Der historische Jesus - Johannes Neumann - E-Book

Der historische Jesus E-Book

Johannes Neumann

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Beschreibung

Die Faszination des Jesus von Nazareth liegt nicht zuletzt darin, dass er immer wieder für Überraschungen gut ist. Die Ergebnisse dieser neuen Untersuchung: Jesus wurde 20 v. Chr. in Bethlehem geboren und am Hof Herodes des Großen erzogen. Er gewann den Herodessohn Antipas zum Freund und wurde 6 n. Chr. dessen Verwalter in Galiläa. Nach dem Vorbild Roms schufen Jesus und Antipas in Galiläa eine ideale Gesellschaft, in der Wohlstand und Rechtssicherheit herrschten: ein irdisches Reich Gottes. In der Krise der Jahre 35/36 n. Chr. nahm Jesus an einem Aufstand gegen die Römer teil und wurde zum Messias ausgerufen. Nach der Niederlage bot er sich dem Pilatus als Opfer an, um das Leben der Aufständischen zu retten. Der Historiker und Theologe Johannes Neumann hat alle verfügbaren antiken Quellen ausgewertet und eine beeindruckende und gut dokumentierte Geschichte des Jesus von Nazareth geschrieben.

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Johannes Neumann, geboren 1949, studierte 1968-1973 evangelische Theologie in Leipzig und Berlin, 1975-1979 Geschichte in Mainz und Hamburg. 1993-2019 war er als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in eigener Kanzlei in Radebeul bei Dresden tätig.

Neumann, Johannes: Der historische Jesus. Die Biographie, die Botschaft, die Überlieferung. 1. Auflage 2022

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Die Biographie

1.1.

Sohn Davids?

Familie und soziale Prägung

1.2.

Der zwölfjährige Jesus:

Ausbildung und kulturelle Prägung

1.3.

Und zeigte ihm alle Reiche der Welt:

Der Statthalter

Die Botschaft

2.1.

Das Reich Gottes:

Eine Monarchie nach dem Vorbild des Augustus

2.2. Wo

ist der neugeborene König der Juden?

Messias Antipas

2.3.

Der barmherzige Samariter:

Augustus und Antipas

2.4.

Ich bin der Weg:

Der selbstbewusste Aristokrat Jesus

2.5.

Imitatio Augusti:

Das Vaterunser - ein Fürstenspiegel

2.6.

Auf dass mein Haus voll werde:

Die neue Hauptstadt Tiberias

2.7.

Der verlorene Sohn:

Erinnerungen an Ovid

2.8.

Und als er allein war, fragten ihn die, die um ihn waren:

Die esoterische Lehre Jesu

Die Passion

3.1.

Als die Zeit erfüllt war:

Der geschichtliche Hintergrund

3.2.

Die es von Anfang an selbst gesehen haben:

Die Quellen

3.3.

In den Dörfern von Caesarea Philippi:

Der Messias

3.4.

Der König der Juden:

Der Aufstand

3.5.

Für uns gestorben:

Das Ende des Aufstands

3.6.

Soll ich den Kelch nicht trinken?

Jesu Rolle im Aufstand

Das Urchristentum

4.1.

Der Herr hat mit gezeigt, dass er des Todes sterben wird:

Das Ende der Feinde Jesu

4.2.

Wir hielten ihn für den, der von Gott geschlagen war:

Jesus im Alten Testament und im Frühjudentum

4.3.

Auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen:

Die Nachfolger des Messias

4.4.

Der Kult von Eleusis

und die Auferstehung Jesu

4.5.

Mutterkornzeremonien

und die Ausgießung des Geistes

4.6

Der geringste unter den Aposteln:

Paulus

4.7.

Gaben uns Jakobus, Kephas, Johannes die rechte Hand:

Das Apostelkonzil

4.8.

Ich bin Joseph, euer Bruder:

Das Frühjudentum nach dem Jüdischen Krieg

4.9.

