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Sie bekommt ein ungewöhnliches Angebot – wird es ihre große Chance oder ein wahrgewordener Albtraum? Ivy Seidel ist Schriftstellerin, doch erfolglos, weil es ihren Texten angeblich an Tiefgang fehlt. Als sie in einem Hochsicherheitsgefängnis für Gewalttäter Schreibkurse geben soll, sagt sie daher sofort zu, in der Hoffnung, dort die nötige Inspiration zu finden. Doch hinter den düsteren Gefängnismauern kommt Ivy schnell an ihre Grenzen. Einzig der attraktive Insasse Vance Harrow sticht heraus: Seine fesselnden Texte offenbaren schockierende Parallelen zu seiner eigenen Inhaftierungsgeschichte und werfen die Frage auf: Könnte Harrow zu Unrecht hinter Gittern sitzen? Ivy beschließt, die Wahrheit herauszufinden – und wird immer tiefer in eine dunkle Spirale aus Täuschung, Gewalt und tödlicher Gefahr gezogen … »Abrahams festigt seinen Ruf als einer der besten zeitgenössischen Thriller-Autoren mit diesem psychologisch tiefgründigen Roman.« Publishers Weekly Der nervenaufreißende Psychothriller des amerikanischen Bestsellerautors über eine Faszination mit fatalen Folgen. Für Fans von Harlan Coben und Fans der Serie »Prison Break«
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Seitenzahl: 400
Über dieses Buch:
Ivy Seidel ist Schriftstellerin, doch erfolglos, weil es ihren Texten angeblich an Tiefgang fehlt. Als sie in einem Hochsicherheitsgefängnis für Gewalttäter Schreibkurse geben soll, sagt sie daher sofort zu, in der Hoffnung, dort die nötige Inspiration zu finden. Doch hinter den düsteren Gefängnismauern kommt Ivy schnell an ihre Grenzen. Einzig der attraktive Insasse Vance Harrow sticht heraus: Seine fesselnden Texte offenbaren schockierende Parallelen zu seiner eigenen Inhaftierungsgeschichte und werfen die Frage auf: Könnte Harrow zu Unrecht hinter Gittern sitzen? Ivy beschließt, die Wahrheit herauszufinden – und wird immer tiefer in eine dunkle Spirale aus Täuschung, Gewalt und tödlicher Gefahr gezogen …
Über den Autor:
Peter Abrahams ist ein renommierter amerikanischer Autor zu dessen weltweiter Leserschaft auch Stephen King gehört, der ihn als seinen »liebsten amerikanischen Spannungsromanautor« bezeichnet. Einige seiner Werke wurden mit hochkarätigen Stars wie Robert De Niro für die große Leinwand adaptiert.
Die Website des Autors: www.peterabrahams.com/peter-abrahams/
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine Standalone-Thriller »Der Nachhilfelehrer«, »Der ideale Ehemann«, »Der Häftling«, »Das Wunschkind«, »Dear Wife«, »Blacked Out – Gefährliche Erinnerung«, »Missing Code – Verlorene Spur« und »Hard Rain – Schleier aus Angst«.
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eBook-Neuausgabe September 2024
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »End of Story« bei William Morrow, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Gerissen« bei Knaur.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2006 by Pas de Deux
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2008 bei Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrere Motives von ECrafts / HN Works / Iryna/ Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-479-8
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Peter Abrahams
Der Häftling
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Frauke Czwikla
dotbooks.
Für meine Nichten und Neffen
Lauren, Shane, Jake, Rachel und Maddy
Flüche? Dunkelheit? Kämpfe? Wo ist die Quelle
All dieses Garns (außer in Alpträumen, natürlich)?
Philipp Larkin, »Whatever Happened«
»Wie ist vorangehen das Schreiben?«, fragte Dragan Karodojic.
Sperrstunde in Verlaines Bar und Grill in der Schermerhorn Street. Außer Dragan, dem Tellerwäscher, der den Boden wischte, und Ivy Seidel, der Barkeeperin, die die Tageseinnahmen abrechnete, war niemand mehr da.
»Nicht schlecht«, erwiderte Ivy. Diese Frage – wie das Schreiben voranging – war die wichtigste in ihrem Leben, ihr ständiger Begleiter, und die ehrliche Antwort lautete, dass sie keine Ahnung hatte. Was sie hatte, war ein Magistergrad in Kreativem Schreiben von der Brown, drei Sommer in einem Roman-Workshop im Norden, der letzte mit einem vollen Stipendium, zwei nicht abgeschlossene Romane, einundsechzig vollendete Kurzgeschichten, die in der Länge zwischen einer und achtundfünfzig Seiten variierten, und eine Schublade voller Ablehnungsbescheide.
»Ich für meine Person habe Idee für Roman«, erklärte Dragan.
»Das hast du nie erwähnt«, sagte Ivy, während sie ihr Trinkgeld unter der Münzlade der Kasse hervorholte und einsteckte.
»Du nie fragen«, sagte Dragan, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte er seinen Schrubber abgestellt und saß ihr gegenüber an der Bar. Ivy mochte Dragan. Wer nicht?
Sechs Monate im Land, breites Lächeln voll schiefer osteuropäischer Zähne, großäugige Begeisterung für Dinge, die die meisten New Yorker nicht einmal bemerkten – aber es war schon nach zwei, und sie wollte nach Hause.
»Was ist das Ding«, fragte Dragan, »für Handyverbindung?« Er machte mit beiden Händen eine weit ausholende Geste, wie ein schwellender Kreis.
»Mast?«, fragte Ivy.
»Mast, ja«, sagte Dragan. »Handymast.« Und er stürzte sich in eine lange und unverständliche Geschichte über einen Sendemast, der Signale aus einer Schattenwelt empfing, in der die Seelen der ausgestorbenen Neandertaler Rachepläne schmiedeten.
»So«, schloss Dragan, den Kopf wie ein Welpe zur Seite geneigt. »Ich will Wahrheit. Wie lautet Urteil?«
Ivy ging nach Hause. Eine warme Septembernacht, so warm wie im Sommer und dennoch irgendwie anders. Wie genau? Es war wichtig, diese Dinge festzunageln, die richtigen Worte zu finden. Aber als Ivy ihr Gebäude erreichte und die Stufen zum Eingang erklomm, waren die richtigen Worte noch immer nicht gekommen.
Sie schloss ihren Briefkasten auf, Nummer fünf, fand einen einzigen Brief. The New Yorker. Sie riss den Umschlag auf. Eine Ablehnung. Ein Formschreiben; drei vom New Yorker hatte sie bereits – sie verwendeten dickes Papier, so wie es sich anfühlte, hätten es auch protzige Einladungen sein können –, aber diesmal hatte jemand mit unleserlicher Unterschrift eine Bemerkung daruntergekritzelt. Ivy drehte das Blatt in Richtung der Straßenbeleuchtung.
Der Utah-Teil ist wirklich nett.
Der Utah-Teil? Welcher Utah-Teil? Hatte sie ihnen denn nicht »Live-Unterhaltung« geschickt, eine achtseitige Kurzgeschichte, die ausschließlich in einer Raststätte in New Jersey spielte? Aber dann erinnerte sich Ivy an die kurze Erwähnung eines Snowboard-Unfalls in Alta. Wie kurz? Drei Zeilen, höchstens.
Ivy schloss die Haustür auf und stieg nach oben zu ihrem Einzimmerapartment im fünften Stock. Die Treppe, eigentlich das gesamte Gebäude, neigte sich leicht nach rechts, außerdem funktionierte nichts richtig, und nichts wurde jemals repariert, aber das beeinflusste die Höhe der Miete nicht im Geringsten. Ivys Zimmer, ein unregelmäßiger 45 Quadratmeter großer umgebauter Dachboden, kostete 1100 Dollar im Monat. Sie trat ein, legte den Riegel vor und setzte sich an den Tisch, einen Kaffeehaustisch, den sie kostenlos in einem gescheiterten Restaurant in der Smith Street ergattert hatte. Ivy schaltete ihren Laptop ein und suchte nach der Utah-Passage in »Live-Unterhaltung«.
