speicher einem jüdischen Großreeder. Auch deswegen war ich einmal mit Vater aneinandergeraten. 

Wir Gernots sind eine zerstrittene Sippe. Mein Vater stand mit seinem Bruder überquer, weil dieser sich im Testament übervorteilt gefühlt hatte, und meines Vaters Schwester Lieselotte, die sich einst einen vornehmen Senator gekapert hatte, hielt meinen Erzeuger für einen Störtebeker, der auf den Richtblock gehörte. Nun wissen Sie alles über meine Familie. 

Besonders stolz konnte ich wirklich nicht auf sie sein. 

Auf meine Zusage antwortete er mit einem satten Grunzen. Begeisterungsstürme hatte ich von ihm auch nicht erwartet. Es begann also ganz harmlos. Dass daraus Odysseus’ Abenteuer werden sollten, war wirklich nicht zu erwarten gewesen.

2

So kam die Geschichte ins Rollen. Ich war der verdammte Odysseus und hatte keinen blauen Dunst, wohin ich segelte. 

Ich ging auf mein Zimmer, von dem ich einen hübschen Ausblick auf den Pariser Platz und das Brandenburger Tor hatte. Schmude ließ sich nicht lumpen. Ich duschte mich und rief meinen Boss beim Security–Service an und schilderte ihm meine Lage. Nachdem ich ihm erklärt hatte, worum es ging und ihm den Namen meines Vaters nannte, zierte er sich nicht lange und sagte mir zu, morgen einen Ersatz für mich zu schicken. 

«Aber passen Sie auf sich auf. Dort unten soll die Hölle los sein. Kabul ist jetzt unsicherer als Bagdad.»

«Sie wissen doch, Blut ist dicker als Wasser. Ich muss meinen Bruder dort rausholen.»

Blöder Schnack. Den Teufel musste ich. Aber ich hatte mich nun einmal breitklopfen lassen und konnte nicht mehr zurück. Als ich Schmude davon erzählte, machte der natürlich kein glückliches Gesicht. Er hatte es nicht gern, wenn sich in seinem Umkreis ohne sein Zutun etwas veränderte.

«Muss denn das sein? Müssen gerade Sie nach Kabul? Das kann doch auch jemand anders übernehmen.»

Ich war völlig seiner Meinung, aber die Sache war nun einmal so gelaufen.

«Mein Vater hat es sich in den Kopf gesetzt, dass ich der Richtige dafür bin.»

Als ich damit herausrückte, wer mein Vater ist, schwenkte er sofort um.

«Sie sind der Sohn des Hoch– und Tiefbau Gernot? Donnerwetter! Warum haben Sie das nie gesagt? Ich habe große Achtung vor dem, was Ihr Vater aufgebaut hat. Warum sind Sie Bodyguard? Ein Gernot?»

Er schaute mich an, als wäre ich der Kalif von Bagdad, der sich als Bettler verkleidet unter das Volk gemischt hatte. Ich war für ihn von nun an kein Ding mehr, sondern er behandelte mich zum ersten Mal wie einen richtigen Menschen. Ich sagte ihm natürlich nicht, dass ich der faule Apfel unter den Gernots war.

«Na schön, wenn morgen der Neue kommt und der so zuverlässig ist wie Sie, geht das in Ordnung. Aber sagen Sie Ihrem Boss, dass ich Sie wiederhaben will, wenn Sie zurück sind. Wir beide sind ja recht gut miteinander ausgekommen.»

Das war für Schmude schon ein gewaltiges Kompliment. Ich bemühte mich, ein erfreutes Gesicht zu zeigen. Schließlich geschah es nicht so oft, dass ein Möbel wie ich gelobt wurde.

Am Abend saßen wir im Restaurant des Adlon. Ich war gern dort, denn es hatte eine mediterrane Atmosphäre. Das Essen war ausgezeichnet, und ich bekam auf Schmudes Kosten Weine vorgesetzt, die ich mir mit meinem Bodyguardgehalt nicht leisten konnte. Aber nun denken Sie nicht, dass ich am gleichen Tisch saß und mich wie er besaufen konnte. Ich musste mich hinter ihm platzieren und dabei ständig die Gäste im Auge behalten, und mehr als zwei Gläser Wein waren nicht drin. Ich saß schließlich nicht zum Vergnügen im Adlon. Trotzdem ließ ich es mir wohl ergehen. Schmude sah es als Selbstverständlichkeit an, dass ich mich an der Küche des Adlon erfreute. Er tat dies jedenfalls nicht. Er futterte die Adlonente in sich hinein, als säße er an der Frittenbude am Kudamm. Wir saßen auf den besten Plätzen in der Ecke des Restaurants, von der man einen guten Ausblick hatte. Mein Gott, wie ich es liebte, hier zu sitzen und auf das golden schimmernde Tor zu schauen, das sich wie die Pforte eines Zauberschlosses aus der Dunkelheit schälte. Schmudes Gast war ein General a.D. Borstel, ein hoch gewachsener, schlanker Mann mit energischen Gesichtszügen und ergrautem Stoppelhaar, der sich sehr gerade hielt, als hätte er den Ladestock der ‚Langen Kerls’ des Soldatenkönigs verschluckt. Er vermittelte das Gefühl von Wichtigkeit und mühsam gezügelter Dynamik. So der Typ «Alles hört auf mein Kommando», wenn Sie wissen, was ich meine. Dabei war er nur noch ein Lobbyist mit fantastischen Beziehungen zu den Parteien, der sich von Schmude bezahlen ließ. Obwohl ich nicht am gleichen Tisch saß, konnte ich ihr Gespräch gut mitverfolgen. Am Anfang achtete ich nicht darauf, was die beiden ausbaldowerten, aber als das Stichwort «Afghanistan» fiel, hörte ich genauer hin.

