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Jessica sieht keinen Grund, ihre lockere Beziehung zu Connor auf die nächste Stufe zu heben. Schließlich hat ein Freund mit Vorzügen noch niemandem geschadet. Davon abgesehen hat sie neben ihrem Kellnerjob und ihrem Bruder, um den sie sich kümmert, ohnehin keine Zeit für eine Ehe. Alles könnte also weitergehen wie bisher - wäre da nur nicht diese Eifersucht, als Connor beschließt, sich eine andere Braut zu suchen … "Ein atemberaubender, herzzerreißender und unwiderstehlicher Liebesroman." Kirkus Reviews
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Seitenzahl: 538
Zum Buch:
Nach zehn Jahren On-Off-Beziehung will der Restaurantbesitzer Connor O’Rourke es endlich wissen und macht Jessica einen Heiratsantrag. Ihr erstes Nein versteht er noch als Schrecksekunde, das zweite noch als Zögern – aber das dritte ist unmissverständlich. Gekränkt beschließt er, dann eben eine andere zu heiraten … und schmiedet doch insgeheim den Plan, Jessica von seinen Qualitäten als Ehemann zu überzeugen. Nichts einfacher als das, denkt Connor – hätte seine Traumfrau nicht bitter erfahren müssen, wie ein scheinbar trautes Familienleben schiefgehen kann …
„Keine schreibt so gefühlvoll, sexy und urkomisch wie Kristan Higgins.“
Library Journal
Zur Autorin:
Kristan Higgins’ Bücher haben die Bestsellerlisten von New York Times, Publishers Weekly, USA TODAY und Wall Street Journal erobert. Zudem ist sie zweifache Gewinnerin des RITA Awards. Mit ihrem Ehemann, einem heldenhaften und toleranten Feuerwehrmann, und ihren beiden Kindern lebt Kristan Higgins in ihrer Heimatstadt in Connecticut.
Lieferbare Titel:
Lieber rundum glücklich als gar keine Kurven (#Blue Heron 4)
Lieber mit dem Ex als gar kein Sex (#Blue Heron 3)
Kristan Higgins
Lieber heiß geküsst als kaltgestellt
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Tess Martin
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Anything For You
Copyright © 2016 by Kristan Higgins
erschienen bei: HQN Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V.&/S.àr.l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: büropecher, Köln
Redaktion: Eva Wallbaum
Titelabbildung: Getty Images / Janne Hansson
ISBN eBook 978-3-95649-941-8
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Dieses Buch ist Catherine Arendt gewidmet, meiner wundervollen Freundin aus dem College, Patentante meiner Tochter und ein einfach richtig guter Kumpel.
Steh auf, du Blödmann.“
Zwar sagte sie es mit einem Lächeln, doch Connor O’Rourke hatte nun wirklich auf eine andere Reaktion gehofft. Schließlich kniete er gerade mit einem Diamantring in der Hand auf dem Boden.
„Ich habe dich gefragt, ob du mich heiraten willst, Jess“, sagte er.
„Und das war ganz bezaubernd.“ Sie zerzauste sein Haar. Ebenfalls kein gutes Zeichen. „Die Antwort ist natürlich nein. Was hast du dir bloß dabei gedacht? Mann, ich bin am Verhungern. Hast du schon Pizza bestellt?“
Okay. Zugegeben, Jessica Dunn war … anders.
Seit acht Monaten führten sie eine Beziehung – oder, je nachdem, wie man rechnete, seit zehn Jahren –, und diesen Moment überhaupt herbeizuführen hatte so viel strategische Planung verlangt wie beispielsweise die Landung der Alliierten in der Normandie. Und doch hatte Connor so eine Reaktion wirklich nicht erwartet.
Er versuchte es erneut. „Jessica, mach mich zum glücklichsten Mann der Welt und werde meine Frau.“
„Ich habe dich auch schon beim ersten Mal verstanden, mein Großer. Und dann auch noch diese ganzen Kerzen. Wirklich hübsch, wenn auch ein bisschen gewagt, Brandgefahr, du weißt schon.“
„Und deine Antwort lautet?“
„Du kennst meine Antwort bereits, und die kanntest du auch lange bevor du irgendwas gefragt hast. Und jetzt komm schon, Connor. Steh auf.“
Er rührte sich nicht. Jess seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihm unter hochgezogenen Brauen einen geduldigen Blick zu.
Jetzt piepte ihr Handy, das sie sofort aus der Hosentasche fischte, weil sie immer ihre Nachrichten las, egal, was sie gerade machten. „Iron Man ist dabei, all die bösen Kerle in der Höhle zu erledigen“, sagte sie trocken.
Das war vollkommen normal – dass ihr Bruder sie per SMS über den Inhalt der Filme auf dem Laufenden hielt, die er sich zusammen mit seinem gelegentlichen Babysitter Gerard ansah. Manchmal war das lustig. Im Augenblick nicht so sehr.
„Könnten wir einen Moment ernst bleiben?“, fragte er.
„Ich habe wirklich Hunger, Con.“
„Wenn ich dir was zu essen mache, sagst du dann Ja?“
„Nein. Also steh jetzt auf. Lass uns einen netten Abend miteinander verbringen, okay? Wollten wir nicht Game of Thrones gucken?“
Heilige Jungfrau Maria, sie gab ihm wirklich einen Korb.
Er stand nicht auf. Mit der Hand, in der er nicht die kleine schwarze Samtschachtel hielt, rieb er sich über das Kinn. Er hatte sich extra rasiert und alles. Der Diamant blinkte höhnisch im Kerzenlicht.
