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Ende der 1930er Jahre verlässt das Starlett Lorna del Rio nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer sechsjährigen Tochter Jessie überstürzt Hollywood. Sie flüchten in den großen Nordwesten, Richtung Yukon und Alaska. Ihre Reise führt sie durch ein Land, das von Legenden geprägt ist: Legenden der First Nations und der indigenen Bevölkerung, der Goldsucher und Trapper, der Western, Märchen und Abenteuerromane. Ausgestattet mit einer mysteriösen Karte, dem gestohlenen Geld von Jessies verstorbenem Vater und einem Gewehr stellen sich Mutter und Tochter der Wildnis und ihrer eigenen Vergangenheit. Schutzlos der Natur ausgeliefert und verfolgt von Kopfgeldjägern rettet die Begegnung mit Kaska, einer Indigenen der Gwitch'in First Nations, ihr Überleben. Doch was verbirgt Lorna, die mit jeder Station der Reise ihren Namen wechselt und neue Geschichten über ihre Herkunft erfindet? Und warum denkt das FBI, es müsste Jessie finden und retten? Eine große Erzählung über Nordamerikas Wildnis, die ein ganzes Universum faszinierender Figuren, Bilder und Landschaften bereithält.
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Seitenzahl: 625
Anne-Marie Garat
Der große Nordwesten
Roman
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch
Die Autorin
Anne-Marie Garat, geboren 1946 in Bordeaux, ist Schriftstellerin und Dozentin für Film und Fotografie. Ihre Romane sind von hoher literarischer Kraft und voller scharfsinniger Gesellschaftsbeobachtungen. Für ihr reichhaltiges Werk wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem Femina-Preis. 2019 erhielt sie für »Der große Nordwesten« den deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis.
Die Übersetzerin
Alexandra Baisch arbeitet seit über zehn Jahren als Übersetzerin u.a. aus dem Französischen. Sie hat bereits zahlreiche Autorinnen und Autoren ins Deutsche übertragen, darunter den Bestseller-Autor Bernard Minier, Elizabeth Buchan und Anne Garréta.
Das Buch
Nach dem Tod ihres Mannes verlassen das Starlett Lorna und ihre sechsjährige Tochter Jessie Ende der Dreißiger überstürzt Hollywood. Ihre Reise führt sie in den Nordwesten Kanadas und nach Alaska. Ausgestattet mit einer mysteriösen Karte, einem Gewehr und dem gestohlenen Geld von Jessies verstorbenem Vater stellen sich Mutter und Tochter der Wildnis und Lornas geheimnisvoller Vergangenheit. Zum Glück treffen sie auf Kaska, eine Gwich’in, die ihr Überleben in der rauen Natur sichert. Doch was verbirgt Lorna, die bei jeder Station der Reise einen neuen Namen annimmt? Und warum ist ihnen das FBI auf den Fersen?
»Der große Nordwesten« ist eine fesselnde Geschichte über zwei Frauen auf der Suche nach Identität und über Nordamerika und seine Legenden: die der First Nations, Goldsucher, Kopfgeldjäger und Trapper, der Western und Abenteuerromane.
Hah Yah Oo thay
Shàdhël nigha
kwädür
»Als meine Mutter beschloss, sich in den großen Nordwesten aufzumachen, an den Ort ihrer Träume, war die Zeit der Trapper und Goldsucher längst vorbei. Stahlbrücken führten über die reißenden Flüsse, riesige Schwimmbagger von Bergbauunternehmen weideten auch noch den kleinsten Flusslauf aus, überall standen Lachsfabriken, Schnapsbrennereien und Tankstellen. In der schönen Jahreszeit rumpelten Autos und Lastwagen über die Straßen von Yukon und Alaska und kleine private Wasserflugzeuge flogen von See zu See. Es gab Boote mit Außenbordmotor, Telefonzellen von AT&T, im Radio liefen Werbespots, und wann immer einem der Sinn danach stand, aß man Orangen aus Kalifornien. Das war nun wirklich nicht mehr das entlegene Land, nach dem sie suchte. Und doch hatte sie es gefunden! Was beweist, wie recht meine Mutter damit hatte, noch an ihre Träume zu glauben, obwohl sie schon vierunddreißig war.
Ich war gerade mal sechs Jahre alt, saß auf dem Beifahrersitz ihres Dodge-Pick-ups, bei dem der Lack abplatzte und der ramponierter und verbeulter als ein Kampfpanzer war, doch sie machte als Pionierin in Jeanslatzhose und Karohemd eine gute Figur hinter dem Steuer, neben sich die Winchester, die hochkant an der Gangschaltung lehnte.
›Auf ins Abenteuer!‹, rief sie beim Verlassen von Haines, einem kleinen Ort in Alaska, als wären wir nicht schon seit zwei Monaten unterwegs.
Zwei Monate zuvor hatte ich auf der Rückbank des mit Zigarrenrauch gefüllten Cadillacs rittlings auf dem kräftigen Oberschenkel meines Vaters gesessen, hinter uns eine endlose Schlange von Limousinen, und gemeinsam waren wir unterwegs zu meinem phänomenalen Geburtstagspicknick am Strand von Santa Monica. Die Lieferwagen des erlesenen Partyservices waren bereits dorthin vorgefahren, um die Häppchen in die auf dem Strand errichteten Zirkuszelte zu tragen, die voller Papageien und Büscheläffchen in Käfigen, Palmen in Pflanzkübeln, riesigen Kakteen und Klettermasten waren. Die amerikanische Flagge wehte in der Meeresbrise vor dem wolkenverhangenen Himmel. Es gab eine Jazzband, schwarze Musiker, die mit dick aufgeblasenen Backen Posaune und Klarinette spielten, und weiße Bikini-Girls, die ihre Beine in die Höhe warfen und Luftballons und Tauben fliegen ließen. Um Mitternacht tummelten sich zweihundert angesäuselte Pärchen auf der Tanzfläche. Berauscht von dem Feuerwerk, den Strudeln und Wirbeln der aufsteigenden Raketen und den bengalischen Fackeln, rannten manche nackt und laut kreischend in die Wellen, während andere mit ihren Autos durch die Brandung rasten und wetteiferten, wer die größte Fontäne aufspritzen ließ.
›Das war aber ein verdammt schöner sechster Geburtstag‹, sagte meine Mutter.
Ich schlief in ihre Nerzstola eingerollt mit Tic und Toc, den beiden Pudeln, und dem Windhund Aston hinter einem Zelt, als jemand am frühen Morgen eine an Land gespülte, aufgedunsene Qualle entdeckte. Mein Vater wurde bäuchlings an den Füßen über den Strand gezogen, wie man Autowracks am Kühlergrill aus dem Wasser zieht, und hinterließ dabei eine lange Schleifspur im Sand. Mit weit aufgerissenen Augen, so erzählt es meine Mutter, hätten sich die letzten Gäste nach vorn gedrängelt, um zu sehen, wie Journalisten die Leiche des berühmten und beneideten Kino-Magnaten im Blitzlichtgewitter ablichteten. Das Foto von ihm als gestrandete Qualle wurde in allen regionalen und nationalen Zeitungen in der Rubrik Stars und Sternchen – Klatsch und Tratsch veröffentlicht.
Wir haben von diesem Herausfischen nichts mitbekommen. Später, als wir bereits in der Hütte von Kloo Lake wohnten, erzählte meine Mutter Kaska, dass sie die Hunde und mich in den Cadillac gepackt habe, während sich die versoffene Gesellschaft an dem Spektakel ergötzte, und in der Dämmerung jenes rosaroten Morgens, im Gold der Dünen und dem zarten Blau des Ozeans in unsere Villa gefahren sei, einen Palast in Brentwood, L.A., errichtet aus den Steinen eines schottischen Gutshauses und einer mexikanischen Missionsstation, die auf Kosten meines Vaters beziehungsweise seiner Bank in unsere Breiten versetzt worden waren, und dessen Reichtum, Prunk und Opulenz alle anderen in den Schatten stellte. Dort hatte er seine Sammlungen signierter Fotos betörender Frauen, verchromter Jukeboxen und Luxuskarossen angehäuft und seine kleinen Geheimnisse unter Verschluss gehalten, die für Lorna del Rio, seine Ehefrau, jedoch keinerlei Geheimnis bargen. In nur einer Stunde habe sie das Allernötigste zusammengesucht, die Hunde der Obhut der schluchzenden Miss Plunkett überlassen und mich, die ich noch immer schlief, wieder in den Cadillac gepackt – Kurs Richtung großer Nordwesten, zum Ort ihrer Träume, wo ich, im Alter von sechs Jahren, erst zu Fuchsnase geworden bin, dann zu Die ihre Zähne gibt. Mit sieben nannte man mich Njyah, was so viel heißt wie ›Lang und dünn‹ – und das ist mir geblieben.
Nenn mich Njyah, Bud.
Mit meinen sechs Jahren wusste ich vieles noch nicht, dennoch ahnte ich bereits, dass mein Vater, lange bevor er einen auf Qualle gemacht hatte, ein richtig dicker Wal gewesen sein musste, als er der ausgefuchstesten Schurkin der Westküste ins Netz ging. Auf den Fotos aus ihrer Anfangszeit in Hollywood hätte man sie für ein naives Pin-up-Girl aus einem Werbespot halten können: ein Fahrgestell à la Betty Boop, das Strahlelächeln von Schneewittchen, absolut hinreißend von vorne und von hinten. Was für ein Anblick, wenn sie sich affektiert schmollend mit schelmischem Blick unter den falschen Wimpern als die aus Mexiko stammende Lorna del Rio auf Satinkissen räkelte oder als texanisches Cowgirl mit bloßen Schenkeln, ein Lasso in der Hand, im Fotostudio über den Zaun eines Rodeorings stieg.