«Es steht nicht gut in Afghanistan. Gar nicht gut!» hörte ich Schmude sagen. 

Er schüttelte dabei den Kopf und warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Er machte sich wohl mit dem Gedanken vertraut, dass mein Nachfolger eine Daueranstellung bekommen könnte. Ich tat so, als würde ich auf der anderen Seite des Saales den Flug einer Fliege verfolgen.

«Wenn sich die Taliban und al-Qaida mit den Warlords verbinden, sind unsere Männer dort verloren», stimmte Borstel zu. 

«Können wir nicht Panzer dorthin schicken?» kam Schmude auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. «Hundert Leopard, und das Pack hat keine Chance!»

«Damit haben es bereits die Russen versucht. Panzer würden höchstens zum Schutz der Städte etwas bringen. Unser Hauptproblem ist, dass wir zu wenig Leute dort haben. Die ISAF–Truppen sind ja nur eine Schutztruppe für ‚Sicherheit und Wiederaufbau’. Wir haben zu wenig Kampftruppen dort. Um Afghanistan zu halten, brauchten wir wenigstens hunderttausend Mann. Um zu siegen, mindestens vierhunderttausend. Aber die Politiker haben die Hosen voll und werden den Teufel tun, dort noch mehr Leute hinzuschicken. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist zu unpopulär, und die Burschen im Bundestag wollen schließlich wiedergewählt werden.»

«Wir verteidigen Deutschland am Hindukusch», entgegnete Schmude mit einem Zitat des ehemaligen Verteidigungsministers Struck.

«Absoluter Blödsinn. Man begegnet dem Feind besser im vertrauten Gelände. Außerdem kann man keinem Land Demokratie aufzwingen, zumal die Turbanträger nicht einmal kapieren, was das ist», brummte Borstel. 

«Mich erinnert die ganze Situation an Vietnam», sorgte sich Schmude.

«Ja. Es fehlt nur noch so etwas wie eine Tet–Offensive, und es werden eine Menge Särge nach Deutschland zurückkommen. Die Engländer und selbst die Russen haben Afghanistan nicht befrieden können. Die Engländer hatten im 19. Jahrhundert 16.000 Mann dorthin geschickt, und nur einer kam zurück. Lernt jeder Offizier», spielte Borstel sein militärisches Prestige aus. Er war schließlich General gewesen.

«Doch das war im 19. Jahrhundert! Die Feuerkraft unserer Truppen kann man doch mit denen der Briten damals nicht vergleichen.»

«Die Russen hatten damals mehr Feuerkraft dort als die Amerikaner heute. Sie haben es mit hunderttausend Mann versucht, und mussten wie verprügelte Hunde abziehen.»

«Richtig. Und was ist die Konsequenz?»

«Man muss sich mit den Taliban an einen Tisch setzen. Sonst erleben unsere Jungs dort einen heißen Tanz. Ich weiß nicht, wie sie aus dem Kessel Kabul herauskommen sollen. Die al-Qaida–Leute werden sich keinen Deut darum scheren, dass die ISAF überwiegend beim Aufbau geholfen hat.»

«Heißt das, es gibt nur die Alternativen: Entweder schicken wir dort mehr Jungs runter, oder wir ziehen ab?»

«Genau. Und geben ihnen an Material das Beste, was wir haben. Doch das kostet. Und die Stimmung in Deutschland ist dagegen, noch mehr Jungs runterzuschicken. Die Bevölkerung ist völlig ahnungslos, in welcher Gefahr sich die ISAF durch das Lavieren der Politiker befindet. Das gilt nicht nur für Deutschland.»

«Na, so schlimm wird es schon nicht werden. Es gibt doch sicher Evakuierungspläne.»

«Die gibt es. In mehreren Varianten. Eine sieht vor, nach Khost und durch die Tribal Areas nach Islamabad durchzubrechen. Aber die Tribal Areas gehören zur Hölle. Berge, so weit das Auge reicht, und vor allem: es ist al-Qaida–Land. So ein Durchbruchversuch wäre irrsinnig. Die Truppe würde in den Bergen umkommen. Der andere Weg führt von Kabul nach Bagram. Aber das ist genau so blödsinnig, weil die Passstraßen ohne große Schwierigkeiten von den Taliban abgesperrt werden können. Kabul ist eine Mausefalle. Wenn man eine Truppen– und Materialverstärkung nicht durchsetzen kann, gibt es nur eine Antwort: Die Truppen evakuieren, ehe es zu spät ist.»

«Aber dafür wären Politiker wie der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt notwendig. Männer, die einen Krieg miterlebt haben. Doch wenn Afghanistan verloren geht, könnte al-Qaida dort noch mehr Anhänger ausbilden. Ganz Zentralasien würde an die Islamisten fallen.»

«Pakistan wird ohnehin bald an die Islamisten fallen. Die Taliban rekrutieren dort bereits tausende von Kämpfern. al-Qaida ist bereits in der Bundesrepublik. Aber hier – auf unserem Territorium – können wir die Mörderbande besser bekämpfen als in den Bergen Asiens. Wenn es uns wirklich um die Menschen dort geht, dann hilft nur Klotzen und nicht Kleckern. Selbst dann wird es eine Generation dauern, ehe Menschen herangewachsen sind, die sich an unseren Werten orientieren.»

«Dann müssen wir die Politiker bearbeiten, Material dorthin zu schicken, zumindest besseres», sagte Schmude energisch,  winkte dem Ober zu und bestellte die zweite Flasche Mouton–Cadet. Klar, dass ihm diese Alternative am besten gefiel. German Metal brauchte Aufträge.