„Hör zu, Jess“, sagte er. „Ich will nicht länger das Gefühl haben, als würdest du mich pro Stunde bezahlen. Ich habe es satt, dass du immer wieder mit mir Schluss machst. Warum heiraten wir nicht einfach und bleiben bis ans Ende unseres Lebens zusammen?“
„Kennst du den Spruch, dass man nicht reparieren soll, was nicht kaputt ist?“
„Siehst du mich hier mit einem teuren Ring in der Hand auf dem Boden knien?“
„Ja. Das ist kaum zu übersehen. Und es sieht wirklich schön aus. Bestimmt glaubst du, du musst mich lieben, nur weil wir seit so vielen Jahren immer mal wieder miteinander schlafen …“
„Nein, ich liebe dich wirklich.“
„Und zweitens weißt du doch, wie es ist. Ich kann dich nicht heiraten. Ich habe Davey.“
„Na und? Ich habe Colleen, und die macht einem viel mehr Arbeit als dein Bruder.“
„Sehr witzig.“ Jessicas Miene verhieß ihm, besser drei Schritte auf Abstand zu gehen, verriet jedoch nichts von ihren Gefühlen. Diesen undurchdringlichen Gesichtsausdruck hatte er in den letzten beiden Jahrzehnten nur allzu oft zu sehen bekommen. Es war, als ob sie einem sehr höflich zu verstehen gab: Rück mir nicht auf die Pelle, sonst verlierst du einen Arm.
Allmählich tat ihm das Knie weh. „Ich weiß, wie es um deinen Bruder steht, Jess. Aber ich finde nicht, dass du dich für ihn aufopfern solltest.“
„Fang nicht wieder damit an. Ich liebe meinen Bruder, und er steht für mich immer an erster Stelle.“
„Damit sitzt du doch praktisch lebenslänglich im Gefängnis! Schließlich geht es um dein Leben.“
„Richtig“, antwortete sie in einem Ton, als ob sie es einem Zweijährigen erklären müsste. „Mein Leben. Daveys Leben. Das kann man nicht voneinander trennen. Oder soll ich ihn vielleicht deinetwegen in einen Zwinger stecken?“
„Habe ich je das Wort Zwinger benutzt? Nein. Habe ich nicht. Aber du könntest ihm sagen, dass du heiratest und er bei uns leben wird.“ Oder in dieser Wohngruppe in Bryer, die wirklich sehr nett zu sein schien. Ja, Connor hatte sie sich angesehen.
Ihr Handy piepte erneut, und wieder schaute sie direkt auf das Display. „Iron Man kann fliegen.“
„Jessica. Ich bitte dich, mich zu heiraten.“ So langsam konnte er spüren, wie seine Kiefermuskulatur sich verspannte.
„Ich weiß. Und wirklich, vielen Dank. Das ist total süß von dir. Können wir jetzt essen?“
„Also sagst du nicht Ja, richtig?“
„Ja. Ich sage nicht Ja.“ Sie strich sich eine Strähne ihres seidigen blonden Haars hinter das Ohr.
„Dann ist das also ein Nein.“
„Leider ja, es ist ein Nein. Was dich nicht sonderlich überraschen dürfte.“
Sie wies ihn tatsächlich ab.
Irgendwie hatte er sich das alles ein bisschen anders vorgestellt.
Connor stand auf, sein Knie knirschte. Er klappte die kleine Samtschachtel zu und stellte sie vorsichtig auf den Tisch. Um den Ring zu kaufen, war er extra nach Manhattan gefahren – es war ein schlichter und makelloser Diamant mit Smaragdschliff, der zu ihr passte, denn sie war ebenfalls schlichtweg makellos. So, wie sie vor ihm stand − kein Tropfen Make-up im Gesicht, das lange blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, in Jeans und einem ausgewaschenen T-Shirt, auf dem Hugo’s stand –, war sie die schönste Frau, die er je gesehen hatte.
„Soll ich Pizza bestellen?“, fragte sie.
Er setzte sich ihr gegenüber. Im Kühlschrank lagen zwei Hummer, Muscheln, Kartoffelgratin, Artischocken und Rucolasalat, eine Flasche Dom Pérignon und zwei Schüsseln Crème au chocolat – denn sein Plan war gewesen, ihr den Ring an den Finger zu stecken, mit ihr zu schlafen und ihr dann das beste Abendessen ihres Lebens zu servieren.
Er wollte keine Pizza.
Und er wollte keinen Korb bekommen.
Er spürte den Puls in seinen Schläfen klopfen, ein Zeichen dafür, dass er wütend war. Klopfkopf, sagte seine nervige Zwillingsschwester dazu. Langsam und tief atmete er ein, sah sich im Zimmer um und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. Das Esszimmer … vielleicht war das der Fehler gewesen. Die Atmosphäre hier konnte man schwerlich als warm und romantisch bezeichnen. Keine Bilder hingen an den Wänden, und bei Licht betrachtet, erinnerte sein ganzes Haus eher an eine Möbelausstellung als an ein Zuhause.
Und natürlich gab es auch keine Fotos von ihm und Jessica.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie soll das mit uns weitergehen, Jess?“
Sie war so kühl und ruhig wie ein Stein im Keuka Lake. „Was meinst du?“
„Du und ich, unsere Zukunft, unsere Beziehung, auch wenn man dieses heimliche Techtelmechtel mit zweiunddreißig wohl kaum als Beziehung bezeichnen kann.“
„Ich kann mir das ganz gut vorstellen. Dass wir zusammen sind, wenn es uns passt. Dass wir Spaß miteinander haben.“ Sie war nicht der Typ zum Streiten, so viel stand fest. Schade. Ein bisschen Geschrei gefolgt von fantastischem Versöhnungssex, das wäre jetzt schon eher nach Connors Geschmack gewesen. Außerdem wollte er unbedingt diesen Ring an ihrem Finger sehen.
Er bemühte sich, leise zu sprechen. Jess stand nicht auf Wutausbrüche. „Hast du nie daran gedacht, dass wir zusammenleben oder heiraten und Kinder haben könnten?“
„Nein. So wie es ist, ist es für mich perfekt.“ Sie drehte den Silberring an ihrem Daumen und lächelte ihn freundlich an.
„Für mich nicht. Nicht mehr, Jess.“
Ein normaler Mensch würde eine Lupe benötigen, um bei Jessica Dunn irgendeine Reaktion festzustellen, doch Connor war sozusagen Meisterstudent ihres Gesichts. Jetzt presste sie die Lippen ein winziges bisschen zusammen, was auf milde Bestürzung hindeutete.