Er stürzte, aber offensichtlich aufwärts, denn er landete in einem Baumwipfel. Das einzige Geräusch war das über die Spur hallende Weinen des Kindes, das er überfahren hatte. In weiter Ferne schimmerte der große Salzsee irgendwie braun.
Das war wirklich nett? Auf irgendeine Weise netter als der Rest der Geschichte? Ivy las das Ganze mehrere Male durch, ohne zu begreifen, warum. Sie beschloss, dem New Yorker diesbezüglich einfach zu vertrauen. Sie war zu »wirklich nett« imstande, und sie interpretierte »wirklich nett« als veröffentlichungswürdig für den New Yorker und alles, was darauf folgen mochte.
Fast drei Uhr morgens, aber Ivy war nicht mehr müde. Sie kochte sich Tee, stieg auf den Tisch, zog die Luke mit der Klappleiter herunter und kletterte aufs Dach. Das einzig Gute an Apartment fünf, aber so gut, dass sie den Vertrag unterschrieben hatte, obgleich es mehr kostete, als sie sich leisten konnte.
Ivy stand auf ihrem Dach und blickte nach Westen. Über die Dächer und den Fluss: Manhattan. Ihr fehlten die Worte, diesen Ausblick zu beschreiben. Vielleicht konnten Filme so etwas besser. Aber was ein Film nicht einfangen konnte, zumindest keiner der Filme, die Ivy gesehen hatte, war die Verwundbarkeit. Sie erkannte das jetzt sehr deutlich – die ganze Skyline konnte einfach so verschwinden, wie mittlerweile jeder begriffen hatte, jedoch keine Kamera jemals zu zeigen in der Lage war. Eine tragische Pracht, um nicht zu sagen sinnlos, wie ... Ozymandias. Moment mal. Das hatte Shelley schon probiert. Vielleicht irrte sie sich, vielleicht konnte ein wirklich guter Autor dennoch ...
In diesem Augenblick, die erleuchtete Skyline Manhattans vor sich, sogar doppelt, verschwommen gespiegelt vom Wasser, und eine sanfte Septemberbrise auf ihrer Haut, sanft und warm, aber diese Wärme hatte etwas Unbeständiges, gleichermaßen Verletzliches, ja, das war es, die Antworten auf die Septembernacht und die Skyline-Fragen stellten sich als ein und dieselbe heraus – in diesem Moment hatte Ivy den Einfall für eine völlig neue Geschichte.
Eine Geschichte über einen Immigranten, in Stings Worten einen legal allen, doch dieser stellte fest, dass er sich in einen Neandertaler verwandelte. Klaute sie von Dragan? Nein. Wenn überhaupt, klaute sie eher Dragan selbst. Aber so funktionierte Kunst nun mal. Sie hatte etwas Brutales, eine Brutalität, wie ihr plötzlich bewusst wurde, die sich häufig in den Gesichtern der größten Künstler wie Picasso, Brando oder Hemingway spiegelte. Sie erinnerte sich an die Abschiedsworte von Professor Smallian an der Brown, Dozent des Fortgeschrittenenkurses und Autor dreier veröffentlichter Romane, von denen einer von der New York Times besprochen worden war: Man muss kein guter Mensch sein, um ein guter Autor zu sein – die Geschichte zeigt, dass es besser ist, wenn man keiner ist –, aber man muss das Schlechte in sich begreifen.
Ivy kehrte durch die Luke nach unten zurück, setzte sich an den Tisch und tippte den ersten Satz, der ihr in den Sinn kam. Vladek fühlte sich stark. Eine Geschichte wie diese hatte sie nie zuvor geschrieben, eine Geschichte mit magischen Elementen. Vielleicht hätte sie das tun sollen, denn diese, »Höhlenmann«, hob aus eigenem Antrieb ab und raste voran. Manchmal konnte sie kaum noch Schritt halten – wie Lucille Ball, wenn das Pralinenförderband zu schnell lief –, während sie die Worte herumzerrte und an die richtigen Stellen schob.
Ivy kam zum letzten Satz, ein Satz, von dem sie wusste, dass er seit einigen Absätzen in den Kulissen lauerte – Der Chirurg riss einen Witz, den Vladek nicht verstand –, und als sie aufblickte, war es Morgen, silbriges Licht strömte durch die beiden kleinen Fenster. Sie war gleichzeitig aufgedreht und erschöpft; konnte sich riechen. Noch einmal überarbeitete sie die Erzählung, korrigierte einige Stellen, wurde immer aufgeregter. Das hier war wirklich gut.
Oder?
Hier lag der Hase im Pfeffer: Man war nie sicher. Man brauchte eine andere Meinung. Finden Sie einen Leser, der klug und ehrlich ist, hatte Professor Smallian geraten, vorzugsweise einen Autor, der Ihnen überlegen ist – obwohl ein sowohl kluger als auch ehrlicher Autor in diesen erhabenen Höhen schwer zu finden ist. Ivy hatte Glück. Sie hatte Joel Cutler. Er war ihr zwar nicht überlegen, aber er war klug und ehrlich.
Ivy und Joel kannten sich seit ihrem ersten Jahr am Williams College. Sie hatten sich in der Lady-Ephs-Fußballmannschaft für Erstsemester kennengelernt, in der Ivy Torfrau, Joel Trainer gewesen war, später gemeinsam einen lyrischen Zyklus geschrieben, der sie nach Oxford brachte, und am Ende zusammen das Literaturmagazin herausgegeben. Sie lasen sich seit Jahren ihre Arbeiten vor, wohnten mittlerweile nur wenige Blocks voneinander entfernt und planten, zusammen ein Drehbuch zu verfassen. Ivy druckte »Höhlenmann« aus und machte sich auf den Weg.
Joel lebte in einer großen Wohnung in einem schönen Vorkriegsgebäude direkt an der Promenade, mit Blick auf den Fluss. Das Gebäude gehörte Joels Vater, ebenso wie viele Häuser in den Heights, Park Slope, Carroll Gardens. Andy, der seit dem letzten Jahr mit Joel zusammenlebte, kam aus der Eingangstür, ein altes Fernsehgerät auf den Armen.
»Hi, Ivy«, grüßte er. »Brauchst du einen Fernseher?«
Er stellte ihn auf dem Bürgersteig ab, neben einer Menge anderem Krempel – einem durchgesessenen Polstersessel, zwei Stehlampen, gerahmten Mardi-Gras-Postern.
»Renovierung?«, fragte Ivy.
Andy sah sie flüchtig an. »Eigentlich nicht«, erwiderte er. Er hatte eine neue Frisur, Strähnchen. Die hatte sie auch, aber seine waren besser, subtiler. Sie hätte gefragt, wer sie ihm gemacht hatte, wenn sie ihn lieber gemocht hätte. »Joel zu Hause?«, fragte sie.
Andy malte in die Staubschicht auf dem Bildschirm: GRATIS. »Ja«, sagte er.
Joel war im Wohnzimmer, wo er ordentlich gefaltete Hemden in einen Koffer schichtete. Als Ivy eintrat, hielt er inne, ein cremefarbenes Hemd mit Spreizkragen in der Hand.
»Ivy«, sagte er. »Ich wollte dich gerade anrufen.«
Ivy sah sich um, erblickte nackte Regale, Kisten mit Büchern und CDs und durch die Küchentür den Kühlschrank, geöffnet und leer.
»Was ist passiert?«, fragte Ivy. Es sah fast aus wie eine der Zwangsräumungen, die sie erlebt hatte, aber das ergab keinen Sinn.
