Der herausgeforderte Superorganismus - Eckhard Schindler - E-Book

Der herausgeforderte Superorganismus E-Book

Eckhard Schindler

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Beschreibung

Wenn man die Fehlleistungen des Menschen der Gegenwart betrachtet und sieht, in welchen Zustand er die Welt versetzt hat oder zu versetzen im Begriff ist, kann man nur den Kopf schütteln. Wie kann es sein, dass wir die Natur, in deren Schoß wir leben, wie Unkraut überwuchern und mit schädlichen Technologien so stressen, dass wichtige Ökosysteme zusammenbrechen? Wie kann es sein, dass wir uns vom Kapitalismus so beherrschen lassen, als stünden wir in Las Vegas vor einem Spielautomaten, von dem wir nicht mehr loskommen? Wie kann es sein, dass wir Kultur aufbauen und unseren Mitmenschen doch auch immer wieder mit Hass, Hetze und Gewalt gegenübertreten? "Etwas ist faul im Staate Dänemark" (Shakespeare: "Hamlet"). Will man dem nachgehen, kommt man am Gehirn des Menschen, das sein Steuerorgan, Erkenntnisinstrument und seine Kognitionsmaschine ist, nicht vorbei. Es ist jedoch extrem schwierig, die Arbeitsweise des Gehirns zu begreifen. Noch schwieriger ist es, daraus Erkenntnisse für die psychische Verfassung und das Verhalten des Menschen zu gewinnen. Dann noch die Brücke zur Gesellschaft schlagen zu wollen - mit der gesamten Bandbreite an phantastischen, gewöhnlichen und desaströsen Phänomenen, die in Geschichte und Gegenwart zu verzeichnen sind - ist schier unmöglich. Aber das Unmögliche wird in diesem Buch versucht. Es wird nach systemischen Zusammenhängen zwischen Nervensystem, Mensch, Gesellschaft und dem "menschheitlichen Superorganismus" gefahndet. Hierbei streng wissenschaftlich und evidenzbasiert vorzugehen, muss das letztendliche Ziel sein. Doch vorläufig fehlen dazu die nötigen Daten und Ressourcen. Also wird nur das bruchstückhaft vorhandene Material zusammengetragen und das Puzzle so gut wie möglich zusammengesetzt, was ohne Synthese und Thesenbildung nicht leistbar ist. Die Methoden, mit denen vorgegangen wird, könnte man "analytische Modellbildung" und "interdisziplinäre Mustererkennung" nennen. Bei der Komplexität des Themas muss klar sein, dass ein Erkenntniswunder nicht zu erwarten ist. Dieses Buch versteht sich als ein (weiterer) Anfang.

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Inhalt

Teil 1 – Ein Anfang des integrativen Denkens

Teil 2 – Der überforderte Superorganismus

Einführung

Rätselhafte gesellschaftliche Phänomene

Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens

Kapitalistische Wachstumswirtschaft

Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens

Das politische Spektrum

Gesellschaftsklimatische Absonderlichkeiten

Zum Umgang mit mentalen Spannungen

Extremismus und Terror

Geostrategischer Machtpoker (Macht und Integration)

Psychische Probleme und Krankheiten

Antworten auf Fragen aus der Einführung

Aktuelle Dilemmata

Inselwissenschaft

Flüchtlingskrise

Klimawandel

Ukraine-Krieg

Abschlussbewertung

Ein politisches Konzept zur Lösung einiger Zivilisationsprobleme

Teil 3 – Eine Neuromodell-Perspektive – das SPP-4DI-Modell

Einführung

Das SPP-Modell

Tauglichkeitswahrscheinlichkeitsprozessor (SPP)

Ein systemisches Menschenbild

Künstliche Bedürfnisse und Knappheitsfantasien

Mentale Kraft und mentale Gravitation

4D-Intelligenz

Vernunft und Intelligenz

Zentrale Thesen des 4DI-Konzepts

Diskussion der Komponenten

Mentale Kapazität (MC)

Leidensfähigkeit, Kohärenz, Intelligenz und Glaube

Das Tunnelblick-Paradoxon

Bewusstsein als Balanceakt zwischen Unter- und Überkomplexität

Hinweise aus dem SPP-4DI-Modell für andere Disziplinen

Anschlusskonzepte

Ist das Leben überhaupt so ernst?

Mentale Kapazität und die mentale Vitalitäts-Vulnerabilitäts-Achse

Soziale Vernetzung und mentale Gravitation

Soziale Bindung und Distanz

Ist 4D-Intelligenz messbar?

Mentale Akkumulation und Konsumption

Die Gesellschaft als Superorganismus

Komplexitätstransformation

Strukturierte und akute Komplexität

Strukturierte Komplexität als unsichtbares System aller Lösungen

Kommunikation und kontextuelle Schnittmengenbildung

Komplexitätskompetenzwachstum als diskontinuierlicher Prozess

Komplexitätsabwehrpotenziale

Macht

Soziales Integrationsgefälle

Die Limitiertheitsannahme (LA)

Die Realität der Vernunft

Konzepte der Vernunftintelligenz

Teil 4 – Regulatorische Variabilität (RV)

Einführung

RV01 Neurosteuerung

RV01.01 Reguliertheit – Ausgesetztheit

RV01.02 Aktivität – Vorbereitung

RV01.03 Lust und Euphorie vs. Frust und Angst

RV01.04 Grad der Zielfindungskontrolle

RV01.05 Sozialer Fremdeinfluss bei der Zielfindungskontrolle

RV01.05a Fremdeinfluss bei der Aufmerksamkeitssteuerung

RV01.06 Pfadabhängigkeit/ Glaubensrichtung

RV01.07 Integrationsgefälle (mental)

RV02 4D-Intelligenz

RV02.01 Internalisierungsgrad der Realität

RV02.02 Künstlichkeitsgrad der Problemkomplexität

RV02.03 Präzision – Bandbreite

RV02.04 Vehemenz – Sensitivität

RV02.05 Mentale Stärke

RV02.06 Vitalität – Vulnerabilität

RV02.07 Sozialer Integrationsgrad

RV02.08 Naturgesetzlich vs. sozial ausgerichtete Realitätskonfrontation

RV02.09 Integrationsgefälle (4DI)

RV02.10 Kritische Distanz vs. Resonanz

RV02.11 Grad der kontextuellen Schnittmengenbildung bei der Kommunikation

RV02.12 Ambiguitätskompetenz

RV02.13 Komplexitätsgrad des Bewusstseins

RV03 Bedürfnisregulation

RV03.01 Regulierung von Grundbedürfnissen

RV03.02 Grad des Anthropozentrismus

RV03.03 Soziale Integration vs. Individualismus und Egozentrismus

RV03.04 Künstlichkeitsgrad des Bedürfnissystems

RV03.05 Materialisierungsgrad des Bedürfnissystems

RV04 Allgemeine Regulationsparameter

RV04.01 Kräfteverhältnis Spezies (Mensch) – Natur

RV04.02 Grad der Akuität der Problemkomplexität

RV04.03 Machtbalance

RV04.04 Problemlösungseffizienz

Teil 5 – Ausflüge in ausgewählte Quellen

Einführung

Evolutionsbiologie

E1 – Glaubrecht, M.: Das Ende der Evolution

Psychologie

Ps1 – Theorie der kognitiven Dissonanz

Ps2 – Das kognitionspsychologische Zwei-Systeme-Modell

Ps3 – Soziale Medien

Wirtschaft

W1 – Wachstumsgesellschaft

W2 – Der Triumph der Ungerechtigkeit

W3 – Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus

W4 – Finanzmärkte, Effizienz und Wohlstand

W5 – Verhältnis zwischen Finanz- und Realwirtschaft

W6 – Krise? Welche Krise?

W7 – Das Coase-Theorem – die guten Seiten der Umweltschäden

Politik

Po1 – Das politische Links-Rechts-Schema

Sozialwissenschaft

S1 – Kapitalarten

Schlussbemerkung

Verzeichnis der Abbildungen, Übersichten und Tabellen

Literaturverzeichnis

Teil 1 – Ein Anfang des integrativen Denkens

Das Ende der Evolution ist der Anfang des integrativen Denkens oder – genauer – des systemisch-integrativen Denkens und Handelns.

Matthias Glaubrecht stellt in seinem Buch „Das Ende der Evolution“ ausführlich dar, wie der Mensch den Artenreichtum auf seinem Planeten vernichtet und wie er somit das Ende der Evolution einläutet (für Details siehe Glaubrecht 2019 und im vorliegenden Buch Teil 5, Abschnitt E1). Laut Glaubrecht (und weiterer Wissenschaftler) ist ein neues Erdzeitalter angebrochen – das Anthropozän. Es ist dadurch charakterisiert, dass der Mensch aus den begrenzten ökologischen Nischen, die ihm die Natur – nicht zuletzt seine eigene – jeweils zugewiesen hatte, heraustritt und dass er dabei ist, sich zum maßgeblichen globalen biologischen Einflussfaktor aufzuschwingen. Er hat sich in einem Maße verbreitet und derart wirkmächtige Technologien in Gebrauch genommen, dass kein Stück Natur mehr vor ihm sicher ist. Die Natur setzt ihm keine Grenzen mehr. Er hat die Ketten gesprengt.

Dadurch hat der Mensch etwas gewonnen – nämlich Macht und Einfluss und die Möglichkeit, sich seine Umgebung so zu formen, wie sie ihm am besten passt. Dadurch hat der Mensch aber auch – so hier die These Nr. 1 – etwas verloren, das es zu ersetzen gilt: kostenlose Führung und Regulierung. Er kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Naturgesetze oder wahlweise die Götter ihn behüten (oder dass sie die durch ihn verursachten Schäden begrenzen) (oder dass ein einziger Gott dafür verantwortlich zeichnet). Der Mensch ist selbst zum Gott geworden – und zugleich zum Elefanten im Porzellanladen der Arten. (Die regulierende Wirkung der Naturgesetze wird uns ganz sicher irgendwann einholen, dann aber gewiss nicht in einer Art und Weise, wie wir sie uns wünschen könnten.)

