Lieber mit dem Ex als gar kein Sex - Kristan Higgins - E-Book
SONDERANGEBOT

Lieber mit dem Ex als gar kein Sex E-Book

Kristan Higgins

4,9
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hat die erste Liebe eine zweite Chance verdient? In Sachen Liebe weiß Colleen O’Rourke genau, wie der Hase läuft. Zumindest theoretisch. Ihre Drinks serviert die junge Barbesitzerin garniert mit Beziehungstipps, und ihr Geschick als Kupplerin ist legendär! Ihr eigenes Liebesleben hingegen liegt bedauernswert brach. Woran nur Lucas Campbell schuld ist, der vor zehn Jahren unbedingt seine Freiheit wollte. Also hat Colleen mit ihm Schluss gemacht, bevor er sie abservieren konnte. Seitdem hat sie ihrem Herzen strenge Gefühlsabstinenz verordnet! Doch nun ist Lucas wieder da, und noch immer knistert es zwischen ihnen. Gehören sie vielleicht doch zusammen wie Cocktailglas und Papierschirmchen? Oder droht Colleen der schlimmste Liebeskater aller Zeiten?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 579

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kristan Higgins

Lieber mit dem Ex als gar kein Sex

Roman

Aus dem Amerikanischen von

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Waiting On You

Copyright © 2014 by Kristan Higgins

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Kristan Higgins

ISBN eBook 978-3-95649-435-2

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Dieses Buch widme ich meinem strahlenden Jungen Declan, der mich jeden einzelnen Tag zum Lachen bringt. Es wäre sehr verlockend, an dieser Stelle sentimental zu werden und jede Menge Kosenamen anzuführen, aber ich bemühe mich um einen würdigen Ton. Sagen wir einfach, dass du alles bist, was eine Mutter sich von einem Sohn nur wünschen kann, und dass ich dich liebe. Über alles.

1. KAPITEL

Die nächste Runde geht aufs Haus!“

Die Gäste applaudierten. Nicht nur wegen der Freigetränke, die Colleen O’Rourke – Barkeeperin und Teilhaberin der besten (und einzigen) Kneipe der Stadt – gerade angekündigt hatte, sondern wegen Brandy Morrisons und Ted Standishs Verlobung.

Colleen umarmte noch einmal das glückliche Paar, dann ging sie hinter die Bar und begann, Bier und Martini und Wein einzuschenken und die Gläser eines nach dem anderen über die Theke schlittern zu lassen. Immerhin konnte sie sich die Verlobung von Brandy und Ted auf ihre Fahne schreiben. Das war nun bereits … hmm … das vierzehnte Paar, das sie verkuppelt hatte. Nein, das fünfzehnte. Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht.

„Gut gemacht, Coll“, rief Gerard Chartier, der gerade sein Glas mit Cooper’s Cave Ale abfing. Er saß am Ende der Theke, wo die Feuerwehr eine „Besprechung“ abhielt. Auf der Tagesordnung schien die komplette Bierkarte des O’Rourke’s zu stehen. Nicht dass sie sich beschweren wollte. Die Jungs waren wirklich gut fürs Geschäft.

„Dein trauriger Singlestatus ist nicht unbemerkt geblieben“, sagte sie und rieb ihm über den kahlen Kopf. „Mach dir keine Sorgen. Du bist als Nächster dran.“

„Ich möchte lieber allein bleiben.“

„Nein, möchtest du nicht. Glaub dem klugen und allwissenden Tantchen Colleen.“

„Colleen!“, brüllte ihr Bruder Connor aus der Küche. „Hör auf, unsere Kunden zu belästigen!“

„Aber genau das macht doch unseren Reiz aus!“, rief sie zurück. „Jungs, fühlt ihr euch belästigt?“

Ein zufriedenstellend mehrstimmiger Chor antwortete mit Nein. Sie stürmte in die Küche. „Hi, Rafe“, begrüßte sie den Zweitkoch, der gerade einen seiner berühmten Käsekuchen zubereitete. „Heb mir ein Stück davon auf, okay?“

„Aber klar, meine einzig wahre Liebe“, entgegnete er, ohne aufzusehen. Er war schwul. Alle guten Männer waren schwul.

„Brüderlein“, rief Colleen ihrem Zwillingsbruder zu. „Was für ’ne Laus ist dir denn über die Leber gelatscht?“

„Du hast gerade Alkohol im Wert von ungefähr dreihundert Dollar verschenkt“, sagte er.

„Brandy und Ted haben sich verlobt. Und der Ring ist wirklich wunderschön.“

„Warst du das mal wieder, Collie?“, wollte Rafe wissen.

„Um genau zu sein, ja. Die beiden sind wochenlang umeinander herumgeschlichen. Ich musste nur ein kleines bisschen nachhelfen, und voilà. Bestimmt werde ich Brautjungfer. Mal wieder.“

Rafe lächelte. „Und wann wirst du deine Superkräfte bei dir selbst anwenden, Hübsche?“

„Ach, überhaupt nicht. Dafür bin ich viel zu clever. Ich brauche Männer nur für rein körperliche …“

„Stopp! Hier will niemand was über dein Sexleben hören“, schimpfte Connor.

„Ich schon“, meinte Rafe.

Sie grinste. Selbst mit einunddreißig gehörte ihren Bruder zu ärgern immer noch zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.

„Was für eine Verschwendung. All das, und niemand kann Anspruch darauf erheben.“ Rafe deutete auf ihren Körper und ihr Gesicht.

„Sie hat sich mal die Finger verbrannt“, erklärte Connor.

„Ach bitte. Das ist nun wirklich nicht der Grund dafür, dass ich Single bin. Davon abgesehen hast du auch niemanden. Das liegt an unserer harten Kindheit, Rafe.“

„Vergiss es“, sagte Rafe, während er eine Schicht Sauerrahm auf dem Kuchen verteilte. „Ich bin als schwuler Junge in einer Familie von Zeugen Jehovas in Osttexas aufgewachsen und hatte fünf ältere Brüder, die alle Footballspieler waren. Niemand hatte eine härtere Kindheit als ich.“

„Okay, der Punkt geht an dich.“ Colleen nickte. „Con und ich hatten bloß einen untreuen Vater und …“

„Ist heute nicht dein freier Abend?“, unterbrach Connor sie.

„Stimmt. Aber ich bin trotzdem gekommen, weil ich mittels unserer magischen Zwillingsverbundenheit gespürt habe, dass du mich schrecklich vermisst.“

„Da hast du was Falsches gespürt“, murrte er. „Raus aus meiner Küche. Deine Clique ist gerade reingekommen.“

„Er hat das Gehör einer Fledermaus“, sagte Rafe.

„Ich weiß. Echt unheimlich. Ciao, Jungs! Und vergiss nicht, mir etwas von dem himmlischen Käsekuchen aufzuheben, Rafe. Connor, sag wenigstens Hallo. Aus irgendeinem Grund finden dich alle ganz toll.“

Sie ging zurück hinter die Bar, und tatsächlich, da waren sie: Faith Holland, ihre älteste Freundin (frisch verheiratet – und auch wenn Colleen sie nicht direkt verkuppelt hatte, so hatte sie zumindest die Trennung verhindert), Honor, Faiths ältere Schwester (staubtrockener Martini, drei Oliven), der Colleen definitiv mit Tom Barlow unter die Arme gegriffen hatte – die beiden wollten Anfang Juli heiraten. Und Prudence, die älteste Holland-Schwester (jetzt im Frühjahr Gin und Tonic), bereits seit Jahrzehnten verheiratet.

„Wie läuft’s, Holland-Mädels? Honor, das Übliche für dich? Pru, Gin und Tonic? Und was ist mit dir, Faithie? Ich habe für dich extra ein paar Erdbeeren zur Seite gelegt … ein bisschen Wodka, etwas Minze, ein Spritzer Limone … was meinst du?“

„Für mich nur Wasser“, sagte Faith.

„Ach du liebes bisschen, bist du schwanger?“, platzte Colleen heraus. Faith und Levi hatten im Januar geheiratet, und so wie er sie immer anguckte, trieben es die beiden höchstwahrscheinlich wie die Kaninchen. Und man wusste ja, was man sonst noch von Kaninchen sagte.

„Das habe ich nicht gesagt.“ Aber Faith wurde rot, und Honor lächelte.

„Nun, ich hoffe jedenfalls, dass du es bist“, sagte Pru. „Es gibt nichts Wunderbareres als Kinder, auch wenn ich Abby gestern hätte umbringen können. Sie hat gefragt, ob sie ein Zungenpiercing haben kann. Ich sagte, klar. Ich hole nur schnell Hammer und Nagel, dann können wir das gleich hier erledigen, wenn du so dumm bist. Danach lief das Gespräch etwas aus dem Ruder.“

„Hi, Mädels“, rief Connor, der pflichtschuldig aus seiner Küche gekommen war.

„Con, für Pru und Honor bitte das Übliche und für Faith ein großes Glas Eiswasser.“

„Ich bin hier, um Hallo zu sagen, nicht um euch zu bedienen“, entgegnete Connor. „Faith, bist du schwanger?“

„Nein! Vielleicht. Halt einfach die Klappe“, meinte Faith. „Ich habe Durst, das ist alles.“

„Connor Cooper wäre ein toller Name“, schlug Connor vor.