»Deswegen wollte ich dich anrufen«, sagte Joel. Sein Gesicht war rosa angelaufen, als wäre er aufgeregt oder verlegen. »Alles geht so schnell.«
»Was?«
Joel legte das cremefarbene Hemd vorsichtig in den Koffer. »Das Klischee aller Klischees«, sagte er. »Aber es ist wirklich wie ein Traum.«
Ivy wartete.
»Ich – wir fahren nach L. A.«, sagte Joel. Dann lachte er, ein kurzes schrilles Lachen, rasch unterdrückt. Ein Manschettenknopf fiel von der Kante eines Beistelltischs. »L.A.«, sagte Joel. »Los Angeles.« Er sprach es übertrieben spanisch aus.
»In den Urlaub?«, fragte Ivy. Das ergab auch keinen Sinn – er und Andy hatten gerade erst die letzten beiden Augustwochen in einer Timesharing-Ferienwohnung auf Long Island verbracht. Und Joel verabscheute L. A., hatte sogar eine Kurzgeschichte über dessen Oberflächlichkeit geschrieben, eine seiner schlechtesten.
»In Wahrheit ... «, sagte Joel und hob dann hilflos die Hände. »Vielleicht hätte ich dir schon früher davon erzählen müssen. Nein, streich das, das hätte ich, basta, Punkt.«
»Mir was erzählen?«, fragte Ivy.
»Aber es war alles so spekulativ.«
»Was denn?«
»Ich meine, per definitionem.« Joel war jetzt noch intensiver rosa, und es war Aufregung, ohne jeden Zweifel.
Ivy wartete.
Er richtete sich auf und blickte ihr in die Augen, zumindest einen Moment lang. »Ich habe ein Drehbuch geschrieben«, sagte er.
Ivy begriff nicht. »Das, über das wir geredet haben?«, fragte sie. »Die Marokko-Story?«
»Nein, nein, nein, natürlich nicht«, wehrte Joel ab. »So etwas würde ich nie tun. Das war unseres – hauptsächlich deins, wenn man ganz ehrlich ist. Das hier ist vollkommen anders. Spielt in einer Abspeckfarm in Scottsdale.«
»Wann hast du –«
»Während wir weg waren. Ich hab vier Tage gebraucht, Ivy. Und die meiste Zeit war ich halb betrunken. Aber Tatsache ist – ich hab’s verkauft.«
»Du meinst ... «
»Adam Sandler will es machen.«
»Adam Sandler will dein Drehbuch verfilmen?«
»Daman Wayans hat heute Morgen unterschrieben. Und wie es aussieht, wird Joel Schumacher Regie führen.«
» Über eine Abspeckfarm in New Mexico?«
»Arizona. Scottsdale liegt in Arizona.«
Schweigen breitete sich aus. Joel hob das cremefarbene Hemd auf und faltete es neu. Ein Telefon begann zu klingeln.
»Wie ist das alles ...?«, fragte Ivy.
Joel schüttelte den Kopf. »Andy hat am Strand einen Typ von einer Künstleragentur kennengelernt. Eigentlich hat er ihn erst nicht kennengelernt, sondern mitgehört, wie der jemandem erzählte, dass Adam nach etwas Neuem sucht. An dem Abend hatte ich den Einfall.« Also schon Adam? »Kennst du ihn?«
»Den Typ von der Künstleragentur? Klar. Er hat es doch gelesen, als –«
»Ich meinte Adam Sandler.«
»Ich habe mit ihm telefoniert. Aber morgen Mittag essen wir zusammen.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Einen hastigen Blick, leicht zu übersehen, aber das war der Moment, in dem Ivy spürte, dass sich ihre Beziehung veränderte. Sie verstand es nicht, wusste nur, dass es fundamental war.
»In L. A.?«, fragte sie.
Er nickte. Sein Mund öffnete sich, wie um etwas zu sagen – und Ivy wusste, was es war, der Name des Restaurants; aber er beherrschte sich. Er legte das Hemd zurück in den Koffer und sagte: »Ich – äh – ich bin nicht sicher, was du jetzt denkst.«
»Ich freue mich ehrlich für dich.«
»Ja?«
»Ja.« Zumindest freute sie sich für den Joel, den sie so lange gekannt hatte, obgleich dieser Joel einen dicken, streitlustigen Roman über Amerika schreiben wollte, von dem die Welt merken würde, dass sie auf ihn gewartet hatte, und dieser Joel Adam Sandler niemals erwähnt hatte.
»Das ist lieb von dir.« Er kam zu ihr herüber und umarmte sie. Sie umarmten sich. Seine Haut war heiß. »Was ist das?«, erkundigte er sich mit einem Nicken auf die Seiten in ihrer Hand.
»Nichts«, sagte Ivy.
Andy kam herein. »Hört denn niemand das Telefon?«, fragte er und hob ab. »Für dich.« Er reichte an Joel weiter. »Hallo?«, meldete sich Joel. »Professor? ... Rick? Sicher, wenn Sie möchten, dann Rick ... Danke. DreamWorks. Vielen Dank. Klar. Das wäre toll.« Er legte auf. »Das war Professor Smallian.«
»Seht ihr euch noch?«, erkundigte sich Ivy.
»Seit drei Jahren nicht mehr«, antwortete Joel. »Er hat im Hollywood Reporter davon gelesen.«
Ivy versuchte sich Professor Smallian beim Lesen des Hollywood Reporter vorzustellen und scheiterte kläglich. Alles ging so schnell, wie Joel sagte. Am liebsten hätte sie sich hingesetzt, aber bis auf diesen Beistelltisch waren keine Möbel mehr da.
»Zehn zu eins, dass er versucht, dich dazu zu bringen, ihn Justin vorzustellen«, sagte Andy.
»Wer ist Justin?«, fragte Ivy.
»Künstleragentur«, sagte Joel.
Er brachte sie nach unten zur Straße.
»Ich überlege, ob ich dich was fragen kann«, sagte er. »Was?«
»Ich will nicht, dass du es in den falschen Hals kriegst.«
»Was?«
»Diese Dannemora-Sache«, sagte er. Joel unterrichtete einen staatlich finanzierten Kurs für Kreatives Schreiben für Häftlinge in einem Gefängnis oben im Norden. »Ich werde nicht weitermachen können. Ich wollte eigentlich anrufen und kündigen, es sei denn ... «
»Es sei denn, was?«
»Es sei denn, du würdest gern übernehmen.«
Ivy starrte Joel ins Gesicht. Der Tag war schön, so schön, wie der September in New York sein kann, wolkenloser Himmel, die Luft irgendwie voller Verheißung. Einen Augenblick lang glaubte sie erkennen zu können, wie er in einer sehr fernen Zukunft aussehen würde.
»Die Fahrt da hoch ist die reine Quälerei«, sagte er, »aber der Auftritt ist nicht komplett uninteressant. Und sie zahlen hundert Schleifen pro Einheit. Plus Benzin.«
»Cool«, sagte Bruce Verlaine, Besitzer von Verlaine’s Bar und Grill.
»Ich habe mich noch nicht entschieden«, meinte Ivy, die einen Martinicocktail für Danny Weinberg mixte, einen Investmentbanker in ihrem Alter, der ein paarmal die Woche nach der Arbeit hereinschaute.
»Weswegen?«, fragte Danny.
»Ivy hat das Angebot, oben im Norden Häftlinge zu unterrichten«, erklärte Bruce.
»Schreiben unterrichten?«, fragte Danny. Danny hatte gebeten, ihre Sachen lesen zu dürfen, aber Ivy zögerte, eigentlich ziemlich verrückt für jemanden, der veröffentlicht werden wollte.
Ivy nickte, schob den Drink über die Bar.
»Wo denn?«
»Dannemora.«
Dannys Hand verharrte am Stiel des Glases. Ivy bemerkte zum ersten Mal, dass er an den Nägeln kaute. »Schrecklicher Ort«, sagte er.