Dieser Verlust ist – so soll hier als These Nr. 2 behauptet werden – durch systemisches und integratives Denken und Handeln zu ersetzen. Das hat etwas mit dem Gehirn des Menschen zu tun, mit der Fähigkeit, Naturphänomene immer präziser in seinem Denkapparat abzubilden, Naturgesetzen auf die Schliche zu kommen und sie für seine Zwecke zu gebrauchen. Das hat etwas mit der Fähigkeit zu tun, Kognitionen – also Kenntnisse, Meinungen, Überzeugungen etc. – zu teilen und gemeinsam zu entwickeln sowie gesellschaftliches Bewusstsein und sozialen Zusammenhalt zu kultivieren. Und es hat vor allem etwas mit der Fähigkeit zu tun, im Denken einen großen raumzeitlich-erkenntnistheoretischen Bogen zu spannen – über alle Völker der Erde, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, über alle kulturellen, technologischen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, über alle Fachgebiete, über alle Formen des Stoffwechsels (Essen, Fäkalien, Rohstoffe, Kunststoffe, Müll, Emissionen etc.), über die Einbettung des Menschen in den Schoß der Natur und der Naturgesetze sowie über alle Systemzusammenhänge und Spannungsfelder. Wenn es der Mensch schafft, in diesem multidimensionalen Variabilitätsraum alle wesentlichen Systemzusammenhänge zu begreifen und sich selbst ins rechte Verhältnis zu allen natürlichen Regulierungsvorgängen zu setzen, dann könnte man von systemisch-integrativem Denken und Handeln sprechen. Dann würden wir eine heutige Welt verlassen,

die als expansiv und stark materialisiert wirtschaftende Vorteilsgemeinschaft gelebt wird,

in der alle Formen des Reichtums – Kultur, Wissen, Bildung, Zusammenhalt, materieller Reichtum, menschliches Leben, Natur – letztlich im Namen des Rechts des Stärkeren (in Kriegen) viel schneller wieder ausgelöscht oder konterkariert werden, als sie entstanden sind oder geschaffen wurden,

in der technologischer Fortschritt zuvorderst der Motivation folgt, Menschen und ihren Reichtum effektiv (durch Militärtechnologie) vernichten zu können, sodann derjenigen, Menschen und ihren künstlichen, naturfeindlichen Reichtum gedeihen zu lassen (um ihn später wieder vernichten zu können) und erst danach derjenigen, sich mit der Natur ökologisch zu integrieren.

Dann würden wir eine künftige Welt betreten,

in der Wachstum vor allem im Kopf, in den Sozialbeziehungen und in den internationalen kulturellen Beziehungen stattfindet,

gepaart mit der gemeinsam zu entwickelnden Fähigkeit, materialisierte menschliche Präsenz auf ein naturverträgliches Maß zu reduzieren,

gepaart mit der Fähigkeit, machtpolitisch auf dem Teppich einer dauerhaft gedeihlichen internationalen Diplomatie zu bleiben.

Bisher steht der Mensch bestenfalls an der Schwelle zu dieser Entwicklung. Aber er hat keine andere Wahl. Alles muss in seinen Kopf hinein. Alles muss in den neuronalen Assoziationsnetzwerken abgebildet und in ihnen in Übereinstimmung gebracht werden. Alles muss in der globalen Menschengemeinschaft ausdiskutiert werden. Die Weltbevölkerung muss sich einig werden, wie sie den einzigen Planeten, auf dem sie leben kann, rettet.

Dass es an intellektuellen Rohstoffen mangeln würde, kann man nicht sagen. Formen von Spezialwissen oder von lexikalischem Wissen sind eher eine ständige Flut denn Mangelware. Mit komplexeren oder interdisziplinären Formen von Systemverständnis und mit dem großen Bogen hapert es allerdings noch gewaltig.

Dabei sind durchaus viele gute Ansätze vorhanden. Es gibt unzählige Menschen, Initiativen, Organisationen und Institutionen, die sich dem Fortschritt, der Integration, dem Umweltschutz, dem sozialen Ausgleich, der Nachhaltigkeit oder der Erhaltung des Weltfriedens verschreiben. Man denke z. B. an Umweltbewegungen verschiedenster Art, World Wide Fund For Nature (WWF), Umweltpolitik, Sozialpolitik, Bildungspolitik, Vereinte Nationen (UNO), internationale Diplomatie, Club of Rome, Alfred-Wegener-Institut, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, um nur wenige Beispiele anzuführen und unzählige andere nennenswerte zu verschweigen. Im Sinne einer gut regulierten, naturverbundenen, friedlichen und sozialen Lebensweise sowie im Sinne der Aufklärung und des Erkenntnisfortschritts gibt es praktisch keine positive Initiative, die es nicht gibt. Das ist ein guter Anfang.

Reicht das jedoch? Nein, bei Weitem nicht! Denn zugleich erlaubt sich der Mensch jede Menge Nachlässigkeiten und Schändlichkeiten. Nur einige seien hier genannt: Müllberge und Giftstoffe; naturschädliche Technologien; die faktische Kapitulation vor Rebound-Effekten, die „Nachhaltigkeit“ jederzeit zunichtemachen; Kasino-Kapitalismus; die unglaubliche Fähigkeit des Menschen, sich strukturellen Imperativen auszusetzen, d. h. mit kurzsichtigen Lösungen für die Gegenwart künftiges Elend und künftige Katastrophen vorzuprogrammieren, und das ohne angemessenes Risikobewusstsein; Unterdrückung; Hunger; Kriege; die unglaubliche Fähigkeit des Menschen, (eigentlich lächerliche) Befindlichkeiten, bizarre Bedürfnisse und Egoismen so ernst zu nehmen, dass er sich mit Mitmenschen verstreitet und die Natur zerstört – mit allen Konsequenzen, die das haben kann –, bis hin zu Hass, Hetze, Mobbing, Feindschaft, Mord, Krieg und beliebigen Kollateralschäden.

Woran hängt nun die Fähigkeit des Menschen, den großen Bogen zu spannen? Wie kann es gelingen, alle Systemzusammenhänge so weit in den Blick zu nehmen, dass keine apokalyptischen Szenarien eintreten? Das kann nur – so hier die These Nr. 3 – in gemeinsamer Anstrengung aller Bürger dieser Erde gelingen. Es hängt an der Frage, wie sich die Volksintelligenz im globalen Maßstab entwickelt. Es hängt an der Frage, wie es möglicherweise dazu kommt, dass eine Mehrheit der Weltbevölkerung motiviert ist, alle Systemzusammenhänge dieser Welt begreifen und entsprechend den Erkenntnissen, die in dieser Richtung mühsam zu erringen sind, handeln zu wollen. Es hängt an der Frage, inwiefern es gelingt, dass überall auf dem Globus ein maßgeblicher Teil der Bürger auf diesen Pfad einschwenkt und in diesem Sinne gemeinschaftliche Bewusstseins- und Teambildung betreibt. Es hängt davon ab, ob sich so etwas wie eine „Großgruppenvernunft“ – im Sinne einer allgemein verbreiteten Fähigkeit zum Denken und Handeln in globalen Systemzusammenhängen – global entfaltet und zum Tragen kommt.

Doch damit sieht es schlecht aus. Viele leben in Not, Armut oder Abhängigkeit, sodass es für sie die Möglichkeit, gemeinschaftliche oder gar globale Zielstellungen in den Blick zu nehmen, gar nicht gibt. Andere sind gut situiert und frei genug, um Spielräume zu haben, doch für sie bilden die globale Gemeinschaft und ihr Wirken, wenn überhaupt, nur ein Nebenthema, während man sich in der Familie, im Verein, im spezialisierten beruflichen Umfeld, in der Lokalpolitik oder in Kunst und Kultur verwirklicht. Als einzelner Bürger oder als Mitglied einer begrenzten Gemeinschaft, wie Familie, Sportklub, Firma, Staat usw., richtet man zumeist auch keinen großen Schaden an, und bis zur Wahrnehmung, dass ein globales Wirken zustande kommt, welches verheerende Auswirkungen hat und auf noch viel verheerendere künftige Auswirkungen zusteuert, ist es ein weiter Weg; dieser Aspekt des Lebens spielt natürlicherweise keine besonders naheliegende oder zentrale Rolle in unserem Bewusstsein. Abgesehen davon gibt es eine starke Neigung, mit den komplexen Anforderungen, die ständig auf uns einstürmen, überfordert zu sein. Also scheint es gesünder zu sein, sich auf die naheliegenden und leichter zu überblickenden Kontexte zu beschränken. Und so ist es nur folgerichtig, wenn sich die Mehrheit der Zeitgenossen für gut regulierte Beschränktheit entscheidet, getreu dem Gelassenheitsgebet: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Grundsätzlich steckt viel Weisheit und Klugheit in dieser Form der Begrenztheit und Gelassenheit. Psychisch gesund zu bleiben, heißt diesem Paradigma zu folgen.

Gleichzeitig ist es jedoch genau diese Form der Gelassenheit, die uns das Genick bricht. Sie bestimmt, wie sehr die Gesellschaft von Schicksalsschlägen gebeutelt wird. Sie hat die Konsequenz, dass die Entwicklung eines global-systemisch-integrativen Bewusstseins und eines entsprechenden politischen Handelns eben nicht oder nur sehr langsam stattfindet. So gesehen ist diese Form der Weisheit und Klugheit heute einfach nicht mehr angebracht. Heute wäre es viel klüger, der Tatsache, dass uns ohnehin eine immer größere Zahl zunehmend komplexer Probleme die innere Ruhe nimmt, dadurch zu begegnen, dass man Komplexität radikal und gnadenlos annimmt. Nur eine eigenkonfrontative, proaktive Haltung zur Thematik der globalen systemischen Komplexität, nur der radikale Wille, alle Informationen aufzunehmen, alle Zusammenhänge zu verstehen und alle Problemlösungsprozesse zu integrieren, kann heute eigentlich noch richtig sein. Nur wenn diese Form der Radikalität zu einer globalen, Bewusstseinsbildung und politisches Handeln bestimmenden Bewegung wird – so hier die These Nr. 4 – kann Regulierung heute noch funktionieren; das Ausbleiben dieser Form der Radikalität würde hingegen direkt in die Apokalypse führen.

Hier eine Zusammenfassung der vier Thesen:

1) Durch ihre Wirkmächtigkeit, die insbesondere aus Populationsgröße, Wohlstand und Technologien entspringt, hat die Menschheit die kostenlose Dienstleistung der Natur verloren, von ihr (halbwegs harmonisch) reguliert zu werden.

2) Dieser Verlust ist durch systemisch-integratives Denken und Handeln zu ersetzen.

3) Das kann nur in gemeinsamer Anstrengung aller Bürger dieser Erde gelingen. Es ist nur durch allgemeines Wachstum von Bildung, Intelligenz, Vernunft und Klugheit zu erreichen.

4) Regulierung – im biologischen wie auch im politischen Sinne – kann zunehmend nur noch dadurch funktionieren, dass ein Pfad der radikalen Eigenkonfrontation mit Problemkomplexität gemeinschaftlich beschritten wird.

