Der Gute liegt so nah... - Kristan Higgins - E-Book

Der Gute liegt so nah... E-Book

Kristan Higgins

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Beschreibung

Der neue Roman von Kristan Higgins - garantiert weibliche Lachtränen und öffnet allen Männern die Augen! Joe! Für die junge Ärztin Millie Barnes hat die Sehnsucht einen Namen. Nach dem Studium zurück auf Cape Cod, will sie vor allem eins: Joe Carpenter davon überzeugen, dass sie beide zusammen gehören. Schließlich schwärmt sie seit ihrer Highschoolzeit für ihn. Niemand hat so freche Augen und so ein sexy Grübchen wie er, niemand dieses dunkelblonde Haar, das immer so ausseht, als hätte darin gerade eine Frau gewühlt … was wahrscheinlich stimmt. Allerdings gibt es noch einen zweiten Mann in Millies neuem, alten Leben: Ihren Schwager Sam, frisch von ihrer egomanischen Schwester geschieden. Nur ein guter Freund, nur ein verlässlicher Kumpel. Oder? Aber wer sagt eigentlich, dass die Sehnsucht nur einen Namen trägt?

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Seitenzahl: 518

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

Kristan Higgins

Der Gute liegt so nah …

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christian Trautmann

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Fools Rush In

Copyright © 2006 by Kristan Higgins

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Steinhage

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz / Marie Curtis

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-141-6 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-140-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

PROLOG

Ich bin eine Stalkerin. Eine von der harmlosen Sorte. Na ja, ich war eine Stalkerin, es ist schon eine Weile her. Trotzdem ist es schwer, zuzugeben, dass man aus Liebe verfolgt, belauscht, spioniert, herumgelungert und bestochen hat. Aber all das habe ich getan, und zwar ziemlich gut, wie ich hinzufügen möchte. Vielleicht wissen Sie, wovon ich rede. Es spielt keine Rolle, wie alt man ist, welche Schulbildung man hat oder wo man wohnt – Stalking ist der weiblichen Psyche angeboren. Wir haben das alle schon mal gemacht.

In meinem Fall habe ich Joe Carpenter nachgestellt, seit ich vierzehneinhalb war, bis ich aufs College ging. Ich wusste, wo mein Opfer lebte, ich kannte den Namen seiner Mutter, den seiner Schwester und den seines Hundes. Ich wusste, welchen Pick-up er fuhr, kannte seine Lieblingsfarbe, die Namen seiner vier Exfreundinnen und sein Lieblingsbier. Ich wusste, in welche Kneipe er freitagabends ging und welche Songs er in der Jukebox spielte. Ich wusste, wo er arbeitete, wie er seinen Kaffee trank und welche Zensur er in Spanisch hatte. Es gab nicht viel, was ich über Joe Carpenter nicht wusste.

Obwohl ich nicht der juristischen Definition einer Stalkerin entsprach, bin ich doch ein- oder zweimal an Joes Haus vorbeigefahren. Vielleicht auch öfter. (Okay, öfter.) Unsere „zufälligen“ Begegnungen waren mit militärischer Präzision geplant, und es brauchte jahrelange Übung, dieses Niveau von Zufälligkeit zu erreichen. Wahrscheinlich sollte ich nicht stolz darauf sein. Trotzdem, Talent ist Talent.

Es begann im ersten Semester Biologie an der Nauset-Highschool in Eastham, Massachusetts. Joes Platz befand sich diagonal vor meinem, und um zur Tafel zu schauen, musste ich an ihm vorbeisehen. Was ich nicht konnte. Nur wenige Frauen schafften es, Joe nicht anzusehen, selbst als er erst vier zehn war. Dann stellte ich fest, dass sein Schließfach nur drei Fächer von meinem entfernt war, und das Stalking fing an.

Mal erwähnte er einem Freund gegenüber, dass er nach der Schule an den Strand gehen würde, wo ich mich dann verbotenerweise in das Seeschwalbennistgebiet schlich, um Joe heimlich beim Herumalbern mit seinen Kumpels zu beobachten. Oder ich sah den Wagen seiner Mutter vor dem Supermarkt, wenn mein Vater mich von irgendwo abholte, und dann rief ich, dass ich dringend noch Tampons bräuchte, weil ich mir sicher sein konnte, dass der Einkauf weiblicher Hygieneprodukte meinen Dad veranlassen würde, auf dem Parkplatz zu warten. Ich schlich durch die Supermarktgänge, in der Hoffnung, einen Blick auf Joe Carpenter zu erhaschen. Oder ich fuhr mit dem Fahrrad in der Stadt herum, auf der Suche nach ihm, und sobald ich ihn gefunden hatte, hielt ich an, um den Luftdruck meiner tadellos aufgepumpten Reifen zu überprüfen, wobei ich sorgfältig darauf achtete, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern mich einfach nur in seiner Gegenwart aufzuhalten.

Joes Nachname erwies sich geradezu als Prophezeiung, denn er wurde Zimmermann und deswegen ironischerweise bekannt als Joe Carpenter the Carpenter. Dank meiner jahrelangen Recherche wusste ich, was anderen vermutlich aufgrund seiner Schönheit entging, nämlich dass er ein aufrichtiger, bescheidener, hart arbeitender und wundervoller Mann war. Er war hilfsbereit, ohne das an die große Glocke zu hängen, stolz auf seine Arbeit und begegnete anderen Menschen offen und fröhlich. Ja, und er sah fantastisch aus.

Bei seinem Anblick blieb einem die Luft weg. Ein Lächeln von Joe konnte eine Kellnerin dazu bringen, ihre Kaffeekanne fallen zu lassen, sodass überall im Restaurant Glassplitter herumflogen, während sie mein Stalking-Opfer verträumt ansah. Autos stießen zusammen, wenn er über eine Kreuzung joggte, Gespräche verstummten, sobald er einen Raum betrat.

Und wenn er bei der Arbeit draußen sein Hemd auszog, hielten Touristen an, um diese Schönheit zu fotografieren. Vergesst Nauset Light, den Leuchtturm, macht ein Foto von dem da!