Als käufliches Luxusprodukt war sie den Starlets haushoch überlegen, die mit Zigarettenspitze zwischen den Lippen lasziv an den Bars von vornehmen Hotels lehnten, sich auf dem Sunset Boulevard prostituierten oder mit Produzenten, Drehbuchautoren, Tonmännern und selbst dem unbedeutendsten Bühnenarbeiter oder Kolumnisten herumhurten, nur um die kleine Rolle ihres Lebens zu ergattern. Lorna del Rios Naturell hingegen verbot es ihr, sich mit einer solchen Statistenrolle zu begnügen. Mit ihrem ausgezeichneten Geschäftssinn und ihren Kurven wusste sie, wie man einen dicken Fisch an den Haken bekam, denn ihr Gehirn war eine Rechenmaschine und ihre Moral war so dehnbar wie Kaugummi. Das wiederum schloss Gefühle nicht aus, davon hatte sie genug für zwei. Ein phänomenal sentimentales Herz, das sie großzügig verschenkte, sofern das Geld in der Kasse stimmte.
Oswald wiederum war ein wahrer Krösus, als er zur Glanzzeit seines Imperiums, das er nur knapp vor der Weltwirtschaftskrise hatte erretten können, auf diese Künstlerin traf, die nicht nur ein Parfüm mit einer Gardenien-Note, sondern auch der Ruch der Freibeuterin umwehte. Sie war die perfekte Partnerin für ihn, und so schmückte er sich mit ihr als dem kostbarsten Juwel seiner Sammlung, ließ sie ihre Nase in seine Tresore stecken und die Mafiosi mit den zurückgegelten Haaren im Auge behalten, die ihm etwas zu dicht auf die Pelle rückten. Keine ungefährliche Aufgabe, aber Lorna del Rio wusste, wie sie mit diesen verfluchten Italienern umspringen musste, von denen Oswald sagte, dass deren Colts die Hosen stärker ausbeulten als das, womit die Natur sie ausgestattet habe. Verführt von ihrem feurigen Temperament, heiratete er sie unverzüglich und machte sie voller Begeisterung zu meiner Mutter. Unangefochten und ohne jeden Skrupel herrschten die beiden Halunken über ihr Imperium, als mein Vater bei meiner Geburtstagsfeier am Strand von Santa Monica leider baden ging.
Da sich meiner Mutter nun endlich die Gelegenheit bot, ihren alten Kindheitstraum wahr werden zu lassen, beschloss sie, die weiteren Geschehnisse gar nicht erst abzuwarten, sondern die Segel zu setzen und unverzüglich ein neues Kapitel ihres Lebens zu beginnen, von dem die ersten Seiten bereits geschrieben waren. Aber das waren weiter nichts als Entwürfe.
›Weg damit, auf zum nächsten Kapitel‹, tönte sie, wenn sie in Kloo Lake vom Blues übermannt wurde und in den Winternächten, die sich in diesen Breitengraden endlos hinziehen, wieder einmal irgendwelchen Stuss von sich gab.
Obwohl ich die Fotos der Boulevardpresse vom Strand in Santa Monica nicht gesehen habe, ist es, als würde ich am Morgen nach meinem sechsten Geburtstag zusammen mit den Pudeln Tic und Toc und dem Windhund Aston selbst dort sitzen. Wohin sind die Feierlustigen, die Feuerwerkskörper, die Bikini-Girls und die Tauben verschwunden? Die Wellen schieben den Meeresschaum, Seegrasgirlanden und kleine Muscheln zu meinen Füßen heran, und ich grabe meine Zehen in den feuchten Sand. Die Düne ist im Morgennebel kaum zu erkennen, bald wird es hell, und dann taucht der gewölbte Himmel über dem lavendelfarbenen Meer vor meinen verschlafenen Augen auf. Vielleicht ist es auch der hellrosa Farbdruck mit den goldenen Dünen und dem blassblauen Meer des abgelaufenen Kalenders an der Wand in unserer Hütte, der die Erinnerung in mir hervorruft, wie ich allein mit den Hunden über meinen ertrunkenen Vater wache. Die Kristalle kleiner Eisberge reiben in den Untiefen des riesigen Wasserbeckens aneinander, das unter dem weiten Himmel dröhnt und plätschert, in dem erfrorene Pottwale, Lachse und Orcas dahintreiben und in Begleitung von gefrorenen Seesternen und inmitten der ausgebleichten Knochen und Barten von Walen in der Tiefe dümpeln. Der kalifornische Sand ist verschwunden, doch ich sehe noch immer meinen auf dem Bauch liegenden Vater, seine Waden, seinen kahlen Schädel, das hochgerutschte Hemd, das seinen mondweißen, mit Gischt marmorierten Hintern entblößt, während ich ihm poo-poo-pee-do, poo-poo-pee-doooo vorsinge und der Wind leise seufzend den Refrain begleitet.
Um niemanden zu wecken, ersticke ich mein fiependes Schluchzen unter der Decke der Hudson’s Bay Company, die unangenehm nach dem Fett von Kerzenfischen, Harz und Staub riecht. Obwohl es ein eisernes Bettgestell mit Matratze gibt, benutzt es niemand. Meine Mutter schläft auf dem Boden auf einer Unterlage aus Tannenreisig, ich auf dem untersten Regalboden der Anrichte, in der ich mich, wenn ich die Türen zuziehe, einschließen und wie in meine eigne kleine Hütte verkriechen kann. Eine kleine Hütte in der größeren, in der wir leben und die aus einem einzigen Zimmer besteht, das mit vergilbten Zeitungen voller Fliegendreck tapeziert ist und anstelle eines Fensters nur vier schmutzige Scheiben besitzt, durch die man nicht hinaussehen kann.
Kaska schläft im Schneidersitz auf dem einzigen Stuhl, den wir hier haben. Trotz ihres kaputten Beines zwingt sie sich dazu, während sie auf Hermans Rückkehr wartet. Bei ihr dort oben ist es deutlich wärmer als direkt auf dem Boden. So, wie diese verhutzelte Indianerin mit ihren Fledermausaugen und -fingern auf dem Stuhl sitzt, hätte man sie für eine Mumie halten können, aber von uns dreien hat sie es in Sachen Komfort am besten getroffen, sagt meine Mutter, die beim Packen nicht vorausschauend genug gewesen war und Kaska nun um den schäbigen Bärenpelz beneidet, in den diese sich einwickelt, das Fell auf der Innenseite, sodass nur ein schwarzes Haarbüschel aus dem spröden, rissigen Lederkegel herausragt, der an eine Hütte aus morscher Birkenrinde erinnert. Derart eingehüllt kann Kaska sich besser warm halten als wir armen Bleichgesichter, deren Haut sich wie geronnene Milch zusammenzieht, sobald die Temperatur sich den null Grad nähert, was in Kloo Lake selbst im Sommer häufig vorkommt.
Meine Mutter und Kaska schlafen bereits im Halbdunkel unserer heruntergekommenen, von Spinnweben durchzogenen Blockhütte. Marode Abdeckplanen hängen zwischen den Balken, an denen Gerätschaften, verschlissene Kleidung, geräuchertes Fleisch und abgezogene Tierfelle baumeln, die Winchester hängt hinter der Tür. Ich trauere um meinen Vater, um seinen kräftigen Oberschenkel, wenn wir Hoppe hoppe Reiter spielten und er ›Hoppla, kleiner Quatschkopf, gleich geht’s rund‹ rief, um den Zigarrenrauch und sein schallendes Lachen. Ich trauere um seine außergewöhnlichen Geschenke, um mein Zimmer mit der goldfarbenen Tapete, den Stofftieren und dem Aufziehspielzeug, um meinen Bauernhof mit den bunten Holztieren, meinen Zobelpelzmantel, selbst um Miss Plunkett trauere ich. Obwohl sie immer behauptete, bevor man sieben Jahre alt sei, besitze man weder Gehirn noch Seele oder Gefühle, vermisse ich sie hin und wieder, ihr Geschimpfe, ihre säuerlichen Fruchtbonbons, die Zwillingspudel und den Windhund Aston.
Ich schlucke meine leisen Schluchzer hinunter, vergrabe mich in die Decke, die einst weiß mit roten Streifen war, inzwischen jedoch abgenutzt, verwaschen und durchlöchert ist. In sie kuschele ich mich hinein und sauge am Etikett mit der Aufschrift Old Oregon Trail, das meinem Kummer durch das ständige Kauen und Saugen einen Geschmack von Lakritze verleiht, obgleich sich meine Erinnerung an den Prunk von Brentwood schon verflüchtigt und immer schwächer wird.
Überstürzt musste ich meine viel zu kurze Kindheit verlassen wie einen Hafen, dessen Kai aus den Augen des Reisenden verschwindet. Während der Wochen auf unveränderlichen, gleichförmigen Straßen, auf Schiffen mit immer gleich aussehendem Kielwasser und den Schotterwegen voller Schlaglöcher, die uns weiter in den großen Nordwesten führten, war die Zeit rasend schnell vergangen. Ich wachse, eigne mir Wissen an, doch es kann mir gar nicht schnell genug gehen, noch älter zu werden, so alt wie Kaska, die Mumie, wie meine waghalsige Mutter, genug vom poo-poo-pee-doo! ›Weg damit‹, wie Lorna del Rio immer sagt, ›auf zum nächsten Kapitel!‹
Doch jedes Mal, wenn ich das summe, erhebt sich mein Vater beim Refrain aus seinem nassen Leichentuch. Mit tropfendem Abendanzug, bleicher Stirn, der dicke Bauch mit Tang und grauem Meeresschaum bedeckt, richtet er sich am Strand von Santa Monica im Glanz der Morgendämmerung majestätisch auf wie Poseidon, der den wilden Wellen entsteigt und mir zuzwinkert, mich auffordert, näher zu kommen, als wollte er mir eines seiner üblen Geheimnisse verraten. Aber ich habe keine Angst vor seinem großen eisigen Leichnam, im Gegenteil: Im Lauf der Zeit ist er mir so vertraut geworden wie ein alter Kamerad, der auf irgendeinem Kai zurückgelassen wurde und mit dem ich nun durch Telepathie kommuniziere.