„Okay, gut zu wissen“, sagte sie glatt. „Auch wenn es mir natürlich leidtut, das zu hören. Du hast schließlich behauptet, dass du alles verstehst und die Sachlage akzeptierst. In meinem Leben hat sich seither nichts geändert, deswegen ist mir nicht ganz klar, warum plötzlich alles anders sein soll.“
„Davey würde sich daran gewöhnen.“
„Nein, würde er nicht, Connor. Er hat einen IQ von zweiundfünfzig. Und er hasst dich, hast du das etwa vergessen? Er bekommt ja schon einen Nervenzusammenbruch, wenn er dich nur im Supermarkt trifft. Weißt du noch, wie er mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen hat, als er dich mit unserem Hund sah?“ Ja, daran konnte Connor sich gut erinnern. Um genau zu sein, war es einer der beängstigendsten Momente seines Lebens gewesen. „In meinem Leben ist kein Platz für Ehe und Kinder“, fuhr Jess fort. „Ich bin für meinen Bruder verantwortlich, und zwar mehr, als du dir je vorstellen könntest. Es überrascht mich, dass du überhaupt vom Heiraten angefangen hast. Wir haben doch schon eine Million Mal darüber gesprochen.“
„Genau genommen haben wir noch nie darüber gesprochen.“
Ihre Wangen röteten sich, sie war also doch nicht so vollkommen ruhig, kühl und gefasst.
Gut. Es schien ihm nämlich nicht fair, dass er hier der Einzige sein sollte, der Gefühle zeigte.
„Nun, ich dachte jedenfalls, dass du das wüsstest“, gab sie zurück. „Ich war immer sehr deutlich.“
Blut pulsierte in seinen Schläfen, zu heftig, zu schnell. Noch ein tiefer Atemzug. „Du benutzt deinen Bruder als Ausrede. Er würde sich schon daran gewöhnen. Du bist jetzt seit Jahren praktisch seine Geisel.“
„Wage es ja nicht, Connor.“
„Was ich sagen wollte, ist …“
„Dass ich ihn in ein Heim stecken soll. Das ist es doch, was du sagen wolltest.“ Immerhin, jetzt war sie wenigstens richtig bei der Sache.
„Nein, das wollte ich nicht. Als ich dieses Haus gekauft habe, habe ich auch an euch gedacht. Oben gibt es noch eine Wohnung, falls du das vergessen hast. Die ist für ihn. Ich mag deinen Bruder.“
„Nein, du magst ihn nicht. Du hast noch nie richtig mit ihm geredet, und er mag dich mit Sicherheit auch nicht. Und jetzt tu mal nicht so. Du hast einfach entschieden, ein Zweifamilienhaus zu kaufen, ohne auch nur einmal mit mir darüber zu sprechen.“
Da war was dran. Aber er hatte es tatsächlich als perfekte Lösung betrachtet: er und Jess unten, Davey oben. Stattdessen war, nachdem Jess sich geweigert hatte, auf diesen Vorschlag einzugehen, seine Schwester eingezogen.
Jessica seufzte, und auf einmal wirkte sie nicht mehr ganz so stahlhart. „Connor, hör mal. Ich finde dieses Angebot wirklich süß von dir. Vielleicht liegt es ja daran, dass deine Schwester schwanger ist und du irgendwie sentimental wirst, aber es würde einfach nicht funktionieren. Außerdem glaube ich, dass du mich nur deshalb gefragt hast, weil du wusstest, dass ich nicht Ja sagen würde, und du hattest recht. Ich sage nicht Ja.“
„Ich hätte dich nicht gefragt, wenn ich kein Ja von dir wollte, Jessica.“
Ihr Handy piepte erneut – und wieder schaute sie auf das abscheuliche Gerät. „Na toll. Davey hat die Toilette verstopft, und Gerard schafft es nicht, das Wasser abzustellen. Beim letzten Mal war das ganze Badezimmer überflutet, und ich musste den gesamten Boden erneuern lassen.“
„Jess, ich möchte, dass du meine Frau wirst.“
„Ich muss gehen. Wir sehen uns Donnerstag, okay? Das war eine nette Idee, Connor. Ich weiß das zu schätzen. Wirklich.“ Sie stand auf, küsste ihn auf den Kopf wie einen Hund – was er letztlich auch war, ein dummer Labrador, den man so lange ignorierte, bis man sich mal einsam fühlte, der immer glücklich war, einen zu sehen, und gerne vergaß, dass er ein Jahr lang im Keller eingesperrt gewesen war. Sie nahm ihre Jeansjacke vom Haken neben der Tür.
„Jessica.“ Er sah sie nicht an, starrte nur auf die flackernden Kerzen auf dem Tisch. „Das ist das letzte Mal, dass du mit mir Schluss machst.“
Ups, scheiße. Das hatte er nicht sagen wollen, aber nachdem die Worte nun mal ausgesprochen waren, standen sie zwischen ihnen wie eine Stahltür.
Sie erstarrte einen Moment. „Was meinst du damit?“
Sein Kopf brachte ihn fast um, er spürte jeden Herzschlag hinter den Augen stechen. „Ich spreche davon, wie oft du dich von mir getrennt hast, wie oft du gesagt hast, dass das Leben zu kompliziert wäre und du nichts daran ändern könntest. Ich möchte eine Frau und Kinder haben, und ich möchte dich in aller Öffentlichkeit küssen können. Wenn du jetzt gehst, dann war es das.“
„Machst du etwa gerade mit mir Schluss?“ Sie klang tatsächlich verärgert.
„Ich mache dir einen Heiratsantrag!“
„Und ich kapiere nicht, wieso!“, fuhr sie ihn an. „Du weißt, dass ich dir mehr einfach nicht geben kann.“
„Okay, dann war’s das eben.“ Er biss die Zähne zusammen. Ihre Lippen öffneten sich leicht. „Wirklich?“
„Ja.“
„Schön“, sagte sie. „Mach doch, was du willst.“
„Danke. Das werde ich.“
„Gut.“
„Gut.“
Sie sah ihn lange an. „Ich wünsche dir noch einen schönen Abend, Connor.“
Dann drehte sie sich um und ging. Connor schleuderte die bescheuerte schwarze Samtschachtel durchs Zimmer.
Zwanzig Jahre vor dem Heiratsantrag
Connor Michael O’Rourke war zwölf Jahre alt, als er sich in Jessica Dunn verliebte.
Es beruhte nicht auf Gegenseitigkeit, aber das konnte er ihr nicht verübeln. Schließlich hatte er ihren Hund umgebracht.
Also nicht direkt umgebracht, doch es fühlte sich so an.