Keine Frau blieb unbeeindruckt von Joes Aussehen. Dunkelblondes Haar mit goldenen Sonnensträhnchen. Ausdrucksvolle, markante Gesichtszüge. Klare grüne Augen mit dichten, unglaublich langen goldenen Wimpern. Grübchen. Ein schiefes, jungenhaftes Lächeln. Perfekte Zähne. Natürlich wusste Joe, wie toll er aussah – kein Mensch kann so aussehen, ohne sich seiner Wirkung auf andere bewusst zu sein. Aber er setzte sich nie in Szene. Im Gegenteil, es schien ihm egal zu sein, was sein leicht schlampiges Äußeres bewies. Seine Haare waren oft zerzaust, als sei er gerade erst aus dem Bett gestiegen, er war häufig unrasiert und seine Kleidung zerknittert. Er war auf eine wundervoll lässige Art attraktiv.

Joe und ich waren beide am Cape Cod geboren und kamen gleichzeitig in dieselbe Schule. Wir waren nicht befreundet und sagten in der Highschool im Vorbeigehen höchstens Hallo (genau dreimal, und ich war danach völlig aus dem Häuschen und bekam Pickel, weil meine Hormone verrückt spielten).

Aber dann kam der große Moment, jenes Ereignis, das Joe für alle Ewigkeiten einen Platz in meinem Herzen sicherte.

In meinem zweiten Jahr auf der Highschool machte meine Klasse einen Ausflug zur Plymouth Plantation, wie alle Schulkinder in New England, nicht nur weil es vorgeschrieben war, sondern auch aus Patriotismus. Mit der für Fünfzehnjährige typischen eigenartigen Mischung aus Überschwang und Überdruss verbrachten wir eine Stunde in unserem klappernden heißen Bus, bevor wir durch die Straßen des historischen Dorfes wanderten. Während meine Freundinnen mürrisch und gelangweilt waren, war ich fasziniert von „Obad iah“, dem der Epoche entsprechend gekleideten Mann, der Blaubarsch über einem offenen Feuer grillte. Er bot mir einen Happen zum Probieren an. Ich nahm ihn an. Er gab mir noch einen. Den aß ich auch und war ganz beeindruckt von seinem Interesse an mir – ungeachtet der Tatsache, dass er seinen Lebensunterhalt damit verdiente, charmant zu den Touristen zu sein.

Auf dem Heimweg im Bus voller kreischender Kinder, die sich mit Papierkugeln bewarfen und wie eine wilde Affenhorde gebärdeten, machte sich der Blaubarsch bemerkbar. Meine beste Freundin, Katie, fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei – offenbar war ich ein bisschen grün im Gesicht. Statt zu antworten, übergab ich mich auf ihre Füße. Seitdem bekomme ich keinen Blaubarsch mehr hinunter.

Die Kids um mich herum reagierten, wie Teenager eben in so einer Situation reagieren. Begleitet von Spott und angewiderten Schreien übergab ich mich noch ein paar Mal, während Katie beim Busfahrer Papiertücher besorgte. Meine Augen tränten, meine Nase kribbelte, mein Gesicht brannte. Tja, und dann … dann saß Joe neben mir.

„Alles in Ordnung, Millie?“, fragte er und strich sich die Haare aus der Stirn.

„Ja“, flüsterte ich, entsetzt, hingerissen, elend und verliebt.

„Klappe, Leute“, befahl Joe freundlich, und weil er Joe war, gehorchten sie. Er tätschelte mir die Schulter, und selbst in meinem geschwächten Zustand nahm ich jedes Detail wahr – die Wärme seiner Hand, den mitfühlenden Ausdruck in seinen wunderschönen Augen, das Lächeln auf seinen vollkommenen Lippen. Dann kam Katie mit Papiertüchern und Katzenstreu zurück, um die Bescherung zu beseitigen, und Joe ging wieder in den hinteren Teil des Busses, wo die coolen Kids saßen.

Aber ich hatte den Beweis! Den Beweis dafür, dass er nicht nur gut aussah, und weder das College noch die medizinische Fakultät änderten etwas an meiner fixen Idee. Ich fuhr in den Semesterferien nach Hause und machte genau dort weiter, wo ich aufgehört hatte – indem ich Joe suchte. Ihm zufällig begegnete. Ihn ansprach. Klar, ich kam mir ein bisschen albern vor … aber die Liebe war stärker als der Verstand. Er hatte stets die gleiche Wirkung auf mich, sein beiläufiges „Hallo, Millie, wie geht’s?“ sandte ein Beben durch meinen Körper und ließ mich erröten.

Heute, mit fast dreißig, legte ich noch eine ganz gute Imitation dieser Teenagerverliebtheit hin. Ich war nach meiner Assistenzzeit im Krankenhaus gerade wieder aufs Cape gezogen, in die quälende Nähe von Joe. Aber in diesem Jahr würde es anders werden, schwor ich mir. Dies war das Jahr, in dem ich mich seiner wert erweisen würde.

Was mich betraf, so gab ich mich keinen Illusionen hin. Ich war klug und umgänglich, besaß Humor und Verantwortungsbewusstsein. Ich war eine verlässliche Freundin. Obwohl noch neu im Beruf, war ich doch schon eine gute Ärztin. Was mein Äußeres betraf, so war ich eher klein und ein bisschen pausbäckig, mit langen, glatten Haaren, die ich meistens zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Ziemlich gerade Zähne. Braune Augen. Insgesamt nichts Besonderes. Mit einer extrem gut aussehenden älteren Schwester gestraft zu sein, hatte im Lauf der Jahre nicht unbedingt zur Steigerung meines Selbstbewusstseins beigetragen. Und meine Zeit als Assistenzärztin war meiner Attraktivität auch nicht sonderlich zuträglich gewesen – obwohl ich das mit meiner Blässe, den dunklen Ringen unter den Augen und den unrasierten Beinen ganz gut in den Griff bekommen hatte.

Um die Aufmerksamkeit eines äußerlich vollkommenen Mannes zu wecken, musste ich das Beste aus dem machen, was die Natur mir mitgegeben hatte. Die Verwandlung in einen Schwan war kaum drin, aber ich war entschlossen, es wenigstens bis zur, was weiß ich, Kanadagans zu schaffen. Die sehen doch auch ganz hübsch aus, oder? Gegen eine Kanadagans war nichts einzuwenden.