«Ich werde es bei den Christdemokraten versuchen. Die Sozis zu bearbeiten hat keinen Sinn. Die werden bald wieder ihre Friedensliebe entdecken.»

«Besteht die Möglichkeit, dass die Amerikaner klein beigeben?» sorgte sich Schmude.

«Nein. Auf keinen Fall. Sie wollen schließlich eine Öl–Pipeline von Usbekistan durch Afghanistan bis ans Arabische Meer bauen. Das große Spiel geht heute ums Öl. Aber selbst die militärische Kraft der USA reicht nicht aus, um Afghanistan zu befrieden. Man wird unsere bürgerlichen Parteien zum Teufel jagen, wenn hier passiert, was ich befürchte. Bei uns wird dann die Linke zu einer bestimmenden Kraft  werden.»

«Sie glauben wirklich, dass die Roten …? Aber die sind doch am Ende.»

«Das kann sich ändern. Eines Tages wird sich die Bevölkerung nicht mehr gefallen lassen, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinanderklafft. Wir sind doch unter uns: Sie, Herr Schmude, haben doch mehr Macht als eine Bundeskanzlerin. Die Konzerne beherrschen heute die Welt. Der Bevölkerung geht es immer schlechter und den Aktionären immer besser, und wenn dann noch zu viele Särge nach Hause kommen, dann möchte ich mal sehen, was hier los ist.»

«Zuviel der Ehre!» winkte Schmude ärgerlich ab. «Wir bewegen uns in den Leitlinien, die die Politik vorgibt. 

«Ach, hören Sie doch auf!» entgegnete Borstel lachend. «Von sozialer Marktwirtschaft kann doch heute keine Rede mehr sein. Es geht ums Geld». 

«Ihnen geht es doch auch ums Geld», höhnte Schmude. 

«Klar», gab der General lächelnd zu. «Aber ich mache mir keine Illusionen, wie es um diese Gesellschaft steht. 

«Glauben Sie, dass Sie Chancen haben, Unterstützung dafür zu finden, dass wir mehr Material nach Afghanistan schicken?» fragte Schmude unbeeindruckt.

«Machbar!» versicherte Borstel. «Material werden sie gern schicken, wenn sie nur nicht mehr Männer schicken müssen.»

«Machen Sie sich an die Arbeit!» erwiderte Schmude zufrieden und prostete dem General a.D. zu.

Dann ging es um neue, besser gepanzerte Fahrzeuge, um Geländewagen und Helikopter, und ich hörte nicht mehr hin. Nach der dritten Flasche waren sie beide ganz schön bedient und nun in der Stimmung, das Berliner Nachtleben zu genießen. Ich musste natürlich mit, damit sich Schmude dabei sicher fühlte.

Es ging mit dem Taxi zum Kurfürstendamm und gegenüber dem Kempinski zu einer Bar, die zu seinen Lieblingsetablissements gehörte. Es war dort so dunkel und eng wie in einem U–Boot, und es roch muffig nach Rauch und Alkohol. Auf einer Bühne mühte sich ein Mädchen mit Verrenkungen ab, die es wohl als erotisch ansah. Die beiden setzten sich an die Bar und wurden gleich von Mädchen umringt. Natürlich versuchten sie es auch bei mir, aber ich winkte ab. Ich war schließlich im Dienst. Schmude und Borstel verschwanden in den Separées. Ich bestellte mir einen Kaffee. Die Bardame sah mich mitleidig an, eine große Blondine mit einem beachtlichen Dekolleté und warmen, braunen Augen, gegen die ich nichts einzuwenden hatte.

«Scheißjob, was?» fragte sie, als sie mir den Kaffee über die Theke schob.

«Manchmal», gab ich zu. 

Sie beugte sich weit vor, damit ich ihren Vorderbau besser betrachten konnte. Es war ein erfreulicher Anblick,  ich machte reichlich Gebrauch davon, und sie freute sich darüber. 

«Ich heiße Samantha. Gibst du mir einen aus?» bekam ich auch gleich die Rechnung für meine tiefsinnige Betrachtung ihrer weiblichen Vorzüge präsentiert.

«Was kostet mich das?»

Sie nannte den Preis. Sie hatte mir ein recht kostspieliges Sightseeing gestattet, aber um die Zeit totzuschlagen, bestellte ich ein Piccolo.

«Dein Chef ist wohl ein wichtiger Mann?»

«Er geht davon aus.»

«Hast du ihn denn schon einmal beschützen müssen?»

«Nein. Ich stehe nur so herum, damit jeder sieht, dass er ein wichtiger Mann ist.»

«Du hast noch niemals einen Attentäter erschossen?»

«Nein. Das Aufregendste, was mir passiert ist, das war, einen Popstar vor kleinen Mädchen zu retten.»

Sie wollte den Namen wissen, aber Diskretion gehört zu meinem Job. Trotzdem legte sich der Mantel des Ruhmes des ihr unbekannten Popstars auf meine Schulter,  sie nahm meine Hand und gurrte:

«Was für ein aufregendes Leben du führst.»

«Eigentlich nicht.»

«Hast du eine Waffe bei dir?» fragte sie und deutete auf die ausgebeulte Stelle an meiner linken Schulter.

Ich nickte.

«Kann ich die mal sehen?»

Diese Bitte hatte ich von Frauen schon öfter gehört. Offensichtlich hat ein Revolver auf sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Von wegen zweiter Penis und so. Aber davon habe ich zu wenig Ahnung; ein Freudjünger kann dies besser beantworten. Ich schüttelte den Kopf. So unprofessionelles Gehabe lag mir nicht. 