Inzwischen weiß ich nämlich mehr als er über die Widrigkeiten im Leben meiner Mutter, über die Abenteuer, die sie hatte bestehen müssen, ehe sie ein Auge auf ihn geworfen hatte, und über das, was wir nach seinem Ertrinken durchmachen mussten. Auch über seine Vergangenheit als Betrüger habe ich Dinge erfahren, die er mir nicht mehr selbst hatte sagen können, weil die Zeit dazu fehlte, und die er, mein schlitzohriger alter Papa, mir sicherlich auch nie anvertraut hätte, weil er mich kleines Persönchen dafür viel zu sehr vergöttert hatte.
Erfahren habe ich das alles von meiner Mutter, die an Tagen, an denen sie niedergeschlagen ist, jedem x-Beliebigen, sprich, in dieser Einöde hier einzig Kaska, ganz nebenbei dem Hund und – ungewollt – auch mir, von ihren früheren und jüngsten Abenteuern erzählt. Sobald sie in Plauderstimmung ist, spitze ich die Ohren. Ich verstehe nicht alles, aber genug, um zu begreifen, dass sie im Lauf ihres Lebens schon so einiges mitgemacht hat: auf der Fahrt die Route 66 entlang und schon davor, auf der Überfahrt nach Amerika – treib weiter, immer weiter, großes Schiff, immer weiter –, oder davor, in einem längst vergessenen Garten irgendwo in der französischen Provinz, der sie aufwachsen und schöner werden sah. Meine Mutter kommt von weit her, und doch treibt es sie immer weiter, da muss ich wirklich ihr größtes Goldstück sein, dass sie mich auf ihre große Reise mitgenommen hat.
So sind wir in Kloo Lake gelandet, dieser verlorenen Ecke im hintersten Winkel von Yukon, ganz in der Nähe des Kluane Lake und des Mount Saint Elias, dessen verschneite Bergkämme manchmal im Nebel über dem Wasser auftauchen. Bei schönem Wetter sieht es so aus, als würde die Erde ihren Gletscherhut leicht anheben, um ihn in der Sonne schmelzen zu lassen. Der einzige befahrbare Weg der gesamten Gegend endet in einer Sackgasse in Silver City, am Ufer des großen eisblauen Sees, mit dem früheren Namen L’úan Män. Abgesehen davon gibt es nichts als undurchdringliche Wälder und alte Fußwege, Bären- oder Elchpfade, die über die Berge führen, und wir sind die Königinnen dieser Stille. Der unbedarfte Städter, der sich in diese Gegend verirrt, glaubt sich hier allein. Bevor ihm dämmert, dass er genau das nicht ist, steckt er auch schon in ernsten Schwierigkeiten.
Trotz aller Begeisterung für ihren Kindheitstraum und, wie sie glaubte, bestens ausgestattet mit dem Allernötigsten, noch dazu der Winchester mit Munition, hätte sich meine Mutter allein nicht durchschlagen können, genauso wenig wie ich, hätten wir nicht aus einer Vorsehung heraus Kaska getroffen. Wir haben uns ihrer angenommen, oder sie hat uns erwählt, deshalb respektieren wir ihr Recht, den einzigen Stuhl zum Schlafen zu besetzen, wo sie in ihr Bärenfell gehüllt dasitzt, der besten Überlebensausrüstung für diese Gegend, so verschlissen und mottenzerfressen es auch sein mag, während wir auf Hermans Rückkehr warten.«
Diese Stimme ist nicht die von Jessie.
Es ist die Stimme, die durch mich hörbar werden soll. Ich lasse mir diese Zeilen von ihrer Stimme diktieren, einer Stimme, die außer mir niemand hört und die nur in meinen Ohren widerhallt. Wie ein schalltoter Raum Geräusche von sehr geringer Frequenz in der paradoxen Stille seines Inneren verstärkt, höre ich, wie ihr Herz meines schlagen lässt, wie ihre Stimme durch mich spricht, ihre Worte an mein Ohr drängen, bis ich der Illusion erliege, dass sie hier ist, ganz nah, kein dem Eis entstiegener Geist, sondern ein fleischliches Wesen, das hinter mir steht, ihr warmer Mund an meinem Nacken, ihre Arme um meine Schultern geschlungen – ich bin nicht länger allein.
Manchmal ist dieser Eindruck so stark, dass ich mich umdrehe, doch da ist niemand. Jessie ist nur dann da, wenn ich im Schein meiner Schreibtischlampe auf den Tasten meiner tragbaren Remington tippe, Buchstabe für Buchstabe, Zeile für Zeile, was sie mir erzählte, als sie an jenem Abend im April 1954 bei mir hereinschneite.
Für mich war diese Geschichte schon längst abgeschlossen. Weiß der Himmel, ob ich davon ausging, ich würde sie wiedersehen, an diesem Tag oder überhaupt irgendwann. Ich hatte sie schlichtweg vergessen. Zumindest hatte ich das gedacht. Doch ich erkannte ihre Fuchsschnauze sofort wieder, ihre dunkelgrauen Augen, vor allem aber ihre roten Haare. Ähnliche hatte ich bislang nur bei Rita Hayworth gesehen – mit dem Unterschied, dass sie weder bei dem kleinen Mädchen damals noch bei der jungen Frau, die vor mir stand, gefärbt waren. Trotz des burschikosen Haarschnitts, fast ein Bürstenhaarschnitt, wusste ich sofort, dass sie es war.
Dabei hätte unser Aufeinandertreffen fünfzehn Jahre zuvor kaum kürzer ausfallen können. Viel zu erleichtert, es ohne weitere Zwischenfälle hinter mich gebracht zu haben, steckte ich damals meine Belohnung ein und machte mich vom Acker, ohne mich zu erkundigen, was mit der jungen Jessie Campbell passieren würde, sobald sie zurück zu Hause im schicken Brentwood oder sonst wo wäre. Ich wollte möglichst rasch ein neues Kapitel aufschlagen und hatte andere Sorgen – weiß der Teufel, welche das waren.
Danach schraubte ich hier und da ein bisschen an Motoren herum, bis mich das Kriegslos traf, mit der Panzereinheit von der Landung am Juno Beach bis zu den Ardennen, zurück ging es auf der Bahre. Danach ein paar Jahre lang nichts, nicht notwendig, das lang und breit auszutreten.
Als Jessie bei mir aufschlug, lief es gerade wieder besser: Ich hatte mich endlich dazu durchgerungen, die Bruchbude meiner Mutter in Ottawa zu verkaufen und ihren letzten Hamster loszuwerden, ein hysterisches Vieh, das immer meine Klamotten anfraß. Ich war als selbstständiger Pilot für eine private Firma in Anchorage tätig, kurze Handelsverbindungen und Rundflüge mit den Touristen zu den Inseln, ein ausreichend lukrativer Job, um mir endlich meine heiß ersehnte Norseman kaufen zu können. Ein echtes Schnäppchen, diese Maschine aus den Restbeständen des kanadischen Militärs, die irgendwann mit einem Wasp Junior, einem Dreihundertdreißig-Kilowatt-Motor, aufgemotzt worden war. Zuverlässig bei meinen Alleinflügen, auch wenn die Perle der flying jeeps – daran ist nun einmal nichts zu rütteln – immer noch die Cessna ist.
Zwischen zwei Aufträgen lag ich auf der faulen Haut, keiner da, der mich genervt hätte, und auf einmal klopfte es an jenem Aprilabend, als es draußen langsam etwas wärmer wurde und der Schnee zu schmelzen anfing, an meiner Tür. Um mich zu finden, musste sie sich durch den eisigen Schneematsch in dem Vorort von Anchorage gekämpft haben, wo ich mich vorübergehend niedergelassen hatte – weniger ein Vorort, sondern vielmehr ein großflächiges Gebiet mit Trailern, schäbigen Motels und Fertighäusern, dazu überall Autowracks und Sperrmüll unter einem Gewirr angezapfter elektrischer Leitungen. Die Bevölkerung der Stadt hatte sich seit dem Krieg vervierfacht, und der Immobilienmarkt hatte nicht mithalten können, außerdem hatte ich diese Form des Wohnens immer schon bevorzugt.
Obwohl ich drei Stufen über ihr stand, hatte ich den Eindruck, dass sie genauso groß war wie ich.
»Bud, du bist es«, sagte sie, ohne den leisesten Hauch von Unsicherheit, als hätten wir uns am Abend zuvor das letzte Mal gesehen.