„Klingt total bescheuert“, meinte Colleen. „Colleen Cooper hingegen, das hört sich viel besser an. Oder Colin, wenn es ein Junge wird …. Con, was ist mit den Getränken? Und vielleicht ein paar Nachos dazu?“

Ihr Bruder warf ihr einen düsteren Blick zu, verzog sich aber, während Colleen es sich auf einem Stuhl gemütlich machte. „Ratet, was ihr verpasst habt? Brandy Morrison und Ted Standish haben sich gerade verlobt! Er hat sich hingekniet und alles, und sie hat geheult, es war einfach wunderschön, Ladies! Wunderschön!“

Hannah, Colleens Cousine, brachte Nachos und Getränke, und Prudence gab mal wieder eine ihrer abenteuerlichen Geschichten über ihr eheliches Sexleben zum Besten. Höchst unterhaltsam. Während sie erzählte, ließ Coll immer wieder den Blick durch die Bar schweifen, um sicherzugehen, dass der Laden auch ohne sie wie am Schnürchen lief.

Vielleicht war es keine gute Idee, auch noch ihren freien Abend im O’Rourke’s zu verbringen. Zwar gab es nicht viele Alternativen in Manningsport, New York, einer Stadt mit gerade mal siebenhundert Einwohnern. Aber sie hätte zu Hause bleiben und lesen können oder mit Rufus, ihrem riesigen irischen Wolfshund, schmusen, der nichts lieber tat, als ihr stundenlang anbetungsvoll in die Augen zu starren. Eine wunderbare Art, sich das Selbstbewusstsein aufmöbeln zu lassen.

Sie könnte sich natürlich auch mit einem Mann treffen. Da hatte Rafe schon recht.

Nur schien bei jedem Typen, den sie kennenlernte, irgendetwas zu fehlen. Jedenfalls hatte sie schon sehr, sehr lange kein Kribbeln mehr verspürt.

Als Teilhaberin des einzigen Restaurants der Stadt, das das ganze Jahr über Alkohol ausschenken durfte, sah Colleen jede Menge Beziehungen aufblühen und scheitern. Wenn es gut lief, dann meistens nur deshalb, weil die Frau den Mann so geschickt manipulierte, dass er sich anständig benahm. Also anrief, wenn er es versprochen hatte. Sich bei den Verabredungen richtig ins Zeug legte. Und ihr Fragen über ihr Leben stellte, was natürlich nur funktionierte, wenn sie nicht schon innerhalb der ersten zehn Minuten ihre komplette Lebensgeschichte vor ihm ausgebreitet hatte.

Viel häufiger aber war es so, dass Colleen einer Frau, die überhaupt keine Ahnung hatte, was schon wieder falsch gelaufen war, einen Cosmo mixen oder noch ein Glas Pinot Grigio nachschenken musste. Colleen hätte es ihr natürlich verraten können, und manchmal tat sie das auch … Vielleicht hättest du nicht zwei Stunden lang von deinem Ex erzählen sollen oder Musstest du gleich beim ersten Treffen die Hormonbehandlung zur Steigerung deiner Fruchtbarkeit erwähnen?

Zum Glück hatte die nun verlobte Brandy sie von Anfang an um Rat gefragt. Soll ich morgen schon wieder mit ihm ausgehen? Ist es okay, gleich mit ihm zu schlafen? Soll ich ihm jetzt sofort eine SMS schreiben?

Die Antworten: nein, nein und nein.

„Colleen“, sagte die künftige Braut jetzt, „ich möchte mich nur noch mal bei dir für alles bedanken.“ Sie beugte sich vor, um Coll zu umarmen. „Brautjungfer?“

„Aber klar!“, rief Colleen. „Ihr zwei … viel Glück! Ich freue mich so für euch!“

„Danke, Coll“, sagte Ted. „Du bist die Beste.“

„Mein fünfzehntes Paar“, erklärte sie den Holland-Schwestern, als das glückliche Paar gegangen war – vermutlich, um zu Hause wie wild übereinander herzufallen.

„Du hast da echt eine Gabe“, sagte Faith und schaufelte sich Nachos auf ihren Teller.

„Gestern Abend war eine Frau hier, die ihren Typen angefleht hat, ihr nicht den Laufpass zu geben. Die habe ich zur Seite genommen und gesagt: ‚Schätzchen, wenn du schon betteln musst, dann wirklich bei so einem Versager?‘ Aber natürlich hat sie weiter geheult und gefleht. Es war eine Qual, kann ich euch sagen.“ Sie trank ihr Glas leer, einen von den Erdbeercocktails, den Faith nicht hatte haben wollen. „Vielleicht sollte ich Workshops anbieten. Pru, wenn Abby mit Jungs anfängt, schick sie gleich zu mir.“

„Mach ich. Und danke, denn auf mich hört sie in letzter Zeit weiß Gott nicht.“

„Entschuldigt“, erklang eine Stimme, und sie alle sahen auf.

„Hey, Paulie“, rief Colleen. „Wie geht es dir? Setz dich!“

Paulina „Paulie“ Petrosinsky zog sich einen Stuhl heran, drehte ihn um und hockte sich rücklings darauf. Sie war mit Faith und Colleen in eine Klasse gegangen – und auch wenn man sie nicht direkt als Freundin bezeichnen konnte, war sie wirklich nett. Sie kam ab und zu ins O’Rourke’s, meistens nach dem Fitnessstudio – ihre Fähigkeit, Gewichte zu stemmen, war legendär.

„Ähm … ich habe zufällig mitgekriegt, dass du irgendwas von wegen Workshop gesagt hast. Für Frauen?“, fragte sie.

„Schlampen-Uni“, schlug Prudence vor, und Faith und Honor kicherten.

„Sehr witzig“, sagte Colleen. „Mein Ruf ist in dieser Hinsicht total übertrieben.“

„Und wessen Fehler ist das wohl?“, fragte Faith. „Du solltest vielleicht aufhören, Gerüchte über dich selbst zu verbreiten.“

Colleen lächelte. Hatte sie tatsächlich letzte Woche in der Männertoilette etwas Schmeichelhaftes über sich selbst an die Wand geschrieben? Hatte sie. „Achte gar nicht auf meine sogenannten Freundinnen“, sagte sie zu Paulie. „Also, was gibt’s?“

„Ähm … kannst du da wirklich … ähm … helfen? Mit … also, du weißt schon. Liebe und Männern und allem?“ Paulies Gesicht lief tiefrot an, dann lila.

„Geht’s dir gut?“, fragte Honor mit gerunzelter Stirn.

„Ach, das. Mein Gesicht. Das nennt man idiopathisches kraniofaziales Erythem. Ich … werde rot. Sehr rot.“

„Ich würde echt gern noch bleiben“, sagte Prudence. „Aber wir Weinbauern müssen früh aufstehen. Viel Glück mit deinem Mann, Paulie! Bis dann, Mädels!“

„Also, interessierst du dich für jemand Besonderes?“, fragte Colleen, die auf Prudences frei gewordenen Stuhl rutschte, um mehr Platz am Tisch zu schaffen.

Paulie schluckte. „Ja“, wisperte sie und sah sich um.

„Für wen?“, fragte Faith.

„Ähm … das möchte ich lieber nicht sagen.“

Colleen nickte. „Und was gefällt dir an ihm?“

„Er … er ist einfach so nett. Ich meine, richtig nett, versteht ihr? Und ich finde, er ist auch lustig und klug. Ich meine, er … tja. Er ist toll.“

Colleen lächelte. „Und dir wird ganz komisch, wenn du ihn siehst, und erst heiß und dann richtiggehend übel?“

„Ganz genau“, sagte Paulie, und ihr Gesicht nahm erneut eine lila Farbe an.

„Stellst du dir vor, wie du dich mit ihm unterhältst, wie ihr Händchen haltend im Mondschein spazieren geht und ähnlichen kitschigen Kram?“

„Ich … ja. Das tue ich.“ Paulie atmete ein wenig zittrig ein.

„Und bringt er deine Gefahrenzone zum Kribbeln? Wird deine Haut warm, wackeln deine Knie, fühlt sich deine Zunge geschwollen an …“

Faith stand auf. „Ich vermisse Levi“, verkündete sie. Dann verpasste sie Colleen einen Kuss auf die Wange und drückte die Schulter ihrer Schwester. „Viel Glück, Paulie! Nimm Colleen nicht allzu ernst.“

„Ich gehe auch“, meinte Honor. „Tschüss, Ehestifterin. Richte bitte keinen Schaden an. Bis dann, Paulina.“

„Also, wer ist der Typ?“, fragte Colleen, als sie gegangen waren.

Paulie warf einen nervösen Blick zur Theke. Aha! Ein Hinweis. „Weißt du was? Vergiss es“, sagte Paulie. „Er … ist sowieso eine Nummer zu groß für mich.“

„Nein, bestimmt nicht!“, schrie Colleen auf. „Paulie, du bist so nett! Das bist du! Jeder Mann könnte sich glücklich schätzen, mit jemandem wie dir zusammen sein zu dürfen.“ Davon mal abgesehen hatte Colleen Paulie gegenüber schon seit Jahren ein schlechtes Gewissen.

„Danke“, murmelte diese.

„Es stimmt“, sagte Colleen mit fester Stimme. Sicher, Paulie war nun nicht gerade eine Schönheit. Und sie hatte einen komischen Dad – Ronnie Petrosinsky, Inhaber von vier kleinen Restaurants namens Chicken King, in denen es Brathähnchen auf achtunddreißig unterschiedliche Arten gab, die alle sehr, sehr schlecht für die Gesundheit waren. Er war für seine Werbespots berühmt, in denen er als Hahn verkleidet und mit einer Krone auf dem Kopf durchs Bild stolzierte. Die arme Paulie war darin ebenfalls zu sehen, in einem flauschig gelben Hühnchenkostüm und ebenfalls mit Krone. Die Hühnchenprinzessin. So einen Titel musste man erst mal wieder loswerden, speziell in der Highschool.

„Hör mal, Paulie. Niemand ist eine Nummer zu groß für dich. Also los, sag es mir.“

Paulie seufzte schwer, dann schüttete sie ihr Bier hinunter (erste Aufgabe: sie dazu zu bringen, etwas Mädchenhafteres zu trinken). „Bryce Campbell.“

Oh. Okay, das könnte haarig werden.