«Schade. Ich hätte gern mal so einen Revolver gesehen», schmollte sie und trank das Glas aus. Bevor ich meine halbe Tasse Kaffee ausgetrunken hatte, war sie schon auf dem Grund des Piccolo.

«Du hast einen ganz schönen Zug», staunte ich.

«Das gehört zu meinem Beruf. Gibst du noch ein Fläschchen aus? Auf einem Bein steht man schlecht.»

«So viel verdiene ich nicht.»

«Ach komm. Sei kein Spielverderber, sonst muss ich mich um andere Kerle kümmern. Und du gefällst mir.»

Es war ja nicht so, dass sie mir nicht gefiel.

«Na gut, schreib sie auf das Konto vom Chef.»

«Klar. Mach ich doch. Der wird ohnehin eine Rechnung bekommen, bei der die Piccolöchen nicht weiter auffallen.»

Nun drängte eine Gruppe stiernackiger Männer in die Bar, die meine Statur hatten und Fäuste wie die Klitschko–Brüder. Ich konnte nur hoffen, dass sie so friedliche Kerle waren wie die beiden Klitschkos.

«Schon wieder die Russen», seufzte meine blonde Sirene. 

Einer der Burschen, der größte von ihnen mit einigen Brillanten an den Fingern, Nasenflügeln und Ohrläppchen, drängte sich zum Tresen durch und fragte die Bardame:

«Wo ist Elvira?»

«Hat Kundschaft.»

«Wo ist sie?» wiederholte er mit schwerer Zunge.

Sie nickte mit dem Kopf zu den Separées. Der Kerl war, ehe ich ihn davon abhalten konnte, mit wenigen Schritten bei dem Separée und zog den Vorhang beiseite. Die ganze Bar konnte sehen, wie zwei Mädchen vor Schmude und Borstel knieten und sie ordentlich bedienten. Sie sahen mit ihren heruntergelassenen Hosen lächerlich genug aus. Der Russe stieß einen gurgelnden Laut aus und zerrte das Mädchen an den Haaren von meinem Dienstherrn fort. Mir blieb nichts anderes übrig, als mein Geld zu verdienen. Ich nahm den Russen bei der Schulter, riss ihn herum und gab ihm einen ordentlichen Kinnhaken. Leider schien ihn dies nicht sonderlich zu beeindrucken. Er ließ das Mädchen los und stürzte sich auf mich. Er schrie dabei etwas seinen Kumpels zu, und diese waren auch nicht faul und griffen mich von hinten an. So etwas habe ich oft genug trainiert. Ich verpasste meinem liebeshungrigen Russen einen Handkantenschlag, einen anderen warf ich über die Schulter, sodass einige Stühle und Tische durch die Bar flogen. Trotzdem hätte es jetzt brenzlig werden können, da die anderen nicht besonders eingeschüchtert wirkten und  auch ihren Spaß wollten.

«Ganz ruhig!» herrschte ich sie an und zog den Revolver.

Natürlich hatte ich nicht die Absicht, damit herumzuballern, aber nach meiner Erfahrung beruhigte eine Smith & Wesson ganz ungeheuer die Gemüter. Der Brillanteniwan hatte jedenfalls genug,  rappelte sich auf und winkte beschwichtigend ab. Die Russen verließen fluchend die Bar. Nicht alle der Mädchen in dem Etablissement machten darüber ein zufriedenes Gesicht. Ich steckte den Revolver weg und lächelte meiner Sirene zu.

«So. Jetzt können Sie mir einen Chivas bringen.»

«Mach ich doch, mein Held. Der geht auf Rechnung des Hauses. Ich kann die Schläger nicht ausstehen.»

Ein dünner, etwas klapprig aussehender Ober räumte vor sich hinfluchend die Tische und Stühle zurecht. Ich sah zum Separée hinüber. Der Vorhang war wieder zugezogen. Die beiden hatten Nerven oder es zumindest sehr nötig. Doch dann waren die Mädchen wohl doch noch zum Erfolg gekommen, denn Schmude und Borstel kamen mit roten Köpfen hinter dem Vorhang hervor.

«Haben Sie es denen gegeben?» fragte mich Schmude.

«War kein Problem, Chef», erwiderte ich und nippte betont gleichmütig an meinem Chivas. Wenn man was Gutes im Glas hat, sollte man sich nicht stören lassen. Ein Chivas gehört neben einem zwölfjährigen Ballentines und dem etwas schärferen Glenfiddich zu meinen Lieblingswhiskys.

Schmude klopfte mir gönnerhaft auf die Schulter.

«Gut gemacht. Schade, dass ich Sie verliere.»

«Waren Sie bei den Fallschirmspringern?» fragte mich Borstel. 

Plötzlich existierte ich also für den Herrn General. Vorher hatte er mich keines Blickes gewürdigt. 

«Nein. Man muss nicht bei der Bundeswehr gewesen sein, um mit ein paar Grobianen fertig zu werden.»

«Sie hätten bei den Spezialeinheiten etwas werden können», sagte er bedauernd. Für ihn war ich falsch eingesetztes Menschenmaterial.

«Möglich. Aber der Verdienst ist mir dort zu mager.»

«Ja. Mein Gernot kostet mich eine Stange Geld», bestätigte Schmude, aber es klang nicht so, als wenn er dies sehr bedauerte.

«Das mein Chef einstreicht. Ich bekomme nur ein Nasenwasser davon», stellte ich richtig.

«Es waren fünf Mann, und er wurde mit ihnen fertig. Unser Erich draußen, der auch nicht von schlechten Eltern ist, hätte sich nie mit den Bullen angelegt», lobte mich die Bardame. 