Ich bejahte. »Und jede Wette, du bist Jessie.«
»Nenn mich Njyah.«
Njyah oder Jessie, das war mir egal. Erstaunlich war, dass sie gewachsen war, ohne dass sie sich verändert hatte. Es war wie bei Alice im Wunderland: Entweder hatte sich ihr kindlicher Körper einfach nur gestreckt, oder aber sie war mit sieben Jahren bereits eine kleinere Ausgabe der jungen Frau von heute gewesen. Trotz ihres Bürstenhaarschnitts und der zusätzlichen Jahre war sie noch immer das Mädchen, das ich kennengelernt hatte, mit dem ernsten Blick, der dem der Erwachsenen ebenbürtig war, eine Mischung – sofern es das gibt – aus Gleichgültigkeit und Unverfrorenheit, Arglosigkeit und Ernst, gleichermaßen irritierend wie beglückend. Sie war weder das verstörte Wrack, das alle in ihr vermutet hatten, noch das verzogene Gör reicher Eltern, das sie doch einst gewesen war – zumindest soweit ich wusste.
Zu sehen, wie wenig sie sich seit damals verändert hatte, ließ mich mit einem Schlag älter werden. Dabei war ich relativ gut in Form – kein Gramm Fett, muskulös und sehnig, gute Augen –, wäre da nicht die kaputte Hüfte, eine Kriegserinnerung, die mir auch heute noch als Wettervorhersage dient. Trotz meiner Augenringe und der leicht ergrauten Schläfen hatte sie keine Sekunde gezögert, sondern mich sofort wiedererkannt, und prompt brachen die alten Gewissensbisse erneut über mich herein. Nach all der Zeit waren sie zwar weniger quälend, aber noch immer nicht verstummt angesichts der hässlichen Dinge, die ich einst getan hatte, um mich hervorzutun, befördert und geschätzt zu werden – als hätte ich es damals nötig gehabt –, oder sagen wir einfach, um Kohle zu verdienen, während ich doch ganz genau wusste, dass ich etwas Schlechtes tat. In jenen Tagen hatte ich noch geglaubt, ich käme unbescholten aus dem Ganzen heraus, indem ich es als eine Jugendsünde abtat. Dabei war ich damals durchaus kein Grünschnabel mehr, ich hatte Karriere gemacht, war vom Automechaniker zum Fluglehrer und schließlich zum Privatpiloten für betuchte Kunden aufgestiegen. Genau aus diesem Grund hatten sie mich ja aufgesucht. Erst hinterher war mir aufgegangen, in welchen Schlamassel ich mich da hineinmanövriert hatte. Jessie Campbell ist der Grund, weshalb es ziemlich lange dauerte, bis ich mich wieder mit dem Steuerknüppel versöhnt hatte.
Und deshalb katapultierte mich ihr unvermitteltes Auftauchen zurück in die Haut des miesen Typen von vor fünfzehn Jahren, des Kerls, der einfach nur den dreckigen Job erledigt und dann verschwindet. Als hätte sie erst gestern auf diesem Kunstledersessel gesessen, umringt von den Typen des FBI, die sich abmühten, sie zum Reden zu bringen. An jenem Tag sah sie nur mich an, ließ mich nicht aus den Augen, fixierte mich mit ihren durchdringenden, dunkelgrauen Augen, machte mich zum Zeugen dieses Verbrechens und schaute mich mit ihren sieben Jahren ausgesprochen vorwurfsvoll, bittend und verurteilend an. Ich hielt ihrem Blick stand, aber nicht lange, dann wandte ich mich ab, kehrte ihr meinen stummen, fliehenden Rücken zu. Doch seit damals durchquerte der Pfeil, der zwischen meinen Schulterblättern eingedrungen war, die Finsternis der Zeit in einer unerbittlichen, stummen und schnellen Langsamkeit.
»Hier ist es arschkalt, lass mich rein.«
Das stimmte, es war eiskalt. Im eisigen Regen verlagerte sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, die Hände in den Jackentaschen, die Schultern in ihrem Parka fröstelnd hochgezogen. Ein kleines, verkniffenes Lächeln im Gesicht, quasi eine unausgesprochene Entschuldigung, dennoch nicht wirklich verlegen, dass sie ohne Vorankündigung bei mir hereinschneite, auch auf die Gefahr hin, dass ich eine Stinklaune bekam und sie eine Abfuhr kassierte. Sie trat so bestimmt auf, was sie selbst, aber auch was mich betraf, dass ich, ohne nachzudenken, zur Seite trat. Ich gab viel zu schnell nach. Ich hätte sie etwas länger draußen zappeln lassen sollen, wenigstens der Form halber, aber zu solchen Sperenzchen ließ sie es gar nicht erst kommen. Sie schloss bereits die Tür hinter sich und zog ihre dreckigen Stiefel aus, immerhin. Sobald sie in Socken dastand, sah sie sich um. Angesichts meiner winzigen Behausung war das schnell erledigt. Unter der niedrigen Decke waren wir einander plötzlich sehr nah und musterten uns gegenseitig. Dabei wurde rasend schnell ganz vieles oder vielleicht auch so gut wie gar nichts ausgetauscht, genug jedenfalls, um festzustellen, wie fremd wir uns nach all der Zeit geworden waren. Verwirrt stellte ich fest, dass sie tatsächlich so groß war wie ich, ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit meinem.
Wie hatte sie mich nach so langer Zeit gefunden? Sie versicherte mir, dass sie weder einen pensionierten Polizisten noch einen Privatdetektiv, wie man es aus amerikanischen Krimis kennt, beauftragt habe, um mich ausfindig zu machen und beschatten zu lassen. Sie hatte vor allem vermeiden wollen, dass sich noch ein Dritter in diese Angelegenheit einmischte und ich mich womöglich aus dem Staub machte. Auf eigene Faust hatte sie sich auf die Suche begeben, wochenlang die Inserate und Telefonbücher aller privaten Firmen im amerikanischen und kanadischen Nordwesten durchstöbert.
Selbst für jemand Gewieften war es nicht einfach, meine Spur zu verfolgen: Zurück aus dem Krieg, brauchte es eine Weile, bis ich wieder auf die Beine kam. Ich habe meine Zeit an kleineren Universitäten verbummelt, dann diverse Gelegenheitsjobs gehabt: Ich habe in einer Druckerei gearbeitet, Lachse in einer Fabrik ausgenommen, als Parkplatzwächter in Denver und sogar einen Sommer lang in Montana in einem Sägewerk gearbeitet. Später war ich ein wenig als Rucksacktourist unterwegs, um bei meiner Mutter vorbeizusehen und sie im gleichen Zug auch zu beerdigen. Ich bin eben von Natur aus ein Nomade. Sobald mich die Reiselust packt, schnappe ich mir meine paar Bücher, die wenigen Dinge, an denen ich hänge, meine Klamotten, die ich am Leib habe – und ciao. Fang mich doch, wenn du kannst. Ihr hingegen, dieser schlauen Füchsin, dieser sturköpfigen Teufelin war es gelungen, mich aufzuspüren.
Sie zog ihre Fausthandschuhe aus, machte ihren Parka auf, unter dem sie einen eng anliegenden, billigen Wollpullover und eine abgetragene Jeans trug, und schob sich geradewegs auf die Bank an meinem Klapptisch.
»Bud Cooper, ich brauche dich«, sagte sie ohne Umschweife und verschränkte die Hände auf dem Tisch.
Ein Einstieg, über den ich nicht lange nachdenken konnte, zumal ich glaubte, gar keine Wahl zu haben, weil sie mir keine lassen würde. Doch das schon klar gewesen, noch bevor ich die Tür aufgemacht hatte.
»Nenn mir deinen Preis. Ich habe genug Geld, um zu bezahlen, was auch immer bezahlt werden muss.«
»Meine Zeit gehört mir«, warf ich schwach ein. »Mich kann man nicht kaufen.«
Mit derselben unwilligen Geste, mit der man eine Fliege verjagt, wischte sie meinen Einwand beiseite. »Mag sein. Auch wenn das nicht immer der Fall war. Ich mache dir deswegen keine Vorwürfe, man schlägt sich durch, wie man kann, und alles in allem ist es vielleicht auch besser so. Ich meine, dass du es fürs Geld getan hast. Aber diesmal zahle ich, und dann sind wir quitt.«
Ich konnte ihr nicht ganz folgen, da ich noch damit beschäftigt war, zu begreifen, dass Jessie tatsächlich hier war, hier bei mir, ein Gespenst aus der Vergangenheit aus Fleisch und Blut. Das verschlug mir einfach die Sprache. Manchmal ist man so erschüttert, dass eine Situation so unwirklich erscheint, als wäre man gar nicht anwesend. Ich hatte Schwierigkeiten, mich zu fassen, doch sobald ich ihr gegenübersaß, musste ich nur den Blick heben, um sie mustern zu können, gerührt von ihrem für Rothaarige so typischen milchblassen Teint, von dem kindlichen Schwung ihrer Lippen direkt vor mir. Natürlich, ungeschminkt, mit Ausnahme des Kajalstrichs an den Lidern. Zwischen uns nichts als die schmale Tischplatte, da konnte man kaum anders, als sich eng aneinanderzuquetschen, unsere Hände berührten sich fast.
Ich wollte sie keinesfalls durch eine unangemessene Geste erschrecken, dennoch genoss ich es, die Wärme ihrer Hände auf und die ihrer Knie unter dem Tisch zu spüren. Auch wich sie nicht zurück, wie man es manchmal instinktiv, am häufigsten jedoch bewusst macht, als Zeichen des Misstrauens oder der Feindseligkeit einem Fremden gegenüber. Noch nicht einmal vor mir, der ich das so gewohnt war. Ihr schien das alles tatsächlich egal zu sein.
Es musste so schwierig gewesen sein, mich zu finden, es musste ihr so unmöglich, unlogisch oder abwegig erschienen sein, dass sie, nachdem sie sich mühsam durch die Kälte und die Nacht des Trailerparks geplagt hatte, einfach nur froh war, ihr Ziel erreicht zu haben und nicht von mir abgewiesen worden zu sein. Sie stützte die Wange auf eine Hand, als wäre ihr Kopf mit einem Mal zu schwer geworden, und zog mit gekräuselter Nase eine kindliche Schnute, entweder damit ich weich wurde oder aber um sich zu ermutigen.