Bryce war umwerfend. Jake-Gyllenhaal-Alarmstufe-Rot-artig umwerfend. Und er war auch kein Kind von Traurigkeit, wie Colleen selbst nur zu gut wusste. Bryce war Stammkunde. Nicht gerade eine Leuchte, aber süß. Er hatte einen gewissen Charme, der dafür sorgte, dass sich ihm praktisch ständig irgendwelche Frauen an den Hals warfen.

Viele Frauen.

„Schon gut“, sagte Colleen, als ihr auffiel, dass sie ziemlich lange geschwiegen hatte. „Kein Problem.“

Paulie warf ihr einen verzweifelten Blick zu.

„Im Ernst. Damit können wir arbeiten. Also, erzähl mir mehr von dir und Bryce.“

Paulies Ausdruck wurde ganz verträumt, die schwerwiegende Rötung verschwand. „Er arbeitet als Freiwilliger im Tierheim, weißt du?“ Colleen nickte. Bryce hatte sie damals schließlich überredet, Rufus the Doofus zu nehmen. „Und die Tiere, die lieben ihn alle. Ich gehe oft hin. Ich, ähm … ich habe im vergangenen Jahr zwei Hunde und vier Katzen adoptiert.“

Colleen lächelte. „Das ist eine ganze Menge. Aber erzähl weiter.“

„Und gestern war ich tanken. Er auch, und ich hatte das nicht mal geplant! Er hat mich angelächelt und ‚Hey, Paulina, wie geht’s denn immer so?‘ gesagt.“ Sie seufzte in Erinnerung an die magischen Worte. „Es war unglaublich. Ich meine, dieses Lächeln.“

Ja. Bryce hatte ein wunderschönes Lächeln. Das stimmte.

„Er hat nie schlechte Laune“, fuhr Paulie fort. „Und sagt nie etwas Schlechtes über andere. Zumindest nicht viel. Manchmal sind wir gleichzeitig im Fitnessstudio, und … also, dann versuche ich, mit ihm ein Gespräch anzufangen. Doch irgendwie setzt immer mein Verstand aus, mir fällt einfach nichts ein, was ich zu ihm sagen könnte. Letzte Woche, da musste ich an ihm vorbeigehen. Und ich sagte Entschuldigung‘, und er sagte, ich zitiere: ‚Kein Problem.‘ Colleen, er hat so unglaublich gut gerochen.“

Diese Frau hatte es ja wirklich schwer erwischt.

„Und als wir in der Highschool waren, hat er sich nie über mich lustig gemacht.“

Colleens Herz zog sich etwas zusammen. Paulie war kräftig und athletisch gebaut, sie hielt noch immer den Schulrekord für Liegestütze, bei dem sie selbst Jeremy Lyon, den Footballgott, überflügelt hatte. Der Beruf ihres Vaters – Hühnerzüchter – hatte ihrem Beliebtheitsgrad an der Schule nicht gerade gutgetan. Sie war nicht in dem Wohlstand aufgewachsen wie die meisten ihrer Klassenkameraden. Und als Chicken King dann so ein Erfolg wurde, fanden alle auch das wieder merkwürdig. In diesem Alter war es einfach schwierig, anders zu sein.

Obwohl sie inzwischen Betriebsleiterin der Chicken-King-Filialen war, schien Paulie immerzu in Sportklamotten herumzulaufen. Sie gehörte einfach nie so ganz dazu, so nett und klug sie auch sein mochte.

Paulie erinnerte sie ein wenig an Savannah, ihre neunjährige Halbschwester.

„Weißt du was? Vergessen wir’s einfach, okay? Es tut mir leid“, sagte Paulie jetzt.

„Auf gar keinen Fall. Er könnte wirklich froh sein, jemanden wie dich zu haben. Im Ernst. Du bist toll, du hast viele schöne Eigenschaften … so schwer wird das nicht werden, Paulie. Wie sind denn deine bisherigen Beziehungen gelaufen?“

„Ähm … ich … ich hatte noch nie eine Beziehung.“

„Macht nichts. Also gar keine Erfahrung mit Männern?“

„Ich bin noch Jungfrau“, sagte sie.

„Keine Sorge. Ist doch nichts Falsches daran, sich für die wahre Liebe aufzusparen.“ Das hatte sie selbst schließlich auch getan. Wobei sie damit nicht sagen wollte, dass sie als leuchtendes Beispiel taugte.

„Es liegt eher daran, dass mich bisher nie jemand haben wollte.“

Oh! Armes Lämmchen! „Gar kein Problem.“

„Er würde bestimmt viel lieber mit dir ausgehen“, sagte Paulie.

Colleen zuckte etwas zusammen. „Bryce? Nein. Wir sind nicht … Er ist ein Schatz, aber nicht mein Typ. Aber ihr beide … ihr würdet super zusammenpassen.“

Paulie Gesicht leuchtete auf. „Wirklich? Meinst du? Im Ernst? Ich tue alles, was du sagst. Glaubst du, ich habe eine Chance?“

„Absolut.“

Connor kam zurück. „Dad hat angerufen. Er fragt, ob du Babysitter spielen kannst. Offenbar braucht Gail mal eine Pause.“

Ah. Gail Chianese O’Rourke, ihre Stiefmutter, nur vier Jahre älter als sie selbst und auch unter dem Namen Gail-die-Schlange-Chianese-O’Rourke bekannt.

„Wovon denn eine Pause?“, fragte Colleen. „Von ihren Kosmetikbehandlungen? Shoppingtouren? Eine Pause von ihren Pausen?“

„Weiß ich nicht. Sag ihm, dass er dich das nächste Mal auf deinem Handy anrufen soll. Hey, Paulie, möchtest du noch was trinken?“

„Ähm, nein danke.“ Paulie zog einen Zehndollarschein aus der Tasche.

„Geht aufs Haus“, sagten Connor und Colleen gleichzeitig.

„Danke.“ Sie stand auf und stolperte über den Stuhl. Als Con nach ihrem Arm griff, errötete sie wieder. „Also, danke, Coll. Du bist super.“ Damit eilte sie hinaus in den wunderschönen Frühlingsabend.

„Ich werde sie verkuppeln“, sagte Colleen.

„Ach Gott“, murmelte Connor.

„Was denn? Hast du etwas gegen die wahre Liebe?“

„Musst du das noch fragen?“

Die Bar leerte sich langsam. Die wenigen Bürgersteige in Manningsport wurden immer schon ziemlich früh hochgeklappt. Connor setzte sich zu ihr. Die einzigen Gäste waren nun noch die Jungs von der Freiwilligen Feuerwehr, die das O’Rourke’s mehr oder weniger als ihr Wohnzimmer betrachteten.

„Con, glaubst du, dass Mom und Dad uns fürs ganze Leben vermurkst haben? Ich meine, keiner von uns hat einen Partner.“

Connor zuckte die Achseln. Er sprach nicht gern über ihre Eltern.

„Du solltest dich mit jemandem treffen. Jessica Dunn vielleicht. Oder Julianne aus der Bibliothek. Oder ich suche dir jemanden.“

„Vorher hänge ich mich auf, besten Dank.“

„Okay, wenn du das tust, bekomme ich dann dein Auto?“ Sie sah ihn prüfend an. „Was verschweigst du mir?“

Er schnitt zwar eine Grimasse, doch die Zwillingstelepathie funktionierte nach wie vor bestens. „Jetzt flipp nicht gleich aus, okay? Aber genau genommen habe ich da jemanden kennengelernt.“

„Was? Wann denn? Wen?“

„Nicht ausflippen, Colleen.“

„Hey, du bist mein Zwillingsbruder, meine Familie und mein Kollege! Wir wohnen zusammen!“

„Noch ein großer Fehler.“

„Connor“, sagte sie nun etwas ruhiger. „Wie kannst du jemanden kennengelernt haben, ohne dass ich davon weiß? Wer ist sie? Wie lange läuft das schon? Warum hast du es mir nicht erzählt?“

„Genau deshalb. Ich wollte nicht, dass du durchdrehst und mir Ratschläge gibst und sofort anfängst, nach Babynamen zu suchen.“

„Wann habe ich das jemals getan?“

„Vor einer Stunde. Du hast Faith gesagt, dass sie ihr Kind nach dir benennen soll.“

„Nun, das hast du auch.“

Ihr Bruder verschränkte die Arme. „Es ist nichts Ernstes. Noch nicht.“

„Ich kann nicht fassen, dass du mir das verheimlicht hast. Gott, diese drei Minuten, die du mir voraushast, scheinen echt ein Problem für dich zu sein. Ich hätte als Erste geboren werden sollen, und das wäre auch so gewesen, wenn du dich nicht vorgedrängelt hättest.“

„Okay, das war’s. Schmeißt du die Feuerwehr raus oder ich?“

„Raus, Leute!“, brüllte Colleen, und sofort griffen die Männer nach ihren Brieftaschen.

Hallo. Bryce Campbell war ja auch da. Er musste hereingekommen sein, als sie mit den Mädels beschäftigt gewesen war. Er beobachtete die Feuerwehrmänner mit einem beinahe wehmütigen Gesichtsausdruck. Jungs. Die kamen einfach nie über ihren ersten glänzend roten Feuerwehrwagen hinweg.

Nun, was du heute kannst besorgen …

Gemächlich ging sie auf ihn zu. „Hey, Bryce.“

„Hi, Colleen.“ Er sah sie lächelnd an, und ja, Paulie hatte recht. Bryce war süß. Das war zwar nichts Neues, aber trotzdem.

„Wie geht es deinem Dad?“ Der immer lächelnde Joe Campbell war einer von Colleens Lieblingskunden, obwohl er im vergangenen Jahr nicht besonders oft gekommen war.