Zu These Nr. 3 ist noch Folgendes zu ergänzen: Kluge oder reiche Eliten und starke Führungspersönlichkeiten sind ganz sicher ein wichtiger Faktor in jedem gesellschaftlichen Szenario, welcher jedoch ab einem gewissen Ausprägungsgrad dazu neigen dürfte, kontraproduktiv zu werden, denn ein allgemeines Wachstum von Intelligenz und Systemverständnis ist nur zu erreichen, wenn jedem Bürger möglichst große Entscheidungsspielräume und ein möglichst hoher Grad an Eigenverantwortung zukommen. Und die Volksintelligenz bzw. die allgemeine oder durchschnittliche Intelligenz und die politischen Kompetenzen der Volksmassen sind das, was letztlich zählt – das ist ein entscheidender Punkt bei dieser These.

So gesehen sind wir zum systemisch-integrativen Denken und Handeln in einem Maß verdammt, wie es heute noch längst nicht vorstellbar ist. Es führt kein Weg an der radikalen proaktiven Eigenkonfrontation mit Problemkomplexität vorbei. Doch ob dieser Prozess tatsächlich stattfindet und ob er schnell genug erfolgt („by design“), sodass man nicht immer nur von der einen Krise zur nächsten Katastrophe stolpert („by disaster“), ist fraglich. Ich bin da eher skeptisch, und so gesehen ist der Titel des Teils 1 – „Ein Anfang des integrativen Denkens“ – nicht nur ernst, sondern zugleich auch ironisch und fragend gemeint. Der Titel des Teils 2 – „Der überforderte Superorganismus“ – ist ehrlicher: Wenn ich meine Zeitgenossen betrachte – einschließlich meiner selbst – ist der nötige erhebliche Zuwachs an integrativer Gewitztheit einfach nicht sichtbar; wir alle sind Teil eines Superorganismus, der mit viel Leidenschaft und Schicksalsergebenheit, aber wenig Hirn gesegnet ist. Was soll man heutigen und künftigen Generationen – rund um den Globus – wünschen, die sich nicht in der Lage zeigen, die zur Rettung der Welt nötige Einigkeit herzustellen? Dass sie durch ein gemeinsam heraufbeschworenes globales General-Desaster zur Notgemeinschaft werden und so zusammenfinden? Es sieht so aus, als könne die „Großgruppenvernunft“, die längst fällig wäre, nicht ohne Denkanstöße in Form größerer Kollateralschäden zustande kommen. Man beweise mir gerne das Gegenteil, ich nehme daran auch gerne aktiv teil. So gesehen kann der Titel des Teils 2 als Provokation verstanden werden, die hoffentlich zur Stärkung des Willens beiträgt, zu beweisen, dass man die Zukunft gesittet meistern kann.

Das war es. Um mehr geht es in diesem Buch nicht.

Wer diese Intention bereits verstanden zu haben glaubt oder wer nichts mit ihr anzufangen weiß oder sie ablehnt, braucht nicht weiterzulesen. Die restlichen Teile dieses Buches liefern lediglich Hintergrundinformationen darüber, wie ich zu meinen Thesen gelangt bin und wie ich sie verstanden wissen möchte.

Einige Hinweise zur Lektüre dieses Buches: Seine Teile sind nach dem Zwiebelschalenprinzip aufgebaut: Jeder weitere Teil liefert Hintergrundinformationen zu den vorangehenden Teilen, und laufend wird – durch die Zwiebelschalen hindurch – auf Abschnitte verwiesen, die weiterführende Information enthalten. Die fundamentale Basis, auf der die vorliegende Analyse aufbaut, wurde bereits in einem anderen Buch gelegt (zunächst nur in Englisch): Schindler, Eckhard (2020): The Brain is a Suitability Probability Processor; A macro model of our neural control system. Die Grundzüge dieses Neuromodells werden unten in Teil 3 dargelegt.

Teil 2 – Der überforderte Superorganismus

Einführung

Der Mensch ist eine eigenartige Spezies. Mit Zuversicht betrachtet, hat er sein Leben sehr weitgehend im Griff. Er entwickelt Kultur, Kunst, Wissenschaft und Technologien und führt ein Leben in Wohlstand und Überfluss. Bei weniger optimistischen Perspektiven bröckelt der Lack. Da ist der Mensch ein überfordertes, verletzliches Wesen, das jederzeit die Kontrolle zu verlieren droht. Da gibt es alle erdenklichen Formen des Scheiterns, wie Streit, Gewalt, Krieg, Armut und Elend, und selbst sein vermeintlicher (wachstumswirtschaftlicher) Erfolg wird dem Menschen zum Verhängnis, wie die Folgen in Form von Atommüll, Artensterben, Klimawandel und allerlei sonstigen negativen Umweltbilanzen zeigen.

Das Tückische dabei ist, dass der Mensch als Familienmensch, Arbeitnehmer, Staatsbürger, Urlauber, Sportler, Vereinsmitglied usw. – wenn überhaupt – in der Regel nur wenig Schaden anrichtet und dass fatale Folgen erst im Rahmen großer oder gar globaler Bewegungen – wie z. B. der einer globalisierten Wirtschaft – zustande kommen. Erst das Zusammenwirken aus Populationsgröße, Technologien und Reichtum hat ernsthafte, in der heutigen Zeit zunehmend fatale Konsequenzen. So gesehen liegt das Problem, das es hier zu analysieren gilt, bei der Menschheit als Ganzes, also beim menschheitlichen Superorganismus, der sich jedoch zugleich in jedem einzelnen Menschen verkörpert und im Kopf eines jeden Menschen widerspiegelt und realisiert. In diesem Buch wird der Mensch als Vertreter und Verantwortungsträger des menschheitlichen Superorganismus betrachtet, und es wird die sich in diesem Zusammenhang besonders fatal auswirkende ambivalente Vernunft aufs Korn genommen – seine Fähigkeit, nahezu alles zu schaffen, was er erstrebt und letztlich auch alles wieder zu verderben oder zu vergiften.

Wir haben es hier mit einem vielschichtigen, nicht leicht zu lösenden Problem zu tun, und in diesem Buch ist es bestenfalls möglich, gewisse Teilaspekte dieses Themas anzusprechen, nicht jedoch, sie vollständig zu analysieren oder fertige Lösungen zu präsentieren. Zunächst wird im vorliegenden (zweiten) Teil die gesellschaftliche Realität der heutigen Zeit einer Analyse unterzogen. Es werden einige rätselhafte gesellschaftliche Phänomene und aktuelle Dilemmata präsentiert, in denen sich die Zerrissenheit des Menschen in besonders fataler Art und Weise zeigt. Es geht um gesellschaftliches Verhalten, geopolitisch-historische Systemzusammenhänge und das ständige Risiko des Scheiterns, das uns auf allen Ebenen unseres Tuns und Handelns begleitet. Dabei ist es nur konsequent, die verschiedenen Eigenarten nicht nur zu beschreiben und im Rahmen des jeweiligen Kontexts zu analysieren, sondern auch die Verbindung zu Naturgesetzen herzustellen, denen Mensch und Gesellschaft womöglich unterworfen sind und die bei der Ausprägung unseres Handelns eine wichtige Rolle spielen könnten. So wartet der vorliegende Teil 2 zu jedem der beschriebenen Phänomene und Dilemmata mit einer Bewertung auf, die sich auf die in den nachfolgenden Teilen 3ff. zusammengetragenen Erkenntnisse und Thesen – jederzeit markiert durch entsprechende Verweise – stützt.

Im dritten Teil wird der Mensch als biologisches, anthropologisch geprägtes Wesen betrachtet. Der Schlüssel zum Verständnis ist dabei am ehesten über die Neurowissenschaften zu erlangen sowie über ihre Verbindungen zu Psychologie, Soziologie und Medizin. In diesen Domänen gibt es viele neue Studien, Theorien und Erkenntnisse, vor allem aber auch noch zahlreiche ungeklärte Fragen – und von einem regelrechten Verständnis des Systems Mensch und Gesellschaft ist man noch weit entfernt. Vorgestellt wird eine Neuromodell-Perspektive, die sich auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse stützt und außerdem einige der unzähligen Erkenntnislücken, die es trotz aller Forschung noch gibt, auf hypothetischer Basis zu schließen versucht.

Viele der Themen, die in Teil 2 und Teil 3 angepackt werden, sind hochkomplex. Um den Stoff bewältigen zu können, muss jedoch versucht werden, sie auf möglichst wenige und verständliche Nenner zu bringen. Das gelingt nur durch die Reduktion bestimmter Sachverhalte auf vereinfachte Formeln. Dabei kann jedoch auf detailliertere Darstellungen nicht gänzlich verzichtet werden, ohne in fatale Oberflächlichkeit abzugleiten. Um die Teile 2 und 3 nicht zu überfrachten, wurden deshalb viele Details in weitere Teile ausgelagert, auf die immer wieder verwiesen wird. So stellt Teil 4 einen Katalog regulatorischer Variabilitätsparameter (RV) zur Verfügung. Teil 5 – „Ausflüge in ausgewählte Quellen“ – hält ausführlichere Analysen zu ausgewählten Spezialthemen bereit. Das wichtigste Spezialthema – das des Neuromodells – wurde, wie bereits erwähnt, in einem anderen Buch aufbereitet (siehe Schindler 2020).

Bei der Komplexität der Themen dieses Buches ist es kaum möglich, zu gestellten Fragen und aufgeworfenen Problemen durchgängig mit evidenzbasierten Aussagen aufzuwarten. Würde man auf weitgehender wissenschaftlicher Seriosität beharren, könnte man dieses Buch eigentlich nicht schreiben. Andererseits kann es auch keine Lösung sein, dem wichtigen Thema des Vernunft- und Intelligenzproblems, das die Menschheit offensichtlich hat, aus dem Weg zu gehen. Also schreiben wir das Buch dennoch und bedienen uns – speziell in Teil 3, mit Bezug auf Schindler 2020 – der Methoden der analytischen Modellbildung, der interdisziplinären Mustererkennung und des wissenschaftlichen Beweislastaufschubs. Analytische Modellbildung meint, viele Wissensbausteine, Thesen und Modelle zu einem abstrakten Gesamt-Erklärungsmodell zu verbinden, welches weitgehend plausibel und konsistent erscheint. Interdisziplinäre Mustererkennung meint etwas Ähnliches, erstreckt sich jedoch in jedem Fall über mehrere (Teil-) Disziplinen und lässt mehr Spielraum für Zwischenschritte, bei denen kein vollständiges, in sich geschlossenes Modell erforderlich ist. Wissenschaftlicher Beweislastaufschub meint, zunächst vom Wahrheitsgehalt aller Einzelthesen auszugehen, abzuwarten, bis ein gewisser Entwicklungsstand eines kohärenten Gesamtmodells vorliegt, diesen wohlwollend nachzuvollziehen und ihn erst dann in seiner Gesamtheit der Notwendigkeit zu unterziehen, bewiesen zu werden. Da das bei einem so komplexen Thema ein äußerst steiniger Weg ist, bleibt zunächst nur die Möglichkeit, das Modell zu verwerfen oder es als unwahre Komplexthese nach bestem Wissen und Gewissen weiterzuentwickeln und zugleich abzuschätzen, inwiefern mit den jeweiligen neuen Versionsständen der Abstand zur Wahrheit eventuell verkleinert werden könnte. Gleichzeitig muss man jederzeit nach Mitteln suchen, mit deren Hilfe die Komplexthese empirisch falsifiziert oder verifiziert werden kann.

