Der Grundstein von Prora - Wolfgang Repke - E-Book

Der Grundstein von Prora E-Book

Wolfgang Repke

4,8

Beschreibung

In dem fiktionalen Prora-Roman mit vielen Abbildungen, Skizzen und Fotos kommt der fertige Architekturstudent Peter 2014 nach Prora. Er will seine Doktorarbeit über den Architekten Glotz und das geplante KdF-Bad schreiben. Schnell wird deutlich, dass er dazu den verschollenen Grundstein finden muss und einen Auftrag der Erbin benötigt. Aber auch andere haben offensichtlich starkes Interesse. Es entwickelt sich eine Jagd in und um das Denkmal. Das Buch ist eine Mischung aus Fakten und Fiktion. Was in welche Kategorie gehört, kann der interessierte Leser versuchen, selbst herauszufinden, z.B. während eines Aufenthalts. Oder vielleicht macht dieser kleine "Reiseführer" Lust auf eine Reise nach Prora und den Komplex mit seiner Geschichte, seinen Legenden und Halbwahrheiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 226

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für DoRo II

Hier bei uns hat er ihn gefunden. Und nicht, wie manche später behauptet haben, weiter oben im Norden bei den Ruinen. Oder ganz vorne, im Süden Richtung Binz, sagten hinterher die scheinbar Wissenden. Nein, es war aber genau hier. Alles andere ist Legende. Eine der vielen Legenden und Halbwahrheiten rund um die Geschichte(n) von Prora. Meine Person kann nur berichten, was wirklich geschehen ist. Der Rest ist eine Mär. Vielleicht werden auch nur diejenigen die Wirklichkeit herausfinden, die unser Zeichen bei sich tragen.

Ich war wirklich gut präpariert mit Maurerhammer und Meißel. Die ganze nächtliche Szene lediglich durch meine Stirnlampe spärlich beleuchtet, um mich und das Geschehen einigermaßen unsichtbar zu machen. In Gedanken hatte ich die nächsten Minuten und Stunden immer wieder durchgespielt. Nur eine Generalprobe, die war leider nicht möglich. Zuerst mussten die Mauersteine aus der Wand geholt werden. An der mit dem Geheimcode markierten Stelle: „VEBZVI“. Oder besser von vorne, einfach direkt durch die Wand geschlagen? Nur ein Stein quer und dünner Nachkriegsmörtel sollten es sein. Ein erster beherzter Schlag ging genau in die Mitte der oberster Reihe. Darüber lag das alte Mauerwerk solide in Form eines Rundbogen-Sturzes, der ursprünglich in den 30er Jahren vielleicht für eine Türöffnung angefertigt worden war. So blieb die Stabilität der jüngeren Mauer aus DDR-Zeiten bei meinem Abriss gewährleistet. Der erste Stein löste sich ohne große Probleme, aber der Mörtel fiel auf der Rückseite mit deutlichen Geräuschen auf etwas Metallisches. Als gute Nachricht schoss mir durch den Kopf: Das Gepolter muss von der Kiste kommen, zugleich aber als Schlechte: Zu viel Geräuschkulisse in der hellhörigen Nacht! Mit dem Maurerhammer zog ich den Stein vorsichtig in meine Richtung. Gedreht ließ er sich nun einfach nach vorne herausnehmen. Mit Bedacht gelang es mir nach und nach die einzelnen Klinker links und rechts ohne Werkzeug zu lösen. Im Gras neben dem ‚Tatort‘ türmte sich langsam ein Stapel aus gut fünfzig Steinen, so dass ein Loch von über einen Meter Breite entstand. Ein kurzer Uhrencheck: Diese Aktion hatte gut 30 Minuten gedauert. Ich traute mich noch nicht, in die Höhle zu leuchten. Erst wollte ich für einen Augenblick innehalten, das Licht löschen und durch intensives Lauschen Gewissheit haben, dass sich niemand in meiner Nähe befand. Wie viele unbekannte Laute kann eine solche Nacht hervorbringen? Zu viele! Ab wann bekommt man Angst? Wenn das Gehirn keine logische Erklärung mehr hat! Schluss damit - ich musste weitermachen – keine Zeit für solche Geisteswirrungen. Mein Ziel lag doch schon direkt vor mir. Die Anspannung ließ nur das Gehirn verrücktspielen. Nach etwa fünf Minuten traute ich mich wieder, den Kopf direkt in Richtung des Mauerloches zu heben und die Stirnlampe einzuschalten. Heureka!