„Ihm geht es großartig!“ Bryce warf einen weiteren Blick auf die Feuerwehrleute, die jetzt lachend zur Tür hinausgingen.

„Du solltest auch zur Feuerwehr gehen“, sagte sie.

„Ja, aber meiner Mom würde das nicht gefallen. Mir könnte was passieren.“

„Höchstwahrscheinlich nicht. Die haben eine spitzenmäßige Sicherheitsbilanz, auch wenn sie wie ein Haufen Spinner wirken.“ Sie nahm sein leeres Glas und wischte die Theke vor ihm ab. „Also, Bryce, bist du momentan mit jemandem zusammen?“

Er hob erfreut eine Augenbraue. „Willst du das wissen?“

„Nein.“

„Ach so.“ Er grinste. „Nein, nicht so richtig. Ich hätte allerdings nichts gegen eine feste Freundin einzuwenden.“

Das lief ja viel besser, als sie gedacht hatte. „Wirklich? Und wie ist so dein Typ?“

„Von dir mal abgesehen?“ Er zwinkerte ihr zu.

„Jetzt nicht. Beantworte meine Frage.“

„Ich weiß nicht. Hübsch. Irgendwie … hübsch und nett und heiß, verstehst du? Wie Faith Holland, nur vielleicht etwas größer und dünner, aber verrat Levi nicht, dass ich das gesagt habe, okay?“

„Bryce Campbell. Aussehen ist nun wirklich nicht das Wichtigste.“ Wenn er sogar ein Problem mit Faith hatte, die wie ein Pin-up-Girl aus den vierziger Jahren gebaut war, musste sie die Sache mit Paulie sehr umsichtig angehen. „Und in Bezug auf die Persönlichkeit?“

„Sie sollte aufgeschlossen sein. Ein bisschen wie ich. Kennst du so jemanden?“

„Hmm. Da fällt mir gerade niemand ein.“ Genau genommen fielen ihr vier Frauen ein, aber Bryce war ein typischer Mann – er hatte keine Ahnung, was er wirklich brauchte. Er wusste nur, was ihm gefiel. „Aber ich denke mal darüber nach, okay?“

„Danke, Coll! Du bist die Beste!“

„Das stimmt. Und jetzt raus mit dir, wir schließen.“

Eine halbe Stunde später stand Colleen vor dem gelb-roten viktorianischen Haus, das sie mit ihrem Bruder teilte. Ein Doppelhaus, somit war diese Tatsache nicht ganz so krank, wie es klang. Connor war schon vor ihr gegangen, im Erdgeschoss brannte jedoch kein Licht. Colleens Wohnung befand sich im ersten Stock, zu deren Eingangstür man über eine kleine Treppe am Hinterhaus gelangte.

Sie fragte sich, ob die geheimnisvolle Frau ihn schon einmal besucht hatte.

„Alles in Ordnung“, murmelte sie, als sie die Tür aufschloss. „Immerhin haben wir auch jemanden, den wir lieben können. Nicht wahr, Rufus?“

Einhundertundsechzig Pfund Hund stimmten ihr zu. Sie erlaubte es ihm, an ihr hochzuspringen, strich ihm durch das struppige Fell, sah bedeutungsvoll in seine Augen und machte dann einen Schritt zurück. „Wer will einen Keks? Wir beide vielleicht? Ich bekomme einen Oreo, und du, mein wunderschöner Mitbewohner, kannst einen Hundekeks haben.“

Irgendein Idiot hatte Rufus als Welpe gekauft und dann offenbar schockiert festgestellt, dass diese Rasse dazu tendierte, relativ groß zu werden, und ihn ausgesetzt. Für sie ein echter Glücksfall, denn wie Bryce Campbell schon vermutet hatte, waren sie beide seelenverwandt.

Sie rief im Rushing Creek an, sprach kurz mit Joanie, der Nachtschwester ihres Großvaters, und ließ sich versichern, dass es Gramp gut ging. Dann holte sie seufzend den Hundekuchen aus dem Schrank, den Rufus erst kurz auf der Schnauze balancieren musste, bevor er ihn verspeisen durfte, und ließ sich mit einer Schachtel Oreos auf die Couch plumpsen. Weil natürlich kein Mensch auf der Welt wirklich bloß einen Oreo aß.

Liebe lag in der Luft. War überall um sie herum, um genau zu sein – Faith und Levi erwarteten vielleicht ein Baby. Honor und Tom wollten heiraten, Brandy und Ted waren jetzt verlobt. Paulie und Bryce, nun, das war in vielerlei Hinsicht kompliziert … aber zumindest hatte Colleen die Chance, hier mal wieder Gutes zu tun.

Connor war jetzt auch mit jemandem zusammen.

Und das versetzte ihr den schmerzhaftesten Stich. Natürlich hätte sie ihn in all den Jahren nicht nur einmal am liebsten an die Zigeuner verkauft (und hatte ihn mit zwölf tatsächlich einmal zur Adoption ausgeschrieben, nachdem er am schwarzen Brett der Cafeteria ihre erste Periode verlautbart hatte). Die hässliche, schreckliche Scheidung ihrer Eltern hatte sie schließlich fester denn je zusammengeschweißt. Sie riefen sich oft gleichzeitig an, schrieben sich SMS. Sahen sich jeden Tag.

Es war komisch, sich ihren Zwillingsbruder verheiratet vorzustellen. Als Dad. Natürlich wollte sie, dass er glücklich war, keine Frage. Nur hatte sie sich das alles in einer fernen, sonnigen Zukunft vorgestellt, wenn sie selbst ebenfalls einen Ehemann und bezaubernde Kinder hatte.

Wobei diese Vorstellung immer eine eher traumhafte Anmutung hatte. Das Bild wirkte überbelichtet, als ob die Sonne zu hell strahlen würde, und das Gesicht ihres Ehemannes war verschwommen.

Früher einmal hatte sie ganz genau gewusst, wem dieses Gesicht gehörte; damals war es kein bisschen verschwommen gewesen.

2. KAPITEL

Mommy sagt, du bist emotional verkorkst“, hörte Lucas eine Kinderstimme sagen. Es war ein Mädchen der etwas winzigeren Sorte, das da in seiner Bürotür bei Forbes Properties stand. Eine seiner vier Nichten, um genau zu sein.

„Das ist ja toll. Ich dachte, ich hätte dir verboten, mich zu besuchen“, sagte Lucas. Er drückte den Knopf der Sprechanlage. „Susan, bitte rufen Sie den Sicherheitsdienst und lassen Sie meine Nichte aus dem Gebäude entfernen.“

„Sie ist fünf Jahre alt“, antwortete seine Sekretärin.

„Dann schicken Sie besser ein ganzes Team.“ Chloe grinste und ließ dabei eine riesige Zahnlücke aufblitzen. Es war wahrscheinlich etwas zu früh für ein künstliches Gebiss. „Mommy sagt, du bist total verschossen.“

„Da muss ich ihr recht geben“, sagte Susan und meldete sich ab.

Er sah seine Nichte an. „Das heißt verschlossen. Wenn du über mich sprechen willst, musst du dich schon etwas mehr anstrengen. Warum bist du hier? Hab ich dich nicht dafür bezahlt, mir nicht mehr auf die Nerven zu gehen?“

„Das Geld hab ich schon ausgegeben.“

„Und?“

„Gib mir mehr.“ Chloe hatte die Seele eines Luxusweibs aus Beverly Hills. Sie hüpfte zu ihm und kletterte auf seinen Schoß.

„Bild dir bloß nicht ein, dass du mich mit Zärtlichkeit bestechen kannst“, brummte er.

„Was schaust du dir da an?“, fragte Chloe und lehnte sich an ihn.

„Mr Forbes baut einen neuen Wolkenkratzer“, sagte er.

„Ich will das Penthouse haben.“

„Du bist pleite. Und hast keine Verdienstmöglichkeiten, wie ich hinzufügen möchte. Du kannst ja nicht mal Auto fahren. Jedenfalls nicht besonders gut.“ Dafür erntete er ein Kichern, und Lucas, das Kinn in ihr Haar gedrückt, musste lächeln.

„Ist das da etwa eine Prinzessin?“, sagte jemand.

„Hallo, Frank!“ Chloe krabbelte von Lucas’ Schoß und warf sich an Frank Forbes’ Beine. „Onkel Lucas hat mir deinen neuen Wolkenkratzer gezeigt, und ich will im Penthouse wohnen!“

Frank hob Chloe lachend in die Höhe. „Nun, du kannst dort übernachten, bevor wir es verkaufen, wie wäre es damit? Du zusammen mit deinen Schwestern?“

„Hurra!“

„Hör mal, Kleine, wie auch immer du heißt, geh zu Susan und sag ihr, dass sie dich das Telefon abnehmen lassen soll“, sagte Lucas. „Du bist ihre Chefin, bis deine Mom dich abholen kommt.“ Steph, Lucas’ ältere Schwester, arbeitete in der Buchhaltung sieben Stockwerke tiefer und schickte ihre Jüngste regelmäßig hinauf, damit sie ihm auf die Nerven gehen konnte. Chloe besuchte den Kinderhort, den Forbes für seine Angestellten bereitstellte. Cara, Tiffany und Mercedes – Chloes Schwestern – waren alle im gleichen Programm gewesen, inzwischen aber schon schrecklich erwachsen. Die Zwillinge waren vierzehn, Mercedes bereits sechzehn.

Chloe stapfte hinaus zum Empfang, begeistert von der Idee, Macht ausüben zu können.

„Wann können wir sie anstellen?“, fragte Frank und setzte sich in einen Lederstuhl vor Lucas’ Schreibtisch.