An die Art und Weise, wie unser gesellschaftliches Leben abläuft, wie Menschen miteinander und mit der Natur umgehen, haben wir uns gewöhnt. Einiges davon – wie z. B. die Pflege einer Freundschaft oder eines Gartens – ist auch durchaus angemessen. Aber auch anderes, was vielleicht nicht ganz angemessen oder nicht uneingeschränkt angenehm ist – wie z. B. die Einführung und Durchsetzung von Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens oder der großflächige Anbau von Lebensmitteln –, scheint folgerichtig und kaum vermeidbar zu sein. Daneben tut der Mensch allerdings auch viele Dinge, die, wenn man sie sich ausnahmsweise auf der Zunge zergehen lässt, komplett absurd erscheinen. Wieso kann ein vergnüglicher Abend oder eine großartige Fußballveranstaltung in eine Schlägerei münden? Wozu sind Hass, Hetze und Feindschaft gut? Wie konnte es dazu kommen, dass sich Atommüll und Plastikmüll zunehmend verstetigen? Wie kam es zum massiven Einsatz von Herbiziden und Neonikotinoiden und in der Folge zur massiven Dezimierung von Insekten, sonstigen Wirbellosen und Vögeln und wieso kann man das nicht einfach stoppen, nachdem die Folgen bekannt geworden sind? Wozu sind teure Militärtechnologien gut, warum werden Kriege geführt, warum wird den Verantwortlichen Rückhalt statt Ächtung zuteil und warum wird das Führen von Kriegen und Bürgerkriegen nicht mit Kriminalität gleichgesetzt? Was ist eine Zivilisation wert, die von Krise zu Naturkatastrophe, von Naturkatastrophe zu Krieg und von Krieg zu Krise gelebt wird? (siehe hierzu unten Abschnitt „Antworten auf Fragen aus der Einführung“)

Von dieser Warte aus betrachtet, kann man sich nur wundern, was der Mensch für ein absurdes Wesen ist, und man müsste den ganzen Tag schreien vor lauter unerträglichen Schmerzen, wenn man in der Lage wäre, diesen Unsinn in seinem ganzen schändlichen Ausmaß zu realisieren. Doch man kann sich an alles gewöhnen, und man muss es auch, will man mental nicht jede Kraft verlieren. Wie auch immer, hier soll nun versucht werden, dieser unerträglichen Seite des Menschen, diesen tiefen gesellschaftlichen Abgründen, ein wenig nachzugehen. Ein Vergnügen wird das freilich nicht.

Im Zentrum steht die Frage: Warum machen wir solchen Unsinn, aus welcher Quelle speist sich dieses rätselhafte Verhalten des Menschen und wie wäre es abzustellen? Diese Frage pauschal zu beantworten, ist einfach: Der Mensch stinkt vom Kopf her, er ist zu dumm, Kultur so aufzubauen, dass sie nachhaltig funktioniert und es nicht immer wieder zu tieferen Einschnitten kommt. Die Frage, wie sich dieses Kopfproblem konkret realisiert, wie das Gehirn des Menschen funktioniert, wie daraus gesellschaftliches Bewusstsein resultiert und wie neuronal-mentale Mechanismen dazu führen, dass sich die Gesellschaft so merkwürdig entwickelt, wie wir das heute erleben, und nicht anders oder besser, ist hingegen unendlich schwer zu beantworten. Doch genau das soll in diesem Buch versucht werden.

Nun zu ein paar der bedeutenderen rätselhaften gesellschaftlichen Phänomene und aktuellen Dilemmata und ihrer Bewertung im Lichte der Neuromodell-Perspektive des nachfolgenden dritten Teils.

Der Idee, dabei Erkenntnisse herauszuarbeiten, die in gewissem Maß allgemeingültig sind und dem Faktor „Zeit“ standhalten, ist kaum zu genügen, denn es können nur Phänomene betrachtet werden, die in der Zeit bis zur Erstausgabe dieses Buches 2023 zu beobachten waren. Im Verlaufe der weiteren Entwicklung werden sich die Phänomene wandeln, welche die Gesellschaft prägen. Schön wäre es, wenn sich dadurch einige der kritischeren Bewertungen der folgenden Kapitel entkräften ließen. Ebenso gut könnte jedoch auch das Gegenteil eintreten: Neue Zeiten bringen neue Eskapaden mit sich, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen, sodass die Art und Weise, wie menschliches Verhalten im Folgenden bewertet wird, neue Nahrung erhält und sich eine noch viel kritischere Sicht auf die Welt als notwendig erweist.

Rätselhafte gesellschaftliche Phänomene

Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens

Beschreibung

Der Themenkreis Umwelt und Artenvielfalt ist in aller Munde, und es gibt nahezu unendlich viele Quellen und Darstellungsformen. Hier soll vor allem an Matthias Glaubrecht angeknüpft werden, der in seinem Buch „Das Ende der Evolution“ (2019) ein umfassendes Werk zum Thema Biodiversität vorgelegt hat.

Matthias Glaubrecht (2019) spricht vom Menschen als einer „Unkrautart“ (167–171), „der sich wie ein Ökovandale sondergleichen benimmt“ (206), und führt dazu im Weiteren aus:

„Das Dasein an der Pionierfront des Lebens hat den Menschen mit seiner tief in der einstigen Umwelt des afrikanischen Kontinents verwurzelten Vergangenheit maßgeblich geprägt. Und wir verhalten uns weiterhin so, als lebten wir noch immer im Steinzeitalter. Wir sind weiterhin gewohnt, unsere Umwelt zu plündern und uns zu verschaffen, was wir brauchen. Dadurch entstehen heute immense Probleme für uns, unsere Umwelt und die Natur auf der Erde. Wir sehen das vielfach, aber, so scheint es, können kaum etwas dagegen tun. Die Pioniermentalität liegt uns Menschen eben offensichtlich zu sehr im Blut, ist ein universelles Muster unserer ureigenen Natur. Deshalb ist Homo sapiens evolutiv der ewige Pionier mit geradezu selbstmörderischen Eigeninteressen, die es stets zu bändigen galt.“ (207)

Und:

„Wir selbst haben uns im Verlauf unserer Evolution prächtig entwickelt, aber wir taten dies zunehmend auf Kosten unserer Mit-Lebewesen. Mit gegenwärtig mehr als siebeneinhalb Milliarden Menschen sind wir zweifellos eine höchst erfolgreiche Art; zu erfolgreich offensichtlich. Denn wir sind dabei, dadurch eine Vielzahl anderer Arten auszurotten. Die Lebensvielfalt ist in Gefahr, gerade weil wir so erfolgreich geworden sind. Inzwischen dominieren wir jedes Ökosystem auf der Erde. Doch unsere Kinder und Enkelkinder werden auf einem biologisch verarmten Planeten leben müssen, dessen Vielfalt wir ihnen genommen haben.

[…] Wir rasen unaufhörlich und immer schneller weiter, auch weil wir irrigerweise meinen, wir könnten ohne Umwelt und die anderen Arten überleben. Aber wir sind von all diesen Arten abhängig. Es ist die irdische Natur mit all ihren Lebewesen und Lebensfunktionen, die uns mit all dem versorgt, was wir zum Leben und Überleben brauchen. Ohne die Artenvielfalt und ihre Lebensräume wird es nicht nur einsam um uns herum; es wird unmöglich zu überleben.“ (362f.)

Matthias Glaubrecht macht deutlich, dass es nicht nur um die Anzahl der Arten geht, sondern um Biodiversität auf drei Organisationsniveaus (vgl. 363–367): Arten (Artenvielfalt), Gene (genetische Diversität, damit Auslese überhaupt wirken kann), Ökosysteme (Diversität der Lebensräume). Dazu reicht es nicht, jede uns bekannte Tier- und Pflanzenart gewissermaßen auf eine Arche zu retten, sprich in einen Zoo oder ein Reservat, sondern dazu muss man allen bekannten und unbekannten Arten genügend Räume überlassen, in denen sie sich vielfältig entwickeln können, was wir zunehmend unterlassen, weil wir uns trotz unserer Dominanz weiterhin so verhalten, als müssten wir um das Überleben unserer Art kämpfen.

Dabei ist längst klar, dass wir in dieser Hinsicht die absoluten Gewinner sind. Zum Zusammenhang zwischen den biologischen Ressourcen unserer Erde, Ökonomie, Wohlstand und dem Wachstum der Weltbevölkerung schreibt Matthias Glaubrecht unter anderem das Folgende (276f.):

„Was treibt die Weltbevölkerung?

Es mag noch weitere zu betrachten geben, aber hier wollen wir nur vier der wesentlichen Faktoren näher in den Blick nehmen. Nennen wir sie die vier Reiter der Apokalypse, in Anlehnung an jene bereits eingangs erwähnten biblischen Figuren des Untergangs. Diese Reiter sind in unterschiedlichem Maß für die Gefahr einer Überbevölkerung beim Menschen verantwortlich; und zudem in unterschiedlichen Regionen der Erde. Da wäre als der erste Reiter die Geburtenrate, der wichtigste und zentrale Faktor im globalen Süden. Dann als zweiter Reiter die sinkende Sterberate und damit verknüpft die Alterung der Menschen. Diese führt dazu, dass vor allem im globalen Norden, aber nicht nur dort, die gesamte Menschheit gleichsam ergraut. Als ein weiterer Reiter der Bevölkerungsapokalypse – und dies sei ohne Übertreibung und Überzeichnung der Gefahr für unseren Planeten gesagt – sind die wirtschaftliche Entwicklung, also Wachstum allgemein, und die eng damit verknüpfte Frage der Ressourcen und ihres Verbrauchs zu nennen. Schließlich ist ein vierter Reiter von zentraler Wichtigkeit: die Ernährung des Menschen und damit verknüpft die Frage, wie sich unsere Nahrung auch angesichts der Zunahme der Bevölkerung weiterhin sichern lässt oder ob der Hungertod das Wachstum der Menschheit begrenzt. Über die Bewirtschaftung von Land und die Entnahme wesentlicher Ressourcen, angefangen beim Wasser, betrifft das Geschehen um diese beiden letzten Reiter unmittelbar unsere Frage nach der Zukunft der Natur und der Arten.“

Und:

„Zum demographischen Übergewicht der Entwicklungsländer kommt das ökonomische Übergewicht der Industrieländer hinzu.