»Blödmann«, sagte Bruce, und sein grauer Pferdeschwanz schwang ein wenig, wie immer, wenn er sarkastisch wurde, also sehr oft. Bruce war schlecht fürs Geschäft, aber das wusste er nicht, und niemand sagte es ihm. »Es ist ein Hochsicherheitsgefängnis, um Himmels willen.«
»Ich weiß«, sagte Danny. »Ich war schon dort.«
»Drinnen?«, fragte Ivy.
»In seinem früheren Leben als Verbrecher«, sagte Bruce. »Danny, der Schlitzer.« Zwei Vorstadtfrauen mit Einkaufstaschen traten ein, und Bruce ging zu ihnen hinüber, das Kinn, obgleich fliehend, aggressiv vorgestreckt.
»Ich überlege, den Laden zu kaufen«, meinte Danny. »Nur um ihn loszuwerden.«
Ivy lachte.
»Das ist mein Ernst.« Bemerkungen wie diese waren der Grund, warum sie Danny nicht wirklich mochte. Er nippte an seinem Drink. »Ich war letztes Jahr dort, um einen ehemaligen Klienten zu besuchen. Felix Balaban.«
»Was hat er angestellt?«
»Sechzig Millionen Dollar gestohlen«, sagte Danny. »Im Ergebnis.«
»Solche Leute werden nach Dannemora geschickt?«
»Zuerst war er in einem dieser Luxusknäste, aber er hat Mist gebaut.«
»Wie?«
»Details weiß ich nicht. Felix ist ein außerordentlich aggressiver Typ, daran gewöhnt, seinen Willen zu kriegen. Das ist nicht so gut angekommen.«
»Und jetzt?«, fragte Ivy.
»Jetzt was?«
»Wie war er, als du ihn besucht hast?«
»Sehr verändert«, sagte Danny. Er sah sie über die Bar hinweg an. Nichts in seinem Gesicht war ganz symmetrisch, aber die Teile fügten sich zu einem erfreulichen Gesamteindruck. »Warum machst du das?«
»Ich sagte, ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Wie lauten die Faktoren?«
»Welche Faktoren?«
»Für deinen Entscheidungsprozess.«
Hatte Danny wirklich einen eigenen Prozess für so etwas, eine kleine Maschine in seinem Verstand, die die Faktoren aufrechnete und auf Befehl Entscheidungen ausspuckte? Ivy hatte keine solche Maschine, nicht im Entferntesten. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie.
»Zum Beispiel auf der Habenseite«, meinte Danny. »Zahlen sie dafür?«
»Ein bisschen, aber ... «
»Wenn du knapp bei Kasse bist, könnte ich –«
»Ich brauche kein Geld.«
Vielleicht kam das heftiger heraus, als sie beabsichtigt hatte. Danny sah nach unten und ließ seinen Drink kreisen. »Es ist ein schlimmer Ort, Ivy«, sagte er. »Nur unheimliche Typen, Gefangene, Wachen, jeder. Böse ist eigentlich das richtige Wort.«
»Du hast mich schon fast überredet«, meinte Ivy.
Entscheidungen fällen à la Ivy. Später – als sie sich vor dem Schlafengehen die Zähne putzte – legte sie sich eine rationale Erklärung zurecht.
Fehlte ihren Werken das Böse?
Eine lange Fahrt, wie Joel gesagt hatte, aber keine Quälerei. Je weiter Ivy mit ihrem kleinen Mietwagen nach Norden kam, desto schöner wurde die Gegend, und als sie die Adirondacks erreichte, strahlte der Herbst in all seiner Pracht. Wie das beschreiben, in Worte fassen? Einfach unmöglich, zumindest für sie; es war, als wäre Gott dem Einfluss von Camille Pissarro erlegen. Und als sie vom North Way auf die schmaleren Straßen nach Westen abbog, wurde es sogar noch schöner.
DANNEMORA. Erst kam eine Farm, mit Kühen und einem Mann im karierten Hemd, der ein großes rauchendes Feuer schürte. Dann ein Antiquitätenhandel, der echte Möbel aus den Adirondacks anpries, von denen einige vor dem Laden ausgestellt waren. Danach ein paar Wohnwagen, bescheidene Häuser, die dringend einen Anstrich benötigten, und eine große Kreuzung. Auf dem Beifahrersitz neben Ivy lag ein aus dem Internet ausgedruckter Stadtplan, den sie gerade zu Rate ziehen wollte, als sie direkt vor sich den Gefängnis-Komplex erblickte.
Das Gefängnis war kaum zu verfehlen. Es besaß so unglaubliche Ausmaße, dass es in einem anderen Zusammenhang komisch hätte wirken können, wie zum Beispiel der erste Versuch eines kleinen Kindes, einen Hund zu zeichnen, bei dem die Ohren dann bis auf den Boden hingen. Die kahle, weiß gestrichene Mauer direkt am Rand des Bürgersteigs war zehn Meter hoch, vielleicht sogar mehr, und erstreckte sich endlos, Wachtürme ragten über die Straße hinaus. Ivy fuhr durch deren Schatten, einen langen, langen Block. Kurz vor dem Ende knickte die Mauer im rechten Winkel ab und formte dann ein Dreieck mit einem Tor in der Mitte. Ivy parkte an der Straße und ging darauf zu. Das Tor selbst war ein schwarzes Rechteck, so oft gestrichen, dass Ivy nicht erkennen konnte, ob es aus Holz oder Metall war, und so riesig, dass es in einen Film über Trolle gepasst hätte. Keine Fenster, keine Schilder, abgesehen von einer kleinen Tafel der Historischen Gesellschaft des Staates. HAFTANSTALT DANNEMORA, 1845.
Wurde von Besuchern erwartet, dass sie klopften?
Ivy schaute sich um. Auf der anderen Straßenseite war eine Bar namens Lulu’s by the Gate. Vielleicht – »He!«
Ivy schaute auf.
Eine Wache in blauer Uniform lehnte sich aus dem Turm, ein Gewehr oder eine Schrotflinte – Ivy kannte sich mit Waffen nicht aus – in den Händen, die er jedoch nicht auf sie richtete.
»Ich bin hier, um die Schreibwerkstatt zu leiten«, rief Ivy hoch. »Joel Cutlers alten Kurs – ich übernehme ihn. Ich habe die Freigabe von der Gefängnisverwaltung.« Sie wollte gerade in ihrer Tasche danach suchen, als ihr eine aus vielen Filmen bekannte Szene einfiel und sie erstarrte. »In Ordnung, wenn ich in meine Tasche greife?«
»Hä?«, sagte der Wachmann.
»Um Ihnen den Passierschein zu zeigen.«
Der Wachmann sah mit zusammengekniffenen Augen zu ihr hinab. »Büro«, sagte er und verschwand.
»Wo ist das?«, rief Ivy nach oben.
Hoch über ihr erschien ein blauer Arm und wies um die Ecke.
Ivy ging bis zur Ecke der Haftanstalt, dann die nächste Querstraße einen allmählich ansteigenden Hügel hinauf, immer an der Mauer entlang, die die Sonne aussperrte. Als sie die hintere Mauer erreichte, hatte sie Schweißperlen auf der Oberlippe, obwohl es nicht warm war und sie ziemlich fit. Neben der hinteren Gefängnismauer stand ein Steingebäude. VERWALTUNG. Ivy trat ein und meldete sich am Empfang. Eine Frau mit fest geflochtenen Dreadlocks begleitete Ivy den Flur hinunter in ein Büro, auf dessen Tür GEMEINSCHAFTSPROGRAMM stand.
»Hier ist die neue Schreibperson«, sagte die Wachfrau.
Der Mann hinter dem Schreibtisch sah auf; ein Mann mit graumeliertem Schnurrbart, drei Streifen auf dem Ärmel und einem Kaffeebecher aus Styropor, der in seiner haarigen Hand fast verschwand. Auf dem Schild auf seinem Tisch stand SGT. TOCCO.
»Hi«, grüßte Ivy. »Ich bin Ivy Seidel.«
»Haben Sie Ihren Passierschein?«
Sie reichte ihn hinüber. Er prüfte ihn.