Eine Kiste, die Kiste, meine Kiste!

Instinktiv strich ich über den Deckel, wie ein Seefahrer oder besser noch ein Pirat, der (s)eine Schatzkiste endlich erbeutet hat. Jetzt mussten sich noch die nächsten mitgebrachten Ausrüstungsgegenstände bewähren. Zum Glück hatte ich das von mir eigens erdachte und angepasste Transportvehikel dabei. Den fahrbaren Untersatz mit dem Kettenantrieb umzubauen, zeichnete sich wirklich als eine nützliche Idee aus. Aber vorher musste ich mir die Hebelgesetzte zunutze machen. Viel zu schwer für nur einen Mann war diese stahlblecherne Kiste, die viel grösser wirkte als auf den wenigen Fotos aus der damaligen Zeit zu vermuten gewesen wäre. Gut einen Meter breit, einen halben Meter tief und nochmal einen knappen halben Meter hoch. Dazu dann noch der Inhalt. Sofort schossen mir wieder die möglichen Optionen durch den Kopf, die ich schon so oft theoretisch durchgespielt hatte. Die Kiste vor Ort versuchen zu öffnen, und nur die Unterlagen entnehmen? Notwendigerweise war sie mit Beschlägen gut verschlossen worden. Die immerhin bald achtzig Jahre in dem Sarkophag hatten ihre Spuren an den Verschlüssen hinterlassen. Ein hastiges Ausräumen der kostbaren Unterlagen im Dunkeln hätte bei dieser Methode auch zu Beschädigungen oder Teilverlust führen können. Der Grundstein wäre aber vor allem nicht mehr ‚original‘. Mein Gehirn fing wohl schon wieder an verrückt zu spielen. Dabei war die Entscheidung doch schon im Vorfeld gefallen: Die Kiste musste als Ganzes erhalten bleiben! Vorsichtig setzte ich nun den Maurerhammer als Hebel an, um dann den Meißel an der linken Seite unter die Kiste zu schieben. Als nächstes musste ich das mitgebrachte Seil irgendwie darunter hindurch fädeln. Das wollte nicht so einfach gelingen, wie in der Theorie geplant, und langsam wurde ich immer nervöser. Es war damit zu rechnen, dass auch die anderen „Jäger“ der Kiste ziemlich nah an mir, und damit an der Lösung des Rätsels um das Versteck, dran waren. Das Katze- und Mausspiel der letzten Tage und Wochen hatte ja dazu geführt, dass sie mich fast ständig verfolgten und niemals lange aus den Augen verloren. Stets musste damit gerechnet werden, dass einer, also ich, den entscheidenden Schachzug macht. Doch jetzt galt für mich nur eins: Noch mal mit voller Konzentration und Kraft weitermachen. An der einen Ecke die Kiste ein Stück so anwinkeln, dass das Seil zumindest ein Stück darunter zu bekommen war und dann auf der anderen Seite das Gleiche wiederholen. Als nächsten Schritt konnte ich den Hebel in der Mitte der kurzen Seite ansetzen, so dass das Seil wenigstens einige Zentimeter unter dem Rand saß. Nachdem ich dies endlich auf beiden Seiten der Kiste geschafft hatte, war schon wieder fast eine halbe Stunde vergangen. Nun hatte sich die nächste Eigenkonstruktion zu beweisen. Auf meinen Transportwagen hatte ich einen Ausleger montiert, der wie ein schwenkbarer Galgen über der Kiste positioniert werden konnte. Dazu war es notwendig, so nah wie möglich, seitlich an die Mauer heranzufahren. Zum Glück gestaltete sich das Wegräumen und Glätten des Schotters sowie einigem Unrats, der herumlag, nicht so aufwändig wie angenommen. Für meine Idee mit dem Eisverkaufswagen hätte ich mich schon zum wiederholten Mal selbst loben können. Es war ja sonst niemand da, der die Genialität dieser Lösung hätte gebührend würdigen können.

Das Schicksal eines ‚Alleintäters‘?! - Spielten die Synapsen schon wieder verrückt?