Das Boot sei voll, ist deshalb oft zu hören. Doch das Boot könnte kentern, nicht weil wir an sich zu viele wären, sondern weil einige viel zu viel wiegen. Nummerisch mag die Bedeutung der Bevölkerung im globalen Norden zwar zurückgehen, doch ökologisch tickt die wahre Bombe dort. Tatsächlich werden im Norden besonders viele Ressourcen verbraucht, Nahrung und Energie verschwendet und die Umwelt belastet. Würden alle Menschen so leben wie brasilianische Urwaldindianer, meinen einige Experten, könnte die Erde 20 bis 30 Milliarden Menschen tragen. Würden alle so viele Ressourcen verbrauchen wie die Einwohner der USA, wäre die ökologische Tragfähigkeit schon heute überschritten.“ (290)

Ferner:

„Global betrachtet lässt sich die eine Antwort auf eine einfache Formel verdichten, die da lautet: weniger Kinder im Süden, weniger Konsum im Norden. Doch das Vertrackte daran, wir haben es gesehen: Ohne wachsenden Wohlstand im globalen Süden wird die Geburtenrate nicht sinken. Eine Zunahme von Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum als Motor wird indes weitere Ressourcen beanspruchen, die nicht endlos zur Verfügung stehen. Keine Frage: Wir sollten uns um den Wohlstand aller Menschen kümmern; nicht nur, weil dann voraussichtlich auch die Bevölkerungszahl abnimmt. Doch schon jetzt überfordert die Menschheit die Natur. Wollen wir dies zukünftig verhindern oder wenigstens vermindern, müssen wir uns in den Industriestaaten beschränken und gleichzeitig den Milliarden Menschen in Asien und Afrika mehr Raum und Möglichkeiten zur Entwicklung lassen, für wenigstens etwas mehr Wirtschaftswachstum. Wie aber wird sich wohlstandsfördernde Entwicklung gerade dort mit der Natur und dem Überleben der Artenvielfalt vertragen?“ (293)

In diesem Zusammenhang sei noch auf einige der (bekannten) schädlichen Nebenwirkungen hingewiesen, die mit der ausufernden Industrialisierung verbunden sind, zu der wir uns auf unserem Erfolgspfad offensichtlich gezwungen sehen. Wir verschmutzen, verseuchen und zerstören die Umwelt in gigantischem Ausmaß. Hier nur einige herausragende Beispiele: Müll ganz allgemein; Atommüll; Plastikmüll, der Kontinente und Weltmeere überzieht; Überfischung der Meere; Bergbau, Ölsandabbau und Fracking zerstören Biotope, Landschaften und Geostrukturen; Intensivlandwirtschaft mit Insektizid- und Neonikotinoid-Einsatz mit weit über die Grenzen der Felder hinausreichenden verheerenden Nebenwirkungen; Vernichtung der Regenwälder; Zerstörung geochemischer Gleichgewichte wie Nitratgehalt in Böden und Gewässern; Versauerung der Meere, CO2-Gehalt der Atmosphäre.

Für mehr Details zu dieser Thematik siehe Teil 5, Kapitel „Evolutionsbiologie“, Abschnitt „E1 – Glaubrecht, M: Das Ende der Evolution“.

Bewertung

Um das Phänomen der Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens bewerten zu können, ist es notwendig, zunächst die kapitalistische Wachstumswirtschaft zu betrachten, ohne die die Umweltprobleme viel geringer wären. Es wird hier also zunächst auf dieses Phänomen eingegangen, um danach die Bewertung unseres Verhaltens in Hinsicht auf Artenvielfalt und Umwelt nicht zuletzt in diesen Zusammenhang stellen zu können.

Kapitalistische Wachstumswirtschaft

Beschreibung

Die kapitalistische Wachstumswirtschaft hat sich mit all ihren Spielarten und Facetten im Wettbewerb der Gesellschaftssysteme der zurückliegenden Jahrhunderte als das erfolgreichste System durchgesetzt. Es wird zugleich hochgepriesen und am meisten gehasst. Realistisch betrachtet muss man feststellen, dass es offenbar das System ist, das unsere Vorfahren und auch wir Heutigen gewollt haben und wollen. Viele andere mögliche Formen der gesellschaftlichen Übereinkunft wurden überlebt (wie z. B. Feudalismus und Merkantilismus), man hat sie ausprobiert und sie konnten sich nicht durchsetzen (wie z. B. der Sozialismus des Ostblocks) oder sie wurden relativ schnell verworfen oder sofort als Utopien abgetan.

Wenn von Kapitalismus die Rede ist, denkt man zuerst an die in der westlichen Welt ausgeprägte Spielart des Wirtschaftssystems. Doch es ist klar, dass es sich inzwischen um ein globales Phänomen handelt, das alle Länder und Gemeinschaften in seinen Bann zieht, nur eben mit teilweise drastisch unterschiedlichen Auswirkungen. Es zeigt sich, dass Kulturen und Mentalitäten in unterschiedlichem Maß kompatibel zu den marktwirtschaftlichen Prinzipien sind. So gelingt es in vielen Ländern des globalen Südens nicht, in gleichem Maß erfolgreich zu partizipieren, wie das im globalen Norden möglich ist. Es gibt Gegenden oder Milieus, in denen sich wirtschaftlicher Status eher über tribalistisch gelebten politischen Einfluss, kriminelle Energie oder militärische Gewalt definiert als über offenen unternehmerischen Wettbewerb. So gibt es Länder, in denen totalitäre Regime die politische Macht und den Löwenanteil des Volksvermögens vereinnahmen, sodass die Prinzipien des Eigentums und des Marktes so sehr verletzt werden, dass erfolgreiches Wirtschaften zum Wohle aller nicht möglich ist (siehe Venezuela oder Nordkorea). Niemand kann sich jedoch dem Bann des globalisierten, kapitalistisch-marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaftssystems entziehen. Alle nehmen teil, und wo man sich dagegen wehrt – z. B. in Form von antikapitalistischer ideologischer Ausrichtung oder in Non-Profit-Organisationen –, führt das viel eher zur systematischen Benachteiligung als zu echten Alternativen.

So gesehen kann man dem globalisierten Wirtschaftssystem nicht entrinnen. Allerdings sollte es möglich sein, es zu entwickeln und dabei unterschiedliche Prioritäten zu setzen. Dabei könnte ein Prozess in Gang kommen, der wiederum zu einer neuen gesellschaftlichen Übereinkunft führte, die man später im geschichtlichen Rückblick als echte Alternative zum Kapitalismus des 20. Jahrhunderts beschreiben dürfte. Doch wie steht es um diese Entwicklungsziele, Prioritäten und Alternativen?

Grundsätzlich könnte man sich ein Wirtschaftssystem wünschen, das von ausreichender Versorgungs-Leistungskraft und Solidität gekennzeichnet ist. Ein System, in dem alle auf ihre Kosten kommen und in dem nicht zu viel riskiert werden muss, um es am Laufen zu halten. Ein System, das allen, die sich bemühen, ein von Zufriedenheit und Glück charakterisiertes Leben ermöglicht. Größere Risiken sind etwas für Menschen, die es mögen, ihr Glück herauszufordern, und die so besser spüren können, dass sie am Leben sind, die nach besonders intensiven Erfahrungen streben. Das ist jedoch nichts für größere Gemeinschaften oder einen Staat oder die globale menschliche Gesellschaft als Ganzes, sollte man meinen. Der Schaden, der entsteht, wenn Risiken eintreten, ist sonst viel zu verheerend, sodass sich diese Art der Orientierung eigentlich verbietet.

Eine auf klugem Wirtschaften, Solidität und Genügsamkeit basierende Art des Glücks ist ganz sicher auch eines der Leitbilder, denen die Menschen heute folgen, leider ist es jedoch nicht das dominierende. In der Realität taumelt die Wirtschaft zwischen Prosperität und Rezession hin und her. Sie ist immer auf der Flucht vor Abschwung und Depression – mit der Konsequenz des ständigen zwanghaften Wachstumswettbewerbs. Sie kennt nur zwei Modi: entweder aufs Ganze gehen oder Verfall und Zusammenbruch. Vielen Volkswirtschaften gelingt es auch, zwischen diesen Extremen längerfristig stabil zu bleiben, doch dieses Gelingen gleicht in der Regel eher einem nervösen Tanz auf Messers Schneide als einem Wirtschaften in ruhigem Fahrwasser. Die Weltwirtschaft ist so aufgestellt, dass jeder Akteur – jedes Unternehmen, jedes Land – ständig um seine Existenz kämpfen muss, um nicht unterzugehen. Das ist oder mutet an wie evolutionärer Wettbewerb auf einer menschengemachten Meta-Ebene.

Der geradezu zwanghafte Wachstumsanspruch oder auch „Wachstumsimperativ“ (vgl. Wiegandt 2013, 75f.) ist charakteristisch für die Wirtschaft (wie auch für die Menschheit). Das ist eine statistisch belegte Tatsache, und die ökonomischen und psychologischen Mechanismen, denen das System folgt, sind wohlbekannt.