Lucas wartete lächelnd ab. Wenn Frank in letzter Zeit vorbeikam, dann immer aus ein und demselben Grund – um Lucas zu erklären, warum er bei Forbes Properties bleiben sollte, statt wie geplant die Firma zu verlassen, sobald der Cambria-Wolkenkratzer fertiggestellt war. Doch egal wie dankbar Lucas ihm auch sein mochte, er war hier fertig. Frank Forbes, sein Chef und ehemaliger Schwiegervater (und ja, verwandt mit den Forbes), war immer sehr großzügig zu ihm gewesen.

„Ich wünschte wirklich, du würdest bleiben, Sohn“, sagte Frank wie aufs Stichwort. „Es gibt überhaupt keinen Grund für dich zu gehen.“

„Vielen Dank. Aber es ist Zeit, finde ich. Höchste Zeit.“ Frank seufzte.

„Vielleicht. Aber ohne dich wird es nicht mehr dasselbe sein.“

In Wahrheit konnte Lucas noch immer nicht fassen, dass er überhaupt hier arbeitete – er, ein Junge aus der South Side, der jeden Tag mit dem Fahrstuhl in den dreiundfünfzigsten Stock fuhr. Zum ersten Mal hatte er in den Semesterferien für Forbes Properties gearbeitet, einfache Arbeiten auf dem Bau erledigt. Jobs wie hinter den Schreinern und Elektrikern herputzen und Baumaterialien schleppen, um sich nach und nach hochzuarbeiten und Nägel einschlagen und Bretter zuschneiden zu dürfen.

Vier Jahre später war er befördert worden, inklusive Krankenversicherung und Titel.

So lief das eben, wenn man die Tochter des Chefs schwängerte.

Nicht genug, dass Frank ihm verziehen hatte, er hatte ihn zudem noch viel besser behandelt, als er es verdiente, hatte ihn immer als Teil der Familie betrachtet – und nicht nur ihn, sondern auch Steph und ihre Kinder. Trotzdem konnte Lucas keinen Tag länger bleiben. Er hatte seine Schuld gegenüber der Forbes-Familie so gut es ging beglichen.

„Hast du in letzter Zeit meine Tochter gesehen?“, fragte Frank jetzt.

„Wir waren gestern Abend zusammen essen.“

Frank schwieg einen Moment. „Sie sieht gut aus, findest du nicht?“

„Ja, allerdings.“

Die Sprechanlage summte. „Ein Anruf für dich auf Leitung drei“, hörte er Chloes Stimme.

„Hast du nach dem Namen gefragt?“

„Nein“, antwortete sie. „Frag doch selbst.“

Frank lächelte. „Bis später dann, Sohn.“

„Danke, Frank.“ Er wartete, bis Frank gegangen war. Zweifellos würde er noch bei Chloe einen Zwischenstopp einlegen, um mit ihr zu plaudern. Dieses Mädchen sammelte Seelen wie ein winziger Satan.

„Lucas Campbell“, meldete er sich.

„Lucas? Hier ist Joe.“

„Hallo, Onkel Joe“, sagte er. „Wie geht es dir?“

Es wurde kurz still am anderen Ende. „Nicht so besonders, Kumpel.“

Ein Stich fuhr in Lucas’ Brust. „Was ist passiert?“

„Nun … der Tumor wächst, und ich schätze, ich sollte … du weißt schon, etwas langsamer machen.“

Die Worte schienen im Raum nachzuhallen. Lucas sah aus dem Fenster und betrachtete das Sears-Gebäude und das Aon Center. „Was kann ich tun, Joe?“, fragte er, dann räusperte er sich.

„Könntest du eine Zeit lang nach Hause kommen? Bryce … es wird ihn schwer treffen. Und es gibt ein paar Dinge, bei denen ich deine Hilfe brauche.“

„Natürlich.“

Seit achtzehn Monaten hing Joe an der Dialyse, anfangs ein Mal die Woche, dann zwei Mal und inzwischen jeden zweiten Tag. Das war zwar schrecklich anstrengend, hielt ihn jedoch am Leben.

Doch nun war bei einer Routineuntersuchung etwas viel Bedrohlicheres entdeckt worden – Lungenkrebs im Stadium vier. Und das würde ihn weitaus früher unter die Erde bringen als ein Nierenversagen.

Joe war sein einziger Onkel, der ältere Bruder von Lucas’ verstorbenem Vater. Joes Frau Didi konnte man nicht gerade als fürsorglichen Typ bezeichnen. Und Bryce, ihr Sohn, war ein großes Kind, der jegliche Vernunft schmerzlich vermissen ließ. Ganz im Gegensatz zu Lucas, und das, obwohl sie fast im selben Alter waren.

„Arbeitet Bryce noch auf dem Weingut?“, fragte er. Sein Cousin hatte vor Kurzem einen Job bei einem der vielen Weinbauern in der Finger-Lakes-Gegend, wo Joe und Didi lebten, ergattert.

„Nein, den hat er hingeschmissen. Das war nichts für ihn“, sagte Joe.

Ah. Lucas überlegte, ob Bryce jemals irgendetwas länger als drei Monate ausgehalten hatte, doch ihm fiel nichts ein.

„Ich wünschte mir so, er würde zur Ruhe kommen bevor …“, fügte Joe hinzu. „Du weißt schon. Feste Stelle. Glücklich. Stabil.“

Erwachsen, dachte Lucas. Er hatte vor ein paar Wochen mit Bryce telefoniert, doch da war es überwiegend um die White Sox gegangen.

Lucas war seit Jahren nicht mehr in Manningsport gewesen … was für ihn sowieso keine Heimat war, sondern nur ein Ort, in dem er einmal vier Monate lang gelebt hatte.

„Ich muss erst noch ein paar Dinge erledigen“, sagte Lucas. „Ich rufe dich heute Abend an, Joe.“

Sehr sanft legte er den Telefonhörer auf.

Er würde also nach Manningsport zurückkehren und wieder einmal versuchen, auf Bryce aufzupassen. Wieder einmal seine Tante Didi ertragen, die ihm erst Beachtung geschenkt hatte, als sie von seiner Hochzeit mit Ellen Forbes erfuhr. Nun, die Scheidung wiederum hatte sie ihm nie verziehen.

Und außerdem würde er Colleen O’Rourke wiedersehen.

3. KAPITEL

Hey, Zuckerschnute!“, rief Colleen, als ihre kleine Schwester auf eine Bank im O’Rourke’s rutschte. „Große Portion Nachos kommt sofort!“

Savannahs Gesicht leuchtete auf, aber nur kurz. „Oh, nein danke.“ Sie zupfte an ihrer engen roten Bluse. „Vielleicht ein Glas Wasser und Salat mit dem Dressing extra?“

Colleen zögerte. „Magst du Connors Nachos plötzlich nicht mehr?“

Es war Tradition, dass Savannah am Freitagabend zum Essen kam, damit Dad und Gail-die-Schlange-Chianese-O’Rourke miteinander ausgehen konnten. Colleen, Connor und ihre Schwester aßen dann immer zusammen. Connor war ja kein Idiot. Zwar konnte er den Anblick seines Vaters nicht ertragen und sprach kein Wort mit Gail, aber er mochte Savannah wirklich gern. Unglaublich gern, um genau zu sein.

Fairerweise musste man zugeben, dass das Universum Gail nicht besonders aufmerksam zugehört hatte, als sie mit Savannah schwanger gewesen war.

Vor neun Jahren, als Colleen bei ihrem Vater und der Schlange zu Besuch gewesen war, hatte sie zufällig mitbekommen, wie Gail Folgendes sagte: Wenn Colleen schon hübsch ist, dann stell dir erst mal vor, wie unsere Tochter aussehen wird! Meinst du, es ist zu früh, um sie bei einer Modelagentur anzumelden? Darauf lachten die künftigen Eltern fröhlich miteinander, während Colleen beschloss, dass es besser wäre, noch etwas länger im Keller zu bleiben, in den man sie zum Weinholen geschickt hatte. Zumindest so lange, bis ihre Wut etwas abgeklungen war.

Natürlich ging sie davon aus, dass es ein schönes Baby werden würde. Es gab schließlich keine hässlichen Babys. Aber ihr war klar, was Gail damit meinte. Colleen war hübsch, etwas, worauf ihr Vater sehr stolz war … Baby Girl 2.0 hingegen würde noch besser gelingen.

Doch die Götter erhören einen vielleicht, wenn man für die Gesundheit seines Babys betet, aber nicht für dessen Schönheit.

Denn Savannah war nicht schön.

Colleen war von der ersten Sekunde an ganz vernarrt in das kleine Wesen mit dem länglichen Kopf und der Knubbelnase gewesen. Sie hatte Windeln gewechselt, war mit ihr spazieren gegangen, hatte sie geschaukelt und geküsst und ihr Schlaflieder vorgesungen. Connor auch, allerdings mit etwas weniger Eifer, da er ja schließlich ein Junge war und so weiter. Doch Colleen hatte sich sofort in ihre Schwester verliebt.

Gail … nicht so sehr. Savannah war ihr offenbar nicht gut genug.

Denn sie war zwar wundervoll und fröhlich und lustig, aber eben nicht schön. Im Gegensatz zu Gail. Savannah war gedrungen und blass, weißer sogar als die meisten Iren, was etwas heißen wollte. Während Colleen cremefarbene Haut und rosa Wangen hatte, wirkte Savannah regelrecht durchsichtig. Ihr Gesicht war mit riesigen Sommersprossen übersät, und ihre blassen Augen standen eng zusammen. Anstelle von Gails Irish-Setter-farbenem Haar war Savannah rotblond.

Sie ging mit schweren Schritten, egal wie oft Gail ihr beizubringen versuchte, auf den Zehenspitzen durchs Haus zu schweben. Sie war ein starkes, strammes Mädchen mit tiefem Körperschwerpunkt, was sie zu einem hervorragenden Catcher in der O’Rourke’s Softball-Mannschaft machte. Aber Gail hatte eben etwas ganz anderes erwartet.