An diesem Galgen kam nun die Winde zum Einsatz. Beim Verbinden mit den Enden der Seile, die unter der Kiste lagen, musste ich sorgfältig auf die gleiche Länge achten, ansonsten würde sich mein Schatz in seinem engen Versteck verkanten. Die untersten zwei Reihen Mauersteine hatte ich aus Zeitgründen nicht mehr eingerissen und an den Seiten war nicht viel Platz bis zu den Wänden, vielleicht gerade eine Hand breit. Ganz langsam und vorsichtig drehte ich danach an der Kurbel der Seilwinde. Der textile Gurt zog geräuschlos an, in der Nacht bei absoluter Stille wären die ursprünglich gedachten Ketten mit ihrem Rasseln bestimmt über Kilometer zu hören gewesen. Tatsächlich hob sich meine Kiste Zentimeter für Zentimeter aus ihrer jahrzehntelangen Ruheposition. Jetzt spürte ich schon wieder etwas Merkwürdiges in mir aufsteigen. Eine Mischung aus immer stärkerer Aufregung und tiefen Glücks. Ich musste unbedingt diese Gefühle unter Kontrolle behalten, sonst könnte mir zu guter Letzt noch ein Fehler unterlaufen. Nachdem die Kiste endlich majestätisch in der richtigen Höhe schwebte, schwenkte ich sie langsam zu meinem Transportwagen herüber. Sollte ich das nicht mehr benötigte Werkzeug und den Galgen einfach vor Ort liegen lassen? Auch darüber hatte ich mir schon vorher, bei meiner Vorbereitung, Gedanken gemacht. Beide Varianten hatten ihren Reiz. Wenn in Kürze einer der Verfolger an die richtige Stelle kommen würde, könnte er entweder gleich erkennen, wie clever es gemacht worden war oder eben darüber rätseln müssen, wenn ich alles wieder mitgenommen hätte. Letztlich war die Entscheidung aus rein praktischen Gründen gleich zu Beginn meiner Planung gefallen. Mit meiner Grundsteinkiste hatte ich genug zu bewerkstelligen. Also blieb der Rest vor Ort. Stumme Zeugen einer Wiederauferstehung. Das Absetzen der Kiste auf dem kleinen Panzerfahrzeug stellte kein großes Problem mehr dar. Die Spannbänder zur Sicherung der kostbaren Ladung waren schnell verzurrt. Die kleine Reise bis zum Jeep konnte mit dem fast lautlosen Elektromobil beginnen.

Ante: ‚Was wissen Sie über das Wirken unserer Architektenfamilie‘?

So, oder so ähnlich hatte das Gespräch mit einem Nachkommen begonnen. Wen gab es da noch, oder war sie tatsächlich die einzige? Natürlich war ich vorbereitet, so gut es eben bei den verfügbaren Quellen ging.

„Zu einer der bedeutendsten Leistungen zählt auf alle Fälle Prora, Frau Glotz.“

Sie war also die Enkelin des großen Architekten. Irgendwie sah sie nicht so aus wie ein Sprössling eines besonderen Architekten-Charakters. Musste sie aber auch nicht, weshalb auch. Eher eine biedere, ältere Dame. Für mich war nur wichtig, ihre Motivation herauszufinden. Warum wollte sie die alten Geschichten noch einmal aufreißen? Worum ging es ihr? Das musste ich versuchen, im Gespräch herauszubekommen. Aber zuerst befand ich mich in der Defensive und war gezwungen, mich vor ihr zu beweisen.

„1937 hat Ihr Großvater sogar einen Grand Prix für den Entwurf zu Prora auf der Weltausstellung in Paris erhalten.“

„Ja, schon klar, das weiß jeder.“

Sie schien fast genervt und etwas von oben herab.

„Natürlich ist da noch viel mehr, aber ich weiß nicht, ob es heute bei unserem Gespräch, auch darum gehen soll.“

„Die vielen anderen Leistungen meines geehrten Herrn Großvater werden immer wieder nur mit dem NS-Regime in Verbindung gebracht.“

Selbstverständlich wusste ich, dass von ihm auch die Ordensburgen in Crössinsee (Pommern) und Vogelsang (Eifel) stammten, die nun wirklich als NS-Bauten gelten. Was aber nicht einer weiteren Nutzung widersprach. Als Kasernen, einmal der belgischen und andererseits bis heute der polnischen Armee. Prora wird inzwischen aus fachlicher Sicht anders gesehen. Die NS-Architektur rückt in den Hintergrund, hier wird mittlerweile eher von einer Art sozialem Wohnungsbzw. Ferienbau gesprochen. Dazu hatte ich bereits ein eigenes Kapitel für meine Doktorarbeit entworfen, das wusste ich bereits, wollte es aber nicht hier schon ins Gespräch bringen.