Mein Plan war einfach und unterschied sich vermutlich nicht sehr von dem zahlloser Frauen, die sich entschlossen, den Mann ihrer Träume zu erobern. Ich würde mir eine anständige Frisur gönnen, einen neuen Look verpassen und die überzähligen Pfunde loswerden, mit denen ich wie ein Michelin-Männchen aussah. Mithilfe modisch versierter Freunde würde ich mir dann eine neue Garderobe und einen Hund zulegen, da Joe Hunde mochte. Außerdem würde ich an meinen Kochkünsten arbeiten. Und nachdem all das erledigt war, würde ich Joe mein runderneuertes Ich präsentieren und endlich handeln.

1. KAPITEL

Am ersten Morgen in meinem neuen Zuhause erwachte ich mit dem scharfen, Hoffnung verströmenden Geruch von frischer Farbe in der Nase. Der Heizkörper tickte behaglich an diesem kalten Märztag.

Meine Zukunft lag jungfräulich und verheißungsvoll vor mir. Die Assistenzzeit war beendet, das Haus renoviert. Der Start in die Karriere stand unmittelbar bevor. Und Joe … Joe war an diesem kalten Morgen dort draußen und würde bald erfahren, dass ich die Liebe seines Lebens war. Ich schwang die Beine aus dem Bett und betrachtete stolz die blauen Wände und die antike Bettdecke. Dann ging ich barfuß in die Küche, wo ich die glänzenden Arbeitsflächen und die Porzellanspüle bewunderte. Glücklich und dankbar seufzte ich tief und schaltete die Kaffeemaschine ein.

Während der Kaffee durchlief, kramte ich in einem Karton, den ich noch nicht ausgepackt hatte. Nachdem ich gefunden hatte, was ich suchte, kehrte ich damit in die Küche zurück, wo die Kaffeemaschine gurgelte. Ich schenkte mir einen Becher ein, setzte mich und richtete meine Aufmerksamkeit auf das Objekt vor mir.

Es handelte sich um ein Foto von Joe Carpenter, dessen Silhouette sich vor dem Himmel abhob, während er mit nacktem Oberkörper eine Dachschindel festnagelte. Auf dem Schwarz-Weiß-Foto waren seine Armmuskeln hervorragend zu erkennen. Er stand leicht von der Kamera abgewandt, trotzdem war von seinem Gesicht genug zu sehen. Die Bildunterschrift lautete: Joe Carpenter, Zimmermann aus Eastham, arbeitet an der Restaurierung von Penniman House.

Wie ich an das Foto gekommen bin? Ich habe die Zeitung angerufen und darum gebeten. Es war im Boston Globe erschienen, wo niemand Verdacht schöpfte, als ich behauptete, ich wäre Joes Mutter. Manch mal ist es ganz praktisch, einen altmodischen Namen zu haben. Würde ich Heather oder Tiffany heißen, hätten sie mir wahrscheinlich nicht geglaubt. Natürlich konnte ich das Foto nicht in meiner Wohnung aufstellen, deshalb holte ich es nur in besonderen Momenten aus seinem Versteck. Dies war ein solcher Moment, und ich betrachtete es mit der gebührenden Ehrfurcht.

„Heute fängt alles an, Joe“, sagte ich und kam mir dabei ziemlich idiotisch vor. Doch als ich die Konturen des Mannes, den ich schon so lange liebte, mit dem Finger nachzeichnete, löste sich das idiotische Gefühl auf wie der Morgennebel. „Du wirst dich in mich verlieben. Von jetzt an gibt es nur noch dich.“

Ich widerstand dem Impuls, das Foto zu küssen, stand auf und schlenderte mit dem Becher in der Hand durch mein Haus. Ich genoss es einfach, hier zu sein. Ein Haus auf Cape Cod zu besitzen ist schon etwas … und ich hatte es ganz ohne eigenes Zutun dazu gebracht. Kurz nach Weihnachten ist meine Großmutter gestorben, und bei der Testamentseröffnung erfuhr ich zu meiner Überraschung und Freude, dass sie mir ihr Haus hinterlassen hatte.

Das bescheidene kleine Haus war mit den für Cape Cod typischen, von der Sonne und der salzhaltigen Luft hellgrau gebleichten Zedernschindeln gedeckt. Es gab keinen nennenswerten Garten, nur Kiefernnadeln, Sand und Moos. Aber das Haus war unbezahlbar, denn es stand im Naturschutzgebiet von Cape Cod, was bedeutete, dass nebenan nie gebaut werden und es niemals Nachbarn geben würde. Außerdem lag es nah am Wasser (gut fünfhundert Meter, um genau zu sein, allerdings ohne Meerblick). Aber ich konnte das Rauschen der Brandung des mächtigen Atlantiks hören und nachts den Lichtstrahl des Leuchtturms Nauset Light durch die Dunkelheit wandern sehen.

Seit Monaten war ich regelmäßig aus Boston hergefahren, um das Haus zu renovieren – die Fußböden abzuschleifen, die Wände zu streichen, die Sachen meiner Großmutter auszusortieren. Das Ergebnis war eine hübsche Verbindung aus neu und alt. Grandmas mit Gobelinstickerei verzierter Fußschemel stand neben meinem Couchtisch aus Glas, ihr altes beigefarbenes Sofa war mit hellem neuen Stoff bezogen, und ein hübsches Aquarell hing an der Stelle, an der früher ein Foto des betenden John F. Kennedy gehangen hatte. Ich begutachtete das warme Gelb, das ich für eine Wand des Wohnzimmers gewählt hatte, und es gefiel mir immer noch sehr gut. Dann ging ich ins Badezimmer, um mir die pinkfarbenen Flamingos anzuschauen, die meine Mutter und ich mit einer Schablone auf die hellgrünen Wände gemalt hatten. Warte, bis Joe das alles gesehen hat, fantasierte ich vor mich hin. Er wird nie wieder wegwollen.

Das Telefon klingelte, und ich erschrak, sodass ich mir den Kopf an der Kommode stieß. Ich rannte in die Küche, um meinen ersten Anruf in meinem neuen Haus entgegenzunehmen.

„Hallo Millie, Schätzchen“, sagte meine Mom. „Wie war die erste Nacht? Alles in Ordnung?“

„Hallo Mom“, erwiderte ich fröhlich und rieb mir den Kopf. „Alles bestens. Wie geht es dir?“

„Ach, ganz gut“, lautete ihre wenig überzeugende Antwort.