Der schicksalhafte, schreckliche Tag war ein Freitagnachmittag im April, als er und Colleen von der Schule nach Hause geradelt waren, eine vollkommen neue Freiheit, die ihre Eltern ihnen auch nur zugestanden, solange sie zusammenblieben, was wiederum den Nervenkitzel erheblich minderte. Es ist ein Fluch, eine Zwillingsschwester zu haben, dachte Connor oft. Wie viel cooler wäre es, wenn er allein durch den Ort radeln dürfte – er würde dann vielleicht in Mrs. Stoakes’ Laden ein paar Süßigkeiten kaufen oder am Seeufer eine Schlange entdecken, die er mitnehmen und in Colls Bett legen könnte.
Stattdessen waren sie zusammen. Colleen redete die ganze Zeit, fast ausschließlich über Dinge, die ihn nicht besonders interessierten – welche ihrer Freundinnen schon ihre Tage bekommen hatten, wer beim Mathetest durchgefallen war, wer in wen auch immer verliebt war. Das war praktisch der Normalzustand – Coll plapperte, er hörte halb hin, und ab und zu kam es zu gelinden Gewaltausbrüchen unter Geschwistern, die für eine gesunde Kindheit so wichtig sind.
Auch wenn sie ihm meist auf die Nerven ging, mit diesem Gerede über ihre magische Zwillingsverbindung, die sie – ja okay, zugegeben – tatsächlich hatten, und wegen ihrer Angewohnheit, ihm ständig überallhin zu folgen, konnte er es sich andererseits nicht anders vorstellen. Außerdem musste er auf sie aufpassen; sie war seine kleine Schwester, wenn auch nur drei Minuten jünger.
Connor und Colleens Leben war so normal, wie es nur sein konnte. Sie wohnten in einem hübschen Haus, machten fast jedes Jahr zwei Wochen lang irgendwo Urlaub, und vor Kurzem war Connor klar geworden, dass seine Eltern ziemlich betucht waren, was man als kleines Kind ja nicht so richtig mitkriegte. Sein Vater fuhr teure Autos, und wenn Connor die neuesten Nike-Turnschuhe haben wollte, wies seine Mutter ihn nie darauf hin, dass er sich doch auch für ein günstigeres Paar entscheiden könnte. Er war Mamas Liebling. Sein Vater hingegen … Nun ja, sein Vater war irgendwie schwierig. Angespannt und – wie sagte man doch gleich? – wichtigtuerisch, ja, das war er. Eingebildet und aufgeblasen. Nur zufrieden, wenn er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und bewundert wurde, und selbst das machte ihn immer nur für ein paar Minuten glücklich.
Während Connor also Moms Lieblingskind war, schien Colleen die gesamte Anerkennung abzubekommen, die Dad zu geben hatte. Vor allem in letzter Zeit kam es Connor immer so vor, als ob er entweder etwas falsch machte oder total unsichtbar war; nur als Colls Beschützer war er offenbar für seinen Vater zu gebrauchen. „Pass auf deine Schwester auf“, hatte Dad gerade heute Morgen erst wieder gesagt, während er Colleen umarmte. Für Connor gab es keine Umarmung. Was ja okay war, eigentlich. Er war schließlich ein Junge, ein großer Junge sogar. Und große Jungs wollten nicht mehr in den Arm genommen werden.
Überhaupt war heute ein guter Tag! Die Apfelblüten hatten sich geöffnet, und endlich wehte wieder ein laues Lüftchen. Sie hatten drei Tests zurückbekommen, und sehr zu Colleens Verdruss hatte Connor jeweils eine Eins plus; dabei lernte er nie. Den ganzen Tag hatte er sich schon auf die Heimfahrt mit dem Fahrrad gefreut. Freitagnachmittag bedeutete, dass sie sich Zeit lassen konnten, vielleicht bei Tompkin’s Gorge anhalten und ganz hinaufklettern, um dem Rauschen des Wasserfalls zu lauschen und kleine Glimmer- und Quarzstücke zu sammeln.
Colleen knallte gegen sein Hinterrad. „Ups, sorry, Streber“, sagte sie kein bisschen bedauernd.
„Kein Problem, Doofi.“
„Hast du heute Mittag Pizza gegessen?“ Sie schloss zu ihm auf. „Die war widerlich. Ich meine, die hat getropft vor Öl, total nass und eklig. Du solltest denen mal zeigen, wie das geht, Con. Deine Pizza ist die beste.“
Er musste ein Lächeln unterdrücken. Wenn seine Eltern ausgingen, kochte er immer für Colleen. Letztes Wochenende hatte es Pizza gegeben, den Teig hatte er selbst gemacht. Jeder von ihnen hatte eine komplette Pizza vertilgt, so gut war sie gewesen.
Er hörte ein Auto hinter sich und fuhr vor seine Schwester. Die Räder zischten auf dem feuchten Asphalt, er spürte den Wind in seinem Gesicht. Sie hatten den langen Heimweg gewählt, um ihre Freiheit besser ausnutzen zu können. Wenn man den historischen Ortskern hinter sich gelassen hatte, gab es nicht mehr viel außer Bäumen und Feldern. Nur Wests Wohnwagensiedlung lag noch vor ihnen, und danach gut eine Meile Natur. Sie würden um den Hügel herumfahren, an dem all die Weinberge lagen, und dann den gewundenen Weg nach Hause hinaufradeln.
Nach den langen kalten Monaten fühlte es sich gut an, im Freien zu sein. Er trat fester in die Pedale und vergrößerte den Abstand zwischen sich und Coll. Über den Winter hatte er einen Wachstumsschub gehabt, daher fiel es ihm leicht, seine Schwester abzuhängen. Er spürte das befriedigende Brennen seiner Muskeln und folgte ihrem Ruf nach noch mehr Geschwindigkeit. Auf Coll würde er oben warten. Sie war schließlich ziemlich faul.
Und dann hörte er ein Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Musste Colleen husten? War es ein Motor? Nein, das war kein …
Etwas Braunes raste auf ihn zu, und er lag schon am Boden, das Fahrrad über sich, bevor er überhaupt kapierte, dass sie zusammengestoßen waren. Nicht Colleen hatte dieses Geräusch gemacht, sondern ein Hund. Das braune Ding war ein Hund, und der war rasend vor Wut.