„Deshalb war nach dem Krieg dann auch Schluss. Letztlich ist er auch daran zugrunde gegangen. Warum wollen Sie sich nun mit Prora beschäftigen? Es waren schon so einige hier. Und alle hatten nur ein Eigeninteresse und es ging ihnen nicht um die Sache.“

„Ich will meine Doktorarbeit über Prora schreiben.“

„Warum?“

„Im Vorfeld und in meinem Studium habe ich mich schon intensiver mit dem Thema der sogenannten späten Bauhaus-Architektur beschäftigt. Und mich interessiert auch die schnelle Planung und Umsetzung, wenn man das so mit den heutigen Bauprojekten vergleicht.“

„Es gibt nicht mehr so viel zu Prora. Alles ist verschollen. Am 2. Mai 1936 wurde der Grundstein gelegt, mit viel Tamtam und was damals so üblich war. Das war mehr symbolisch gedacht. Er lag dann ein halbes oder ein Jahr in der Gegend rum bis mit dem eigentlichen Bau begonnen wurde. Und seit dieser Zeit ist er nicht wieder gefunden worden. Leider sind damit auch alle Unterlagen, die Baupläne, die sich in der Grundsteinkiste befunden haben, verschollen.“

„Gab es denn keine Kopien oder ähnliches?“

„Nein, es ist im Nachlass nichts gefunden worden. In Holland gibt es noch einen ehemaligen Architektur-Fotografen, der hat noch ein paar alte Fotoplatten, die geben aber auch nicht viel her.“

„Das heißt doch, der Grundstein muss noch irgendwo sein!“

„Genau darum geht es. In der Kiste, die als Grundstein gelegt wurde, befanden und befinden sich die einzigen und kompletten Unterlagen zum KdF-Bad Mukran, oder später Prora. Das müssen die Originalzeichnungen sein. Und, um es nun kurz und knapp zu sagen, es geht darum, dass Sie die Kisten finden sollen. Und ganz nebenbei: Für Sie findet sich ihr Wunschthema zur Doktorarbeit auch mit in der Kiste.“

„Darf ich offen fragen: Worum geht es Ihnen ganz persönlich in der Sache?“

Ich brauchte natürlich ihre Zustimmung, um später bei meiner Doktorarbeit keine urheberrechtlichen Probleme zu bekommen. „Es gibt da noch jede Menge richtig zu stellen, seine Rolle als Architekt und sein Schaffen. Es geht nicht um politische Dinge, aber durchaus darum, dass seine Arbeit zumindest in Prora nicht politisch gewesen ist und um das, was heute daraus gemacht wird.“

Ich war die ganze Zeit ihres kurzen Monologs ins Grübeln gekommen. Reichte die gemeinsame Schnittmenge unserer Interessen aus? War es nicht ein zu hohes Risiko für meine Doktorarbeit alles auf die Karte, sozusagen auf eine Kiste zu setzen? Was, wenn nach langer Recherche nichts davon übrig bleibt, von meinem schönen und einzigartigen Thema? Außer Spesen nichts gewesen, könnte dann das Ergebnis monatelanger Arbeit lauten. Was noch könnte ein Beweggrund für diese Dame sein, einen jungen Mann fast hundert Jahre rückwärts in die Geschichte zu schicken?

„Ja“, sagte sie gedankenlesend, „jetzt sind Sie ins Grübeln geraten. Ich kann Ihnen auch nicht so viel mehr sagen, als dass wir jemanden suchen, der sie hoffentlich findet, die Kiste.“

Sie hatte gerade ‚wir‘ gesagt. Es musste also noch andere geben. Ich wollte aber auf keinen Fall jetzt zu viele Fragen stellen, merkte es mir allerdings für später.

„Natürlich gab es schon verschiedene offizielle Anfragen. Darauf werden sie in ihren Vorrecherchen auch schon gestoßen sein. Aber es gab nie eine Antwort. Auch als die Mauer noch zu war, wurde versucht, bei den offiziellen Stellen der damaligen DDR Informationen zu erhalten, was aus dem Bau nach dem Krieg geworden war. Eisiges Schweigen war die Antwort. Wir mussten fast davon ausgehen, dass nach dem Krieg nur alles weggesprengt wurde und gar nichts mehr vorhanden ist. Eigentlich waren wir schon froh, als nach der Wende endlich offenbar wurde, dass zumindest ein Teil der Bauten noch steht.“