»Du hast dich nicht verändert, Jessie.«
»Du dich auch nicht allzu sehr. Aber nenn mich Njyah, das ist mir lieber. Und kann ich vielleicht was richtig Heißes zu trinken bekommen?«
Während ich uns einen Grog mit Honig und Ingwer zubereitete, sah sie sich meine Einrichtung an, methodisch dieses Mal, wie man das Erscheinungsbild eines anderen mustert, und umging es so, mich ansehen zu müssen. Dabei war meine Junggesellenbude das genaue Abbild von mir: meine Zeitschriften, meine Handbücher über die Flugfahrt, meine wenigen Bücher, W.E.B. Du Bois, Claude McKay, die ersten Bücher von Chester Himes, der Aschenbecher, meine CB-Funkausrüstung, meine Werkzeugkästen, die kleinen Behältnisse mit indischen Gewürzen, der Campingkocher, das zusammengestückelte Geschirr und das vom Hamstervieh meiner Mutter angefressene Sammelsurium an Kleidung. Aber vielleicht hatte ihre eingehende Betrachtung auch nur zum Ziel, ihre Verlegenheit zu überspielen oder aber ein letztes Mal über das nachzudenken, was sie sagen wollte und was sie ohne große Umschweife verkündete, kaum dass ich ihr gegenüber wieder Platz genommen hatte: Sie wollte, dass ich ihr zuhörte.
»Sei so nett, Bud«, sagte sie.
Ich wollte nicht so nett sein.
Es ist zu spät, Jessie, dachte ich.
So viele Menschen suchen nach einem offenen Ohr und treffen auf ein verschlossenes, gleichgültiges, dummes, gelangweiltes oder boshaftes, da könnte man auch mit einer Wand reden. Nur selten findet man jemanden, der bereit ist, zuzuhören, er mag bisweilen ungläubig sein, aber doch empfänglich, ergriffen und schließlich gefangen. Es ist wie bei einem zufällig aufgeschlagenen Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen kann, wenn man einmal angefangen hat zu lesen. Es kommt auf die eigene Erwartungshaltung an, auf die Aufnahmebereitschaft, ebenso sehr wie auf den Erzähler, auf seine Stimme und auch auf die Art, wie er erzählt. Ein anderes Mal würde er die Geschichte vielleicht anders erzählen, sie würde sich verändern, eine andere Richtung einschlagen, doch niemand kann ihm widersprechen, ihn richtigstellen oder den unerbittlichen Lauf des Erzählten korrigieren, das nach und nach seine endgültige Form annimmt. Es ist nicht umkehrbar und fiktiv, nicht umkehrbar und lückenhaft.
Also werde ich dir zuhören, wenn du mich überzeugst, wenn du mir wehtust und mich dann heilst. Es hängt von dir ab, von deiner Leidenschaft, deiner Fieberhaftigkeit oder deiner Angst. So vieles, was für unmöglich gehalten wird, ist wahr, wohingegen andere unwahrscheinliche Dinge für wahr gehalten werden. Aber warum sollte gerade ich dir zuhören?
Warum kommst du so spät, fragte ich mich. Eine böswillige Frage, deren Antwort doch schon feststand: Sie braucht dich, weil du damals nicht gesagt hast, was du wusstest oder zu wissen glaubtest. Weil du derjenige bist, der, statt einzuschreiten, dem Ganzen feige und stumm den Rücken gekehrt hat, dessen Meinung, Standpunkt oder Urteil nach wie vor dem Schweigen und den alten Gewissensbissen verhaftet ist: Du bist mehr als nur schuldig oder beteiligt – du steckst mit drin. Genau deshalb bist du der beste Zuhörer. Das war so nicht ausgesprochen worden, und ich hatte es mir selbst gegenüber noch nie zugegeben, aber in dem Moment, als ich ihr den Rücken zugedreht und den unabwendbaren langsam-schnellen Pfeil zwischen meinen Schulterblättern gespürt hatte, willigte ich ein, ihr zuzuhören.
Ich halte ihre Erzählung fest, so gut ich kann, mache Tag für Tag damit weiter, allerdings gibt es keinen großen Unterschied zwischen sich erinnern und sich etwas ausdenken, zwischen schlussfolgern und träumen. Manche ihrer Sätze schreibe ich anscheinend Wort für Wort auf, andernfalls bilde ich welche, die den ihren ähneln, zumindest in meinen Augen, und wer würde das schon anzweifeln wollen? Sobald etwas mündlich erzählt oder schriftlich festgehalten wird, ist nichts mehr authentisch, rein oder unverfälscht, egal, wie sehr das beteuert wird oder welche Verfälschungen zugegeben werden. Die Mechanismen des Vergessens oder der Einbildung und nicht zuletzt der Schwindelei spielen hinein. Berücksichtigt man zudem den emotionalen Faktor, dürfte man gar nichts mehr erzählen. Obwohl ich weiß, dass es unentschuldbar ist, fehlerhaft und unentschuldbar, dass ich die Menschen, Dinge und Vorkommnisse der Vergangenheit überlassen sollte, solange nichts abgeschlossen ist, dass ich sie in ihrem Schweigen und ihrem Leid nicht aufrühren und zwingen sollte, uns zu erscheinen, nur um eine Erklärung zu liefern, schreibe ich dennoch.
Jessie oder Njyah – unwichtig, aber in meinem tiefsten Inneren nenne ich sie noch immer Jessie – ist nicht mehr da, sie kann mir weder erlauben noch verbieten, das aufzuschreiben, was sie mir auf ihre Weise erzählte, was ich auf meine Weise mit ihr erlebt habe und woran ich mich jetzt noch erinnere. Ich kann es erst jetzt tun, nachdem ich sie wirklich und endgültig aus den Augen verloren habe. Diese Phrase trifft genau die Umstände, unter denen Jessie vor meinen Augen, nicht aber aus meinem Leben verschwunden ist. Jeden Tag denke ich an das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, sehe, wie sie davongeht, ohne sich umzudrehen, mir den Rücken kehrt, wie ich einst ihr den Rücken gekehrt habe, und vielleicht spürt sie zwischen ihren Schulterblättern den Pfeil meines verzweifelten Blickes, während sie in der weißen Weite immer kleiner wird, bis sie nur noch eine von mir wegtreibende Einkerbung ist, ein winzig kleines Komma. Und vielleicht war dieses Satzzeichen bereits verschwunden, doch ich sah sie noch immer, ich sehe Jessie nach wie vor unterschiedlich deutlich vor dieser Schneekulisse ohne Horizont, Erde oder Himmel. Die Kälte ließ meine Tränen zwischen meinen Wimpern erstarren. Eine Eiseskälte, über die man sagt, dass sie die Spucke gefrieren lässt, ehe sie auf den Boden trifft.
An jenem Abend, als ich ihr am Tisch meines Trailers gegenübersaß, ahnte ich noch nicht, welche Wendung die Geschehnisse nehmen würden, dieser Gefahr war ich mir nicht bewusst. Hätte ich daran gedacht, dann hätte ich mich vielleicht geweigert, hätte irgendeinen wichtigen Job oder irgendwas anderes vorgeschoben, um mich wie sonst aus der Affäre zu ziehen, doch stattdessen hörte ich ihr zu, als gäbe es nichts Wichtigeres in meinem Leben. Und tatsächlich gab es das nicht. Die ganze Nacht hindurch, erst mit Wodka, dann mit Kaffee als Stärkung, schließlich mit Bacon-Sandwichs gegen drei Uhr morgens, erzählte sie, ohne dass ich sie unterbrach, auf jeden Fall so wenig wie möglich. Danach schliefen wir, sie in meinem Bett, ich auf dem Boden in meinem Schlafsack.
Es hatte wieder angefangen zu stürmen, der Eisregen prasselte auf das Blechdach, wiegte uns in den Schlaf, doch auch dann blieb ich traumwandlerisch an ihren Lippen hängen, und ich weiß nicht, ob das, was ich erzähle, meinem Wachtraum entspringt oder der Realität angehört, auch wenn beide häufig ein und dasselbe sind. So träume ich zum Beispiel oft, dass mein Panzer auf einer Mine explodiert. Ich hatte so verdammt viel Glück, dass mir genau das nicht passiert war, aber ich weiß, dass die Detonation, das Massengrab aus Blech, Fleisch, Sehnen und zertrümmerten Knochen, mein abgerissener Kopf, dazu der widerliche Gestank von verbranntem Benzin genauso real sind wie das Wissen, dass es nicht passiert ist.
Gegen Mittag machte ich uns etwas zu essen, und sie erzählte weiter. Es kümmerte sie nicht, ob es regnete oder schneite. Der Wind heulte in den Hochspannungsleitungen des Trailerparks, doch meine elektrische Heizung lief auf Hochtouren, und so verbrachten wir zwei Tage schön im Warmen, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen. Wir schliefen, wachten auf, und jedes Mal nahm sie die Erzählung dort wieder auf, wo es ihr richtig erschien. Mal folgte ein überraschendes Ereignis auf das andere, mal ging es keinen Schritt voran, es gab Momente, in denen ihre Geschichte dahinplätscherte, falsche Kapitelenden, Zeitsprünge nach vorn und Rückblicke, dann wieder wurde alles zurück auf Anfang gespult. Es war noch zusammenhangloser, als ich es wiedergebe, doch auch wenn es möglicherweise einen Verrat darstellt, für ein bisschen Ordnung zu sorgen – nur in narrativer Hinsicht wohlgemerkt –, so hatte Jessie gute Gründe zu glauben, dass ich mein Bestes geben würde.