Er hatte keine Zeit zu reagieren, keine Zeit, auch nur Angst zu empfinden; da war nur der harte Asphalt unter seinen Schultern und Hüften, und da waren seine Hände, mit denen er versuchte, den Hund von seiner Kehle fernzuhalten. Die Welt war voller Lärm – wütendes lautes Knurren und Colleens Schreie. War sie okay? Wo war sie?
Alles, was Connor sehen konnte, war das Hundemaul, riesig, klaffend und schnappend, der dicke, starke Hals, und dann zog sich das Maul weit, weit nach hinten zurück wie eine Schlange, und er wusste, sobald diese Zähne sich in ihm vergruben, wäre er tot. Der Hund versuchte, ihn zu töten, begriff Connor benommen. Womöglich war das hier die Art und Weise, wie er sterben würde. Nicht vor Colleens Augen. Bitte.
Bevor er den Gedanken zu Ende denken konnte, fuhren die Zähne in Connors Arm, der Hund schüttelte den Kopf … und Himmel, hatte er eine Kraft, Connor war nur ein Lumpen, den der Hund herumschleuderte, und er konnte nicht schreien und auch nicht kämpfen; verglichen mit diesem muskulösen Hund war er ein Nichts. Colleen schrie, der Hund knurrte, Connor war ganz still, während er versuchte, seinen Arm festzuhalten, damit er ihm nicht abgerissen wurde.
Dann begann Colleen, mit ihrem Rucksack auf den Hund einzuschlagen und ihn zu treten, nirgendwo waren Autos zu sehen. Es wäre wirklich gut, wenn jemand anhalten und helfen würde; in diesem Moment wünschte er sich so sehnlich einen Erwachsenen herbei. Sein Arm brannte wie Feuer, da war auch Blut, und der Hund zerrte und schüttelte noch immer, als ob Colleen gar nicht da wäre.
Irgendwann ließ der Hund seinen Arm los und drehte sich zu Colleen um, die ihm voll ins Gesicht trat. Gott, sie war wirklich mutig, aber was, wenn er jetzt sie anfiel? Und schon schien er genau das zu tun, doch Connor trat ihm ans Bein, und sofort wandte er sich wieder ihm zu – gut, besser er als Colleen –, und dann fiel er schon ein zweites Mal über ihn her.
Diesmal hatte er es auf seinen Kopf abgesehen – und das war’s, er würde sterben. Das riesige Maul klappte zu, und seine ganze linke Gesichtshälfte begann heftig zu brennen. Der Hund ließ nicht locker. Colleen war jetzt vollkommen hysterisch, trat immer wieder nach dem Tier, und Connor sah ihre Augen, so weit aufgerissen, dass er den kompletten grauen Kreis ihrer Iris sehen konnte.
Hau ab, Collie. Renn weg.
Er würde gleich ohnmächtig werden, Colleens Schreie schienen sich immer weiter zu entfernen.
Dann ein Kläffen, und der Hund war verschwunden. Instinktiv hob er die Hand an seine Wange, sie pochte und war heiß und viel zu nass.
„Oh mein Gott, oh mein Gott“, schluchzte Colleen und fiel neben ihm auf die Knie, um ihn zu umarmen. „Hilfe!“, schrie sie jemandem zu.
„Bist du okay?“, fragte Connor, seine Stimme klang seltsam und schwach. War sein Gesicht noch da? „Coll?“
Sie löste sich zitternd von ihm. „Du blutest. Ganz schön schlimm.“
Sie waren direkt vor dem Trailer Park, wo die armen Kinder in Wohnwagen lebten. Tiffy Ames und Levi Cooper und Jessica Dunn.
Und da war Jess auch schon, hielt den Hund an seinem Halsband fest und versuchte, ihn hochzuziehen. Ihr Bruder, mit dem irgendwas nicht stimmte, hatte sich auf den Hund gestürzt, schluchzend, und sagte wieder und wieder ein Wort. Cheeto oder so was. „Ist sie okay?“, fragte Connor, aber seine Stimme war zu leise, um gehört zu werden. „Ist ihr Bruder okay?“
„Ruft einen Krankenwagen“, kreischte Colleen, ihre Stimme war hoch und zittrig.
„Bist du okay, Collie?“, fragte er. Wieder war das gesamte Grau ihrer Augen zu erkennen.
„Mir geht’s gut. Aber du … bist verletzt.“
„Wie schlimm?“
„Schlimm. Aber ist schon okay. Alles wird gut.“ Tränen tropften über ihre Wange und auf ihn.
„Muss ich sterben?“
„Nein! Himmel, Connor! Nein!“ Aber er spürte, dass sie sich nicht sicher war. Sie knüllte ihr Sweatshirt zusammen und drückte es an seinen Kiefer. Sofort sah er vor Schmerz schwarzweiße Blitze. Auf seiner Hand glänzte dunkelrotes Blut. „Atme einfach ganz gleichmäßig.“ Sie biss sich auf die Lippe.
Das half. Der Himmel wurde wieder blauer, und Connors T-Shirt war rosa. Und blutbefleckt. Er hörte eine Sirene, so ein schönes Geräusch … aber, wie es schien, noch so weit weg.
„Sie kommen. Halt durch. Hilfe ist schon unterwegs“, sagte Colleen. Sie klang viel zu erwachsen. Tränen strömten ihr über das Gesicht, ihre Lippen zitterten.
Dann das Zuknallen einer Tür. Connor sah hinüber. Jessica Dunns Vater kam nach draußen. „Was habt ihr Kids mit meinem Sohn gemacht?“, fragte er. Er schwankte ein wenig, und Connor konnte nicht anders: Jessica tat ihm leid. Jeder wusste, dass ihre Eltern Alkoholiker waren.
„Sperren Sie diesen Scheißhund ein!“, rief Colleen.
Oje. Er hatte sie noch nie zuvor fluchen hören. Vermutlich war von seinem Gesicht nicht viel übrig, und vielleicht lag er gerade wirklich im Sterben.
Jessica schob ihren kleinen Bruder zur Seite, endlich, dann bückte sie sich und hob den Hund auf. Er war schwer, wie Connor sehen konnte. Wie Connor wusste.