Ich durfte das Gespräch jetzt nicht ins Stocken kommen lassen. „Mich schreckt das nicht ab. Ich glaube sogar, dadurch einen zusätzlichen Reiz in dem Thema zu sehen. Klar geht es mir um den Baustil und die Technologie und auch darum, wie sich der Entwurf über die Zeit weiterentwickelt hat. Auch über äußere Einflüsse. Zum Beispiel die Änderung des Mittelstücks. Die Festhalle wurde doch auf besonderen Wunsch von ‚jemanden‘, Sie wissen schon, durch einen anderen Architekten entworfen und musste dann ins ursprüngliche Konzept eingefügt werden. Oder die Sache mit den Dächern. Wie konnte die Forderung nach Spitzdächern statt den konzipierten Flachdächern im laufenden Bauprojekt noch umgesetzt werden? Und welche Spuren sind noch heute davon zu finden?“

„Also Herr Propars, oder darf ich Peter sagen? Trauen Sie sich das zu? Schon Ihr Name lässt zumindest auf eine gewisse Verbindung zu Prora schließen.“

Sie schmunzelte jetzt sogar ganz kurz.

Ich spürte in diesem Augenblick, ich hatte gewonnen.

„Eindeutig ja. Es kann aber eine Weile dauern.“

Ich gab eine betont selbstsichere Antwort.

„Aber Sie dürfen vor Ort auf keinen Fall zu offensichtlich vorgehen. Sonst sind alle verschreckt, lassen abermals die Jalousien des Schweigens runter und dann ist für lange Zeit wieder nix zu erreichen.“

„Das heißt, ich brauche eine Tarnung?“

„Da müssen Sie sich etwas einfallen lassen. Klar, wird es nicht funktionieren, sich als interessierter Doktorand vorzustellen und darauf zu hoffen, alle Türen öffnen sich von selbst.“

„Wie soll das gehen?“

„Erfinden Sie eine Geschichte. Es ist doch ein Urlaubsgebiet, in dem sich in der Saison immer viele junge Leute von überall her einen Job suchen. Irgendwie sowas.“

„Ich nehme den Auftrag an.“

Jetzt versuchte ich das Gespräch zum positiven Abschluss zu bringen. Ehe sie es sich noch anders überlegt. Dabei versuchte ich ein überzeugtes Lächeln in meine Gesichtszüge zu zaubern.

Sie zögerte etwas und beendete das Gespräch ohne eine eindeutige Zusage.

„Wie bleiben wir in Verbindung?“

„Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich dort oben angekommen bin und erste Erkenntnisse zusammenfassen kann.“

„Sie sollten sich mindestens einmal pro Woche bei mir melden. Schließlich wollen wir wissen, was Sie dort so treiben und wie Sie vorankommen. Nicht, dass sie zum Schluss mit unserer Kiste verschwunden sind!“

Auch sie legte ein merkwürdiges Lächeln auf, wohl um mir klarzumachen, dass sie es ernst meint. In jeder Hinsicht.

Gleich als ich raus war, notierte ich noch im Auto eine kurze Zusammenfassung in mein Moleskine:

Wer ist ‚wir‘ bei Frau Glotz?

Gibt es Verbindungen zu den anderen Bauprojekten des Großvaters? Nach 1933 wurde er, vermutlich durch persönliche Beziehungen zu Robert Ley, zum ‚beauftragten Architekten der Reichsleitung für die Errichtung der Schulungsbauten der NSDAP und der DAF‘. Und ab 1938 zum ‚Vertrauensarchitekten der DAF‘. Neben Prora gab es bereits Entwürfe, auch für die Ordensburgen Vogelsang und Crössinsee und dann noch weitere Großaufträge, wie das Haus der deutschen Arbeit und ein Gau-Forum. Von ‚ihm‘ wurde er sogar zum Professor ernannt, usw. Konnte ich heute die Enkelin offen dazu befragen? Musste ich diese Ereignisse für meine Doktorarbeit bearbeiten?

Der „große“ Architekt eigentlich mehr ein Außenseiter der damaligen Zeit oder sogar nur ein Emporkömmling?

In Via: Schon während der Fahrt nach Prora im Frühsommer 2014 steigerten sich meine Spannung und meine Erwartungen.