„Was hast du?“

„Na ja … es ist wegen Trish“, murmelte meine Mom.

„Ah.“ Natürlich ging es um Trish, das übliche Thema bei Familiengesprächen. „Was ist denn passiert?“ Ich öffnete den Kühlschrank und begutachtete dessen mageren Inhalt: Orangen, Milch, außerdem Hefe, die ich bei einem meiner fehlgeleiteten Backanfälle erstanden hatte. Ich musste dringend einkaufen. „Ist Trish bei dir?“

„Nein, nein, sie ist immer noch in … New Jersey. Aber die Scheidung ist seit heute rechtskräftig. Sam hat uns vorhin angerufen.“

„Das tut mir leid“, sagte ich, und es stimmte. Meine Eltern liebten meinen Schwager Sam. Genau wie ich und der Rest der ganzen Stadt. Sam Nickerson war der Sohn, den meine Eltern nie gehabt hatten. Er und mein Vater schauten Football oder machten zusammen Männersachen wie Auffahrten ausbessern und Fahrten zur Müllkippe. Meine Mutter liebte es, ihn und meinen siebzehnjährigen Neffen zu bekochen. „Es ist ja nicht so, als würden wir Nick und Danny nie wiedersehen“, beruhigte ich meine Mutter. „Die bleiben uns auf jeden Fall erhalten.“

„Das weiß ich“, erwiderte sie. „Ich wünschte nur, deine Schwester hätte sich mehr Zeit gelassen für diese Entscheidung. Ich glaube, sie macht einen Fehler.“

Die Missbilligung meiner Mom löste bei mir eine gewisse süße Schadenfreude aus, denn Trish war stets ihr Liebling gewesen. Jahrelang hatte sie über den Egoismus meiner Schwester hinweggesehen. Selbst als Trish gleich nach der Highschool schwanger geworden war, hatte meine Mom sie verteidigt und sich mit der Tatsache getröstet, dass Sam sie sofort heiratete und mit nach Notre Dame nahm, wo er ein Sportstipendium hatte.

Eigentlich sollte ich inzwischen über diesen Dingen stehen, trotzdem … „Selbstverständlich ist es ein Fehler.“ Ich schloss die Kühlschranktür. „Wie geht es Sam und Danny?“

„Ganz gut, aber Sam scheint doch schon sehr traurig zu sein.“

„Ich kann die beiden nachher besuchen“, bot ich an.

„Das wäre nett, Liebes. Oh, Daddy möchte mit dir sprechen. Howard, Millie ist am Telefon.“

„Ich weiß, wer dran ist“, sagte mein Vater. „Ich fahre zum Baumarkt, Schätzchen. Brauchst du etwas?“

„Nein danke, Dad. Fürs Erste bin ich hier fertig.“

„Ich brauche Rohrleitungen. Die Klärgrube der Franklins hat letzte Nacht ihren Garten überschwemmt. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen nur Scott-Toilettenpapier benutzen, aber wer hört schon auf mich?“

„Dann geschieht es ihnen nur recht. Ich brauche nichts, trotzdem danke.“

„Na schön, Kleines. Bye-bye.“

„Bye. Viel Spaß mit der Jauchegrube!“, rief ich. Und den würde er haben, das wusste ich. Meinem Vater gehörte Sea Breeze: der Newcomer in der Branche, ein dynamischer Sanitärservice. Dad übte seinen Job mit einer Begeisterung aus, wie man sie normalerweise eher von Missionaren oder Cheerleadern erwartete.

Mit einem tröstlichen Gefühl der Familienzusammengehörigkeit legte ich auf und bereitete mich innerlich konzentriert auf den nächsten Schritt meines Plans zur Eroberung von Joe Carpenter vor.

Als Ärztin weiß ich, dass es nur eine Methode gibt, um abzunehmen, und die besteht darin, mehr Kalorien zu verbrennen, als man aufnimmt. Ich begnügte mich mit kargen Portionen, daher der Mangel an Lebensmitteln in meinem Haushalt. Meine Selbstbeherrschung reichte einfach nicht aus. Wenn ich mir Ben & Jerry’s Heath Bar Crunch kaufen würde, die vermutlich köstlichste Eiscreme auf diesem Planeten, würde ich den ganzen Becher auf einmal leer essen. Zu meinem Neustart gehörte jedoch, dass ich meine Ernährungsgewohnheiten änderte, und deshalb hatte ich nichts mit zu viel Zucker, Fett oder Butter gekauft – mit anderen Worten, nichts Leckeres. Um mir das Abnehmen zu erleichtern und bald ins Reich der körperlichen Fitness einzutreten, hatte ich außerdem beschlossen, mit dem Joggen anzufangen.

Laufen ist leicht, dachte ich. Man zieht Turnschuhe an und rennt los. Da braucht man so gut wie keine besonderen Vorkenntnisse. Alles Notwendige besaß ich schon: einen Sport-BH, Nikes, schwarze Laufshorts – aber nicht diese engen Spandex-Dinger. Oh Gott, nein, meine Joggingshorts war weit geschnitten und atmungsaktiv. Dazu ein hübsches T-Shirt, auf dem „Tony Blair ist süß“ stand. Ich warf noch einen Blick auf Joes Foto und seufzte verträumt, dann verließ ich das Haus.

Ich habe nie wirklich Sport getrieben. Überhaupt nicht. Okay, als Kind ein bisschen Softball, das war fast eine Religion hier, aber ich habe niemals Aerobic, Jazzgymnastik oder Pilates gemacht, wie zum Beispiel meine Schwester Trish. Und den Unterschied konnte man sehen. Trish, die inzwischen fünfunddreißig war, sah aus wie dreiundzwanzig, mit muskulösen, gebräunten Armen, einer schmalen Taille und einem straffen Hintern. Ich war viel zu sehr mit meinem Studium beschäftigt gewesen, um mich um mein körperliches Wohlbefinden zu kümmern. Assistenzärzte leben notorisch ungesund. Wir kochen nicht, essen stattdessen Kekse und schlafen zu wenig. Sport? Den empfehlen wir unseren Herzpatienten, wir selbst kämen nie auf die Idee!