Glauben Sie nicht, dass mir dies viel bedeutete, aber es war ganz gut, dass Schmude erfuhr, was er an mir hatte. Von wegen Berufsehre und so. Die beiden Herren tranken noch ein paar Cognacs und waren dann in jeder Beziehung bedient, und wir fuhren zurück ins Adlon. Ich spielte Kindermädchen und schleppte Schmude in seine Suite. 

«Tut mir leid, dass ich Sie verliere», brabbelte er noch auf dem Flur.

«Schätze, dass ich in vierzehn Tagen zurück bin. Sie können ja dann meinem Chef sagen, dass ich Ihnen wieder zugeteilt werde.»

«Wenn Sie wieder zurück sind, Gernot, wenn… Sie gehen da in einen Höllenpfuhl, kann ich nur sagen. Voller Schlangen, Skorpione, Ratten und …»

Mehr fiel ihm in seinem Zustand dann doch nicht ein. Aber mir reichte die Aufzählung an Scheußlichkeiten. Täuschte ich mich, oder war in seiner Stimme tatsächlich so etwas wie Häme? Jedenfalls hörte es sich nicht nur besorgt an. Wahrscheinlich wurmte es ihn, dass ich ihn mit heruntergelassenen Hosen gesehen hatte. Nachdem ich den schwankenden Kerl in sein Zimmer bugsiert und ihn auf das Bett gelegt hatte, fuhr ich mit dem Fahrstuhl noch einmal nach unten. 

An der Bar des Adlon hingen noch einige Typen auf den Barhockern. Ich bestellte mein zweites Glas Chivas. Ich fand, ich hatte es verdient. Der Kerl neben mir quatschte mich an und fragte, welches die geilste Bar in Berlin sei. Ich mochte ihn nicht. Er war von der Sorte Jungmanager. Dunkler Anzug, gegeltes Haar, dicke Uhr am Handgelenk. Ich sagte ihm, dass ich mich darin nicht besonders gut auskenne,  ließ den Chivas auf die Zimmerrechnung schreiben und ging hinaus, um noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Der Portier fragte mich, ob er ein Taxi rufen solle, aber ich schüttelte den Kopf. Ich ging den Boulevard hinunter bis zur Charlottenstraße, am Regent vorbei zum Gendarmenmarkt. Der Platz war leer, aber die beiden Dome waren angestrahlt. Die Engel auf den Löwen lagen geheimnisvoll im Dunkel. Ich ging die Stufen des Schauspielhauses hoch, lehnte mich gegen eine Säule und rauchte eine Partagas Club. Es war schön, auf dem Platz allein zu sein und nur Engel als Zuschauer zu haben. Ich wünschte mir, so viel Geld zu besitzen, dass ich mir gegenüber eine Wohnung leisten könnte. Aber mit meinem Gehalt war ich froh, wenn ich einen Monat ohne Miese auskam. Na ja, wenn ich mit meinem Alten besser stünde, wäre dies kein Problem. Aber ich hatte keine Lust, mit ihm besser auszukommen, dann hätte ich so werden müssen wie das Brüderchen. Ich dachte an Detlef und fragte mich, wie es ihm wohl bei den Mudjaheddin gehen mochte. Hoffentlich war er nicht al-Qaida in die Hände gefallen. Ich mochte Detlef nicht, aber in den Bergen Afghanistans gefangen zu sein, war mit Sicherheit kein Zuckerschlecken. Das wünschte ich nicht einmal diesem Früchtchen, das ich oft genug zum Teufel geschickt hatte. Seine Schleimscheißerei und Wichtigtuerei waren mir schon als Kind auf den Keks gegangen. Ich hatte keine Ahnung, wie ausgerechnet ich ihm in Afghanistan helfen konnte. Und wenn ich dazu zählte, worüber Schmude und Borstel im Adlon gesprochen hatten, dann begab ich mich tatsächlich in eine Schlangengrube. War nicht auszuschließen, dass ich zu denen gehörte, die man in einer Kiste zurückschickte. 

Mit diesen Gedanken ging ich vom Gendarmenmarkt zurück zu den Linden. In der russischen Botschaft brannte noch Licht. Neben dem Wachhäuschen vor der Botschaft schob ein Polizist Wache. Alle Botschaften der Großmächte wurden bewacht. Vor der englischen Botschaft hatte ich auch einige Polizisten gesehen. Indirekt hing dies auch mit Afghanistan zusammen. Wir befanden uns im Krieg, und die Politiker sagten der Bevölkerung nicht, was tatsächlich in Afghanistan los war und welche Konsequenzen dies forderte. Die Medien berichteten auch nur, was «embedded» Journalisten dort erfuhren. Und ich hatte nun vor, mich ausgerechnet in dieses Schlangennest zu begeben. Ich kannte eine Menge Reiseziele, die mehr Spaß versprachen.

3

Ich bin Hamburger. Nicht nur, weil ich in Eppendorf zur Welt gekommen bin, sondern durch die handfesten Regeln, die mir meine Mutter mitgegeben hat. Ich bin für klare Verhältnisse, stehe zu meinem Wort und hüpfe nicht gleich auf jede Palme, was mir von etwas leichtfertigen Mädchen den Ruf einbrachte, etwas langweilig zu sein. Jedes Mal, wenn ich am Hamburger Hauptbahnhof ins Taxi steige und das vertraute Idiom der Hamburger höre, geht mir das Herz auf. Wenn wir dann an der Binnenalster vorbeifahren und ich das Hotel Vierjahreszeiten sehe, weiß ich, dass ich Zuhause bin. Ich erinnere mich dann jedes Mal an jene alkoholgeschwängerte Nacht in der längst entschwundenen Jugend, als ich mit meinem Freund Dieter und unserer gemeinsamen Freundin Marianne früh am Morgen mitten auf dem Jungfernstieg bis hin zum Hotel Vierjahreszeiten tanzte. 