Es war ein Montag, der 30.Juni. Noch nie zuvor war ich auf der größten Insel Deutschlands. Ganz bewusst wählte ich eine besondere Route. Nicht über die übliche Touristenstrecke. Also nicht direkt über die B 96 und den Rügendamm, sondern mit der Autofähre von Stahlbrode noch auf dem Festland gelegen nach Glewitz auf Rügen. Ungefähr eine Viertelstunde dauert so eine Überfahrt über den Strelasund. Kein klassischer Bodden, nach Osten in Richtung Greifswald öffnet sich die Ostsee wie ein Trichter und im Westen hinter den Kirchtürmen von Stralsund besteht ebenfalls die direkte Verbindung zur offenen See. Eine herrliche Einstimmung, die gute Seeluft einzuatmen und die Insel langsam auf sich zukommen zu lassen. Auf dem Eiland angekommen, führt der weitere Weg über Garz und Putbus. Hier ist eine Runde zu Ehren von Malte zu Putbus im Circus, dem Rondell mit ausschließlich weißen Häusern und den gepflegten Rosenstöcken an jeder Fassade eine Architektenpflicht. Alle Straßen sind fast durchgehend einmalige Baum-Alleen, Baumgänge. Die Deutsche Alleenstraße! Die Kronen der alten Bäume wachsen über dem verweilenden Betrachter zusammen und die Straße scheint, nicht allzu weit entfernt, zu enden. Für den Fahrenden hingegen ist es ein Gefühl, wie in einem Tunnel, der nach vorn immer enger zusammenlaufend, doch niemals ein endgültiges Ende finden will. In eine andere, frühere Zeit zurückversetzt, fühlt man sich dann in Vilmnitz. Der Asphalt wechselt plötzlich im Schatten der Bäume zu bejahrtem, gewölbtem Feldsteinpflaster. Eine Dorfkirche und typische Bauernhäuser aus einer alten, aber doch irgendwie vertrauten Zeit präsentieren sich auch heute noch fast wie eine Theaterkulisse.

Nicht ohne Grund wurde hier 1967 der Film ‚Die Heiden von Kummerow und ihre lustigen Streiche‘ gedreht. In der Kirche liegen die Gebeine derer zu Putbus, hatte ich mich schon belesen. Einer Familie, die lange Zeit besonders stark mit Rügen verbunden war. Bis zu einem Drittel der Insel sollen sie mal besessen haben. Und auch speziell mit Prora ist sie Teil der Geschichte geworden. Das Grundstück hatte Malte zu Putbus 1935 an die DAF/KDF (Deutsche Arbeiterfront/Kraft durch Freude) verkauft oder überschrieben. Dieses Dorf stand schon vor Anreise auf meinem Zettel der zu besuchenden ‚sehenswerten Orte‘ - Jetzt, da sich das Original vor mir präsentierte und mir diese Besonderheiten bewusst wurden, musste ich einfach anhalten und kurz verweilen. Die Kirche St.

Maria Magdalena auf einer kleinen Anhöhe gelegen, geht in ihrer Geschichte bis 1200 zurück und zeigt von romanischen Elementen über die Barockkanzel auch Epitaphien der Familie zu Putbus. Unten, unter dem Ost-Chor in der Gruft liegen sie, die Gebeine derer von Putbus. Durch eine kleine Öffnung in der Außenmauer konnte ich einen Blick auf die fast 30 Särge werfen. Mit dem Bau der Stadt Putbus erfolgten dann die Beisetzungen der Familie in dem eigens errichteten Mausoleum im Park.

Über diese wechselnden Eindrücke näherte ich mich aus südöstlicher Seite zunächst Binz, um den alten Ortskern rechts liegen zu lassen in Richtung des Ortsteils Prora.

Prora? Alte Namensdeutungen werden zumeist im Lateinischen gesucht. Also ‚Vorderdeck‘, ‚Bug‘ oder sogar ‚Schiff‘? Heißt es denn auch korrekt ‚auf der Prora‘ und nicht ‚in Prora‘! Mir erschien eine Erklärung aus dem Sprichwörtlichen am treffendsten: „prora et puppis“ als erster und auch letzter, das heißt einziger Beweggrund. Mein einziger Beweggrund war: Der Grundstein von Prora.

Ein mögliches Quartier hatte ich bereits lange vorher mit Bedacht gesucht. Ein Hotel kam schon aus Kostengründen nicht in Betracht, Pensionen waren zwar in der Hochsaison verfügbar und dann belegt. Wenn also mein Aufenthalt länger und der Kontakt zu den Einwohnern für mich und meine Aufgabe wichtig wären, kam nur ein Privatquartier in Frage.