Nach einer Minute angedeuteter Dehnübungen ging ich meine lange unbefestigte Auffahrt hinunter zur Straße. Da das Cape im März, bevor die Touristen kommen, ziemlich einsam ist, war ich mir sicher, dass ich keine Zuschauer befürchten musste. Es war bewölkt und kühl, ein guter Tag zum Joggen, wie ich fand. Und los ging’s, trab, trab. Nicht schlecht, eigentlich sogar ganz leicht. Zum Glück brauchte man keinerlei Koordinationsvermögen. Trab, trab, trab. Die Luft war kalt und feucht, was ich empfindlich an meinen nackten Armen und Beinen merkte. Ich kam an der Auffahrt meiner Nachbarn vorbei und lief die Straße entlang. Inzwischen musste ich durch den Mund atmen. Mein Magen wurde durchgeschüttelt, und ich fragte mich, wie lange ich wohl schon unterwegs war. Ich schaute auf meine Uhr: vier Minuten.

Ich versuchte mich ganz auf das Laufen einzulassen, indem ich die schöne Aussicht genoss. Gebogene Robinienzweige schlugen in der salzigen Brise gegen einander. Ich kam am rot-weißen Leuchtturm vorbei, der schön anzusehen in den grauen Himmel aufragte. Autsch! Ein stechender Schmerz machte sich in meiner linken Seite bemerkbar. Halt durch, feuerte ich mich an. Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässt. Meine Füße trommelten auf den Asphalt. Neun Minuten. Die kalte Luft kratzte im Hals, und es war nicht gerade ermutigend, wie ich japste. „Agonale Atmung“ oder „Schnappatmung“ nennen wir das bei Sterbepatienten im Krankenhaus. War ich schon eine Meile gerannt? Machte ich irgendetwas falsch? Lag die Sauerstoffkonzentration meines Bluts in einem gefährlich niedrigen Bereich?

Ich blieb gebückt stehen und keuchte erbärmlich. Nur eine kurze Verschnaufpause, tröstete ich mich, während mir das Herz bis in den Schädel pochte. Nach einigen Minuten richtete ich mich wieder auf und lief weiter. Sofort keuchte ich erneut. Ich versuchte, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Wie schwer konnte das sein? Ein, aus, ein, aus, oh Gott, ich hyperventilierte ja! Und jetzt hörte ich ein Auto näher kommen. Ich spielte die Athletin und zwang mich zu größeren Schritten, für den Fall, dass es jemand war, den ich kannte. Trotz unglaublicher Schmerzen lächelte ich und winkte, was mir einen Krampf in der Schulter bescherte. Der Wagen fuhr vorbei, alles in Ordnung.

Nein, ganz und gar nicht, denn vor mir erhob sich ein Hügel. Lauf einfach weiter, Millie, nicht stehen bleiben. Dem bloßen Auge präsentierte sich der Hügel nicht wie ein Hügel, sondern eher wie eine sanfte Steigung, aber für mich war es Heartbreak Hill. Ich stellte mir vor, wie ich beim Boston-Marathon mitlief, diesem Höhepunkt aller sportlichen Wettbewerbe, oft imitiert, nie erreicht … Ladies and Gentlemen, hier kommt Millie Barnes, Dr. Millie Barnes, aus dem wunderschönen Cape Cod …

Verlor ich gerade die Kontrolle über meine Blase? Und/ oder musste ich mich gleich über geben? Dreizehn Minuten, sagte meine Uhr. Die musste kaputt sein. Auf dem Gipfel von Heartbreak Hill drehte ich um und machte mich auf den Rückweg. Ah, das ging leichter, nur dass ich wieder hyperventilierte. Ruhig, befahl ich mir. Bergauf hatte es schrecklich lange gedauert, bergab ging es nun viel zu schnell. Meine Beine waren ungefähr so biegsam wie Eichenbalken, und meine Schienbeine hätten gern vor Schmerz gewimmert. Das Seitenstechen wurde schlimmer, und der Krampf in meiner Schulter dehnte sich auf meinen Nacken aus, sodass ich den Kopf schräg halten musste.

Der Milchsäureanteil in meinem Blut wurde allmählich bedrohlich, und ich malte mir aus, wie sie die Diagnose in der Notaufnahme in Hyannis stellten. „Meine Güte, was ist mit ihr passiert?“

„Sie war joggen, Doktor.“

„Wie weit?“

„Fast eine Meile.“

Verdammt! Wenn ich jetzt anhielt, würde ich es nie wieder versuchen. Denk an Joe, ermahnte ich mich. Stell dir vor, du liegst mit ihm im Bett und hast einen fantastischen Körper. „Du bist wahnsinnig fit, Millie“, wird er andächtig seufzen, während sein Blick … auf den Briefkasten meines Nachbarn fiel. Ich war fast zu Hause! Und da war sie auch schon, meine geliebte Auffahrt, in die ich hineintaumelte, ehe ich schwankend anhielt. Mit zitternden Knien, schweißdurchtränktem T-Shirt und trockener Kehle wankte ich keuchend in mein Haus, wo ich mich auf einen Küchenstuhl fallen ließ.

Hier ist sie, Ladies and Gentlemen! Dr. Millie Barnes, Gewinnerin des Boston-Marathons!Ich schaute erneut auf meine Uhr. Achtundzwanzig Minuten, eins Komma sieben Meilen. Das war beeindruckend! Ich hatte es getan. Es dauerte eine Weile, bis meine Atmung sich wieder normalisierte, aber was für ein Lauf! Nach ungefähr zwanzig Minuten raffte ich mich auf und stürzte ein Glas Wasser hinunter.

Dann beging ich den Fehler, in den großen Spiegel zu sehen. Mein Gesicht war erschreckend rot. Nicht leicht gerötet wie nach angenehmer sportlicher Betätigung, nicht einmal einfach nur rot, sondern dunkel wie Rote Bete, und zwar das ganze Gesicht. Meine Augen waren durch die Reizung vom Schweiß geschwollen, meine Lippen rissig und weiß, der einzige Farbkontrast in diesem Purpurrot. Mein verschwitztes T-Shirt klebte an meinem untrainierten Oberkörper. Auch meine ansonsten blassen Beine waren gerötet, aber vom kalten Wind. Na ja, versuchte ich mich zu trösten, du hast ja gerade erst angefangen.