Ich sagte also auch diesmal dem Taxifahrer, dass er einen Umweg um die Binnenalster fahren sollte. Das Wetter war wie für meinen Empfang gemacht. Die Sonne schien, und auf dem Wasser explodierten Millionen kleine Flammen. Ich fuhr nicht, wie Vater es verlangt hatte, gleich in sein Kontor am Hafen, sondern zu unserem Haus an der Rothenbaumchaussee. Als ich durch den Garten auf das säulenumrahmte Portal zuging, war mir doch ein wenig wehmütig zumute. Ich war schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Meine Stiefmutter empfing mich wie immer mit einem kühlen «Ach, du bist es, Peter!» und schlug die Hände zusammen. Sie wusste nichts mit mir anzufangen und fragte nur besorgt: «Warst du schon bei Vater?»

«Nein. Das habe ich mir noch erspart.»

«Er erwartet dich!» sagte sie vorwurfsvoll. Dann kam die ewig gleiche Tirade, dass mein Vater es doch nur gut mit mir meine, ich ihm das nie gedankt hätte und ähnliches. Ich nahm es gleichmütig zur Kenntnis. Sie war trotz ihrer Jahre immer noch eine schöne Frau, wenn sie es auch mit der Kosmetik übertrieb und ihr Goldschmuck stets zu üppig ausfiel. Sie war eine ängstliche Seele, die ständig von ihrem Mann unter Druck gehalten wurde. Auch diesmal hatte sie Angst, dass er mit schlechter Laune nach Hause kommen und diese an ihr auslassen würde. Ich ging in mein Zimmer. Obwohl ich seit Jahren nicht mehr hier gewesen war, befand es sich im gleichen Zustand. Es war das Zimmer eines jungen Mannes, der ich längst nicht mehr war. An der Wand hingen Poster von Che und Zeichnungen von Picasso mit den wunderlichen Stiermenschen der griechischen Mythologie. Natürlich billige Reproduktionen. In unserem Wohnzimmer hingen Originale. Kokoschka und Nolde. Vater konnte sich so etwas leisten. Auf dem alten Schreibtisch aus Vaters Kontor, den er mir in einer Anwandlung von Großzügigkeit überlassen hatte, standen Fotos meiner Lieblingsschriftsteller Thomas Wolfe, William Faulkner und F. Scott Fitzgerald. Ich ging an das Bücherregel und nahm ‹Absalom, Absalom!› heraus, das von einem Vater handelte, der einen Sohn zuviel gezeugt hatte. 

Die Tür hinter mir ging auf. Irene stürzte herein und drückte mich an sich, und ich bekam als Zugabe ein paar feuchte Küsse.

«Schön, dich Teufelskerl wieder einmal zu sehen!»

Sie hätte wirklich glatt als Double von Julie Christie durchgehen können. Sie war das erste Mädchen, das ich bereits als Zwölfjähriger richtig gut fand. Mit ihr konnte man Fußball spielen und über die Dächer klettern, und auf Bäumen stellte sie sich auch ganz ordentlich an. Wir hielten schon damals immer zusammen, und sie  tröstete mich, wenn ich mir mal wieder wie ein ungebetener Gast im Hause meines Vaters vorkam. Sie war der einzige Mensch, für den es sich lohnte, in die Rothenbaumchaussee zurückzukommen.

«Du gehst doch hoffentlich nicht auf Vaters verrückte Vorstellungen ein!» kam sie gleich auf den Punkt.

«Du weißt davon?»

«Ja. Als die Nachricht kam, dass Detlef entführt ist, hat Paps geschrien, dass du zum ersten Mal zu etwas nütze sein könntest und so weiter. Du kennst ihn ja.»

Sie setzte sich zu mir auf den Schreibtisch und drückte meine Hand. Ihre blauen Augen sahen mich beunruhigt an.

«Du gehst doch nicht nach Afghanistan?»

«Ich habe mich breitschlagen lassen. Außerdem ist es vielleicht eine ganz angenehme Abwechslung.»

«Du bist verrückt!» erwiderte sie und stieß mir in die Rippen. «Sprich mit Abdurrahman. Der wird dir sagen, was dort los ist. Er hält Vaters Idee für Wahnsinn. Mehr als der Krisenstab in Berlin kannst du in Kabul auch nicht ausrichten. Im Gegenteil. Du würdest nur stören, meint Abdurrahman. Und ich will nicht, dass mein Lieblingsbruder in den Bergen Afghanistans umkommt.»

«Lieb von dir. Wenigstens einer, der sich um mich Sorgen macht und nicht um den Erben.»

«Detlef kann ja nichts dafür, dass Vater ihn vergöttert», erwiderte sie in ihrem für sie typischen Gerechtigkeitssinn.

«Nein, Detlef ist die bessere Ausgabe eines Gernot–Sprösslings. Er kann alles, ist eloquent, natürlich hochanständig und eine Zierde des Menschengeschlechts», sagte ich ein wenig bitter; auch deswegen, weil er wirklich einige Eigenschaften hatte, die ich nicht aufweisen konnte. Ihm fiel das Lernen leicht, er hatte sein Studium glänzend abgeschlossen. Er hatte so eine Art, dass jeder dachte, wäre doch mein Sohn wie er. Etwas Strahlendes ging von ihm aus. Schon als Jugendlicher kleidete er sich wie ein Erwachsener, und sein «Summa cum laude» war nur eine von vielen Bestätigungen, dass er Vaters würdiger Nachfolger sein würde. Natürlich war er Studentensprecher und Vorsitzender der Studentenvereinigung gewesen, und natürlich würde er Senator werden, wenn nicht mehr, sollte er sich dies in den Kopf setzen. Wenn man schon als Kind so einen vollkommenen Tausendsassa ständig vor der Nase hat, dann setzt sich schon eine Menge Frust in einem fest, und ich habe Brüderchen so manches Mal eine blutende Nase verpasst. 