»Und so«, erzählte sie mir, »habe ich mich nicht noch einmal umgedreht, als wir am frühen Morgen Brentwood und seine leeren Straßen verließen. Ich warf keinen letzten Blick aus dem Heckfenster auf die väterliche Villa, auf ihre glänzenden Dächer mit den mexikanischen Ziegeln, den türkis gefliesten Pool, den Tennisplatz mit dem rosa Belag oder auf die Palmen entlang des Boulevards, auch nicht auf die Plakate an den Straßenkreuzungen, von denen Filmstars strahlend herablächelten. Ich lag auf der Rückbank des Cadillacs und wusste nicht, dass dies eine endgültige Abfahrt war, dass jetzt die große Reise meiner Mutter begann. Ich schlief nämlich.
Als ich mich aufrichtete, war es taghell, Regen und Sonne wechselten sich unterwegs ab, und ich dachte, wir würden wieder einmal eine jener Spritztouren unternehmen, zu denen meine Mutter so häufig aufbrach.
›Lass uns aus diesem stinkenden Loch verschwinden, lass uns vor diesem Ungeziefer flüchten‹, sagte sie immer.
Mal fuhren wir an die endlosen Strände, an denen sich die Brandungswellen im Gischtnebel ans Ufer warfen, mal an den Rand der Mojave-Wüste, die außer verbrannten Josua-Palmlilien und Jojobasträuchern nichts zu bieten hatte. Dort ließen wir das Auto stehen und liefen stundenlang unter der sengenden Sonne durch den pfeifenden Wind, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Diese Gier nach Weite, diese Flucht in ein immer entlegeneres Anderswo – ich verstand den Grund dafür einfach nicht.
Mit meinen zu kurzen Beinen und den Espadrilles hatte ich Mühe, meiner Mutter zu folgen, doch mir wurde sehr schnell klar, dass sie mich zurücklassen würde, sollte ich nicht mithalten. Besser, ich verstauchte mir nicht den Knöchel, schürfte mir das Knie auf oder fing beim Anblick der großen Meeresvögel oder Wüstenbussarde, die auf so begehrte Opfer wie mich herabstießen, vor Angst an zu wimmern. Auch nicht angesichts der Quallen mit ihren glasigen, glibberigen Tentakeln, die von den Wellen ausgespuckt wurden, oder den Schlangen, Skorpionen, Taranteln oder den gesprenkelten Eidechsen unter den Steinen. Also versuchte ich Schritt zu halten, folgte ihr, bis ich außer Atem war und sie den perfekten Platz gefunden hatte, um mitten im Nirgendwo stehen zu bleiben.
Zwei Schritte von ihr entfernt beobachtete ich, das Kinn auf die Knie gestützt, wie sich das Meer gegen die Dünen warf, oder starrte in die mineralische Weite mit dem zerklüfteten Boden, wo ich, wenn ich nicht blinzelte, umherstreifende leuchtende Flecken in Menschen- oder Tiergestalt auf mich zukommen sah. Ihr Näherkommen ließ mich erschaudern, doch als Gefangene meines Trugbilds verharrten sie an Ort und Stelle, und ich war unbesiegbar.
Mir kann nichts Schlimmes zustoßen, solange meine Mutter mich liebt und auf mich aufpasst, sagte ich mir. Auch wenn in Wahrheit ich es war, die auf sie aufgepasst und sie durch mein Schweigen, meine Tapferkeit und meine braves Betragen geschützt hat, zu glücklich darüber, dass sie mich auf ihre Ausflüge mitnahm.
Am Abend kehrten wir erschöpft zurück, trunken von Weite und Einsamkeit. Sie stürzte sich in ein Schaumbad und überließ mich der jammernden Miss Plunkett, die, wenn sie die Blasen an meinen Füßen und die Sonnenbrände sah, so tat, als würde sie in Ohnmacht fallen, um mir gleich darauf Umschläge mit Sheabutter anzulegen.
Ich war es also gewohnt gemeinsam mit meiner Mutter wegzufahren, doch wie hätte ich ahnen sollen, dass es dieses Mal endgültig war?
Wir waren den ganzen Tag unterwegs, ohne anzuhalten, selbst dann nicht, als ich etwas zu essen haben wollte. Sie nahm lediglich eine Hand vom Lenkrad und reichte mir, ohne sich umzudrehen, eine Papiertüte mit den Resten meines Geburtstagsessens nach hinten – eine Mischung aus Kaviar, grünen Oliven, Schokobaiser mit eingelegten Sauerkirschen und Foie gras, die unten in der Tüte zerquetscht war. Sie trank den Champagner direkt aus der Flasche, die sie mir ebenfalls nach hinten reichte. Ich nahm einen großen, lauwarmen Schluck Ruinart und erbrach mich dann in die Papiertüte. Zum Glück war sie ganz auf das Fahren konzentriert und bekam nichts davon mit.
Ich ging davon aus, dass sie nach einem Strand suchte, um dort wie sonst entlangzulaufen, es gab genug davon an dieser Küste, auf deren Klippen, zerklüftete Felsen und sandige Buchten wir hinabschauen konnten, aber keiner der Strände schien ihr zuzusagen. Eingelullt vom Brummen des Motors, erschöpft von den vielen Kilometern, den Kurven und dem abgestandenen Champagner schlief ich letztlich ein. Mir war langweilig, und ich war traurig, dass mein dicker Papa zusammen mit den Hunden im fernen Morgengrauen allein war und meine Geschenke am Strand vergessen worden waren. Das sagte ich meiner Mutter aber nicht, die sich ohnehin wenig um mein Gefühlsleben kümmerte.
Sie interessierte sich nur bei Anlässen für mich, bei denen ich sie in der Öffentlichkeit begleiten sollte: der Premiere eines Films, dessen Produzent mein Vater war, oder einer Party in einem seiner Nachtklubs. An solchen Abenden war ich ihr kleiner Liebling, herausgeputzt als Shirley Temple mit adretten, mit dem Lockenstab gedrehten Korkenzieherlöckchen, Wimperntusche, rosa Lippenstift und bestäubt mit ihrem Gardenien-Parfüm aus dem Kristallflakon mit der Ballonpumpe. Wenn Lorna del Rio mir in die Wange kniff, lachte ich übers ganze Gesicht, zeigte meine Milchzähne und die Puppenbäckchen, ließ meine roten Löckchen hüpfen und warf Kusshände ins Blitzlichtgewitter der Fotografen.
Sehr häufig, fast jeden Tag, fuhr Miss Plunkett mit mir ins Kino. Zumal wir dank des Kinobesitzers, meines Papas, keinen Eintritt bezahlen mussten. Sie verpasste keinen einzigen Film mit Gloria Swanson, ihrem Stummfilmidol, ließ sich aber auch die Tonfilme nicht entgehen. So sahen wir bunt gemischt Western, Filme über Banküberfälle, über tödliche Leidenschaften und Zeichentrickfilme. Die wenigsten davon waren tatsächlich für mein Alter bestimmt, doch sie erweiterten meinen Horizont.
Die restliche Zeit brachte Miss Plunkett mir das Alphabet mithilfe ihrer Bibel bei, die wie bei einer wahrhaften Klosternonne mit vielen Lesezeichen versehen war. Da sie so stockend vorlas, als wäre sie eine Analphabetin, dauerte es nicht lange, bis ich selbst die nächste Zeile gelesen hatte, noch ehe ihr Zeigefinger dort hingewandert war, auch wenn ich nichts davon verstand.
Zum Schluss zeigte sie immer mit dem Zeigefinger zur Decke, woher sie ihre Inspiration bezog. ›Unschuldige Hände, reines Herz‹, sagte sie, oder: ›Lasset uns Gott für seine Wohltaten loben‹, oder: ›Lasset uns festhalten die Hand der Vernunft.‹ Ich versuchte ihre Lektionen zu verstehen.
Meine Lieblingsbeschäftigung war es allerdings, meine wunderbare Mutter anzuhimmeln. Ich sah ihr zu, wie sie vom höchsten Sprungbrett in den Pool sprang, am Schießstand die Zielscheibe anvisierte, die Pudel verhätschelte, virtuos Bälle mit Topspin übers Netz spielte, sich ohne Sattel auf den Pferderücken im Studioreitstall schwang oder mit offenen Haaren ihr Buick Cabrio oder ihren zweifarbigen Plymouth in Pastellrosa und Mintgrün fuhr, wahrhaft der letzte Schrei! Oder wie sie Schuhe anprobierte, Kleider, Make-up, im Satinnegligé telefonierte, sich die Fingernägel lackierte oder mit einer Zigarette in der Hand Zeitschriften mit Fotos von Pin-up-Girls durchblätterte. Manchmal sagte sie, sie müsse arbeiten. Dann tippte sie auf der Underwood-Schreibmaschine im Büro meines Vaters herum, öffnete und schloss seine Tresore mit den wechselnden Zahlenkombinationen, zählte das gebündelte Geld, einen Stift hinters Ohr geklemmt, und ordnete Papierstapel. Meine Mutter beherrschte eine Unzahl praktischer Dinge, darunter auch das Messerwerfen, aber das sollte ich erst später erfahren.
Wir fuhren weiter bis wir am Abend Crescent Bay erreichten, ein Kaff am Meer mit etwa zwanzig Holzhäusern, einer Mormonenkirche und einem Leuchtturm, alles um einen verschlammten Fischerhafen gruppiert, über dem gerade ein Schwarm Möwen die Innereien von Fischen verschlang. Die Abenddämmerung färbte das Meer und den Horizont blutrot.