Spätestens seit den 1950er-Jahren ist die sogenannte „große Beschleunigung“ („Great Acceleration“) zu beobachten. „Kennzeichnend für die Phase der großen Beschleunigung ist neben der Beschleunigung des Bevölkerungswachstums die Etablierung und Ausbreitung von Massenproduktion und Massenkonsum und damit ein dynamisch steigendes Wirtschaftswachstum.“ (Sommer 2013, 16; vgl. Teil 5, Abschnitt „W1“). Der „gesellschaftliche Stoffwechsel“ beschleunigt sich sowohl auf der Input-Seite, also bei den Ressourcenverbräuchen, als auch auf der Output-Seite, also bei den Emissionen. Beides führt zur signifikanten und teilweise sogar massiven bis existenziellen Beeinträchtigung der Umwelt. Auf der Output-Seite droht, angetrieben von den Multiplikatoren Bevölkerung, Technologie und Wohlstand, die Überschreitung gewisser planetarischer Grenzen. Bereits im Jahr 2009 waren die folgenden planetarischen Belastbarkeitsgrenzen womöglich überschritten: der Verlust an biologischer Vielfalt, der Nitrogenzyklus und der Klimawandel, und seitdem hat sich die Situation noch drastisch verschlimmert. Weitere Grenzen drohen ebenfalls überschritten zu werden, wie der Phosphorzyklus und die Versauerung der Meere. Im Alltag zu beobachten (z. B. in Europa) sind bereits die folgenden alarmierenden Phänomene: Schrumpfung der Gletscher, drastische Verringerung der Zahl der Insekten, Trockenheit, desolater Zustand vieler Wälder und Häufung von extremen Wetterereignissen. (vgl. Sommer 2013, 13–24)

Viele Bürger, Organisationen und staatliche Institutionen bemühen sich um die Umweltthematik, Umwelttechnologien boomen, und ständiges Umdenken, Effizienzsteigerungen und ökologische Transformationen gehören zum Alltag. In der Gesamtbilanz ergibt sich jedoch kein Paradigmenwechsel. Das Wachstum in alle möglichen Richtungen bleibt weiterhin der prägende, die Umweltschäden und -risiken ständig steigernde Faktor. Einerseits ist wohl das Umdenken noch lange nicht radikal genug und andererseits gibt es noch kaum ökologische Optimierungen, deren Wirkung nicht postwendend durch den sogenannten Rebound-Effekt zunichtegemacht worden wäre. So werden die durch Effizienzsteigerungen freigesetzten Spielräume und Mittel regelmäßig für zusätzliches umweltschädigendes Verhalten ausgereizt. Beispiele: Effizientere Motoren beflügeln den Trend zu schwereren Autos, energieeffiziente Kühlschränke oder Heizungen schonen das Familienbudget und machen teurere Urlaubsreisen möglich. Ein wichtiges Indiz für die Dominanz des Wachstumszwangs ist auch die Tatsache, dass Wirtschaft und Handel eher von Modezyklen, Obsoleszenzmanagement und Erneuerungs-Aktionismus gekennzeichnet sind (Letzteres z. T. sogar im Namen der Ökologie) als von nachhaltiger Bewahrung von Gebrauchsgegenständen und Werten sowie von ausgeprägter Ersatzteil- und Reparaturwirtschaft. (vgl. Sommer 2013, 25–27, und Wiegandt 2013, 67–74)

Die Psychologie funktioniert so, dass es absolut gewollt ist, Menschen zu möglichst guten Konsumenten zu machen.

„Schon im Jahr 1955 formulierte Victor Lebow, ein amerikanischer Marketingfachmann, ein neues Konsumleitbild: ‚[...] unsere ungeheuer produktive Wirtschaft verlangt, dass wir den Konsum zu unserem Lebensstil und den Kauf und die Nutzung von Gütern zu einem Ritual machen, dass wir unsere spirituelle Befriedigung und die Erfüllung unseres Selbst im Konsum suchen.‘ (Worldwatch Institute 2010: 49) Dieses Leitbild hat im Laufe der Jahrzehnte seinen Siegeszug um die Welt angetreten und ist längst dabei, auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern Fuß zu fassen. / Um den privaten Konsum zur tragenden Säule des Wirtschaftswachstums zu machen, bedurfte es aber einer Reihe flankierender Maßnahmen, allen voran das Hervorrufen ständig neuer Bedürfnisse beim Verbraucher. […] Die kreativen Möglichkeiten in der Schöpfung neuer oder vermeintlich neuer Bedürfnisse, für die seitens der Verbraucher bisher keine Nachfrage bestanden hatte und deren Befriedigung in der Regel auch keinen Beitrag zur Steigerung der Lebensqualität leistet, wurden daher perfektioniert.“ (Wiegandt 2013, 68)

Siehe auch „Zusammenfassung ausgewählter Inhalte“ und „Bewertung“ in Teil 5, Abschnitt „W1 – Wachstumsgesellschaft“.

Die Idee des glücklichen Wirtschaftens in ruhigem Fahrwasser wird auch durch viele weitere Trends und Systemeigenschaften konterkariert, so durch den Neoliberalismus, mangelnde Steuergerechtigkeit und verschiedene Entgleisungen, wie die beim Verhältnis zwischen Finanz- und Realwirtschaft, bei den Schuldenständen und jene bezüglich des Verhältnisses des Menschen zu seiner Umwelt. Auf jeden dieser Punkte wird nun im Detail eingegangen.

Das Wohlergehen westlicher Demokratien hängt maßgeblich davon ab, dass eine gewisse Machtbalance zwischen Volk, Staat und Markt aufrechterhalten wird. Mit der neoliberalistischen Chicagoer Deregulierungslehre, die sich im Zusammenhang mit der Globalisierung der Wirtschaft als tragendes wirtschaftspolitisches Konzept durchgesetzt hat, hat sich diese Machtbalance jedoch verschoben. Laut Colin Crouch (2011) führte diese Lehre zur Abkehr von einer Vielfalt konkurrierender Anbieter, nahezu perfekten Märkten und reichhaltiger Wahlfreiheit für die Konsumenten zugunsten einer Herangehensweise, der zufolge die Konsumentenwohlfahrt, niedrige Preise und wachsender Wohlstand vor allem durch Großkonzerne gewährleistet werden können (vgl. 38f.). Zur Frage der Einkommensverteilung wurde nun darauf verwiesen, dass das „kein Problem der Ökonomie, sondern eine Angelegenheit der Politik“ sei und „daß das Vermögen der Reichen zu großen Teilen ‚nach unten durchsickere‘, sich also von selbst verteile“ (vgl. 94f.; Stichwort: „Trickle-down-Effekt“).

Der Umstand, dass mit dieser Lehre rigoros auf maximale Entfaltungsmöglichkeiten für Großkonzerne gesetzt wurde und dass dies darüber hinaus im Zusammenhang mit der Globalisierung geschehen ist, hatte weitreichende Konsequenzen für die Art, wie sich Machtgleichgewichte einstellen und wie Märkte funktionieren. Die Machtbalance wird nicht mehr nur zwischen Volk, Staat und Markt aufgeteilt, sondern mit den transnationalen Großkonzernen ist ein vierter maßgeblicher Faktor ins Spiel gekommen, der sich den üblichen marktwirtschaftlichen und machtpolitischen Gesetzmäßigkeiten entziehen darf (vgl. Crouch 2011, 137–140). Aus der üblichen wechselseitigen Abhängigkeit ist eine eher einseitige Abhängigkeit der Staaten von den Großkonzernen geworden. Der Wettbewerb zwischen Unternehmen, der durch den Staat reguliert wird, hat sich erweitert um einen Wettbewerb der Standorte, bei dem sich Staaten den globalen Playern anzudienen haben. So können sich die Letzteren über viele der üblichen Regularien – wie z. B. Kartellrecht, Steuergesetzgebung (siehe auch unten „Mangelnde Steuergerechtigkeit“), Wirtschaftsrecht (siehe Investitionsschutz bei Freihandelsabkommen) oder Umweltschutz (siehe Monsanto etc.) – hinwegsetzen und als dominanter Faktor die Weltpolitik vor sich hertreiben.

Diesem Trend könnten sich Staaten auch entgegenstemmen, das allerdings nur, wenn sie es schaffen würden, der florierenden globalisierten Wirtschaft eine solide globalisierte Politik entgegenzusetzen. Davon kann jedoch nicht die Rede sein. Zarte Ansätze zur gemeinsamen politischen Willensbildung werden regelmäßig durch wirtschaftliche, militärische, nationalistische und ideologische Egoismen konterkariert. Gemeinsamkeiten werden bejaht, aber Machtpolitik hat Vorrang. Dass man sich auf diese Weise nur umso mehr zum Spielball der größten transnationalen Konzerne macht, wird übersehen oder hingenommen. Das Gedeihen dieser Konzerne ist der Schlüssel zu allem. Ohne sie gibt es keinen funktionierenden Staat, keinen Wohlstand und keinen Frieden, und weder Wähler noch Konsument haben die Wahl, dieses Prinzip infrage zu stellen, weil der Preis gegenwärtig einfach zu hoch wäre.

Wodurch werden die uns dominierenden Großkonzerne jedoch gesteuert? Hier gilt das Prinzip der „Maximierung des Shareholder value“ (Crouch 2011, 154). Und das hat längst nichts mehr mit Werten („values“) zu tun, die sorgfältig gemehrt werden wollen, sondern es geht (primär) nur noch um kurzfristige Aktienhandelsgewinne und um einen Nährboden für eine globale Finanzwirtschaft, die sich längst von der Realwirtschaft losgelöst hat (siehe auch unten „Verschiedene Entgleisungen“). Das ist mittlerweile ein System, das sofort zusammenbrechen würde, falls der irrationale Glaube daran verloren gehen würde. Dieser Glaube ist heute viel stärker als jede Weltreligion, weil wir es uns – auch ganz ohne Glaubensbekenntnis – nicht leisten können, von ihm abzufallen.

Siehe auch „Zusammenfassung ausgewählter Inhalte“ und „Bewertung“ in Teil 5, Abschnitt „W3 – Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“.