»Sind Sie ein Kumpel von wie heißt er noch gleich?«
»Joel?«
»Ja«, sagte Sergeant Tocco. »Joel.« An der Art, wie er den Namen betonte, erkannte Ivy, dass er Joel nicht mochte. »Stimmt es, dass er jetzt im Filmgeschäft ist?«
»Ja.«
Er warf der Wachfrau einen Blick zu. »Wir kannten ihn vorher, was, Taneesha?«
»War das der Glatzkopf, der gestottert hat?«, fragte Taneesha.
»Der andere«, sagte Sergeant Tocco.
»Der ...?«
»Genau.«
»Was denn für ein Filmgeschäft?«, fragte Taneesha.
Sergeant Tocco zuckte die Achseln. »Frag« – er sah auf den Passierschein – »Ivy hier.«
»Irgendwas mit Adam Sandler«, sagte Ivy. »Einzelheiten weiß ich auch nicht.«
»Adam Sandler«, sagte Sergeant Tocco. »Findest du den komisch, Taneesha?«
»Hm«, sagte Taneesha. »Aber Komik ist echt Ansichtssache.«
»Was zum Teufel soll das denn heißen?«, fragte Sergeant Tocco.
Taneesha biss sich auf die Lippe.
Sergeant Tocco wandte sich an Ivy. »Waren Sie schon mal in einem Gefängnis?«
»Nein.«
Er nickte, als hätte er diese Antwort erwartet. »Fragen?«, sagte er.
»Vielleicht wäre es nützlich, wenn ich etwas über die Studenten wüsste«, meinte Ivy.
»Welche Studenten?«, fragte Sergeant Tocco.
»Sie meint die Häftlinge«, erklärte Taneesha.
»Abschaum«, sagte Sergeant Tocco. »Wollen Sie ihre Kladden lesen?«
»Kladden?«
»Ihre Akten«, erwiderte der Sergeant. »Weswegen sie hier sind. Weil nämlich alle unschuldig sind, jeder Einzelne von ihnen wurde reingelegt.«
»Später vielleicht«, sagte Ivy. »Im Augenblick möchte ich nur wissen, wie viele, ihre Namen, woher sie kommen.«
»Möchten sich ein eigenes Bild machen, was?«, sagte der Sergeant. »Muss so ein Schreiberding sein, Taneesha. Keiner von euch wollte bis jetzt die Akten sehen. Immer erst nach ein oder zwei Monaten.«
»Wenn sie so lange durchgehalten haben«, bemerkte Taneesha.
Der Sergeant nickte. Er zog eine Schublade auf, kramte herum, zog ein zerknittertes Blatt heraus. »Sie haben Morales, Perkins, El-Hassam und Balaban. Das sind vier.«
»Was ist mit Dinsmore aus Block C?«, fragte Taneesha.
»Im Loch«, sagte der Sergeant. »Und Echevaria wird in Zukunft nicht mehr viel geistige Arbeit leisten können, falls er überhaupt überlebt. Woher sie kommen – alle unten aus dem Süden, wie 99,9 Prozent unserer Kundschaft.« Sein Telefon begann zu klingeln.
»Noch was?«, fragte er.
»Was ist mit Echevaria passiert?«, fragte Ivy.
»Taneesha erzählt es Ihnen unterwegs.« Er nahm den Hörer ab. »Ein kleiner Tipp noch. Ihre Art, Leuten direkt in die Augen zu schauen? Hier drin absolut verboten.«
Ivy folgte Taneesha einen hell erleuchteten Korridor entlang und die Treppen hinunter. »Was ist mit Echevaria passiert?«, fragte Ivy.
Taneesha wischte die Frage beiseite. »Das wollen Sie nicht wissen.«
Sie erreichten eine Stahltür. Taneesha klopfte. »Schreibkursleiter«, sagte sie.
Die Tür öffnete sich. Auf der anderen Seite waren zwei Wachen, Videokameras, ein Metalldetektor.
»Führerschein und Autoschlüssel, Prof«, forderte eine der Wachen.
Ivy gab sie ihm. Die zweite Wache stempelte ihren Handrücken.
»Auf dem Rückweg bekommen Sie sie wieder«, sagte er. »Falls der hier leuchtet.« Er richtete eine Infrarotlampe auf ihre Hand. Das Wort Besucher erschien in Dunkelblau auf ihrer Haut. »Und falls nicht – klirr.«
Er lachte über seinen eigenen Witz. Das Lachen steckte die anderen an. Ivy lachte selbst ein bisschen und merkte zuerst nicht, dass der erste Wachmann die Hand ausstreckte.
Sie reichte ihm ihre Tasche. Er schüttete sie über dem Tisch aus: Spiralblock, zwei Kugelschreiber, Handy, Philipp Larkin – Gesamtausgabe der Gedichte. Der Wachmann fegte Kugelschreiber und Handy auf das Tablett mit Führerschein und Autoschlüsseln, alles andere packte er zurück in die Tasche.
»Keine Kulis?«, fragte Ivy.
»In Block B ist einer mit einem Kuli niedergestochen worden – wann war das noch?«, sagte Taneesha.
»Am ersten Mai«, erwiderte der erste Wachmann. »Ins Auge. Ich weiß es noch, ich hatte Dienst.«
»Womit sollen wir denn schreiben?«, fragte Ivy.
»Und am vierten Juli und am Memorial Day auch«, sagte der erste Wachmann.
Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Dann sagte Taneesha: »Laufen Sie durch, dann können wir weiter.«
Ivy trat durch den Metalldetektor. Sie versuchte es erneut ohne Ohrringe, dann ohne Ohrringe und Gürtel, schließlich ohne Ohrringe, Gürtel und Schuhe.
»Guten Flug«, wünschte der zweite Wachmann.
Ein wachhabender Beamter namens Moffit saß vor der Tür zur Gefängnisbücherei. Ivy glaubte, Alkohol in seinem Atem zu riechen, aber das war selbstverständlich ausgeschlossen.
»Geh ich einfach rein?«, fragte sie.
Moffit sah zu ihr auf. Er hatte einen kleinen Schnurrbart, wie ein Fleck. Bis jetzt trugen alle männlichen Wachen, denen sie begegnet war, Schnurrbärte. Was hatte das zu bedeuten?
»Sie beißen nicht«, sagte Moffit.
Ivy ging durch die Tür.
»Außer, wenn sie es tun«, setzte er mit leiser Stimme hinzu, vermutlich zu sich selbst; aber Ivy hörte ihn.
»Bin in einer Stunde zurück«, rief Taneesha hinter ihr her. Die Bücherei war klein und sehr hell: Neonröhren, Betonwände, Zementboden, Metallregale, halb gefüllt mit abgegriffenen Büchern, die meisten davon Taschenbücher. In der Mitte des Raums war ein rechteckiger Stahltisch an den Boden geschraubt. Auf den vier Klappstühlen um den Tisch saßen vier Männer in braunen Overalls, einer an der hinteren Schmalseite, einer links, zwei rechts, die so viel Raum wie möglich zwischen sich ließen.
»Hi«, sagte Ivy. »Ich bin Ivy, die neue Leiterin der Schreibwerkstatt.«
Sie sahen sie an, aber nicht in ihre Augen. Ein Tabu.
Ivy setzte sich auf den freien Stuhl an der Schmalseite des Tisches. »Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn Sie sich selbst vorstellen würden«, schlug sie vor.
Schweigen.
Der Mann links – rotbraune Haut, tätowierte Arme, zu- rückgekämmtes, öliges Haar – sagte: »Vorstellen? Ich kenne diese Typen schon viel zu gut.«
Einer der Männer rechts – groß, schwarz, mit Zahnlücken – lachte. Der Mann neben ihm – klein, weiß, mit beginnender Glatze – schaute sich hastig um, kicherte dann. Wie konnten die Dinge so schnell so schieflaufen?