„Chico!“, kreischte ihr Bruder. „Bring Chico nicht weg!“ Er rannte hinter Jessica her, schlug mit den Fäusten auf ihren Rücken ein, aber sie ging weiter zum Wohnwagen – dem hässlichsten und schmutzigsten von allen – und schloss die Tür hinter sich.
Dann kam Levi Coopers Mutter heraus, einen Säugling auf der Hüfte, und als sie Connor sah, rannte sie zu ihm. „Oh mein Gott, was ist passiert?“ Connor bemerkte, dass sie zitterte, aber wenigstens war jetzt ein freundlicher Erwachsener hier.
„Der Hund von den Dunns hat ihn attackiert.“ Colleens Stimme brach. „Er kam einfach aus dem Nichts.“
„Mein Gott“, murmelte Mrs. Cooper. „Ich habe ihnen immer wieder gesagt, dass dieser Hund gefährlich ist. Lieg ganz still, Schatz.“ Sie tätschelte Connors Bein.
Es war seltsam, hier zu liegen, von Mrs. Cooper zu hören, dass er sich nicht bewegen sollte, Colleens Sweatshirt an sein schmerzendes Gesicht gepresst, die Dunns in ihrem Garten. „Dieser Hund kann keiner Fliege was zuleide tun“ und: „Warum waren diese Kinder überhaupt auf meinem Grundstück?“ Und Colleen hielt seine Hand viel zu fest.
Als der Krankenwagen kam, war das ziemlich beschämend und gleichzeitig eine solche Erleichterung, dass er beinahe losgeheult hätte. Jede Menge Rummel und Fragen, Verbandsmull und Funk. „Minderjähriges Kind, zwölf Jahre alt, von Hund angefallen“, sagte Mr. Stoakes in sein Funkgerät. Minderjähriges Kind. Mann! Alle warfen den Dunns böse Blicke zu.
Sie legten Connor eine Halskrause an und hoben ihn auf eine Trage. Mrs. Cooper sagte, sie hätte Connors Mutter angerufen, die direkt ins Krankenhaus kommen würde. Colleen fuhr vorn im Krankenwagen mit, schluchzend.
In der Notaufnahme erklärten sie ihm, dass er großes Glück gehabt hätte und dass alles viel schlimmer hätte ausgehen können. Am Ende bekam er elf Stiche am Kinn, acht unter dem Auge. „Mach dir keine Sorgen wegen der Narben“, versicherte der hippe junge Doktor, der ihn verarztete. „Mädchen stehen auf Narben.“ Weitere sechzehn Stiche am Arm, eine Beule am Kopf, Schürfwunden am Rücken, wo sein T-Shirt hochgerutscht war. Mit anderen Worten: Er war ein Wrack. Alles schmerzte und brannte und pochte.
Mom weinte den ganzen Abend, Connor war leicht benebelt von den Schmerzmitteln. Colleen bastelte ihm eine Gute-Besserung-Karte, ohne auch nur eine einzige Beleidigung daraufzuschreiben, woraus Connor schloss, dass er noch schlimmer aussah als befürchtet. „Du hast mich gerettet“, sagte er, und sie brach in Tränen aus.
„Hab ich nicht“, erwiderte sie. „Ich habe es versucht, aber nicht geschafft.“
„Aber er hat aufgehört.“
„Jessica hat einen Stein nach ihm geworfen und ihn voll am Kopf getroffen.“
Hm. Er war zu betäubt, um weiter darüber nachzudenken. Gut gezielt jedenfalls.
Sein Vater war blass vor Wut. „Diese beschissenen Typen, Abschaum!“ Er betrachtete Connors Gesicht, dann ging er zum Telefonieren in sein Büro und kam erst wieder heraus, als Connor im Bett lag. „Ich bin froh, dass du so weit in Ordnung bist“, sagte er und legte eine Hand auf Connors Schulter. Auf einmal schien sich der Hundebiss gelohnt zu haben. „Du warst sehr mutig, wie ich hörte.“
„Ich hatte wirklich Angst.“
Mist. Falsche Antwort. Er hätte einfach sagen sollen, dass es keine große Sache war oder so was. Denn natürlich nahm Dad die Hand jetzt wieder weg. „Hätte schlimmer kommen können“, fügte Connor schnell hinzu. „Zumindest war es nicht Colleen.“
Wenn seiner Schwester etwas passiert wäre, hätte Connor den Hund höchstpersönlich getötet. Schrecken und Wut durchzuckten ihn unerwartet heftig.
„Morgen werden wir die Dunns besuchen“, sagte Dad.
„Ach, Dad, nein.“ Die Erinnerung daran, wie Jess den Hund in den Wohnwagen gezerrt hatte … Irgendetwas stimmte an dem Bild nicht, aber Connor wusste nicht, was.
„In solchen Situationen muss man seinen Mann stehen“, erklärte sein Vater. „Ich werde mit dir mitkommen. Keine Sorge. Sie müssen sich bei dir entschuldigen.“
Am nächsten Tag zwang sein Vater ihn tatsächlich, in den Porsche zu steigen und zum West’s Trailer Park zu fahren. Connors Gesicht unter dem Verband war geschwollen und wund, sein Arm schmerzte. Das hier war der letzte Ort auf der Welt, an dem er sein wollte.
Dad klopfte laut an die Tür. Jessica öffnete, ihr Blick fiel auf Connors Gesicht. Sie sagte nichts. Im Hintergrund plärrte der Fernseher, es lief eine dieser Gerichtssendungen, in denen immer viel gebrüllt wird.
„Sind deine Eltern zu Hause?“, fragte Dad, ohne seine Zeit mit Höflichkeiten zu verschwenden.
„Hi, Jess“, sagte Connor. Sein Dad warf ihm einen scharfen Blick zu.
Sie verschwand. Eine Sekunde später kam Mrs. Dunn an die Tür. „Was wollen Sie?“, fragte sie mürrisch. Connor überfiel umgehend eine tiefe Dankbarkeit für seine eigene Mutter, die immer gut roch und – nun ja – einen BH trug und saubere Blusen.
„Ihr Hund hat meinen Sohn angefallen.“ Dads Ton war hart. „Ich bin hier, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Nachmittag der Hundefänger kommt, um ihn einzuschläfern.“
„Sie haben nicht zu entscheiden, was mit meinem Hund geschieht“, gab sie zurück, und Connor konnte den Alkohol in ihrem Atem von der Treppe aus riechen.