Mangelnde Steuergerechtigkeit herrscht vor allem auf dem globalen Parkett vor. Laut Saez und Zucman (2022) wurde in den USA in der Roosevelt-Ära und in den nachfolgenden Jahrzehnten in beeindruckender Weise demonstriert, dass ausgeprägte und hoch solidarische Steuerprogression wunderbar mit kapitalistischem, profitorientiertem Wirtschaften verträglich ist. In einem politischen Klima, das von dem Bestreben geprägt war, Demokratie, Gemeinwohl und Internationalismus zu stärken und die Herausforderungen der großen Depression und des Zweiten Weltkriegs zu meistern, galten quasikonfiskatorische Spitzensteuersätze als erstrebenswert. „Zwischen 1944 und 1981 betrug der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer im Durchschnitt 81 Prozent.“ (vgl. 64f.) Doch dann folgte aus der Globalisierung die unaufhaltsame Auflösung dieses Konzepts – es kam zum „Triumph der Ungerechtigkeit“. Der Wettbewerb der Steueroasen hat Steuerbehörden und Steuerpolitik weltweit so nachhaltig eingeschüchtert, dass ein solidarischer Grad der Steuerprogression als undurchführbar gilt. Wähler, Politiker und Steuerbehörden sind vor den Möglichkeiten, die sich in der heutigen globalisierten Welt zur Kapitalflucht bieten, nachhaltig eingeknickt, und der Kampf zur Wiederherstellung der Balance zwischen dem Steuern zahlenden Durchschnittsbürger und den erfolgreich Steuern vermeidenden Großkonzernen und Superreichen ist schier aussichtslos. (vgl. Saez und Zucman 2022, 100–148)

Besonders schlimm sind dabei auch die Auswirkungen unter dem Machtaspekt. So führt die heutige Realität der Steuersysteme zu extremen Kapital- und damit auch Machtkonzentrationen in wenigen Händen. Im Sinne der großen Mehrzahl der Bürger und Wähler kann das nicht sein. Indem der Staatsbürger und Souverän im Zusammenhang mit der Abgabe seiner Wählerstimme und mangelndem politischem Engagement fatal auf die Herstellung von Steuergerechtigkeit verzichtet, gibt er die Macht, die ihm eigentlich gebührt, sehr weitgehend aus den Händen. Indem er den Steuerflucht-Wettbewerb zulässt, setzt er sich einem System aus, das seinem Souveränitätsanspruch nur zuwiderlaufen kann.

Dabei geht es auch anders. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Wie man eventuell aus der Steueroasenfalle wieder herauskommen könnte, ist in Saez und Zucman (2020) sehr eindrücklich beschrieben. Mehr dazu siehe in Teil 5, Abschnitt „W2 – Der Triumph der Ungerechtigkeit“.

Nun zu den verschiedenen Entgleisungen, die im Zusammenhang mit dem globalen Finanz- und Wirtschaftssystem zu beobachten sind. Das Verhältnis zwischen Finanz- und Realwirtschaft ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Die Realwirtschaft ist derjenige Faktor, der uns den Wohlstand bringt. Nur dieser Teil der Wirtschaft ist es, der unsere Bedürfnisse befriedigen kann. Die ursprüngliche Berechtigung der Finanzwirtschaft besteht darin, die Realwirtschaft zu unterstützen, indem sie Handel, Risikoausgleich und Investitionen ermöglicht. Dazu scheint es sinnvoll, ein gewisses Gleichgewicht zwischen beiden Teilen der Wirtschaft zu wahren. Doch davon sind wir weit entfernt. In Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2020, basierend auf Sony Kapoor 2011, 30) wird z. B. festgestellt (7f.): „Die Globalisierung der Finanzwirtschaft hat ein größeres, schnelleres und internationaleres Finanzsystem hervorgebracht. Der Umsatz auf Finanzmärkten ist von rund dem 15-fachen des weltweiten BIP 1990 auf fast das 70-fache des weltweiten BIP im Jahr 2007, kurz vor Ausbruch der Krise, gewachsen. Verantwortlich dafür war eine Erhöhung der Transaktionsgeschwindigkeit und der gesamten im Umlauf befindlichen Werte. Nach Angaben der BIZ-Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hat allein das Derivategeschäft vom 10-fachen des weltweiten BIP in 1990 auf über das 55-fache des weltweiten BIP bis heute zugenommen.“ Also haben wir es hier mit einem System zu tun, das gigantische finanzwirtschaftliche Handelswerte auf der Basis vergleichsweise geringer realer Werte erzielt.

Eine derart hochgradig virtualisierte Finanzwirtschaft, die sich von realen Werten sehr weitgehend entkoppelt hat, ist ein doppelt riskantes Spiel. Erstens verkehrt sie den Marktmechanismus ins Gegenteil und trägt so das Risiko der Blasenbildung und entsprechender Zusammenbrüche umso stärker in sich, je mehr sie realer Werte entbehrt. Laut Heiner Flassbeck (2012) beseitigen normale Märkte Knappheit, während Finanzmärkte Knappheit schaffen und zu Preiserhöhungen tendieren. Es wird der Investor belohnt, dem es gelingt, andere in einen Markt zu locken und als Erster wieder auszusteigen (vgl. 14). Dieter Schnaas (2013, Teil 2) schreibt dazu: „Die ‚Entkopplung‘ der Finanzmärkte von der so genannten Realwirtschaft ist unbedingt gewollt, ja: zwingende Voraussetzung dafür, dass das Wohlstandsversprechen überhaupt noch einigermaßen aufrechterhalten werden kann.“

Zweitens gerät auf diesem Weg die Realwirtschaft zunehmend zum bloßen Anhängsel der Finanzwirtschaft. Wenn die Finanzwirtschaft nicht wie geölt funktioniert, kann die geringste Unregelmäßigkeit ganze Volkswirtschaften oder die Weltwirtschaft in die Krise ziehen – mit möglichen Konsequenzen wie wirtschaftliche Not, Versorgungsengpässe, Zusammenbrüche von Märkten und Währungen, Inflation, politische Zerstrittenheit, Nationalisierung, Tribalisierung, verstärkte Kriminalität, Radikalisierung und Krieg. Aus diesem fatalen Risiko-Kaleidoskop resultiert letztlich der Zwang, die Finanzwirtschaft zu pflegen und zu nähren, wie ein besonders liebgewordenes Kind oder wahlweise wie ein Monster, das uns sonst jederzeit zu verschlingen droht. Hierbei handelt es sich längst um eine globalwirtschaftliche Entgleisung, die völlig außer Kontrolle geraten ist und bezüglich der das mögliche Streben, sie zu beheben, in ferner Zukunft liegt, wahrscheinlich nicht vor der nächsten ernsthaften Weltwirtschaftskrise.

Hierzu sei auf „Zusammenfassung ausgewählter Inhalte“ und „Bewertung“ in Teil 5, Abschnitte „W4 – Finanzmärkte, Effizienz und Wohlstand“, „W5 – Verhältnis zwischen Finanz- und Realwirtschaft“ und „W6 – Krise? Welche Krise?“ verwiesen.

Schulden und insbesondere auch Staatsschulden sind ein wichtiges Instrument, um Wirtschaft und Konsum anzukurbeln. Wenn man es damit übertreibt, kann das jedoch auch zu Abschwüngen, wirtschaftlicher Lähmung, Krisen und Generationenungerechtigkeit führen. Darin, hierbei das richtige Gleichgewicht zu wahren, liegt die Kunst. Womöglich kommt diese Kunst jedoch zunehmend aus der Mode. Dieter Schnaas (2013, Teil 2) spricht in diesem Zusammenhang von „Schuldfabriken, in denen wie am Fließband (Anti-) Geld produziert wird“ sowie von der „permanenten Verzeitlichung“ der Schulden. Die Europäische Zentralbank hat mindestens bis 2021 in nie da gewesenem Umfang Geld gedruckt und Staatsanleihen aufgekauft, sodass Europa unter den Niedrigzinsen ächzte, wobei dies alles nur dem einen Vorteil diente: dass stark überschuldete Staaten vorläufig dem Bankrott entgingen. In anderen Wirtschaftsräumen, wie z. B. dem nordamerikanischen oder asiatischen, herrschten zur gleichen Zeit andere Verhältnisse, die aber nicht unbedingt besser waren.

Doch es geht nicht nur allein um die Frage, wie gesund oder krisenschwanger die Wirtschaft ist, sondern es geht um viel mehr. Aus einer stark auf Schulden basierenden Art zu wirtschaften folgt auch eine weitere Konsequenz, die vielleicht noch viel wichtiger ist als der Bauchnabel des Wirtschaftssystems. Das Schuldenproblem wird dadurch sehr stark abgemildert, dass die Wirtschaft ständig wächst und dass sich dadurch und durch kontinuierliche Inflation die Schulden von heute in der Zukunft relativieren. Dass man heute mit Staatsschulden nicht so zurückhaltend wie „eine schwäbische Hausfrau“ umgehen muss und kann, hat unter anderem etwas damit zu tun, dass dieser abmildernde Faktor bereits einkalkuliert wird. Genau das ist jedoch auch ein wichtiger Grund, warum es schier unmöglich ist, die Wachstumswirtschaft zu stoppen oder zumindest auf den Teppich zurückzuholen. Die Art zu wirtschaften ist heute so gepolt, dass man nur aufs Ganze gehen kann oder sich dem Verderben preisgibt. Und das heißt: weiteres gnadenloses Wirtschaftswachstum, Steigerung der Ressourcenverbräuche und Emissionen, Steigerung des Konsums und des Wohlstandes, weitere Beschleunigung aller Prozesse. Wenn man das jedoch stoppen wollte, müsste unter anderem auch der Staatsschuldenkapitalismus einer entsprechenden Revision unterzogen werden. Angesichts der Tatsache, dass die kapitalistische Wachstumswirtschaft bereits mit ihrem eigenen Nabel nicht zurechtkommt, scheint es paradox, von ihr diese Mehrleistung zu verlangen. Aber vielleicht wartet das System ja auch auf eine neue Sinngebung, die einige der bestehenden Gleichgewichtsverhältnisse und Trends abwandelt und so unser Wirtschaftssystem trotz komplett neuer Anforderungen in die Zukunft rettet – wie auch immer das möglich sein sollte.

Siehe auch „Zusammenfassung ausgewählter Inhalte“ und „Bewertung“ in Teil 5, Abschnitt „W6 – Krise? Welche Krise?“.

Das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt scheint im heutigen Kapitalismus teilweise einer merkwürdigen Logik zu folgen. Normalerweise würde man davon ausgehen, dass die Natur uns viele Reichtümer bereithält, die wir in gewissem Ausmaß für uns nutzen können, wobei jedoch die Gefahr der Übernutzung besteht, der wir klugerweise zu begegnen hätten. Das Denkmodell, dass es uns gnädigerweise erlaubt ist, im Schoß der Natur (oder wahlweise der Schöpfung) zu gedeihen, impliziert die Erkenntnis, dass es klug sein könnte, diesen Schoß gleichzeitig zu schonen, so gut es geht. Dass dem nicht so ist, sondern, dass offenbar ein Denken weitverbreitet ist, gemäß dem wir im Schoß der Wirtschaft leben, sodass es klug sein müsste, vom Nabel der Wirtschaft auf die Natur zu schauen, zeigt sich unter anderem am sogenannten Coase-Theorem. Folgt man diesem Theorem, so spielen externe Effekte, also Umwelteffekte, nur insofern eine Rolle, als andere Marktteilnehmer geschädigt werden. Klöckner (2013) wartet dazu unter anderem mit den folgenden Statements auf:

Das Coase-Theorem „beschreibt, wie sich Verursacher und Betroffene von externen Effekten einigen können, wenn der Marktmechanismus versagt. Coase legte damit den Grundstein für die Umweltökonomie.“

„Die Ideen von Coase sind ein wichtiger Baustein der Umweltökonomie und wissenschaftliche Grundlage des Emissionshandels in der Europäischen Union, also des Handels mit CO

2

-Verschmutzungsrechten für Unternehmen.“

„Umweltschäden sind in der Gedankenwelt des Coase-Theorems nicht per se schlecht, sondern haben durchaus einen wirtschaftlichen Nutzen – den Output der Fabriken und den damit zusammenhängenden Wohlstand. Aus Umweltgründen geschlossene Fabriken kosten Umsatz und Arbeitsplätze – und die Technologie, die nötig ist, um CO

2

zu vermeiden, ist für das Unternehmen mit hohen Kosten verbunden.“

„Coase hat mit seinem Theorem ein ökonomisches Instrument für die goldene Mitte geliefert.“

Bezeichnend ist, dass dabei die Natur an sich als Faktor, der möglicherweise zu berücksichtigen wäre, keine Rolle spielt.