Der Mann am anderen Ende, schwarz, hageres Gesicht, sauber getrimmtes Ziegenbärtchen, setzte sich sehr aufrecht hin, den Blick fest auf Ivys Stirn gerichtet, und sagte: »El-Hassam.«
»Erfreut, Sie kennenzulernen«, antwortete Ivy. »Wie lautet Ihr Vorname?«
El-Hassam schüttelte den Kopf, eine beherrschte, entschlossene Bewegung; sie hatte fast etwas Königliches. »Hier drin benutzen wir keine Vornamen«, sagte er.
Der tätowierte Mann links beugte sich vor. Seine Unterarme waren riesig, die Muskelstränge schwollen hervor. »Sie betreten den Nachnamensektor.«
»Seidel«, sagte Ivy. »Und Ihrer?«
Er zwinkerte. »Morales«, erwiderte er.
»Perkins«, sagte der große Mann. Er hatte eine tiefe, grollende Stimme.
»Balaban«, sagte der kleine weiße Typ. Seine Stimme krächzte.
»Aber Sie können Felix zu ihm sagen«, meinte Morales.
Balaban schaute nach unten, ließ fast den Kopf hängen. »Die Ausnahme«, sagte El-Hassam, »die die Regel bestätigt.«
»Was zum Teufel soll das heißen?«, fragte Morales. »Ergibt keinen Sinn.«
»Frag Miss Seidel«, sagte El-Hassam.
Was zum Teufel hieß das? Ihre allererste Chance, etwas Vernünftiges aus dem Job zu machen – und in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie wirklich etwas tun wollte, innerlich tatsächlich unglaublich aufgeregt war –, und sie war drauf und dran, zu verreißen. Dann, wie durch ein Wunder, tauchte ein Erinnerungsfetzen an einen vor langer Zeit abgelegten pedantischen Freund auf, von denen es viel zu viele gegeben hatte.
»Es ist ein altes Sprichwort«, erklärte Ivy. »Aus der Zeit, als ›bestätigen‹ noch auf die Probe stellen hieß. Damit ist die Ausnahme gemeint, die die Regel auf die Probe stellt, der schwere Fall, bei dem sich herausstellt, ob die Regel richtig ist oder nicht.«
Schweigen. Alle sahen sie an, wenn auch nicht in ihre Augen. Dann lachte Perkins tief und grollend. »Das ist Felix«, sagte er.
»Der schwere Fall«, sagte Morales.
Dann lachten sie alle, auch Ivy; alle lachten, bis auf Felix, aber selbst auf seinem Gesicht lag ein wenn auch etwas unsicheres Lächeln. Der zweite allgemeine Heiterkeitsausbruch, seit sie eingetreten war. Sehr überraschend.
Moffit, der Wachhabende, beugte sich um die Ecke und starrte in den Raum. El-Hassam hörte auf zu lachen. Auch das Aufhören griff rasch um sich.
Schweigen.
»Bestätigen bedeutet auf die Probe stellen«, sagte El-Hassam.
»Hast du das gewusst, Felix?«, fragte Morales.
Felix schüttelte den Kopf.
»Scheiße, Mann«, sagte Morales. »Du solltest dir dein Geld wiedergeben lassen.«
»Mein Geld?«, fragte Felix.
»Für deinen College-Abschluss«, sagte Morales. Er wandte sich an Ivy. »Unser Felix war auf der Harvard U-ni-ver-si-tät.«
»Nein«, sagte Felix.
In Morales’ rechtem Arm pulsierte eine Ader, verzerrte das L von LATIN KINGS. »Nennst du mich ’n Lügner, Felix?« Sein Tonfall war gleichmütig, fast freundlich.
»O nein, nein, nein, nein«, wehrte Felix ab. »Aber eigentlich war ich auf der Cornell.«
»Weil ich nämlich nicht lüge«, sagte Morales. »Das stimmt doch, Felix?«
Felix nickte.
»Unser Felix hier war auf der Harvard U-ni-ver-si-tät«, sagte Morales.
Langes Schweigen. Dann nickte Felix wieder, nur andeutungsweise, aber er nickte.
»Eine Menge großer Schriftsteller ist nicht aufs College gegangen«, sagte Ivy. Eine Bemerkung, die nicht wirklich passte, aber sie wollte die Richtung ändern, die die Dinge nahmen, und ihr fiel nichts Besseres ein.
»Zum Beispiel?«, fragte El-Hassam.
»Shakespeare«, sagte Ivy.
»Echt wahr?«, fragte Morales. »Shakespeare ist nie nicht auf dem College gewesen?«
Ivy nickte.
»Sie kennen Shakespeare?«, fragte Perkins.
»Ein bisschen«, erwiderte Ivy.
»Lassen Sie mal hören«, forderte Perkins.
»Sie meinen, auswendig?«, fragte Ivy.
»Ja«, sagte Perkins. »Kennen.«
Shakespeare auswendig. Sie hatte mal einen Shakespeare- Kurs belegt, aber das war in ihrem ersten Jahr gewesen und noch dazu um acht Uhr dreißig morgens, deshalb – »Morgen«, hörte sie sich plötzlich sagen.
» ... und morgen, und dann wieder morgen, kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag«.
O Gott, hätte ihr was Schlimmeres einfallen können?
»zur letzten Silb auf unserm Lebensblatt;
und alle unsere Gestern führten Narrn
den Pfad des stäubgen Todes.«
Es war still, so still, dass Ivy hören konnte, wie Moffit draußen vor der Tür rülpste.
Perkins lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Verdammt«, sagte er.
»Der Kumpel muss einige Zeit gesessen haben«, meinte Morales.
»Ich glaube, man weiß nicht viel über sein Leben«, sagte Ivy.
»Der hat gesessen, glauben Sie mir«, sagte Morales. »Was ist mit Hitler?«
»Hitler?«, fragte Ivy.
»Er war ein Schriftsteller«, erklärte Morales. »Ich habe sein Buch gelesen. War er auf dem College?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Ivy.
»Wusste scheiß viel, Mann«, meinte Morales. »Hitler. Steht alles in seinem Buch.«
»Er hat den Zweiten Weltkrieg angefangen«, sagte El-Hassam. »Hundert Millionen Menschen sind gestorben.«
»Na und?«, sagte Morales. »Wessen Schuld ist das?« Erneutes Schweigen. Wieder pochte die Ader in Morales’ Arm.
»Was kommt nach ›stäubgen Todes‹?«, fragte Perkins.
»Die nächste Zeile?«, sagte Ivy. »Hab ich vergessen.« Das stimmte nicht. Als Nächstes kam der Erzählt-von-einem-Narren-Teil, voller Schall und Wahn, ohne Bedeutung. Viel zu deprimierend. »Sollten wir nicht eigentlich schreiben?«
»Haben Sie Papier und Bleistifte?«, fragte Morales.
»Papier und Bleistifte?«
»Die müssen Sie mitbringen«, erklärte Morales. »Womit sollen wir sonst schreiben?«
Keine Stifte. Gottverdammter Joel. »Mein Fehler«, entschuldigte sich Ivy. Sie wollte aufstehen.
»Hey«, sagte Morales. »Wo wollen Sie hin?«
»Fragen, ob Mr. Moffit uns aushelfen kann.« Perkins lachte sein grollendes Lachen. »Mister Moffit?« El-Hassam griff in seine Tasche und zog einen Stift heraus; einen Kuli, wie die beiden, die aus Ivys Handtasche konfisziert worden waren. »Wir könnten uns abwechseln«, schlug er vor.
Ivy setzte sich. El-Hassam hatte einen Kuli. Kulis waren verboten. Und jetzt? Sollte sie Moffit hereinrufen? Würde danach noch Unterricht stattfinden? Nein. Ende des Auftritts. Außerdem war El-Hassams Kuli nur ein Kuli, nicht angespitzt, nicht zur Waffe umfunktioniert. Und El-Hassam strahlte solche Ruhe aus, beinah wie ein spiritueller Führer. Sie wurde sich bewusst, dass alle sie anstarrten. »Was ist mit Papier?«, fragte sie.