„Was bedeutet einschläfern?“, fragte eine kleinlaute Stimme.
Connor zuckte zusammen. Davey Dunn spähte hinter den Beinen seiner Mutter hervor. Er war fünf oder sechs, und er hatte die längsten Wimpern, die Connor je gesehen hatte. Jeder wusste, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dieser schmale Kopf und die weit auseinanderstehenden Augen, aber Connor war nicht sicher, was genau es war. Die Kinder im Bus hatten ein Wort dafür, aber Connor wollte es nicht mal denken. Davey war einfach nicht ganz … normal. Aber doch auch irgendwie süß. Jess tauchte neben ihrem Bruder auf, legte eine Hand auf seinen Kopf und starrte Connor ausdruckslos an.
Er und Jess gingen in dieselbe Klasse. Er konnte nicht gerade behaupten, dass sie nett war; sie hatten nicht dieselben Freunde, aber sie war öfter mit Levi Cooper zusammen, und jeder mochte Levi.
Außerdem war Jess Dunn wunderschön, das hatte Connor schon immer gewusst.
„Was ist hier los?“ Mr. Dunn erschien auf der Türschwelle, zerknautscht und dürr. Und auf einmal war auch der Hund da, sein großer brauner Kopf, und Connor wich zurück, er konnte einfach nicht anders. Dad packte das Tier hart am Halsband. „Einschläfern“, sagte er zu Davey, „bedeutet, dass dein Hund wegmuss und nie wieder zurückkommt, weil er sehr böse war.“
„Chico ist nicht böse.“ Davey steckte den Daumen in den Mund. „Er ist lieb.“
„Sieh dir das Gesicht meines Sohnes an“, zischte Dad. „Das hat dein Hund getan. Also kommt er jetzt in den Hundehimmel.“
Es wurde still. Davey nahm den Daumen aus dem Mund und blinzelte.
Dad konnte manchmal so ein Arsch sein.
„Er wird sterben?“, fragte Davey.
„Ja. Und du hast Glück, dass er dich noch nicht zerfleischt hat, Sohn.“
„Sprechen Sie nicht mit meinem Jungen“, sagte Mr. Dunn etwas verspätet.
„Nein!“, heulte Davey auf. „Nein! Nein!“
„Da sind sie schon“, sagte Dad. Ein Kleinbus fuhr in die Wohnwagensiedlung.
„Chico! Komm! Wir müssen uns verstecken!“, schluchzte Davey, aber Dad hielt den Hund noch immer am Halsband fest.
„Dad“, sagte Connor. „Vielleicht könnte der Hund einfach … ich weiß nicht. Angekettet werden oder so was?“
„Hast du dir mal dein Gesicht angesehen?“, fuhr sein Vater ihn an. „Dieser Hund ist morgen tot. Es wäre verrückt, ihn am Leben zu lassen.“
„Nein!“, kreischte Davey.
Drei Leute von der Tierkontrolle stiegen aus; jetzt kam auch noch ein Streifenwagen. „Wir müssen den Hund mitnehmen, Ma’am“, sagte einer der Männer, aber man konnte ihn kaum verstehen, weil Davey so laut schrie, und der Hund … Der Hund leckte schwanzwedelnd über Daveys Gesicht.
„Dad, bitte“, sagte Connor. „Tu das nicht.“
„Du verstehst das nicht.“ Sein Vater sah ihn nicht an.
„Leckt mich alle am Arsch“, murmelte Mrs. Dunn. Tränen liefen ihr aus den Augen. „Fahrt zur Hölle!“
Es war Jess, die Davey auf den Arm nahm, obwohl er wild um sich schlug und trat. Sie drückte seinen Kopf an ihre Schulter und zog sich weiter in den düsteren kleinen Wohnwagen zurück.
Mr. Dunn beobachtete das Geschehen. Sein Mund war zu einer wütenden Grimasse verzerrt. „Ihr reichen Leute bekommt immer euren Willen, nicht wahr? Wie nett, das Hündchen eines behinderten Jungen zu töten.“
Das war das Wort, das Connor nicht mal denken wollte, und dann auch noch ausgesprochen vom Vater des Kindes.
„Ihr Hündchen hat beinahe meinen Sohn umgebracht“, knurrte Dad. „Sie dürfen sich gern entschuldigen.“
„Lecken Sie mich.“
„Dad, lass doch“, flehte Connor. Seine Augen brannten. Man konnte noch immer hören, wie Davey den Namen des Hundes schrie.
Der Weg zurück zum Wagen kam ihm unendlich lang vor. Ausgerechnet der Porsche, Himmel noch mal. Ein Auto, das wahrscheinlich mehr als das komplette Zuhause der Familie Dunn kostete.
Connor sagte auf der Rückfahrt keinen Ton. Sein Hals war wie zugeschnürt.
„Connor, der Hund war eine Gefahr. Und bei solchen Eltern kann man nicht darauf vertrauen, dass sie den Hund in ihrem Garten anketten. Du hast sie doch gesehen. Die sind beide Alkoholiker. Mir tut der Junge leid, aber seine Eltern hätten den Hund erziehen sollen, damit er keine unschuldigen Kinder anfällt.“
Connor starrte geradeaus.
„Nun, ich geb’s auf“, sagte sein Vater und seufzte. „Hättest du lieber, dass der Hund noch mal auf dich losgeht? Oder möchtest du es darauf ankommen lassen, dass er das nächste Mal Colleen anfällt? Hm? Möchtest du das?“
Natürlich nicht.
Aber er wollte dem kleinen Jungen auch nicht das Herz brechen.
Am Montag war die Schwellung seines Gesichts weitgehend zurückgegangen, sein Arm war eher steif, als dass er schmerzte. Aber er sah noch immer ziemlich übel aus. Colleen hatte das Trauma bereits überwunden, nannte ihn Frankenstein und sagte, dass er hässlicher denn je wäre. Der Arzt meinte, dass unter dem Kinn, wo der Hund ein Stück Haut herausgerissen hatte, wohl eine Narbe bleiben würde und eine weitere auf der Wange, in der Nähe des Auges. „Damit wirst du wie ein knallharter Bursche aussehen“, befand Connors Vater, als er Sonntagabend die Stiche begutachtete. Er klang beinahe zufrieden.