«Mir tut er leid. Seine Verlobte Patricia muss sicher Höllenqualen leiden. Du wirst sie heute Abend kennen lernen. Sie wollen demnächst heiraten.»

«Ach ja? Und wer ist sie?»

«Die Tochter des Bausenators, du verstehst?»

Ich verstand. So läuft das. Detlef machte alles richtig.

«Sie ist eine Schönheit», sagte Irene. «Aber ich weiß nicht, ob das mit den beiden gut geht. Detlef ist ja total auf Vater und die Firma fixiert. Patricia ist dagegen sehr kapriziös. Es wird zwischen den beiden schon bald ganz schön krachen. Sie hat in Paris studiert und in New York in einem Architekturbüro volontiert. Gala und Bunte haben die ‚Tochter aus gutem Hause’ auch schon entdeckt.» 

«Und, was hältst du von ihr? So als Mensch?»

«Ich mag sie. Sie ist ein unabhängiger Geist. Ihr Schicki–Micki–Getue ist nur die eine Seite ihres Charakters.»

Ich staunte, dass Irene trotz Schicki-Micki für diese Patricia Partei ergriff. Meine Stiefschwester war keine, die viel auf Ansehen und Reichtum gab. Schon gar nicht konnte sie sich für Modepüppchen aus der High Society erwärmen. An Detlefs Zukünftiger musste also etwas dran sein. Ich war nun doch ein wenig auf Brüderchens Braut neugierig.

«Na schön. Und wie läuft es bei dir?»

«Meine Ehe ist schon in Ordnung», erwiderte sie trocken.

«Immer noch die große Liebe?»

«Unverändert. Abdurrahman ist ein Schatz. Er ist ein Gentleman. Ein feiner Mensch … und ein großartiger Liebhaber, falls du das wissen wolltest», gestand sie lachend.

Wir standen so zueinander, dass wir uns sogar intime Dinge erzählten. Sie wusste über meine verkorkste Ehe bestens Bescheid und hatte mir von Anfang an prophezeit, dass es mit der bigotten Kirchgängerin nicht gut gehen würde. 

«Du willst doch nicht wissen, wie wir es im Bett treiben?» setzte sie mit funkelnden Augen hinzu.

«Lass man. Aber wenn es zwischen euch stimmt, bin ich froh.»

«Und was läuft bei dir?»

«Nichts Festes. Im Moment läuft gar nichts. Nach meiner Ehe bin ich etwas vorsichtig geworden, was feste Bindungen betrifft.»

«Ich wusste, dass dein Ehegespons nur auf den Gernot–Erben scharf war. Als sie merkte, dass du das schwarze Schaf bist, war es mit der großen Liebe vorbei.»

«Stimmt. Als sie merkte, dass ich nicht zu denen am Futtertrog gehöre, hat sie sich schnell anders orientiert. Immerhin ist mein Nachfolger Mitglied einer Autodynastie.»

«Denkst du manchmal noch an sie?»

«Nein. Nie. Manchmal träume ich von ihr. Und das sind meistens keine guten Träume.»

«Es bleibt immer etwas zurück, mein Lieblingsbruder. Du solltest dich nach einer neuen Liebe umsehen», sagte sie und legte den Kopf auf meine Schulter und gab mir einen zärtlichen Kuss auf meine Schläfe. 

«Mit einem Bodyguardgehalt lässt sich kaum eine Familie ernähren.»

«Denk nicht so materialistisch. Wenn man liebt, wirklich liebt, spielt Geld keine Rolle. Doch du solltest jetzt ins Kontor fahren, sonst ist der ‚König des Betons’ heute den ganzen Abend grantig, und Mutter muss es ausbaden. Übrigens, der dunkle Anzug steht dir gut. Früher trugst du doch nur Jeans und Polohemden.»

«Arbeitskleidung. Wenn man neben Managern oder Politikern herläuft, muss man so aussehen wie diese.»

«Und wie sind diese Leute?»

«Reich, mächtig und … langweilig.»

Als ich das Arbeitszimmer meines Vaters betrat, empfing er mich hinter seinem großen Schreibtisch. Ich war schon lange nicht mehr in seinem Allerheiligsten gewesen. Aber es war unverändert. Stellen Sie sich einen englischen Club vor, dann wissen Sie, wie es bei ihm aussieht. Viel Mahagoni, blinkendes Messing und fette, rotbraune Sessel; an der Wand ein paar Stiche von Hamburg und Bilder von alten Luxuslinern. Es hätte auch das Büro eines Reeders sein können, aber mein Vater war nur ein skrupelloser Baulöwe, immerhin in der zweiten Generation. Mein Großvater gehörte zu denen, die Deutschland wieder aufgebaut haben. Vorher hatte der Sturmbannführer ehrenhalber viel Geld mit Bunkern gemacht.

Er sah immer noch gut aus und hätte mit seinem nordischen Aussehen einen guten hanseatischen Bürgermeister abgegeben. Blondes, volles Haar, blaue Augen und die Statur einer Eiche. Nur um seine Mundwinkel lagen tiefe Kerben. Sein energisches Kinn mit dem tiefen Grübchen verriet, dass man sich mit ihm besser nicht anlegte. 

«Da bist du ja endlich!» empfing er mich ungnädig. «Dein Zug ist doch bereits vor Stunden angekommen.»