Gail war keine schlechte Mutter. Sie sorgte dafür, dass Savannah Gemüse aß und genug Schlaf bekam, ging zu allen Schulaufführungen und chauffierte sie zum Trompetenunterricht, obwohl Gail sich eigentlich für Flöte oder Violine oder irgendetwas „Weiblicheres“ stark gemacht hatte. Es war nicht zu übersehen, dass Savannah sie irgendwie verwirrte. Gail trug Kleidergröße 34. Ihr Haar war lang und glänzend und glatt. Grüne Augen natürlich, feste kleine Brüste (Savannah war nicht gestillt worden) und ein toller Hintern. Sie kaufte ultrakurze Shorts und enge Oberteile für Savannah, die viel lieber Yankees-T-Shirts und Jogginghosen trug.

„Einen Salat also?“, fragte Colleen jetzt.

„Mom sagt, ich soll abnehmen.“

Colleen blinzelte. Savannah war stämmig. Sicher, sie hatte etwas Speck. Sie war neun.Jeden Moment würde sie zehn Zentimeter in die Höhe schießen, und alles würde sich ausbalancieren.

„Hör zu, Schätzchen“, begann Colleen. „Gesund zu essen ist wirklich eine gute Sache. Da hat deine Mutter recht.“

„Zum Mittagessen gab es Schweinekotelett. Und Brokkoli. Und Wasser. Keine Kohlenhydrate.“

Herrgott noch mal. „Sehr gut. Aber in Maßen, richtig? Ein Mal die Woche Nachos wird dich nicht umbringen. Aber ein Leben ohne Nachos, wer will das schon?“

Das Grinsen ihrer Schwester erhellte den ganzen Raum.

Zehn Minuten später stellte Con die Nachos auf den Tisch und glitt neben Savannah auf die Bank. Alles war so, wie es sein sollte. Savannah plapperte fröhlich über ihren Sportunterricht und Baseball (sie alle waren natürlich Yankees-Fans). Danach durfte sie mit Connor in der Küche Soße auf die Käsekuchendesserts träufeln, und Colleen erlaubte ihr, Bestellungen entgegenzunehmen. Die Stammgäste liebten Savannah.

Als Gail später kam, umarmte sie ihre Tochter und betrachtete prüfend den Fleck auf ihrer Bluse. Dann warf sie Colleen einen bösen Blick zu.

„Nachos“, erklärte Colleen. „Das ist unsere Tradition.“

„Hmm“, sagte Gail. „Nun. Gute Nacht.“ Savannah winkte grinsend.

Also ja, es gab gewisse Parallelen zwischen ihrer Schwester und Paulie Petrosinsky, um deren Glück sie sich heute Abend kümmern würde. Paulie und Bryce Campbell, Schritt eins.

Wie Savannah mangelte es Paulie an gewissen äußerlichen Attributen, die manche Menschen so schrecklich wichtig fanden. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass Savannah und Paulie auf die wahre Liebe verzichten mussten (wobei Savannah natürlich noch ein paar Jahre warten musste, schon klar). Die heutige Herausforderung war: Bryce auf Paulie aufmerksam machen.

Apropos Paulie, da war sie schon, eingewickelt in etwas, das wie ein schmutziges Bettlaken aussah und ihr bis über die Knie reichte. Colleen hatte auf Paulies Frage, was sie anziehen sollte, „weich“ und „weiblich“ und „hell“ geantwortet. Und nicht „grau“. Das Wort „grau“ hatte sie nicht ein Mal in den Mund genommen. Und genauso wenig das Wort Bettlaken.

„Wie sehe ich aus?“, fragte Paulie. „Der Verkäufer meinte, dass man das mit jeder Figur tragen kann, also habe ich gleich sechs davon gekauft.“

Colleen schnappte sich Paulies Arm und schob sie ins Büro. „Raus, Connor. Das hier ist ein Umkleide-Notfall.“

„Dann sollte ich bleiben, findet ihr nicht?“, fragte er, ohne auch nur von seinem Computer aufzusehen.

„Was ist denn los?“, fragte Paulie. „Mist. Weißt du was? Das kann nicht funktionieren. Ich glaube, ich gehe besser wieder nach Hause.“

„Nein, gehst du nicht“, sagte Colleen. „Nur Mut, Mädchen. Ich kümmere mich bloß ein bisschen um deine Frisur, okay? Wir setzen auf einen weichen, femininen Look, und du hast etwas zu viel Gel benutzt.“ Autsch. Paulies Haar war steinhart und steif. Colleen lockerte es etwas auf. „Okay, lassen wir das, ähm … das hier ist eine Jacke, oder wie?“ Colleen zupfte an dem grauen Stoff, der Paulies muskulösen Körper umhüllte.

„Nein! Das ist ein Multifunktionskleidungsstück“, sagte Paulie und zog den Stoff fester vor der Brust zusammen. „Ich habe sechs davon.“

„Sagtest du bereits.“

Paulies Gesicht war knallrot. Colleen griff an ihr vorbei und zog einen Aktenordner aus dem Regal, um ihr damit Luft zuzufächeln. Dabei lächelte sie ermutigend. „Ist gut. Du kannst es anbehalten. Es ist … ein interessantes Kleidungsstück.“ Selbstvertrauen, war schließlich der Schlüssel für wahre Schönheit.

„Man kann es auf sieben verschiedene Arten tragen“, erklärte Paulie. „So wie jetzt, das ist meine Lieblingsvariante, irgendwie so fließend …“ Und das stimmte, es floss fast bis auf den Boden, da Paulie nur ungefähr einen Meter fünfundfünfzig groß war. „Und dann kann man die Enden nehmen und sie um den Nacken schlingen …“

„Warum sollte man das tun?“, fragte Colleen. „Um sich zu erhängen?“

„Und man kann sogar ein Kleid draus machen, sieh mal, so. Oder einen Schal. Sogar einen Rock.“

„It’s a sock, it’s a sheet, it’s a bycicle seat“,sang Connor vor sich hin. „Weißt du noch, Coll? Der Lorax? Was war das für ein Ding, das sie aus Trüffelbäumen gemacht haben?“

„Schnäuche“, sagte Colleen. „Hier. Lass mich das etwas drapieren … super. So!“ Okay, es war wirklich ein merkwürdiges Kleidungsstück, aber solange Paulie dachte, dass sie großartig darin aussah …

„Es kaschiert die Problemzonen“, meinte Paulie.

„Du hast keine Problemzonen. Du bist sehr stark und siehst gesund aus.“

„Ich habe gehört, dass du hundert Kilo beim Bankdrücken schaffst“, sagte Connor, womit er sich einen Tritt seiner Schwester einfing.

„Stimmt“, entgegnete Paulie stolz.

„Und das ist toll“, sagte Colleen. „Aber heute Abend konzentrieren wir uns auf deine feminine Seite. Nein, keine Panik. Wir pflanzen nur den Samen, das ist alles. Nur den Samen pflanzen.“

„Oder die Schnäuche“, rief Connor.

„Halt die Klappe, Connor. Warum bist du überhaupt noch hier? Geh irgendwas kochen.“

Er gehorchte (endlich).

„Kein Grund, nervös zu werden, Paulie“, sagte sie jetzt sanfter. „Du kennst Bryce seit Ewigkeiten …“

„Wem sagst du das“, murmelte Paulie, ihr Gesicht wurde fleckig.

„… und er hat dich schon immer gemocht.“

„Er mag jeden.“

Richtig. Bryce war ein herzensguter Mensch. Und ein schöner noch dazu. Deswegen stürzten die Frauen sich ja auf ihn wie Überschallraketen.

„Heute Abend“, fuhr Colleen fort, „möchtest du einfach nur seine Aufmerksamkeit erregen, okay? Als Frau, nicht als Kumpel. Sprich nicht über Sport und erwähne auch nicht, wie viele Kilos du stemmen kannst. Sag etwas wie ‚Oh, hey, Bryce! Du siehst aber gut aus heute Abend.‘“

Paulie stöhnte auf.

„Na, na“, sagte Colleen. „Das wird schon. Bryce ist attraktiv, das wissen wir alle. Also mach ihn einfach darauf aufmerksam, dass du hier und weiblich und umwerfend bist. Ich möchte, dass du seinen Arm streifst, ungefähr so, nur ein kleines bisschen mit deinen Brüsten, okay? Ein ganz leichtes Brust-Streifen.“ Das sie demonstrierte, indem sie sich sanft an Paulies Schulter drückte.

„Du riechst toll“, sagte Paulie.

„Perfekt, genau das sagst du zu ihm.“

„Nein, ich meine dich. Du riechst wirklich gut.“

Colleen zögerte. „Danke. Und jetzt atme tief durch.“ Sie betrachtete Paulies freundliches rotes Gesicht. „Das hier ist jetzt erst mal nur ein Test. Damit du überhaupt auf seinem Radar erscheinst.“

„Kapiert. Test. Radar.“ Sie begann zu hyperventilieren.

„Atme vier Takte lang ein, halte die Luft vier Takte lang an und atme dann auf vier aus. So ist’s gut. Ich kenne den Typ von Bryce, und weißt du was? Diese Frauen sind nicht gut für ihn. Stell dir einfach vor, dass er sein ganzes Leben lang auf dich gewartet hat.“

„Kein Grund, derart zu übertreiben, Coll.“

„Das nennt man Selbstbewusstsein.“ Sie massierte Paulies harte Schultern. „Und ich bin die ganze Zeit direkt hinter der Theke.“

„Und was, wenn ich es total vergeige? Was, wenn er mich auslacht? Was, wenn ich mich übergeben muss und …“

„Jetzt beruhig dich erst mal. Denk immer dran, du bist klug, du bist leitende Angestellte in einer erfolgreichen Firma, du hast was … einen MBA-Abschluss? Jeder mag dich, Paulie. Wir brauchen nur eine kleine … Strategie, dann wird Bryce sehen, was für ein erstaunlicher Mensch du bist. Und wenn du ihn wirklich liebst, dann ist es die Mühe auch wert, richtig?“

„Ja, das stimmt.“ Paulie richtete sich etwas gerader auf.