Direkt im Ortsteil Prora gibt es gerademal an die 750 Einwohner und damit auch nur wenige Wohnhäuser. Fast alle stammen aus der Zeit der KdF-Baustelle entlang der Poststraße. Und dann sind da noch die beiden Wohnsiedlungen, geplant für ‚Bedienstete‘ (sogenannte Gefolgschaften) der Anlage. Diese waren zu Kriegsbeginn schon fertiggestellt. Jeweils eine in Norden und im Süden liegen sie symmetrisch direkt hinter dem eigentlichen Bauwerk malerisch umgeben von Wäldchen, die noch an die ursprüngliche Prora erinnern. Im Internet nach einer Unterkunft zu suchen, erschien mir schon bei meinem Vorbereitungen nicht allzu vielversprechend. Dann las ich über die hohen Erfolgschancen eines klassischen Inserats in den örtlichen Zeitungen, gerade in solchen ländlichen Regionen.

Die möglichen Vermieter, ältere Ehepaare oder alleinstehende Rentner sind doch (noch) nicht täglich im www unterwegs, sondern haben auf alle Fälle eine örtliche Tageszeitung abonniert, die sie intensiv studieren inclusive der Annoncen, schon der Todesanzeigen wegen. Also hatte ich schon vorab in der Ostsee-Zeitung inseriert:

Student sucht für einige Monate ein möbliertes Zimmer in Prora: Tel. Nr. / Adresse / E-Mailadresse (optional).

Tatsächlich bekam ich einige Tage später eine Nachricht. Eigentlich hatte ich einem Anruf gerechnet. Der Brief sagte aber viel mehr über meine zukünftigen Vermieter aus. Ein sauberes und fast altdeutsches Schriftbild deuteten auf eine ältere Dame hin: ‚Gern würden wir Sie als Logisgast aufnehmen. Dazu scheint es geboten, bei einem längeren Zeitraum, Sie vorher gern besser kennenlernen zu wollen…‘ Etwas geschwollen wirkte diese Antwort schon, aber sie war die Einzige. Keine Telefonnummer, um weitere Details zu besprechen. So erschien es mir am sinnvollsten, ganz einfach einen Antwortbrief mit der Ankündigung meines Kommens zu schicken.

Endlich bog ich dann, nach meiner langen Fahrt, erst über die Poststrasse in die Mukraner Straße und dann in die Nordstraße ein. Hier standen sie fast unverändert von der Zeit, diese sogenannten Gefolgschaftshäuser. Links und rechts der Straße jeweils wie eine Fischgräte schmiegten sie sich in den Dünenwald. Die eingeschossige Bauweise mit den großen Walmdächern machte wirklich nicht den Eindruck von Massenquartieren. Nach dem Krieg, also zu Zeiten der Nutzung durch die NVA, sollen an diesem Ort ausschließlich Offiziere mit ihren Familien gewohnt haben. Es muss fast wie ein Lottogewinn gewesen sein, zwar in der Nähe der Kaserne aber doch völlig separat, hier in diesen netten Reihenhäusern gewohnt haben zu „dürfen“. Die einzelnen Hausreihen sind mit einer Art Laubengang untereinander verbunden. Eine gelungene, lockere Wohnanlage und schon das erste Stück des KdF-Bades, sogar einer der wenigen Teile, die vor dem Baustopp tatsächlich auch noch fertig geworden waren.

Die Nordstraße in Prora mit den links und rechts liegenden Reihenhäusern und immer noch einem Tor am Ende. Sackgasse, Durchfahrt gesperrt zur ehemaligen Kaserne.

Die Hausnummern von 25 bis 37 schienen logisch angeordnet, bei der Nummerierung der einzelnen Wohnungen musste ich mich erst etwas orientieren, fand dann aber doch recht zügig den seitlichen Eingang zu meinem neuen Heim für die nächsten Monate.

Mit Laubengängen verbundene Gefolgschaftshäuser

Nach dem Klingeln dauerte es nicht lange und es erschien eine rüstige Frau, ca. 70-75 Jahre alt. Sie öffnete so schnell, dass zu vermuteten war, sie hatte schon hinter der Gardine gestanden.

Hier, in der verschlafenen, abgelegenen Anlage fällt alles und jeder auf, der hier nicht ‚hergehört‘. Nach einem kurzen aber freundlichen ‚Guten Tag‘ wurde ich gleich zum „Einführungsgespräch“ in die Küche geleitet. Sie musterte mich von oben bis unten nach dem Motto „erst mal anschauen den Mann“. Und dann kam sie auch schon, die Frage nach dem ‚warum‘!