«Ich habe schon einmal in der Rothenbaumchaussee vorbei gesehen und Irene begrüßt», erwiderte ich ungerührt, warf mich in den Sessel und lümmelte mich hinein. Ich wusste, dass ihn dies ärgern würde.

«Ich habe dir doch gesagt, dass …», wollte er anfangen, aber besann sich dann. Schließlich wollte er etwas von mir. 

«Hast du. Aber ich wollte vorher Irene sehen. Übrigens, ich halte deine Idee, mich nach Afghanistan zu schicken, immer noch für Schwachsinn.»

«Das zu beurteilen überlass denen, die mehr Grips im Kopf haben als du.»

«Aber ich soll meinen gripslosen Kopf hinhalten.»

«Es geht um deinen Bruder. Wir müssen ihn schnellstens herausholen.»

«Mein Halbbruder», korrigierte ich ihn. «Detlef ist mir so egal wie ich ihm.»

«Was redest du? Die Familie muss zusammenhalten.»

Da war es wieder, das Einschwören auf die Familienbande. Dabei hatte ich in den letzten Jahren nicht einmal eine Weihnachtskarte bekommen. Zugegeben, ich hatte auch nicht daran gedacht, meiner Familie zu schreiben. Aber Familiensinn hatte ich bei den Gernots bisher nie festgestellt.

«Also, ich stelle mir das so vor», begann mein Vater, mir umständlich seinen großen Kriegsplan zu erklären. Breitbeinig, mit verschränkten Armen, ganz Bau–Tycoon, schwadronierte er durch seine Luftschlösser.

«Du stellst Kontakt zu den Entführern her. Faiz, der Sohn unseres Repräsentanten Sayed Khan, wird dir dabei helfen. Er weiß schon Bescheid. In der Schweiz liegen fünf Millionen Euro für dich bereit. Konto und Pin–Nummer bekommst du nachher. Wenn du mehr Geld brauchst, meldest du dich. Aber ich glaube, der Betrag dürfte reichen. Biete zuerst mal nur dreihunderttausend Euro an. Man soll die Kerle nicht überfüttern, und die Orientalen haben ja Freude am Feilschen. Wir wollen ihnen den Spaß nicht verderben, nicht wahr? Wenn ich mir die früheren Entführungen ansehe, dürften wir – Schmiergelder und so weiter eingerechnet – mit einer Million wegkommen. Aber spare nicht am falschen Ende.»

«Du machst eine Menge Geld für Brüderchen locker!» staunte ich. Mit solchen Summen hatte ich noch nie zu tun gehabt, und die Verantwortung dafür gefiel mir gar nicht.

«Es geht um meinen Sohn», erwiderte Vater pathetisch. 

Auch eine Erklärung, die nicht gerade meine Stimmung verbesserte. Er meinte damit wohl seinen legitimen Sohn. 

«Um ihn herauszuholen, wären mir zehn Millionen nicht zu viel. Wir sind schließlich nicht die Ärmsten», setzte er grinsend hinzu.

Er war eben ein Parvenü. Ein echter Hanseat prahlt nicht mit seinem Vermögen. Aber wir Gernots waren ja erst in der zweiten Generation Pfeffersäcke. 

«Die Papiere habe ich bereits. Du kannst übermorgen fliegen. Faiz wird dich vom Flughafen abholen. Vermassle es nicht. Wenigstens einmal möchte ich stolz auf dich sein. Wenn du das ordentlich hinbekommst, hast du so manche Enttäuschung wettgemacht. Du brauchst dich dann nicht mehr als Bodyguard verdingen. Wir werden etwas Passendes für dich in der Firma finden.»

Typisch für meinen Alten. Nun wollte er mich kaufen. Er dachte, Geld regelt alles, bei Detlefs Entführung und auch bei mir. Ich hatte nichts dagegen, vom Gernot–Kuchen ein gutes Stück abzubekommen, aber nicht um den Preis der Unterwerfung. Er merkte, dass ich nicht gerade in Euphorie geriet und verzog unwillig das Gesicht. 

«Unter tausend jungen Burschen würden neunundneunzig Prozent über das Angebot glücklich sein, aber für dich bedeutet es wohl nichts!»

«Nicht so viel wie deinen neunundneunzig Prozent», gab ich zu. «Warten wir mal ab, wie es ausgeht, und ob du dann noch dazu stehst. Doch mach mir keine Vorwürfe, wenn es nicht klappt. Was ich bisher über Afghanistan gehört habe, klingt nicht besonders gut.»

«Du bist die zusätzliche Option. Natürlich bleibe ich mit dem Krisenstab hier in Verbindung. Du wendest dich an Bromke in der Deutschen Botschaft in Kabul. Ich habe schon mehrmals mit ihm telefoniert. Scheint ein tüchtiger Mann zu sein. Er ist uns verpflichtet.»

Toll. Wir hatten wohl überall Leute, die den Gernots verpflichtet waren. Ich zuckte mit den Achseln. 

«Er wird alles tun, um uns zu helfen», versicherte mein Vater, missmutig über meine Reaktion. «Er ist schon seit Jahren in Kabul und der Erste Sekretär des Botschafters.» 

«Was kann das schon für ein Kerl sein, wenn er in den letzten Hinterhof geschickt wird», ärgerte ich den Alten. 

«Wie dem auch sei», fuhr er ärgerlich abwinkend fort. «Sprich mit Abdu. Er müsste in seinem Büro sein. Er kann dir sicher so manches über Afghanistan erzählen. Pakistan und Afghanistan sind wie Topf und Deckel. Vielleicht hat Irenes verrückte Heirat in diesem Fall etwas Gutes.»