Niemand als Petrus, Jakobus, Johannes:

Das Urchristentum nach dem Jüdischen Krieg

Herrscherkult, Volksfrömmigkeit, Gemeindeorientierung - Wie das Christentum entstand

Ergebnisse

Nachwort

Anhang

A1 Karten, Tabellen

A2

Was kann aus Nazareth Gutes kommen:

Rekonstruktion, Chronologie, Zeittafel

A3

Die Mitte der Schrift:

Eine Leserlenkung in den biblischen Schriften

A4

Kein Zeitalter kann uns zur Dunkelheit verdammen:

Das Evangelium des Markus

A5

Wir wollen drei Hütten bauen:

Die Quellen des Markus-Evangeliums

A6

Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel

Die Apostelgeschichte des Lukas

A7

Und sie riefen vor ihm her ABREK:

Wie alt ist das Alte Testament?

A8

Der Spielverderber.

Flavius Josephus und die Karikatur der christlichen Heilsgeschichte

A9

Wir haben seinen Stern gesehen:

Der Stern von Bethlehem und die antike Astrologie

Exkurs:

Das Thema der Bücher 2. bis 4. Mose

Literatur

Register (ohne Anhang)

Autoren

Personen und Sachen

Stellen

Vorwort

Mit diesem Buch stelle ich die Ergebnisse meiner lebenslangen Beschäftigung mit der Frage der Entstehung des Christentums vor. Angefangen hat es mit den kritischen Fragen des Jugendlichen, wie man sich Auferstehung, Zungenreden und ähnliche Dinge vorstellen soll. Weitergegangen ist es mit dem Studium der biblischen Sprachen und der evangelischen Theologie, insbesondere der exegetischen Fächer des Neuen und des Alten Testaments. Später kamen durch das Studium der Geschichte und der Alten Geschichte ganz neue Gesichtspunkte hinzu. Dazwischen lagen Beschäftigungen mit Philosophie und Wissenschaftstheorie, danach folgte die Beschäftigung mit der klassischen Philologie und der antiken Literatur und ihren intertextuellen Bezügen zu den biblischen Schriften. Dann folgte berufsbedingt eine lange Pause mit nur gelegentlicher Beschäftigung mit dem Thema. Vor wenigen Jahren kehrte ich zum Thema zurück, es war ein Neueinstieg, mehr ein Seiteneinstieg ohne das drückende Gewicht theologischer Lehrtradition.

Es war eine befreiende Erfahrung, sich Themen und Arbeitsweise von Neugier und nicht von theologischem Rechtfertigungsdruck vorgeben zu lassen. Historische und psychologische Plausibilität und ein neues, von theologischen Vorgaben freies Denken und Fühlen machten allmählich immer neue Einsichten möglich. Lessings garstiger historischer Graben zwischen der Gegenwart und vergangenen Zeiten und die Einsicht in die Differenz zwischen der Literatur als einer fiktiven Welt und der realen Vergangenheit ermöglichten notwendige Differenzierungen. Der Abschied aus dem Berufsleben eröffnete ein Zeitfenster für die erneute intensive Beschäftigung mit dem Thema. Erstaunt und erfreut konnte ich feststellen, dass meine bisher erarbeiteten Grundsatzentscheidungen und der methodische Schlüssel weitere Antworten ermöglichten.

Herausgekommen sind ein neues Konzept zur Beantwortung der Frage nach der Entstehung des Christentums und eine detaillierte Darstellung der Ereignisse. Eine Auseinandersetzung mit der gelehrten Literatur erübrigte sich weitgehend wegen des grundsätzlich neuen Ansatzes. Der Laie wird sie nicht vermissen, der Fachmann wird keine Mühe haben, die Differenzen und ihre Ursachen zu erkennen, er sieht am Literaturverzeichnis, welche Literatur ich benutzt habe. Zum besseren Verständnis habe ich eine Reihe von Karten und Tabellen beigefügt, in den Anhängen habe ich Überlegungen zu Einzelfragen vorgestellt. Auch wer mit dem Gesamtkonzept nicht einverstanden ist, wird, so hoffe ich, die eine oder andere Anregung finden, die ein Weiterdenken lohnt.

Zu meinem Bibelblog bibel-blog.com und bibleblog-en.com (Englisch), der seit dem Reformationsjubiläum 2017 läuft, habe ich viel Zuspruch erfahren. Ich freue mich, hier eine ausführliche Darstellung des Stoffes geben zu können.