„Also, gehen wir. Ich steh zwar nicht auf Klischees, aber ich möchte trotzdem, dass du einen Martini oder Mojito bestellst. Kein Bier mehr.“

„Weiblich, umwerfend, Martini, Mojito.“

„Perfekt. Und nächstes Mal ziehst du eine andere Farbe an. Nichts Graues.“

„Das nennt sich Nebelsilber.“

„Es ist grau, Paulie. Du hast mich um Hilfe gebeten, schon vergessen? Ich bin die Expertin. Also nächstes Mal bitte kein Multifunktionskleidungsstück.“

Paulie ließ ihren Nacken knacken. „Und was – also nur mal angenommen – was, wenn ich Panik bekomme?“

„Ähm … ich gebe dir ein Zeichen.“

„Wirklich? Das wäre so toll, Colleen!“

„Ich werde so machen. Siehst du?“ Sie warf ihr Haar mit der Geste zurück, die Frauen seit Jahrtausenden anwandten, um Männer darauf aufmerksam zu machen, wie sehr sie glänzten. „Einmal Haarwerfen bedeutet: aufhören, aufhören! Du tust einfach so, als ob dein Handy klingelt und gehst weg. Okay?“

„Kapiert.“

Colleen packte die kleinere Frau an den Schultern. „Du bist etwas Besonderes, und er kann froh sein, dich zu bekommen.“

Paulie lächelte, auch wenn ihr Atem stoßweise ging. Und sie hatte wirklich ein hübsches Lächeln. „Okay. Danke, Coll. Wenn du das sagst.“

„Ja, tue ich. Jetzt raus mit dir und mach mich stolz. Vergiss nicht, was du sagen willst.“

„Hi, Bryce, du riechst so heiß.“

„Nein, nein, er soll nicht denken, dass er nach Fleisch oder Grill riecht. Es heißt: Hi, Bryce! Du siehst heute Abend sehr gut aus.“

„Hi, Bryce, du siehst heute Abend wunderschön aus.“

„Gut“, korrigierte Colleen streng.

„Und auch gut.“

„Du siehst heute Abend sehr gut aus, Bryce.“

„Genau wie du.“

„Okay, so ungefähr. Los, schnapp ihn dir“, sagte Colleen. „Ich werde alles mit anhören.“

Sie hielt Paulie die Tür auf, dann ging sie hinter die Bar und zapfte ein Guinness für Gerard, während sie automatisch über seine Komplimente lächelte. Er war ein erstklassiger Charmeur, keine Frage. Gleichzeitig beobachtete sie ihren Schützling.

Es war nicht allzu viel los, ein Dienstagabend Ende Mai, die Sommersaison hatte noch nicht richtig begonnen, und somit hatte sie den ganzen Raum sehr gut im Blick.

Hoffentlich lief die Sache gut. Immerhin schuldete sie Paulie etwas.

Damals in der sechsten Klasse war von einem Tag auf den anderen irgendetwas mit Paulie geschehen. Ihr Haar wurde fettig, sie bekam Pickel und ging in die Breite, ohne zu wachsen. Nichts Dramatisches genau genommen. Faith war immerhin Epileptikerin, Jessica Dunn trug gebrauchte Klamotten, und über die Schuppen von Volldepp Jones hätte man im Wetterkanal berichten können. Paulies Probleme waren also wirklich nichts Besonderes.

Doch dann kam dieser Geruch dazu. Kein sehr angenehmer Geruch. Die anderen Kinder merkten das auch, hatten aber nichts dazu zu sagen. Zunächst nicht. Bis das Getuschel begann, was Paulie überhaupt nicht aufzufallen schien, sie lächelte, errötete und war wie immer verdammt lieb.

Eines Tages beschlossen einige von Colleens Freundinnen, mit der Englischlehrerin zu sprechen. Mrs Hess war jung, hübsch und nett und hatte einen Südstaatenakzent, was sie alle schrecklich exotisch fanden. Tatsächlich hörte ihnen die Lehrerin mitfühlend zu.

„Ich verstehe, was ihr meint“, sagte sie dann. „An eurer Stelle würde ich Folgendes tun. Es wäre das Beste, wenn eine von euch Miss Paulie auf die Seite nimmt und ihr die Wahrheit sagt. Wie sonst soll sie es je bemerken, das gute Ding?“

Und die Wahl fiel auf Colleen, sie sollte die schlechte Nachricht übermitteln. Zwar fand Colleen, dass Faith viel besser geeignet gewesen wäre, aber nein, die anderen Mädchen meinten, dass Colleen ein Händchen für solche Dinge besaß. Am nächsten Tag sagte Mrs Hess zu Paulie, dass sie in der Pause doch bitte im Klassenzimmer bleiben möge, und fügte lächelnd hinzu: „Colleen möchte etwas mit dir besprechen, Paulie.“ Dann verließ sie das Zimmer.

„Was ist los?“, fragte Paulie. Ein hoffnungsvoller Ausdruck lag in ihren Augen, und Colleen spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog. Ihr war schon den ganzen Tag übel vor Nervosität, und die fettige Pizza zum Mittagessen hatte da auch nicht gerade geholfen.

Colleen war sehr beliebt, nicht wie diese bösartigen High-school-Zicken, nein, sie wurde wirklich gemocht. Sie hatte einen Zwillingsbruder, was alle aufregend fanden, außerdem war sie hübsch und locker im Umgang mit Jungs. Paulie konnte nichts in dieser Art aufweisen (außer, dass jeder sie nett fand). Noch bevor Colleen auch nur ein Wort gesagt hatte, wusste sie, dass die Sache gehörig schiefgehen würde.

„Also“, begann sie und setzte sich neben Paulie, die eine rostfarbene Cordhose und ein bedrucktes Sweatshirt trug. Verdammt. Faith wäre einfach perfekt für diese Aufgabe gewesen … Faith war die Niedliche, die Freundliche, die etwas Tragische, sie hätte den richtigen Ton getroffen. „Okay, also es geht um Folgendes, Paulie.“

„Ja?“

Colleen hatte Magenschmerzen. Sie konnte Paulies bitteren Geruch fast schmecken. Sprach Paulies Mutter denn nicht mit ihr über solche Dinge? Sie räusperte sich. „Ein paar von uns haben sich unterhalten.“ Sie kaute an einem Fingernagel. „Und … ähm, also über Sachen, die, ähm, manchen Mädchen passieren, wenn sie Teenager sind und so.“

Paulie runzelte die Stirn. „Oh.“

Colleens Magen hob sich etwas. „Nichts Schlimmes, Paulie. Du bist wirklich nett und klug und so weiter. Aber, äh … also … da gibt es diesen speziellen … Geruch? Du riechst irgendwie komisch.“ Sie zuckte zusammen. „Tut mir leid.“

Paulie sah Colleen eine endlose Minute lang an, dann senkte sie den Kopf. „Ich rieche nicht“, wisperte sie.

Colleen schluckte. Da war wieder dieser Geschmack. Warum hatten die Mädchen ausgerechnet sie ausgewählt? Warum hatte nicht Mrs Hess mit ihr gesprochen oder sie zur Schulkrankenschwester geschickt? Die hätte mit ihr doch über Hormone und was auch immer reden können. „Tut mir leid“, wiederholte sie. „Aber du riechst. Manchmal ist es wirklich unangenehm, neben dir zu sitzen.“

„Wer hat alles darüber geredet?“, flüsterte Paulie, eine einzelne Träne tropfte über ihre Wange und landete auf dem Pult.

„Nur … ein paar von uns. Ich … wir dachten, du solltest das wissen.“

„Ich rieche nicht!“, schrie Paulie, dann sprang sie auf und rannte aus dem Zimmer.

Und Colleen musste sich übergeben. Nicht wegen des Geruchs … sondern weil sie sich so schämte. Scham und fettige Pizza. Doch das Gerücht machte schnell die Runde – Paulie roch so schlimm, dass Colleen sich hatte übergeben müssen.

Paulie kam die ganze Woche nicht in die Schule, und Colleen hatte sich nie zuvor so schlecht gefühlt. Sie erzählte nur Connor von dem Gespräch, und als er sagte „Ach, Coll“, wusste sie ganz sicher, dass sie etwas Schlimmes getan hatte.

Später erfuhr sie, dass Paulie viel größere Probleme hatte. Ihre Mutter war mit einem Mann davongelaufen, und sie lebte jetzt allein mit ihrem Dad. Als sie in die Schule zurückkam, hatte sie eine neue Frisur. Ihre Kleider waren schöner, und der Geruch war zwar noch da, aber nicht mehr so streng. Und irgendwann war er vollkommen verschwunden.

Mindestens tausend Mal hatte Colleen sich entschuldigen wollen, tausend Mal dachte sie dann aber, dass es einfühlsamer wäre, es nicht mehr zur Sprache zu bringen. In der zehnten Klasse waren sie zusammen in einer Projektgruppe, und Paulie hätte nicht netter zu ihr sein können.

Wer konnte es Colleen also verdenken, dass sie Paulie jetzt mit ihrem Liebesleben auf die Sprünge helfen wollte?

Paulie stand in der Nähe von Bryces Stammplatz an der Bar. Gerard sagte Hallo zu ihr, doch sie antwortete nicht, sondern starrte die ganze Zeit nur Colleen an, als stünde sie vor einem Erschießungskommando.