Ich duschte heiß und leider viel zu kurz, weil mich die Unzulänglichkeit des Heißwassergerätes zwang, die Dusche zu verlassen. Während ich mir eine Kanne grünen Kräutertee zubereitete, beschloss ich, meine Schwester anzurufen. Schließlich war ihre Ehe heute offiziell für beendet erklärt worden, und da sollte man geschwisterliche Anteilnahme zeigen. Ehrlich gesagt machte Trish mir ein bisschen Angst. Ich erinnerte mich noch gut an ihren Wutausbruch bei der Testamentseröffnung meiner Großmutter. Trish erhielt mehrere Tausend Dollar, was allerdings ein Klacks war im Vergleich zum Wert dieses Hauses. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte.

Nach einigem Herumwühlen in den Papieren auf meinem Schreibtisch fand ich ihre Nummer. Der Blick auf die Vorwahl gab mir einen Stich – unsere Trish war ziemlich weit weg von zu Hause.

Auf dem College hatte ich sie öfter angerufen, damit sie mich über Dannys Fortschritte auf dem Laufenden halten konnte, weil ich meinen Neffen über alles liebte. Aber seit er sechs oder sieben gewesen war, reichte Trish den Hörer an ihn weiter. Sie kannte den wahren Grund meines Anrufs. Oder ich sprach mit Sam, der mir ausführlich von den Punktspielen des kleinen Danny berichtete, den Elternsprechtagen, den Klarinettestunden und so weiter.

„Hallo?“ Trish klang wie immer ungeduldig.

„Hallo Trish. Ich bin’s, Millie“, sagte ich und fühlte mich sofort unwohl.

„Oh, hallo Millie. Was gibt’s denn?“ Ich stellte mir vor, wie sie herumzappelte, weil sie zweifellos Besseres zu tun hatte, als mit ihrer jüngeren Schwester zu telefonieren.

„Nichts Besonderes“, erwiderte ich und schenkte mir Tee ein, dessen krautiger Duft das Zimmer erfüllte. „Ich habe nur gehört, dass deine Scheidung seit heute rechtskräftig ist, und wollte mal hören, wie es dir geht.“

Schweigen am anderen Ende. Ich konnte die Gereiztheit meiner Schwester förmlich spüren. „Mir geht’s super“, sagte sie brüsk. „Könnte gar nicht besser sein.“

Ich biss die Zähne zusammen und redete weiter, obwohl ich nun wünschte, ich hätte nicht angerufen. „Na ja, du warst ziemlich lange verheiratet, deshalb dachte ich …“

„Millie, ich bin jetzt glücklich wie seit Jahren nicht. Nur weil du zum Sam-Nickerson-Fanclub gehörst, heißt das noch lange nicht, dass er und ich uns gut verstanden hätten. Was ich jetzt habe, ist das, was ich will. Ich will Avery und nicht Sam. Der ist langweilig.“ Und für meine Schwester gab es kein größeres Verbrechen, als langweilig zu sein.

„Natürlich“, sagte ich. „Es ist nur so … ich dachte, du wärst vielleicht nicht gut drauf. Immerhin wart ihr siebzehn Jahre zusammen. Aber anscheinend habe ich mich geirrt.“

„Ja, hast du.“

„Na gut, Trish. War schön, mit dir zu reden. Viel Spaß noch in New Jersey.“

„Wie geht es dir eigentlich?“, erkundigte Trish sich unerwartet.

„Mir? Gut. Großartig sogar“, antwortete ich und war sofort wieder versöhnt ob dieser unerwarteten Aufmerksamkeit. Das war nun ein mal das Elend der jüngeren Schwester.

„Was macht Grans Haus?“, fragte sie mit nur leicht feindseligem Unterton.

„Es geht voran“, antwortete ich. „Möchtest du etwas von den Sachen haben? Vielleicht einen Teppich?“

„Also bitte, Millie. Nein danke.“ Damit waren wir wieder bei unserem normalen Umgangston angelangt.

„Ich fahre nachher zu Danny und werde ihn von dir grüßen“, sagte ich, in der Hoffnung, ein paar Schuldgefühle zu wecken. Es funktionierte nicht.

„Ich habe ihn schon angerufen. Er kommt mich nächstes Wochenende besuchen.“

„Oh.“ Unsere Unterhaltung war damit beendet. Wir verabschiedeten uns mit dem üblichen Unbehagen und legten auf.

Trish und ich waren so verschieden, wie zwei Menschen mit den gleichen Genen es nur sein können. Während ich in meiner Jugend mit schiefen Zähnen und Übergewicht zu kämpfen hatte, schwebte Trish durch die Pubertät und blieb vollkommen verschont von Essstörungen, Pickeln und peinlichen Frisuren. Trish war Captain der Cheerleader; ich war Vorsitzende des Wissenschaftsklubs. Trish wurde Ballkönigin; ich war die Beste in Biologie. Sie war mit dem Footballstar zusammen; ich mit niemandem.

Um das Gefühl der Unzulänglichkeit und Frustration zu verscheuchen, das meine Schwester in mir weckte, telefonierte ich als Nächstes mit Katie Williams. Wir waren seit dem Kindergarten befreundet, nachdem sie sich auf meinen Maltisch übergeben hatte – solche Erfahrungen schweißen auf ewig zusammen. Jemand, der einen schon kennt, seit man die ersten Milchzähne verloren hat, der einem den ersten BH gekauft und den ersten Drink spendiert hat, ist durch nichts zu ersetzen. Katie wusste von meiner unsterblichen Liebe zu Joe, meinen Plänen, Trish, einfach alles. Als alleinerziehende Mutter zweier kleiner Söhne unterhielt sie sich gerne mal über andere Themen als Töpfchentraining oder „Bob der Baumeister“. Selbstverständlich erhielt sie durch die Patentante ihrer Söhne (ich) eine kostenlose medizinische Versorgung. Jedenfalls war es Katie, die mir stets aufmerksam zuhörte, wenn ich von Joe schwärmte, fantasierte, Pläne schmiedete oder über ihn schimpfte.