„Wozu sind Sie bei uns auf Rügen?“

„Ich bin Student und will hier mit einem Sommerjob etwas Geld verdienen.“

„Aber wo wollen Sie denn arbeiten? Hier ist nicht so viel mit Arbeit.“

Zum Glück hatte ich im Vorfeld schon bei der neu eröffneten Jugendherberge in Prora nachgefragt und eine Zusage für ein Vorstellungsgespräch erhalten.

„Ich will hier in der Jugendherberge gleich um die Ecke arbeiten, die haben da einen Job für mich.“

„Ach, hier gleich bei uns vorn im letzten Stück vom letzten Block .“

„Ja genau, die können in der Hauptsaison jede Hand gebrauchen, sagte mir der Chef am Telefon. Ich gehe gleich morgen dorthin und will alles klarmachen.“

„Also dann machen wir das so, junger Mann: Ich zeige Ihnen erst einmal das Zimmer, Sie klären das morgen mit der Arbeit und dann können Sie erst mal hier wohnen. Aber eins sage ich Ihnen gleich, wenn Sie irgendwelche Sperenzien machen, fliegen Sie raus. Aber nun kommen Sie, Sie müssen ja von der langen Fahrt ganz müde und erschöpft sein.“

Der letzte Satz klang schon angenehmer. Kam jetzt bei ihr so etwas wie ein Mutter-Instinkt durch? Das gefiel mir schon besser als ihre sonst eher strenge Art. Über den kleinen Flur gelangten wir schnell zu dem betreffenden Zimmer. Es sah auf den ersten Blick so aus, wie ein als Kinderzimmer vorgesehener Raum. Klein, daher wenig Platz für Möbel. Ein Bett, ein Tisch mit Stuhl und ein großer Kleiderschrank, mehr passte hier auch nicht rein. Aber für mich völlig ausreichend und in Ordnung, der Preis von gerade mal 100 Euro pro Monat war auf alle Fälle unschlagbar.

„Ich zeige Ihnen dann noch das Badezimmer, wir haben ja nur eins und das müssen wir zusammen benutzen. Ich hoffe wir kommen uns dann nicht in die Quere.“ Sie lächelte.

„Nein, ich richte mich da ganz nach Ihnen und lange brauche ich morgens und abends sowieso nicht.“

Auf dem Weg über den Flur in Richtung Bad versuchte ich mir gleich einen kleinen Überblick über den Rest der Wohnung zu verschaffen. Hinten am Ende des Flures ein verschlossener Raum, bestimmt das Schlafzimmer. Beim einzigen anderen, noch vorhandenen Zimmer stand die Tür einen Spalt weit offen.

Im Vorbeigehen konnte ich einen kurzen Blick hinein werfen.

Dort saß ein Mann, auch ca. fünfundsiebzig Jahre, vielleicht aber auch schon achtzig. Er machte auf den ersten Blick nicht den noch so rüstigen Eindruck seiner Frau. Sie hatte scheinbar meine Blicke bemerkt.

„Das ist mein Mann. Er wird Sie zu gegebener Zeit begrüßen.“

Eine merkwürdige aber doch klare Botschaft: Er wollte mit mir nichts zu tun haben. Noch etwas fiel mir bei meinem kurzen Blick in das Wohnzimmer, mit der typischen großen Schrankwand bis zur Decke hoch, auf. Ich bemerkte neben und über dem Fernseher laufende Meter von Büchern in gleicher Farbe. Ähnliches hatte ich schon auf Flohmärkten und in Antiquariaten gesehen. Das mussten die gesammelten Werke von Marx/Engels und Lenin sein. Die einen blau in wohl über vierzig Büchern, die anderen rot mit mehr als dreißig Bänden.

Irgendwie konnte meine Frau Wirtin Gedanken lesen oder aber zumindest meine Blicke deuten. Als wir beim Badezimmer angekommen waren, sagte sie leise:

„Bitte sprechen Sie meinem Mann nicht an, wenn er nicht das Gespräch von sich aus beginnt. Und vor allem, keine Diskussionen zum Thema DDR oder NVA. Hier können Sie nur verlieren.“

Warum sollte ich nicht gewinnen können? Aber ich ahnte in diesem Augenblick schon, dass er einer von ‚denen‘ sein musste, die den Untergang der DDR, des Sozialismus und vielleicht auch der NVA nie verkraften konnten. Vielleicht ein Offizier, aber heute und hier konnte und wollte ich das nicht weiter ansprechen.

„Haben Sie denn überhaupt schon etwas gegessen?“

„Ja, ich habe unterwegs Pause gemacht und auch noch genug Proviant übrig. Ich glaube, ich will dann auch gleich ins Bett.“