„Wie wäre es mit einem Mojito, Paulie?“, fragte Colleen fröhlich und warf bereits etwas Minze in ein Glas.

„Gern.“ Paulie rieb sich die Hände an ihrem Oberteil trocken.

Und dann kam Bryce Campbell herein, groß und schlaksig in einem weißen Poloshirt und Jeans. Er winkte, dann ging er zu seinem Platz an der hufeisenförmigen Theke. Ein erstickter Laut drang aus Paulies Kehle.

Colleen reichte ihr den Drink. „Hey, Bryce, du siehst heute Abend sehr gut aus“, flüsterte sie Paulie zu.

„Coll, könntest du mir auch was ins Ohr flüstern?“, meinte Gerard. „Mir fällt eine Menge ein, was ich von dir gern hören würde.“

„Klappe, Kleiner, ich rede hier mit meiner Freundin“, entgegnete sie. Sie warf Paulie ein ermutigendes Lächeln zu. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt.“

„Ich bin noch nicht so weit“, wisperte Paulie.

„Doch, bist du.“

„Nein, ich kann nicht. Kannst du das nicht für mich tun?“

„Ich soll ihm sagen, dass du ihn magst, so wie früher in der dritten Klasse?“

„Ja. Bitte.“

„Nein. Jetzt komm schon. Attraktiv, Radar, Brüste, Lächeln. Das reicht. Jetzt geh.“

Mit einem kleinen Stöhnen schob sich Paulie in Bryces Richtung, der sich gerade am Ende der Theke mit Jessica Dunn unterhielt. Hmm. Jess war viel zu hübsch, blond und supermodelartig gebaut. Genau Bryces Typ.

Paulie blieb direkt hinter ihm stehen, warf Colleen einen verängstigten Blick zu und schien zu erstarren. Zum Glück stand auch Hannah hinter der Bar, was Colleen die Möglichkeit gab, ihre Brüste an sie zu drücken.

„Nimm deine Brüste weg. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und so“, sagte Hannah.

„Psst.“ Sie lächelte Paulie weiter an, die tief Luft holte, ihre Schulter herumschwang und Bryce so fest anrempelte, dass er von seinem Barhocker flog. Jessica Dunn machte einen anmutigen Schritt zur Seite, als Bryce auf dem Boden landete. Colleen hatte leider einen viel zu guten Blick auf die Szene.

„Verdammt noch mal!“, schrie Paulie. Sie streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen, stolperte dabei über einen Zipfel ihres Multifunktionsoberteils, trat auf Bryces Hand und schüttete ihren Mojito direkt auf seinen Kopf. „Scheiße! Scheiße!“

So viel zum Thema sanft und feminin. Colleen schleuderte ihr Haar zurück. Abbruch. Paulie bemerkte es nicht, Gerard johlte vor Lachen. Er gehörte zu den Menschen, die nichts witziger fanden, als andere leiden zu sehen (er war schließlich Sanitäter). Gerade zerrte Paulie Bryce auf die Beine, aber sie war zu kräftig und riss ihn nicht nur hoch, sondern schleuderte ihn auch noch gegen die Theke. Die Gläser schwankten und klirrten.

Colleen schleuderte ihr Haar zurück. Hustete. Hustete lauter. Schleuderte. Hustete. Schleuderte. Hustete und schleuderte.

„Wow, Paulie, immer schön langsam, okay?“ Bryce rieb seine Schulter. Paulies Gesicht war jetzt krebsrot. Sie nahm beide Zipfel ihres Oberteils zwischen die Finger und zerrte angstvoll daran.

Noch mal Haare zurückschleudern, diesmal so heftig, dass Colleen befürchtete, sich den Hals zu verrenken, doch Paulie sah sie noch immer nicht. Colleen warf die Arme in die Luft.

„Was machst du da?“, hörte sie jemanden hinter sich sagen.

Colleen Herz erstarrte, als hätte sie einen riesengroßen Eiswürfel verschluckt.

Sie drehte sich um.

Tatsächlich. Lucas Campbell.

Und kein anderer. Er stand ungefähr zwei Schritte von ihr entfernt und sah sie mit seinen dunklen, wissenden Augen an.

Ihre Haut spannte mit einem Mal. Mund: trocken. Hirn: tot.

„Was machst du da, Colleen?“, wiederholte Lucas.

„Nichts“, sagte sie, als ob sie ihn nicht gerade nach zehn Jahren zum ersten Mal sehen würde. „Was machst du hier?“

„Ich treffe mich mit meinem Cousin.“

„Dann triff dich mit deinem Cousin.“

„Was machst du da mit meinem Cousin?“

„Ich mache überhaupt nichts mit deinem Cousin.“ So erwachsen. Und hatten sie kein anderes Thema, über das sie sprechen konnten? Nach zehn Jahren? Nach einem See von Tränen (ihren) und Blut (seinem … nun, zumindest hoffte sie das).

Lucas sah sie nur an, seine Piratenaugen waren ausdruckslos.

Mist.

Von allen Kneipen dieser Welt, dachte sie und unterdrückte dann ein hysterisches Lachen.

Lucas Damien Campbell war hier. Hier in ihrer Bar. Hätte er nicht anrufen können? War das vielleicht zu viel verlangt? Hmm? War es? Hey, Colleen, ich besuche meinen Cousin, also sei nicht überrascht, okay?

Colleen atmete zitternd ein und hustete, damit es nicht auffiel. Leider wurde aus dem Husten dann Ernst, Tränen traten ihr in die Augen, während sie hustete und um Luft rang.

„Geht es dir gut?“, fragte er mit dieser lächerlich erotischen Stimme, die wie Bitterschokolade klang.

„Ja“, keuchte sie und wischte sich die Augen. „Großartig.“

„Schön.“

Er riss sich von ihrem Anblick los und sah hinüber zu dem kleinen Menschenknäuel am Ende der Bar. Jess lachte, Bryce lächelte, und Paulie sah aus, als ob sie um einen schnellen Tod betete.

„Willst du vielleicht Bryce mit Paulina Petrosinsky verkuppeln?“, fragte er. Verdammt. Sie hatte vergessen, was für ein guter Beobachter er war.

„Nein“, behauptete sie, stolz darauf, dass sie das Wort aussprechen konnte.

„Doch.“ „Nein.“

„Doch.“ Er hob eine Augenbraue, und ihre Knie wurden weich. Verdammte Axt! Er war hier.Hier und wunderschön, verflucht noch mal. Älter. Ein Jahrzehnt älter als damals, und trotzdem kam es ihr wie gestern vor, als er mit ihr hinunter zum See gegangen war, um ihr das Herz zu brechen. Irreparabel. Der Mistkerl.

Ihr blieb fast die Luft weg, aber sie zwang sich zu atmen, weil sie keine Lust auf einen weiteren Hustenanfall hatte.

Sie hatte vergessen, wie gut er aussah, wie ein Pirat, wie ein arabischer Heathcliff, dunkel und ein klein wenig gefährlich … von seinen Augen abgesehen, die so traurig gucken konnten. Und so glücklich.

Sein Haar war etwas kürzer als damals, aber noch immer zigeunerhaft schön, lockig und schwarz. Er war nicht mehr so dünn, hatte jetzt breitere Schultern. Und sich offensichtlich nicht rasiert. Außerdem kam er ihr größer vor als damals.

Damals, als er sie geliebt hatte.

Er schien ihre Gedanken zu lesen, denn in seinen Augen blitzte etwas auf.

Im ersten Jahr, nachdem Lucas sie verlassen hatte, war Bryce ab und zu in die Bar gekommen und hatte von ihm erzählt. Ich habe meinen Cousin letztes Wochenende besucht,oder Hey, Lucas nimmt mich und Dad zu einem White-Sox-Spiel mit!Irgendwann, in einem raren Anfall von Verletzlichkeit, hatte Colleen ihn gebeten, nicht mehr über Lucas zu sprechen. Und in einem noch rareren Anfall von Verständnis hatte Bryce das auch kapiert.

Sie wusste, dass er verheiratet war. Keine Kinder – das hätte der freundliche Joe Campbell sicher mal erwähnt. Sie wusste, dass er für seinen Schwiegervater arbeitete. Und das war auch schon alles.

Sie hatte ihm verboten, sie anzurufen oder zu schreiben, und er hatte sie beim Wort genommen.

Und jetzt hämmerte ihr Herz wie ein Presslufthammer in ihrer Brust, und obwohl sie schwer hoffte, dass sie nicht so wirkte … war sie … vollkommen panisch.

Lucas holte tief Luft. „Colleen, ich bin nur wieder hier, weil Joe mich darum gebeten hat. Ich schätze, du weißt, dass er ziemlich krank ist.“

Das versetzte ihr einen Stich. „Ja, weiß ich“, sagte sie, „dass er krank ist, meine ich. Er ist sehr krank, und die Dialyse ist anstrengend, schätze ich, und es tut mir leid.“ Ihr Tourette des Horrors nannte sie es, wenn sie so brabbelte. Nicht dass es oft passierte, aber zum Henker – jetzt leider schon.

„Danke.“ Er sah wieder zu Bryce hinüber – richtig, richtig, heute Abend war ja irgendwas mit Bryce, was auch immer –, dann betrachtete er Colleen. „Schön, dich zu sehen.“

„Geht mir nicht so“, antwortete sie.

Sein rechter Mundwinkel sprang nach oben, was ein Ziehen an einer ganz speziellen Stelle ihres Körpers auslöste. Noch fünf Minuten und sie wäre wieder in ihn verliebt.

„Bryce kann im Moment wirklich keine weiteren Probleme in seinem Leben brauchen.“

„Und mit Problemen meinst du was genau?“

„Die jungfräuliche Tochter des Chicken Kings.“