Alle hatten schon davon gehört, das war normal in einer so kleinen Stadt. „Ach du liebe Zeit, Connor, hattest du große Angst? Hat es wehgetan? Was ist passiert? Ich habe gehört, dass er erst auf Colleen losgegangen ist und du sie gerettet hast!“ Jeder war mitfühlend und fasziniert. Er bekam jede Menge Aufmerksamkeit, was ihn ganz zappelig machte.
An diesem Tag kam Jessica nicht in die Schule. Am nächsten und übernächsten auch nicht. Erst am Donnerstag tauchte sie wieder auf. Natürlich fehlte sie sowieso oft, und jeder wusste, weshalb – ihre Eltern, ihr Bruder. Doch Connor war klar, dass es diesmal an ihm lag. Am Abend zuvor hatte man ihm den Verband abgenommen, die Schwellung war verschwunden, es waren nur noch eine Menge blaue Flecke zu sehen.
Jessica machte auf cool. Sie sprach nicht viel; das tat sie nie, außer mit Levi und Tiffy Ames, ihren besten Freunden. Sie schaffte es sogar, ihm den ganzen Tag nicht ein einziges Mal in die Augen zu sehen, obwohl es schwierig war, sich in einer derart überschaubaren Schule aus dem Weg zu gehen.
Nach dem Unterricht, als er eigentlich schon unterwegs zum Schachclub war, sah er sie über den Schulhof gehen. Er raste den Gang hinunter und durch die Tür nach draußen. Ihre Hose war ein kleines bisschen zu kurz – Hochwasser, hatten die arroganten Mädchen beim Mittagessen gesagt –, und von einem ihrer billigen Turnschuhe hatte sich die Sohle halb gelöst. „Jess! Hey, Jess.“
Sie blieb stehen. Ihm fiel auf, dass ihr Ranzen zu winzig war, schmutzig und pinkfarben. Etwas für kleine Mädchen, ganz anders als die Rucksäcke, die Colleen und ihre Freundinnen hatten, mit fröhlichem Schottenmuster, aufgestickten Initialen und Extrapolsterung an den Schulterriemen.
Dann drehte sie sich um. „Was willst du?“ Ihr Blick war kalt.
„Ich … ich wollte nur fragen, wie es deinem Bruder geht.“
Sie antwortete nicht. Vom Keuka Lake kam ein Windstoß, es roch nach Regen.
„Er ist bestimmt noch ziemlich traurig“, fuhr Connor fort.
„Ähm … ja.“ Sie klang, als wäre er der dümmste Mensch der Welt. Und so fühlte er sich auch. „Er hat diesen Hund geliebt.“
„Das hat man gesehen.“
„Und Chico hat noch nie zuvor jemanden gebissen.“
Darauf wusste Connor nichts zu sagen.
Jess starrte auf einen Punkt neben Connors linkem Ohr.
„Mein Vater meint, dass Chico normalerweise noch eine Chance bekommen hätte, aber nachdem Pete O’Rourke dem Bürgermeister gesagt hat, was er tun soll, ist unser Hund jetzt tot.“ Sie schaute ihm in die Augen. „Davey hat nicht aufgehört zu weinen. Er kann nicht in die Schule gehen, und er hat jede Nacht ins Bett gemacht. So geht es ihm, Connor.“
Sie ließ seinen Namen wie ein Schimpfwort klingen.
„Es tut mir wirklich leid“, flüsterte er.
„Wen interessiert es schon, was du denkst, O’Rourke?“ Sie wandte sich um und trottete davon; er hörte ihre Schritte auf dem Kiesweg, die lose Sohle ihres Turnschuhs klatschte.
Er sollte sie einfach gehen lassen. Doch stattdessen rannte er ihr hinterher und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Jess. Ich …“
Sie wirbelte herum, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie hob die Faust, um ihn zu schlagen. Jess geriet ständig in Schlägereien, normalerweise mit den Deppen vom Football-Team, und sie konnte sich sehr gut behaupten. Doch sie zögerte, und in diesem Moment konnte er in ihrem Gesicht sehen, wie die vergangene Woche für sie gewesen war, all die Trauer und die Wut und die Angst und die Hilflosigkeit. Die … Scham. Er sah, wie müde sie war. Und dass sie einen Schmutzfleck hinter dem linken Ohr hatte.
„Du kannst mich ruhig schlagen“, sagte er. „Ist schon okay.“
„Deine Nähte würden aufplatzen.“
„Dann schlag mir in den Bauch“, schlug er vor.
Sie ließ die Faust sinken. „Lass mich einfach in Ruhe, Connor. Und sprich nie wieder mit mir.“
Dann ging sie davon, mit gesenktem Kopf, ihr blondes Haar flatterte im Wind, und Connor hatte das Gefühl, als würde ihm jemand einen Besenstiel mitten in die Brust rammen.
Sie war so schön.
Viele Mädchen waren hübsch – Faith Holland mit ihrem roten Haar, Theresa DeFilio mit ihren großen braunen Augen. Miss Cummings in der Bibliothek, die gar nicht alt genug für eine Erwachsene aussah. Selbst Colleen war irgendwie hübsch, wenn sie ihn nicht gerade ärgerte.
Aber Jess Dunn war schön.
Connor fühlte sich, als ob er auf ein Rotkehlchen getreten wäre und seine zarten, hohlen Knochen zerquetscht hätte.
Elf Jahre vor dem Heiratsantrag …
Als Jess klein war, vor Daveys Geburt, fuhren ihre Eltern einmal mit ihr zum Campen. So richtig, mit einem mit Klebeband ausgebesserten Zelt und Decken, um es sich auf dem Boden gemütlich zu machen. Sie fand es herrlich, die Behaglichkeit des Zeltes, der Geruch nach Nylon und Rauch, wie ihre Eltern Bier tranken und über offenem Feuer grillten. War das in Vermont gewesen? Vielleicht in Michigan? Das spielte keine Rolle. Es gab einen Pfad hinunter zum See, und am nachtschwarzen Himmel war ein dicker Streif glitzernder Sterne zu sehen. Sie kriegte siebzehn Mückenstiche ab, aber das störte sie überhaupt nicht.
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