Ehe meine Mutter aus dem Auto stieg, sah sie mir im Rückspiegel direkt in die Augen und verkündete: ›Morgen kommen wir nach Oregon: Ab jetzt heiße ich Leslie Doll. Und du bist Daisy Doll.‹
›Heidi‹, sagte ich.
Ich mochte das Waisenmädchen, das in der Berghütte ihres Großvaters Tobias lebte, und ihren Freund, den Ziegenpeter, dessen Großmutter blind war, aber ich spürte, dass Leslie Doll damit nicht einverstanden war.
›Oder Ginger‹, schlug ich hastig vor.
So hieß meine Lieblingspuppe, und allein beim Gedanken an sie brach ich in Tränen aus.
›Nichts zu machen. In Oregon heißt du Daisy Doll. Und wenn du weinst, setze ich dich am Straßenrand aus.‹
Das traute ich ihr durchaus zu, denn was war ihr nicht zuzutrauen? Statt ihren Mann gemeinsam mit den anderen aus dem Wasser zu hieven und eine bombastische Beerdigung für ihn zu organisieren, hatte sich die Witwe noch am selben Morgen sang- und klanglos aus dem Staub gemacht und wechselte nun unvermittelt ihren Namen, um Oregon zu erkunden, durch das, wie sie sagte, schon viele mutige Pioniere auf ihren dahinrumpelnden Planwagen gezogen waren.
›Lass uns neue Gebiete erobern! Und wenn es sein muss, dann heul eben, dann musst du gleich weniger pinkeln.‹
Ich konnte von Glück sagen, dass ich ihr größtes Goldstück war und sie mich mitnehmen wollte, anstatt mich auszusetzen. Ich setzte all mein Vertrauen und meine Hoffnung in sie.
Bestimmt würde ich bald noch schönere Puppen haben, tröstete ich mich und schluckte meine Tränen hinunter, während mich die nunmehr Leslie Doll Genannte unnachgiebig bis zur Tür des Hauses mit den grauen Schindeln zog, das direkt am Hafen stand. Am Zaun davor hingen alte Fischernetze und mit Korkschwimmern versehene Seile, in die sich tote Krustentiere und vertrocknete Algen verheddert hatten.
Kaum hatte meine Mutter an die Tür geklopft, erschien eine ausgemergelte alte Frau, die uns durch ihre salzverkrusteten Fenster mit den Makrameevorhängen vermutlich längst erspäht hatte. Ihre Erscheinung machte mir Angst, denn von der untergehenden Sonne angestrahlt sah es aus, als würde sie von Kopf bis Fuß brennen: Mütze, Schürze, Stiefel und das wilde Flickenmuster ihrer Strickjacke standen in Flammen.
Lorna zeigte auf das über der Tür angebrachte Schild. ›Herzlich willkommen in Holy Lodge‹, las sie in einem Ton vor, der keinen Widerspruch zuließ. ›Gott wird doch sicherlich zwei verirrte Schafe bei sich aufnehmen.‹
Ich begriff, dass meine Mutter sich auf die Fürsprache des erbarmungslosen Richters über alle unsere Schandtaten bezog, mit dem Miss Plunkett ihr immer drohte, wenn sie zornig war. Sie sagte dann, wir liefen große Gefahr, dass Er unser wahres Ich erkennen und uns verstoßen würde!
Die Alte am Fischerhafen konnte jedoch nicht wissen, was für Sünderinnen meine Mutter und ich als ihre treue Anhängerin waren, schließlich standen einem seine Vergehen nicht auf die Stirn geschrieben.
Sie warf einen gierigen Blick auf unser von der langen, regenreichen Fahrt schlammverspritztes Auto. ›Schäfchen im Cadillac, die sieht man hier in Crescent Bay nicht oft‹, sagte sie.
›Schon möglich. Ich habe die Karre bei einer Lotterie gewonnen, aber das war dann wohl eher mein Unglückstag: Sie taugt nicht für die Straßen von Nevada und Idaho, die wir vor uns haben. Wir sind unterwegs zur dortigen Farm meiner lieben Eltern, ich als arme Witwe und meine vaterlose Tochter, die sehr müde ist. Ich würde die Kiste gerne gegen eine eintauschen, die sich besser handhaben lässt, das wäre ein wirklich guter Deal. Wenn Sie also jemanden kennen, der von diesem Glücksfall profitieren und uns diesen Dienst erweisen will, wird Gott Sie segnen‹, stieß meine Mutter ohne Punkt und Komma hervor und setzte dreist ihren Fuß auf die Türschwelle.
Noch im Zurückweichen beäugte die Frau den Cadillac, das letzte Überbleibsel meines Geburtstagspicknicks und unseres Lebens als Stars in Brentwood. Ein protziges Auto, sehr angeberisch, sehr unpraktisch, das schnell den Verdacht auf sich zog, gestohlen zu sein oder Gangstern als Fluchtauto zu dienen.
Ich begann zu begreifen, dass meine Mutter auf ihrer Flucht nichts dem Zufall überließ und ganz bewusst bluffte, weshalb ich mich bemühte, ihre arme, äußerst müde vaterlose Tochter zu spielen, und schon flossen meine Tränen, wie um das zu beweisen. Häufig lässt ein kleines wahres Detail inmitten einer großen Lüge diese glaubhaft erscheinen. Die Realität dreht sich um hundertachtzig Grad, die Puzzleteile setzen sich ebenso logisch zusammen wie das aus verschiedenen Teilen zusammengestückelte Gewand eines Harlekins. Schnell schien mir, mich Daisy, Heidi oder Ginger und sich selbst Leslie oder Lorna zu nennen, ein äußerst schlauer Schachzug zu sein, um Schwierigkeiten zu vermeiden, genau wie unser unstetes Herumreisen.
Kaum waren wir eingetreten, servierte die Frau uns eine schale Limonade, mit Schmalz bestrichenes Dinkelbrot und Heringe. Lauter Dinge, die ich noch nie gegessen hatte, doch an diesem Tag war ohnehin alles neu. Während die beiden Frauen sich über das Geschäftliche unterhielten, betrachtete ich dieses Haus an der Küste, das für mich in seiner außergewöhnlichen Armseligkeit ein unvergleichliches Kuriosum darstellte: Alles hier bestand aus bizarren Einzelstücken. Da war der Raum selbst, der geflochtene Schuhabtreter, der Spucknapf unter dem Tisch, die raue Holzbank, der Schaukelstuhl, alle Küchenutensilien, der Ofen mit seinem gusseisernen Ofenrohr, das an der niedrigen Decke fixiert war, der goldene, Trompete spielende Engel der Mormonen, der auf einem Regalbrett zwischen dem Salztopf und der Kaffeekanne stand. Ein Schlafzimmer oder eine Badewanne für ein Schaumbad konnte ich nicht entdecken.
Dort also haben wir geschlafen, vollständig angezogen, beide unter der Steppdecke, rauer als das struppige Haar unserer Vermieterin, die die Nacht sitzend auf einem Stuhl verbrachte. Ihr Bett roch nach Meer und etwas anderem, das an Urin erinnerte. Das war der erste Stopp auf unserer langen abenteuerlichen Reise.
Genau wie meine Mutter vermutet hatte, tat die Frau, was in ihrem eigenen Interesse lag: Sie besaß kein Telefon, ging auch nicht vor die Tür, und doch rief sie auf wundersame Weise einen Bekannten und Retter in der Not zu sich, einen Schrotthändler mit Namen Salomon, der nicht weit die Straße hinunter mit Gebrauchtwagen, gebrauchten Reifen und Benzin zu Schleuderpreisen handelte.
Es wurde schon dunkel, als er kam, sein Blaumann von Öl geschwärzt, er selbst von Natur aus schwarz. Mit diesem zuvorkommenden Händler feilschte meine Mutter unnachgiebig um den Preis ihres Autos, ihrem, wie sie sagte, einzigen Besitz, von dem sie jedoch keine Papiere besitze, weil sie es erst tags zuvor bei einem Wohltätigkeitsbasar gewonnen habe, ein guter Mann wie er müsse diese Situation doch verstehen.
Gleichzeitig verstand er, dass unsere Vermieterin eine Vermittlungsgebühr erwartete, von der sie versprach, da Glücksspiele von unserem Herrgott verboten waren, einen entsprechenden Obolus für die Erbauung Seines Königreichs zu spenden. Die drei wurden sich einig, während ich durch die salzverkrusteten Fenster voller Melancholie beobachtete, wie die letzten Fischerboote in den Hafen zurückkehrten, das Licht im Leuchtturm erstrahlte und die letzten Schwalben durch den Nachthimmel flogen.
Wie vereinbart stellte Salomon im Morgengrauen einen viertürigen Torpedo vor der Holy Lodge ab, mit groben Pinselstrichen spinatgrün angemalt, ein aufklappbares Stoffdach und dazu ein von ihm höchstpersönlich runderneuertes Reserverad, das am vorderen Kotflügel fixiert war. Mit dem Gebaren derjenigen, die sich nichts vormachen lässt, ging meine Mutter um das Auto herum, trat gegen die Reifen und öffnete die Kühlerhaube, um sich den Motor anzusehen. Das alles beeindruckte Salomon keineswegs, der ihr hilfsbereit zeigte, wie man in den zweiten Gang schaltete, der etwas klemmte, und wie man mit der Handkurbel startete, ohne sich dabei den Arm zu brechen. Doch Lorna alias Leslie hatte eine solche Blechkiste wohl bereits gefahren, ehe sie auf Luxuskarossen umgestiegen war.