Morales stand auf, griff irgendein Buch aus den Regalen und riss eine der leeren letzten Seiten heraus.
»Wir versuchen eines von diesen Kettengedichten«, sagte El-Hassam.
»Kettengedichte?«, fragte Ivy.
»Joel hat uns immer Kettengedichte schreiben lassen«, erklärte El-Hassam. »Kennen Sie Joel?«
Ivy nickte.
»Er ist eine Schwuchtel, oder?«, sagte Morales.
Das war ein Wort, das Ivy nie benutzen würde, außer vielleicht, wenn es aus dem Mund einer völlig inakzeptablen Gestalt in einer ihrer Geschichten kam. Viele ihrer Freunde waren schwul, sie selbst war einmal bei einer Schwulenparade mitmarschiert, glaubte an die Schwulenehe.
»Stimmt«, bestätigte sie. Und fühlte sich umgehend selbst wie eine Verbrecherin. Ein nicht ausschließlich schlechtes Gefühl.
El-Hassam schob Stift und Papier zu Perkins. »Du fängst an«, kommandierte er.
Perkins beugte sich über das leere Blatt und klemmte die Zunge zwischen die Lippen. Der Kuli – wie ein Zahnstocher in seiner riesigen Hand – schwebte über der Seite, dann senkte er sich und begann sich schnell zu bewegen. Innerhalb von ein oder zwei Minuten war er fertig, schob das Blatt über den Tisch zu Morales.
Warum nicht zu Felix direkt neben ihm? dachte Ivy. Morales las nicht einmal, was Perkins geschrieben hatte. Er kniff die Augen fest zusammen, umklammerte den Stift, saß einfach da, nur seine Lider zuckten ein wenig. Niemand wurde ungeduldig: El-Hassam schloss ebenfalls die Augen, regte sich nicht; Perkins Blick wurde leer; nur Felix Balaban schien wach, seine Augen schossen umher. Er begegnete Ivys Blick, wandte seinen hastig ab, ließ ihn wieder zurückwandern. Sollte sie sagen, dass sie wusste, wer er war, die Verbindung zu Danny Weinberg erwähnen?
In diesem Moment stöhnte Morales, öffnete die Augen und begann zu schreiben. Er schrieb langsamer als Perkins, und seine Buchstaben waren wesentlich größer. Je länger er schrieb, desto weiter erwachte sein Körper zum Leben, die Füße klopften, der Kopf wackelte, und in seinem Unterarm pochte der Puls.
»Ein kleiner Zeitfaktor«, sagte Felix.
Morales’ Stift hielt abrupt inne. El-Hassam schlug die Augen auf, und Perkins’ Blick wurde klar.
Morales starrte Felix an. »Was hast du gesagt, Amigo?« Felix senkte den Blick, murmelte etwas über Zeit, das Ivy nicht verstand.
»Ich kann dich nicht hören«, sagte Morales.
»Es war nichts«, sagte Felix. »Gar nichts. Tut mir leid.«
»Tut dir leid?«, wiederholte Morales.
Felix nickte.
Morales sah zu El-Hassam und Perkins. »Es tut ihm leid.«
»Dann ist das ja erledigt«, sagte Ivy. »Zurück an die Arbeit.«
Perkins unterdrückte ein Lachen. El-Hassam warf ihr unter elegant hochgezogener Augenbraue einen Blick zu. »Ja«, sagte er.
Morales starrte nach unten auf das Blatt. »Ich hab meine verschissene Konzentration verloren«, sagte er und reichte es El-Hassam. El-Hassam schob es weiter zu Felix.
»Ich weiß heute wirklich nichts«, sagte Felix.
»Felix weiß heute nichts«, wiederholte Morales.
Das Blatt wanderte zurück zu El-Hassam. Er las, was bereits daraufstand, dann begann er zu schreiben. Mit langen Pausen, einer Menge Streichungen.
»Es wäre verdammt schleeeecht, wenn ich eine Blockade hätte«, verkündete Morales.
»Ich bin sicher, dass das nicht der Fall ist«, sagte Felix. El-Hassam schrieb weiter. Ivy erinnerte sich an einen Dokumentarfilm über die Tuareg, die blauen Männer der Wüste. El-Hassams Hände erinnerten sie an dieses Volk. Einen Augenblick lang hätten sie an einem anderen Ort sein können, einem Lehmdorf in der Sahara oder in einer Karawanserei. Dann stand Moffit in der Tür.
»Die Zeit ist um«, verkündete er.
Ivy schaute flüchtig zu El-Hassam. Der Stift war verschwunden.
Die Männer standen auf und gingen nacheinander hinaus, Morales, Perkins, Felix und als Letzter El-Hassam. Er gab Ivy das Blatt. »Braucht einen Titel«, sagte er.
»Das machen wir nächste Woche«, sagte Ivy. »Bis dann.« El-Hassam wollte etwas erwidern, aber Moffit kam ihm zuvor. »Es sei denn, sie werden alle begnadigt«, sagte er.
Taneesha führte sie nach draußen: einen breiten Korridor hinunter, durch den leeren Raum zur Pforte, wo neue Wachen ihren Dienst angetreten hatten. Sie richteten die Infrarotlampe auf ihren Handrücken. BESUCHER leuchtete blau auf, und sie erstatteten ihr Führerschein, Schlüssel, Stifte, Handy zurück.
»Kommen Sie wieder?«, fragte Taneesha. »Natürlich«, antwortete Ivy überrascht.
»Viele tun es nicht«, sagte Taneesha.
Ivy verließ das Verwaltungsgebäude und trat in den Sonnenschein. Urplötzlich fühlte sie sich immens stark, aller Sorgen und Kümmernisse ledig, auf dem Höhepunkt des Lebens. Sie überquerte die Straße und spazierte zu einem kleinen Park auf dem Gipfel des Hügels. Von dort konnte sie nach unten schauen, über das Gefängnis, über die weite goldene Ebene hinweg bis zum Lake Champlain, der in der Ferne blau glitzerte. Das erinnerte sie an den Großen Salzsee, den sie niemals wirklich gesehen hatte, und an die wenigen Zeilen, die dem New Yorker gefallen hatten. Sie würde besser werden als das, viel besser.
Ivy lehnte sich an einen Baum und las das Kettengedicht. Keiner von ihnen beherrschte die Rechtschreibung, bei El-Hassam war es am schlimmsten. Viele von Morales’ Buchstaben standen verkehrt herum, ebenso einige bei Perkins. Zudem benutzte Perkins häufig Großbuchstaben.
Korrigierte man die Rechtschreibung und die verdrehten Buchstaben, hatte Perkins geschrieben:
Morgen und morgen, und dann wieder Morgen,
Kriecht so mit Kleinem Schritt von Tag zu Tag,
Zur Letzten Silb auf unserm Lebensblatt;
Und Alle unsere gestern Führten Narrn
den Pfad des Stäubgen Todes.
Irgendwie hatte er sich das Ganze eingeprägt, während er ihr zugehört hatte.
Morales:
Das war ein Untersatz, Mann! Leuchtend oranger Camaro! Wie eine Brandbombe mit einer 427! und Sportfelgen, die mein Kumpel und ich nem Juden in Trenton geklaut hatten! Zoom! Nahmen zwei Nutten mit auf die Piste! Carmen und die mit den Titten! Die tat auf dem ganzen Weg nach Haus, was ich wollte! Uuuuuu! Nicht den ganzen Weg, weil wir gerammt wurden von diesem Achtzehntonner an der Ausfahrt 79!