Katie lauschte mit gespielter Anteilnahme und angestrengtem Lachen der Schilderung meiner ersten sportlichen Ambitionen, solidarisierte sich mit mir gegen meine Schwester und versprach, am nächsten Tag mit meinen Patenkindern zum Kaffee zu kommen. Nachdem das Gespräch beendet war, zog ich mich an, schaltete meinen CD-Player ein und tanzte zu U2, wobei ich mich für zwei Songs in Bono verwandelte. Dann hörte ich auf, Zeit zu schinden, und stieg in meinen Wagen, um Sam und Danny zu besuchen.

Die beiden wohnten am anderen Ende der Stadt in einer der schönsten Gegenden von Eastham. Als mein Neffe drei oder vier Jahre alt gewesen war, starben Sams Eltern bei einem Autounfall, den ein betrunkener Teenager auf der Route 6 verursacht hatte. Trish, Sam und Danny zogen drei Wochen nach der Beerdigung ins Haus seiner Eltern, und meine Schwester begann sofort mit dem Umbau. Ein Jahr später erkannte man das Haus nicht mehr wieder. Anstelle des alten Baus stand dort jetzt ein modernes eckiges Gebäude, dessen riesige Fenster Aussicht auf die Bucht boten. Sam nahm einen Zweitjob an, um das alles zu finanzieren .

Das modernisierte Haus entsprach überhaupt nicht meinem Geschmack, obwohl ich zugeben musste, dass es beeindruckend war – groß, offen, viel Glas und Terrassenfläche. Vor allem die Aussicht auf den kleinen Strandabschnitt der Bucht war fantastisch. Das Wasser erstreckte sich bis zum Horizont, man sah Ruderboote, Möwen, Kormorane, manchmal einen Schwan. Über das sanfte Rauschen der Wellen hinweg hörte man das Ge schrei der Seevögel im Wind. Bei Ebbe konnte man fast eine halbe Meile weit hinausgehen, und das Hochwasser war tief genug, um darin zu schwimmen. Das Seegras bog sich anmutig – dunkelgrün in der warmen Jahreszeit, golden im Winter. Selbst abgeklärte Einheimische wie ich gingen jeden Abend an den Strand, um den spektakulären Sonnenuntergang zu sehen. Das alles hatte meine Schwester gegen Short Hills, New Jersey, eingetauscht. Da gab’s vermutlich ein tolles Einkaufszentrum.

Ich parkte in der Auffahrt aus Muschelkalk und lief die Stufen zur Eingangstür hinauf. Sam war Polizist, und wenn er uns nicht gerade vor dem Verbrechen beschützte, arbeitete er nebenbei bei einem Landschaftsgärtner. Sein eigener Garten war beeindruckend. Selbst jetzt im März belebten Grünpflanzen die ansonsten grau und braun schlummernden Blumenbeete. In wenigen Monaten würden die Leute auf der Straße stehen bleiben, um das ehemalige Zuhause meiner Schwester zu bewundern.

Ich öffnete die Tür und rief: „Hallo!“ Mein Neffe kam wie ein aufgeregter Irish Setter die Treppe herunter, und ich war einfach froh, dass Danny sich selbst im fortgeschrittenen Alter von siebzehn noch so über meinen Besuch freute. Mein Neffe war das Kind, das sich jeder Mensch wünschte. Er war witzig, großzügig, sehr intelligent, groß und ein wenig schlaksig. Als typischer amerikanischer Junge spielte er natürlich Baseball.

„Hallo Tantchen“, begrüßte er mich und gab mir einen Kuss auf die Wange, wofür er sich zu mir herunterbeugen musste, denn er war schon seit ungefähr fünf Jahren größer als ich.

„Hallo Jungchen“, erwiderte sich. „Was machst du gerade?“

„Hausaufgaben. Integralrechnung. Möchtest du etwas essen? Ich sterbe vor Hunger“, verkündete er und schlug den Weg zur Küche ein. Edelstahlgeräte, Arbeitsflächen aus Granit, weiße Wände und ein schwarz gefliester Fußboden verliehen dem Raum eine strenge Atmosphäre. Ich setzte mich auf einen Hocker am Küchentresen und schaute Danny zu, wie er mit den Schranktüren knallte, mit Gerätschaften klapperte und Essen zusammenklatschte. Ich lehnte seine Einladung zum Mitessen ab. Und das, obwohl mir der Magen knurrte beim Anblick des auf dem Toaster röstenden Bagels und des Glases Milch, das mein Neffe mit vier großen Schlucken leerte. Das waren bestimmt tausend Kalorien, die er da zu sich nahm.

„Ist dein Dad bei der Arbeit?“, fragte ich.

„Nein, er hat sich heute freigenommen“, antwortete Danny und schälte eine Banane, die er sich zur Hälfte in den Mund stopfte, während er weiter auf den Bagel wartete. „Die Scheidung ist seit heute rechtskräftig.“

„Ja, das habe ich schon gehört. Wie kommst du damit klar?“

„Ganz gut, glaube ich.“ Er hielt einen Moment inne und schaute aus dem Fenster auf die Bucht. „Mom ist ja schon eine Weile fort, daran habe ich mich inzwischen gewöhnt. Aber Dad macht es ziemlich fertig.“

„Hast du heute mit deiner Mom gesprochen?“

„Ja, es geht ihr gut.“

Fasziniert beobachtete ich, welche Mengen mein Neffe auf einmal in seinem Mund verschwinden lassen konnte. Ein ganzes Drittel des riesigen Bagels! Unglaublich!

„Sie meint, sie sei froh, weil sie jetzt ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlägt. Eine Tür wird geschlossen, ein Fenster öffnet sich. Ich glaube, sie kommt ganz gut damit zurecht.“

„Na wunderbar“, murmelte ich und versuchte neutral zu bleiben.