Mehr Details siehe unter „Zusammenfassung ausgewählter Inhalte“ und „Bewertung“ in Teil 5, Abschnitt „W7 – Das Coase-Theorem – Die guten Seiten der Umweltschäden“.

Bewertung

Darüber, ob die in diesem Abschnitt beschriebenen Phänomene echte Probleme sind oder ob sie es überhaupt verdienen, ihnen besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, kann man streiten. Aus gewissen und vielleicht gerade explizit diesseitigen Perspektiven betrachtet, handelt es sich womöglich um Panikmache und Alarmismus, wenn man derartige Themen hervorhebt und darauf hinweist, dass in diesen Zusammenhängen signifikante Ungleichgewichte, Entgleisungen oder besondere Risiken vorliegen. So sei mir bitte verziehen, dass ich mich dieser Art der Diesseitigkeit nicht anschließen möchte, sondern sie als Teil eines menschheitlichen Intelligenz- und Vernunftproblems betrachte. Doch dazu später (siehe „Bewertung“ im folgenden Abschnitt).

Außerdem gibt es sehr viele Perspektiven, aus denen heraus der Kapitalismus als ausgesprochen kritikwürdig gilt. Entweder wird er als System abgelehnt, oder man verweist auf viele Punkte, in denen er verbessert oder reformiert werden müsste. Hier sind insbesondere linke und grüne Positionen zu erwähnen, aber der Kapitalismus ist auch generell, in allen Kreisen, ein System, an dem man sich gerne reibt. Das ist definitiv ein interessantes Themenspektrum, aber auch diese üblichen Formen der Kapitalismuskritik sollen hier nicht als Ausgangspunkte dienen.

Vielmehr geht es um eine Verbindung zur Neuromodell- und Psychologie-Ebene, die in Teil 3 des Buches aufbereitet wird. Aus diesem Ansatz ergibt sich vor allem die Frage, wie gut unsere dominierende Gesellschaftsordnung mit Positionen der Vernunftintelligenz und der regulatorischen Variabilität als vereinbar gelten könnte. Mit dieser Herangehensweise, so viel kann an dieser Stelle schon gesagt werden, ergibt sich eine gemischte Bilanz für das System an sich sowie eine definitiv fragwürdige für den Gebrauch dieses Systems durch seine Betreiber.

Nimmt man die Fiktion des glücklichen Wirtschaftens in ruhigem Fahrwasser einmal zum Ausgangspunkt, so hat sich gezeigt, dass der Kapitalismus grundsätzlich wie auch partiell ganz offensichtlich dazu in der Lage ist, seinen Betreibern einen solchen Dienst zu erweisen – es hat schlicht und einfach in bestimmten (reichen) Ländern Phasen gegeben, in denen man von einer Annäherung an diese Fiktion oder an dieses eine Ideal von vielen möglichen sprechen kann. Zumindest kann es sein, dass einige Zeitgenossen in der Retrospektive erzählen mögen, dass sie dieses System für eine Zeit lang genau so – als erfüllend, glücklich machend und gute Perspektiven bietend – erlebt haben. Außerdem sind diese Gesellschaftsordnung und die Art, wie sie heute ausgestaltet wird, Produkte des Wettbewerbs der Gesellschaftssysteme, und viele Generationen haben daran mitgearbeitet und mit optimiert, sodass dieses gigantische Stück strukturierter Komplexität (siehe „Strukturierte und akute Komplexität“ in Teil 3) in vielerlei Hinsicht extrem leistungsfähig und tendenziell sozial friedensstiftend sein kann, wenn zufällig gerade keine größeren Pannen auftreten. So gesehen ist dieses System von großem und unschätzbarem Wert für uns, den wir vermutlich erst ermessen können, wenn wir seine Gunst verloren haben (oder wenn wir irgendwann merken, dass sie bereits heute längst dahin war).

Nun zur Kritik aus der Neuromodell-Perspektive gemäß Teil 3. Da muss man zunächst fragen, ob der Mensch sein Tun steuert bzw. in welchem Grad von zielbewusster Regulierung die Rede sein kann oder in welchem Grad er eher von irgendwelchen Einflussfaktoren geritten wird. Dazu kann man festhalten, dass der Mensch gewiss eine kritisch denkende und alles hinterfragende Spezies ist, die sehr geschickt alle möglichen Umwege zur risikobewussten Bedürfnisgestaltung und -befriedigung zu beschreiten vermag. In einem bestimmten Rahmen oder in seinem konkreten Lebensumfeld agiert jeder von uns aufmerksam und zielorientiert. Was ist jedoch der Rahmen, inwiefern hat er Einfluss auf unsere Zielfindung, wie stark ist dieser Einfluss und wie realisiert er sich? Dazu kann man nur feststellen, dass natürlich das System einen großen bzw. eigentlich sogar maßgeblichen Einfluss auf die Zielfindung hat, ja haben muss. Das System, in dem wir in der westlichen Kultur leben, besteht im Wesentlichen aus der Kombination aus kapitalistischem Wirtschaftssystem und den politischen Systemen der Staatswesen. Es verkörpert, wie gesagt, ein gigantisches Stück strukturierte Komplexität, das von unseren Vorfahren und Zeitgenossen errungen wurde und sich in einem evolutionären Wettbewerb durchgesetzt hat, so wie es in den heute üblichen Varianten auf der ganzen Welt betrieben wird. In diesem Zusammenhang kann man feststellen, dass die Zielfindung das Werk vieler Menschen ist, die alle auch ständig um Alternativen ringen und dabei Sinn, Zweck und Auswirkungen hinterfragen. Doch das ist ein Prozess, der im jeweiligen Alltagskontext (Beruf, Hobbys, Familie, politisches Engagement etc.) seinen Lauf nimmt, und es gibt übergeordnete Metaprozesse, die auf die konkreten (Mikro-) Zielfindungsprozesse zurückwirken und diese bestimmen. So gesehen muss man fragen, welchen Prinzipien das ganze System folgt, dem wir uns aussetzen, und in welchem Grad wir diese obersten Prinzipien bewusst kontrollieren oder sie uns mehr oder weniger zwanglos im Griff haben.

Und in dieser Frage kann man zunächst Folgendes feststellen:

Es gibt einen Wachstumsimperativ, dem wir uns nicht entziehen können. Die kapitalistische Wirtschaft kommt regelmäßig in Bedrängnis, wenn das Wachstum nachlässt, also ist man, solange man diesem System und gewissen, heute essenziell scheinenden Paradigmen folgt, klüger beraten, ständig nach Wachstum zu streben. Dann geht es unserer Wirtschaft, unseren Staatswesen sowie den einzelnen Bürgern scheinbar am besten.

Psychologisch unterwerfen wir uns dem Paradigma, dass ständig möglichst viele neue Bedürfnisse hervorzurufen sind, dass Produkte ausdifferenziert werden müssen, sodass jeder viele Varianten von allen möglichen Produkten persönlich besitzen muss (wo früher wenige Alltagskleider und ein Sonntagsanzug reichten, sind heute Kleiderschränke und Regale voller modischer Kleidung für alle möglichen speziellen Kontexte der Standard; wo früher ein TV oder PC genügte, ist heute die Kombination aus Notebook, Smartphone, Tablett, Smart-TV, Disk Station und LAN/ WLAN üblich). Im Einzelnen haben wir die Wahl, was wir davon benötigen. Doch übergreifend und statistisch gesehen unterwerfen wir uns den psychologischen und ökonomischen Prinzipien der marktwirtschaftlichen Werbewirtschaft. Wenn ein saturierter Verbraucher womöglich nicht mehr für alle Modetrends zu haben ist, folgen junge, naive Mitmenschen den neuesten Hypes umso eifriger (oder sie machen sie), sodass er am Ende nur die Wahl hat, sich anzuschließen.

Beide Faktoren gehören zum gewollten Prinzip der ständigen Verkomplizierung künstlicher Bedürfniswelten. Nun könnte man sich noch fragen, ob dieser Prozess nicht insofern ein bewusster Prozess ist, als wir und insbesondere einige einflussreichere Mitmenschen sowie die Masse der Verbraucher wenigstens dahin gehend die Kontrolle haben, dass wir bestimmen, welche konkreten Bedürfnisse sich durchsetzen. Von Kontrolle kann hierbei tatsächlich gesprochen werden, andererseits aber auch nicht. Gewiss, die Ausgestaltung der Ziele (Produkte, kulturelle Güter, wissenschaftliche Neugier) und der Wege, wie diese Ziele zu erreichen sind (Technologien, Logistik, Design, Forschung), fordert viel Kreativität und Engagement von allen Beteiligten und es werden viele Wunder wahr. Andererseits ist die konkrete Ausgestaltung bedeutungslos, wenn man fragt, vor welchem konkreten Hintergrund sie passiert, welchen obersten Prinzipien sie folgt und wo das ganz grundsätzlich hinführt. Und hier kommt man zu einem Punkt, an dem sich zeigt, dass nahezu keine Kontrolle vorhanden ist und kritisches Hinterfragen, wenn es überhaupt erfolgt, regelmäßig wirkungslos ins Leere läuft. Mit Bezug auf die oben beschriebenen Phänomene reichen wenige Stichworte, um das zu illustrieren: Shareholder-Values, Globalisierungsphänomene, Entgleisungen.

Der Begriff Shareholder-Value klingt so, als wenn es um Werte ginge, nicht zuletzt im Sinne von „value-guided decision making“ (siehe „Konzepte der Vernunftintelligenz“ in Teil 3