Und er hatte unterschrieben, Hector Luis Morales, in großen Buchstaben mit vielen Schnörkeln, ähnlich wie John Hancock, abgesehen von den verdrehten Lettern. Und El-Hassam:
Gestern Nacht träumt ein Mann von einem Messer
in einer Schublade
Sehr scharfes Messer scharf scharf auf dem Stein
Mit einer zwölf Zoll Klinge sanft geschwungen und
einem Griff
Aus Perlmutt
Scharf scharf zum Reinstechen wie nichts
Kein Geräusch keine Reibung nichts
Gestern Nacht ein Messer in der Schublade
Das sehr sehr scharfe scharfe Messer
Traum eines Mannes
Ivy fuhr nach Hause. Irgendwo auf dem Northway hielt sie zitternd an.
Freitagabend im Verlaine’s, es war brechend voll.
»Wer sind diese ganzen Kretins?«, fragte Bruce Verlaine.
»Die Hälfte davon habe ich noch nie gesehen.«
»Zahlende Gäste«, erwiderte Ivy.
Bruce schnaubte und platzierte ein paar Neuankömmlinge am miesesten Tisch zwischen der digitalen Musicbox und dem feuchten Gang zu den Toiletten. Sie dankten ihm überschwänglich, als ob das etwas nützen würde.
Danny Weinberg kam in weiblicher Begleitung, orderte Veuve Clicquot. »Aurore«, sagte er, oder zumindest klang es so, »das ist Ivy.«
»Hi«, grüßte Ivy und schenkte ihr ein Glas ein.
Aurore nickte knapp. Sie war umwerfend.
»Salut«, sagte Danny. Sie tranken. »Ivy ist Schriftstellerin«, sagte Danny.
»Ach?«, bemerkte Aurore, stellte ihr Glas voller Abscheu auf dem Tresen ab und schaute sich im Raum um, gerade rechtzeitig, um mitzuerleben, wie Bruce den Stecker der Musicbox aus der Wand riss. Was bedeutete, dass jemand einen Song gewählt hatte, den Bruce einmal zu oft gehört hatte.
»Im Augenblick unterrichtet sie Häftlinge in einem Gefängnis oben im Norden«, erzählte Danny.
»Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen«, sagte Aurore.
Danny schaute beunruhigt drein. »Wirklich?«, sagte er. »Grauenhaft«, versicherte Aurore.
Vielleicht ein Schlaganfall, dachte Ivy. »Möchten Sie ein Paracetamol?«, fragte sie.
»Paracetamol?«, wiederholte Aurore, als hätte Ivy ihr etwas Minderwertiges angeboten, und dann war sie auch schon auf dem Weg nach draußen, Danny im Gefolge. Eine Stunde später kehrte er allein zurück, mittlerweile in Jeans und T-Shirt statt des Anzugs, und bestellte ein Bier. »Sie hatte in letzter Zeit viel Stress«, erklärte er.
»Was hat sie gemacht?«, erkundigte sich Ivy.
»Sie haben bei Martinique ein Korallenriff gerammt«, sagte Danny. »Hätten ertrinken können.«
»Ich meinte, beruflich«, sagte Ivy.
»Ach, dauernd unterwegs«, sagte Danny. »Wohltätigkeitsveranstaltungen, Eröffnungen, Einladungen. Sie steht praktisch jeden Sonntag in der Lifestyle-Kolumne.« Bruce kam vorbei und warf Danny seine Rechnung hin. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, die zu begleichen?« Danny bezahlte seine Rechnungen in unregelmäßigen Abständen alle paar Wochen, aber er war ein guter Kunde, lebte in der Nachbarschaft und gab großzügige Trinkgelder.
Er blätterte durch die Belege, die Augen halb geschlossen, dann zückte er eine Platinkarte.
»Ich würde keinen Fuß in diesen Saftladen setzen«, sagte er, »wenn ... « Er leerte sein Bier und bestellte noch eins. »Wie war der Kurs?«
»Dein Freund war dabei.«
»Felix?«
Ivy nickte.
»Genau genommen sind wir nicht befreundet. Er war ein Klient. Wie ist seine Schriftstellerei?«
»Er hat an dem Tag nichts geschrieben.«
»Das überrascht mich nicht«, meinte Danny. »Felix ist ein Zahlentyp, ausschließlich links gesteuert. Aber ein brillanter Zahlentyp. Er hat eine Art der Derivatberechnung entwickelt, die vielleicht drei Menschen weltweit verstehen.«
»Sitzt er deshalb im Gefängnis?«
»Nicht direkt. Irgendeine Vereinbarung mit zeitlich begrenzten Offshore-Optionen ist für den Schaden verantwortlich. Ironischerweise war diese kleine Maßnahme nur als eine Art Versicherung zum Schutz der Investoren gedacht. Aber die Geschworenen waren zu dumm, das zu begreifen.«
»Wer waren die Investoren?«
Danny zuckte die Achseln. »Irgend so ein Rentenfonds«, meinte er. »Niemand.«
»Was ist aus den Rentengeldern geworden?«
»Den Rentengeldern?«, fragte Danny. »Ach, das waren die sechzig Millionen. Falls es dich interessiert, könnte ich dir die ganze Geschichte bei einem späten Abendessen erzählen.« Er schob seine Hand über den Tresen, dicht an ihre, berührte sie aber nicht.
Dannys Hände waren hübsch, abgesehen von den abgekauten Fingernägeln. Danny selbst war auch nett; warf ein bisschen viel mit Geld herum, aber im Grunde nett, und er mochte sie. Außerdem interessierte sie sich für Felix Balabans Verbrechen. Also, ein spätes Abendessen mit Danny: Wie schlimm konnte das sein? In diesem Moment kam ihr ein Gedanke, irgendwie befremdend: Dannys Hände waren nicht annähernd so hübsch wie El-Hassams. Und direkt darauf: Danny besaß schlanke, muskulöse Arme, aber sie waren wie die eines Kindes verglichen mit denen von Hector Luis Morales. Und das bedeutete? Ivy wusste es nicht.
»Wann machst du Feierabend?«, fragte Danny.
Waren sie – El-Hassam und Morales – irgendwie männlicher als Danny? Was für eine verrückte Vorstellung! Verrückt, und Danny war im Grunde ein netter Kerl, aber Ivy erwiderte: »Nicht vor zwei«, was gelogen war.
Sie ging allein um halb eins, Dragan hielt ihr die Tür auf. »Bald werde ich bereit sein, dir meinen Roman zu zeigen«, verkündete er.
»Das ging schnell«, sagte Ivy.
»O ja«, sagte Dragan. »So viel leichter als Geschirr spülen, die Schreiberei, fünfzig, sechzig Seiten von Anstoß bis Abpfiff.«
»Guckst du Football, wenn du schreibst?«
»NFL im TiVo, jedes Spiel«, sagte Dragan. »Phantastisch. Du bist auch eine Liebhaberin von Football?«
»Eigentlich nicht.«
Dragan wirkte überrascht. »Ich bin der wahre Amerikaner«, sagte er.
»Glückwunsch«, gratulierte Ivy.
Er lachte unsicher.
Ivy machte sich auf den Weg.
»Ich werde meinen Roman mit dem Titel Amerikanische Frau benennen«, rief er hinter ihr her. »Oder heißt Frau Mädchen in normaler Rede?«
Ivy stieg zu ihrem Zimmer im fünften Stock empor. T. S. Eliot hatte im Stehen geschrieben, Poe hatte Laudanum benutzt, Dragan vertraute auf die National Football League. In der Dunkelheit blinkte das Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter.
»Hier ist Sergeant Tocco, Dannemora. Wir haben noch einen Häftling, der die Schreibwerkstatt besuchen darf. Heißt Harrow. Wir reden immer zuerst mit dem Leiter. Wenn Sie noch einen mehr vertragen können, rufen Sie mich an.«
Einer mehr, warum nicht? Ivy hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter: »Ja.«
Dann setzte sie sich an ihren Laptop und ging »Höhlenmann« noch einmal durch. Vladek fühlte sich stark.