Dann brauste Salomon in unserem schönen Cadillac davon, mit stolz gerecktem Hals, so feierlich, als säße er in Apollons Streitwagen, und wir brachen unsererseits mit der alten Kiste auf, die, wie er beteuert hatte, trotz ihres Aussehens noch viele Kilometer herunterspulen würde. Der neue Wagen war ebenso fahrzeugscheinlos wie unser bisheriger und hatte zudem keine Scheiben in den Türen, aber das war egal, der Fahrtwind störte uns nicht. Tatsächlich tauschte Leslie Doll das Auto zwei Tage später gegen ein anderes ein, dieses Mal sonnenblumengelb, mit Scheiben in den Türen, die sich – was für ein Glück! – zudem herunterkurbeln ließen.
Wir wechselten das Auto noch viele Male, ehe wir den Hafen von Seattle erreichten. Mit jedem Tag entfernten wir uns weiter von unserer lieben Familie, die uns bis in alle Ewigkeit in Idaho erwarten würde, weil wir uns gar nicht in diese Richtung aufgemacht hatten, auch nicht in die von Nevada. Wir fuhren kreuz und quer auf Nebenstraßen durch Oregon, durch ländliche Gebiete mit kahlen Hügeln, auf denen vereinzelte Holzhütten und dürres Vieh standen. Ausgehungerte Hunde mit gelben Zähnen und wildem Blick rannten dem Auto hinterher, und von den Veranden aus sahen uns Trauben von zerlumpten Kindern unter ihren vor der Sonne abgeschirmten Augen hinterher, wenn wir an ihnen vorbeifuhren. Für mein noch junges Hirn, das verlauste, barfüßige Kinder nur aus dem Kino kannte, war das ein lehrreicher Anblick, wie er schlimmer nicht hätte sein können.
›Das Schlimmste ist die Route 66‹, korrigierte mich meine Mutter, als hätte sie meine Gedanken gehört. ›Die Bettler, die dort unterwegs sind, zusammengepfercht in ihren alten Klapperkisten, würden sich gegenseitig zerfleischen, wenn sie noch Zähne hätten.‹
Wann hatte meine Mutter Bekanntschaft mit den Zahnlosen und dieser höllischen Straße gemacht?
Wir fuhren immer weiter, mit knatterndem Motor, ohne jemals durch größere Städte zu kommen, brachten eine Etappe nach der anderen hinter uns, aßen gegrillten Mais, Hotdogs und Orangen, und abends wählte meine Mutter für die Nacht ein verlorenes Kaff wie Crescent Bay. Lauter staubige Orte, oft nur eine einzige Straße, gelegentlich mit einer Bank oder einem Gemischtwarenladen, fünf oder sechs windschiefe Häuser, die Bürgersteige nur ein paar Bohlen, ein paar Schrottkisten sowie ein Karren mit zwei Maultieren schräg dazu abgestellt, eine Wellblechfassade zwischen zwei Schuppen, elektrische Leitungen, die zwischen den Dächern hingen und sich in der kahlen Landschaft verloren. In den Schaufenstern der Tankstellen von Gibson Motor Co. American Gas – zugleich Poststelle und Autowerkstatt – hingen Reifenschläuche in allen möglichen Größen, dahinter Motels, ebenso heruntergekommen wie die Holy Lodge, und häufig ein Schrottplatz voll klappriger Autos, wo meine Mutter sich ein neues aussuchte. Sie wechselte die Autos wie wir unsere Namen, doch ich blieb ihr größtes Goldstück, daran hielt sie fest. Ich hatte also recht damit, mein Vertrauen und meine Hoffnung in sie zu setzen.
Verstehst du, Bud?
Drei Wochen später gingen wir um fünf Uhr früh in Seattle an Bord der Prince Rupert, eines alten Frachtschiffs, das meine Mutter ausgewählt hatte, weil die Überfahrt damit günstig, seine Größe bescheiden und sein Aussehen armselig war. Sein Rumpf war mit großen rostigen Nieten versehen, die Schornsteine schwarz verrußt, die Windhutze hatte einst einen unansehnlichen Grünton gehabt, die Luken waren mit vom Salz verblichenen Gitterrosten verschlossen, und das Deck bestand aus grauen und an vielen Stellen so stark abgenutzten Brettern, dass sie mit Blechplatten ausgebessert waren.
›Dieser Kahn stammt aus dem letzten Jahrhundert‹, beglückwünschte sie sich, als sie ihn vom Kai aus begutachtete, die Hände in die Hüften gestemmt. ›Er hat sicher schon etliche Abenteuer auf hoher See erlebt und Goldsucher und Abenteurer transportiert, in diesen Planken stecken fünfzig Jahre heldenhafter Geschichten.‹
Aus genau diesem Grund würde er innerhalb kürzester Zeit auf dem Schiffsfriedhof landen, doch bis dahin schipperte unser Dampfer im Alexanderarchipel noch von einem Hafen zum nächsten, ohne sich jemals allzu weit von der Küste zu entfernen, verschiffte verschiedene Güter und den ein oder anderen mittellosen Passagier in seinen sechs Kabinen.
Wir dürften es angesichts möglicher Havarien und vorhersehbarer Wetterumschwünge nicht eilig haben, warnte uns der Kapitän, aber das hatten wir ja nicht: Was machten schon irgendwelche unvorhergesehenen Zwischenstopps? Hauptsache, Christa und Petra Apostodès, zu denen wir in Seattle geworden waren, erreichten irgendwann ihr Ziel.
Traurig war nur, dass wir unser letztes Auto zurücklassen mussten. Um dahin zu kommen, wohin wir unterwegs waren, gab es nur den Weg über das Meer, also würden wir uns etwas Neues überlegen müssen, wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten.
›Nutz die Zeit bis dahin, atme die gute Seeluft und sperr deine Äuglein gut auf, meine Kleine‹, ermahnte mich meine Mutter, als uns der Kapitän großzügig einlud, zusammen mit ihm und anderen Passagieren, die beim Ablegen zusehen wollten, auf die Back zu kommen.
So weit oben erfasste mich Schwindel, und meine Mutter drückte mich mit einem Knie gegen die Reling, die zu hoch war, als dass ich Knirps das Ablegemanöver tatsächlich hätte verfolgen können. Mit aller Kraft klammerte ich mich an das klebrige Geländer, ganz erschrocken über das heftige Strudeln des Wassers, aufgewühlt durch die Schrauben, das Kreischen der unzähligen Möwen und das verschnupft tutende Schiffshorn, das uns vom Hafen verabschiedete, vor allen Dingen aber über die schrecklichen Vibrationen, die den Rumpf erschütterten. Als würden die Maschinen im Frachtraum gleich explodieren, das Schiff unter unseren Füßen auseinanderbrechen und wir wie die Wracks untergehen, die an den Bootsanlegern tief im Wasser lagen. Aber ich gewöhnte mich schnell an das metallische Grollen unter den Planken und blickte wieder mit Zuversicht auf unser Schicksal. Stotternd legte das Schiff an Geschwindigkeit zu und schob sich in den dichten grünen Nebel, und schon nach wenigen Minuten war das Festland nicht mehr zu sehen. Wir waren von der dichten, nach Dieselrauch stinkenden Suppe umgeben, Kurs auf das unsichtbare Unbekannte, das sich aber sicherlich eines Tages in seiner ganzen Pracht präsentieren würde, wenn der Bug unseres tapferen Schiffes den Hafen unserer Träume erreicht hätte.
Schnell wurde mir klar, dass wir die einzigen weiblichen Passagiere an Bord waren, was auch unseren Begleitern, der Crew und den anderen Passagieren nicht entging. Aber wir waren keine verängstigten Gänse, die sich davon einschüchtern ließen. Wir waren gestählte Seebären, trugen alte Regenmäntel und ausgekochte wollene Unterhosen, Flanellhemden und feste Schuhe, die meine Mutter bei einem jüdischen Altkleiderhändler erstanden hatte, in dessen Laden hinter den Docks alle mögliche Seemannskleidung kreuz und quer von der Decke hing. Einst waren Matrosen damit herumgereist, vielleicht auf Walfang von Alaska bis nach Kap Hoorn. Doch vom Jod und der salzigen Gischt war nichts mehr zu riechen, die Stoffe verströmten nur den Geruch von Mottenkugeln, der einen zum Niesen brachte: Der Kleiderhändler hatte alle Taschen damit vollgestopft, denn seine Feinde waren nicht länger der Seegang oder die Stürme, die Masten brechen ließen, sondern die Motten, diese verfluchten Biester, die den Textilhandel ruinierten. Jedenfalls besaß er einen ordentlichen Haufen Klamotten von Schiffsjungen, die mir passten, wenn man sie nur etwas umkrempelte. Er verkaufte auch Seesäcke, die aus den Beständen des US-Militärs stammten und in die meine Mutter das Allernotwendigste aus dem Kofferraum packte. Es ist wohl an der Zeit, aufzuzählen, worum es sich dabei handelte: ein notdürftiges Bündel Wechselkleidung, darunter ihre Nerzstola, die in ein Geschirrtuch gewickelt war, ein Fernglas, eine Tasche voller Unterlagen, Karten und anderer Dinge, die ich erst später entdecken sollte, ein Koffer mit Kupferbeschlägen an den Ecken, der eine unglaubliche Menge alter Zeitungsausschnitte enthielt, und einen Colt, wie jenen, den diese verfluchten Mafiosi immer bei sich trugen. Nicht zu vergessen ihr Schminkköfferchen, von dem meine Mutter behauptete, es könne es angesichts der Widrigkeiten des Lebens mit allen Handfeuerwaffen aufnehmen.