„Ach komm schon, Tante Millie. Du kannst ihr nicht die Schuld geben.“ Danny zuckte mit den Schultern und schluckte wie ein Python, die gerade eine Ziege verschlang. „Sie verdient es, glücklich zu sein. Nur weil meine Eltern es vermasselt haben, als sie fast noch Kinder waren, heißt das doch nicht, dass meine Mutter kein neues Leben anfangen darf. Klar, das mit dem Fremdgehen war Dreck, aber sie wollte bestimmt niemandem wehtun.“

So viel Verständnis! Wie konnte dieses Kind den Lenden meiner Schwester entsprungen sein? „Du bist der großartigste Junge der Welt“, sagte ich. „Und deine Eltern haben es nicht vermasselt, weil sie nämlich dich bekommen haben. Du bist das Beste, was den beiden passieren konnte, und für mich bist du das auch. Komm her, damit ich dir in die Wange kneifen kann.“

„So alt bist du noch nicht, Tante Mil“, meinte Danny. „Hey, erinnerst du dich an meinen Freund Connor? Er fand dich süß. Er will Doktor mit dir spielen, wenn du die Klinik eröffnest.“

Ich lachte. „Das ist toll. Also, wo steckt dein Dad?“

„Er macht einen Strandspaziergang.“ Danny wurde ernst. „Er ist schrecklich traurig.“

Ich fühlte mit dem armen Sam. Eine Weile plauderte ich noch mit Danny und erkundigte mich nach seinen Zensuren, damit er nicht vergaß, dass ich hier die Erwachsene war. Danach ging ich raus, um den schrecklich traurigen Sam zu finden.

Wie Trish sich Sam Nickerson geangelt hatte, war mir schleierhaft – na gut, mit Danny schwanger zu werden, hatte vermutlich geholfen. Jedenfalls hatte sie Sam nicht verdient, davon war ich überzeugt. Er war der netteste Kerl weit und breit und außerdem zu mir immer besonders nett gewesen.

Als ich elf oder zwölf gewesen war und Sam und Trish sich als Teenager von den Hormonen hatten steuern lassen, gingen meine Eltern an einem Abend aus. Meine ältere Schwester sollte auf mich aufpassen. Katie schlief bei mir, und Trish steckte nur kurz den Kopf zur Tür herein, um uns darüber zu informieren, dass sie und Sam auf eine Party gehen wollten. Sie warnte uns, Mom und Dad nichts davon zu erzählen, andernfalls müssten wir um unser junges Leben fürchten – eine durchaus ernst gemeinte Drohung.

In diesem Augenblick kam Sam herein, sagte Hallo, machte eine nette Bemerkung über meine Barbie und ihren Dream Van und unterhielt sich ein paar Minuten mit uns. Als er begriff, dass Trish eigentlich den Babysitter spielen sollte, war er nicht mehr bereit, uns einfach allein zu lassen. Schließlich gingen die beiden mit uns ins Kino, wo wir uns einen Kinderfilm ansahen. Sam kaufte uns sogar Popcorn und Cola, und es war ihm dabei vollkommen egal, ob Trish sauer war. Tragischerweise blieb dieser Abend bis jetzt das beste Date, das ich je gehabt hatte.

So war Sam. So war er zumindest gewesen, bevor siebzehn Ehejahre ihn zu einem kreuzbraven Ehemann gemacht hatten, der sich nie mehr gegen Trish durchsetzen konnte. Immerhin hatte er sie einmal geliebt, und als ich ihn jetzt am Strand entdeckte, wo er mit hochgezogenen Schultern aufs Meer hinausblickte, wirkte er tatsächlich schrecklich traurig.

„Hallo Blödmann“, rief ich fröhlich gegen den Wind und lief durch den knirschenden, kühlen Sand zu ihm. Er wandte sich müde um.

„Hallo Kleine“, erwiderte er teilnahmslos.

„Frau Doktor bitte“, neckte ich ihn. Es war unübersehbar, wie elend ihm zumute war. Ich hakte mich bei ihm unter. „Wie geht’s?“

„Ganz gut.“ Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht, dann sah er mit niedergeschlagener Miene wieder aufs Meer. Trotz meines Mitleids ärgerte mich das. Sam war ohne Trish besser dran, aber ich verkniff mir eine entsprechende Bemerkung.

„Weißt du was?“, fragte ich betont gut gelaunt.

„Was denn?“, wollte Sam wissen.

„Wir unternehmen heute Abend was! Komm, wir gehen zurück ins Haus, dieser Wind ist ja mörderisch. Meine Ohren fühlen sich schon wie Eis an.“ Ich dirigierte Sam zum Weg, der sich durchs Dünengras zu seinem Haus schlängelte.

„Tut mir leid, Mädchen, aber ich will nirgendwohin“, sagte er, und da er fast zwanzig Zentimeter größer war als ich, war es nicht so leicht, ihn in die gewünschte Richtung zu drängeln.

„Ich weiß, genau deshalb machen wir es trotzdem. Es ist blöd, am Abend deiner ersten Scheidung zu Hause zu sitzen. Im Gegensatz zur zweiten, da kannst du getrost daheim bleiben. Man amüsiert sich nur nach jeder zweiten Scheidung.“ Meine schwachen Aufheiterungsversuche halfen nicht. „Ehrlich, Sam. Lass uns ein Bier trinken. Ich lade dich ein. Du sitzt heute Abend auf keinen Fall allein zu Hause. Bevor ich das zulasse, kette ich mich lieber an deinen Ofen.“

„Millie …“

„Komm schon!“

Er seufzte. „Na schön. Ein Bier, aber irgendwo außerhalb.“

„Braver Junge!“ Wir stiegen die Stufen zu seinem Haus hinauf, und er sah so deprimiert aus, dass ich schlucken musste. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich wirklich mag, und es mir leidtut für dich.“ Meine Lippen zitterten. „Ich war immer stolz, dich zum Schwager zu haben.“ Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen und lächelte.

Er musterte mich belustigt und legte mir den Arm um die Schultern, bevor wir hineingingen. „Das war nicht schlecht, Kleine. Hast du das im Auto geübt?“

„Ja, hab ich, Klugscheißer. Und dafür musst du die zweite Runde ausgeben.“

2. KAPITEL

Zwei Stunden später saßen wir in einer Bar in Provincetown, tranken Bier und warteten auf unsere Chicken Wings. Solche Läden gibt es noch in P-town, aber man muss sich schon auskennen, sonst landet man in Restaurants, die Seebarsch-Enchiladas an Kreuzkümmel und zarter Dillsoße servieren.

Die Bar war schlicht und nett, und die Chancen standen gut, dass wir niemandem begegnen würden, den wir kannten. Ich verstand, dass Sam nicht in Eastham ausgehen wollte, denn es gab dort kaum jemanden, der nicht wusste, dass er nun endgültig für einen reichen Börsenmakler aus New Jersey verlassen worden war.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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