******

Auf die Erstellung des Manuskripts sowie auch der Druckfassung habe ich äußerste Sorgfalt verwandt. Mein Bruder Dr. rer. nat. Ulrich Neumann hat mich, obwohl Nichttheologe, durch Korrekturlesen der verschiedenen Fassungen des Manuskripts selbstlos unterstützt und mich vor manchem Fehler bewahrt, wofür ich ihm herzlich danke. Da ich aus Kostengründen auf die Unterstützung einer Sekretärin oder eines wissenschaftlichen Mitarbeiters verzichten musste und keinen Verlag für die Veröffentlichung gewinnen konnte, wird die verehrte Leserin (m/w/d) hier und da Fehler oder Unkorrektheiten entdecken, die sie nicht erwarten würde. Ich bitte, diese Mängel zu entschuldigen, die die vorgestellten Sachverhalte nicht beeinträchtigen dürften.

Vorwort 2 für eilige Leser

Jesus von Nazareth hat mich schon immer fasziniert.

Zuerst waren es die Wunder am See Genezareth, die märchenhafte Welt der Antike mit römischen Kaisern und jüdischen Hohenpriestern, der Stern von Bethlehem und der Kindermord, die Kreuzigung und Auferstehung Jesu, die Götter, Geister und Teufel, die eine wundersame und fremdartige Welt bewohnten.

Später interessierten mich die Ausgrabungen, die die antike Welt in die Wirklichkeit zurückholten. Von einem Besuch in Israel brachte ich ein spätrömisches Parfümfläschchen aus Glas und Kupfermünzen mit, die Jesus in der Hand gehabt haben könnte.

Die schriftlichen Zeugnisse über Jesus und seine Welt lassen uns eher verwirrt als informiert zurück, wem sollen wir glauben? War Jesus Gottes Sohn oder nur ein unbekannter Wanderprediger?

Die Flut der Jesusbücher hilft auch nicht recht weiter. Jede Zeit hat ihr eigenes Bild des Nazareners entworfen, mal biblisch, mal kritisch, mal liberal. Die Theologen schwören immer auf die neueste Version, Außenseiter bezweifelten sogar die geschichtliche Existenz des Erlösers überhaupt. Welche Quellen sind verlässlich? Welche Methoden sind dem Stoff angemessen?

Jesus ist den meisten von uns zuerst als Christkind begegnet, als Teil des Weihnachtsfestes, auf das wir uns als Kinder freuten, wegen der Geschenke und wegen der Familienfeiern. Jesus begegnete uns erneut, als wir begannen, uns mit moralischen Grundsätzen zu befassen, persönlich mit den zehn Geboten oder als Kritik an der Gesellschaft.

Jesus von Nazareth ist kein beliebiges Thema wie Caesar oder Karl der Große. Jeder hat eine Meinung dazu, und viele sind beleidigt, wenn der politischen und religiösen Korrektheit nicht Tribut gezollt wird.

Die Faszination des Jesus von Nazareth liegt nicht zuletzt darin, dass er immer wieder für Überraschungen gut ist. Jeder neue Text wirft neues Licht auf Jesus und seine Welt, jede neue Methode verschiebt die Koordinaten für die Argumentation, jede Generation passt die Überlieferungen von Jesus der aktuellen politischen und religiösen Korrektheit an.

Die Kirchen bemühen sich seit zwei Jahrtausenden, Jesus so einzuhegen, dass er ihren religiösen Bedürfnissen entspricht. Heute gelingt ihnen das dadurch, dass sie die theologischen Lehrstühle besetzen und den kirchlichen als den wissenschaftlichen Jesus präsentieren. Wie die Scholastik im Mittelalter behaupten sie, Vernunft und Glaube würden sich nicht widersprechen.

Die Neugier des nichtkirchlichen Wissenschaftlers geht aber gerade dahin, hinter die Fassade des kirchlich eingehegten Jesus zu schauen. Er will in den Regieraum blicken und verstehen, nach welchen Regeln das Bühnenstück Jesus von Nazareth aufgeführt wird.

Einleitung

Einstieg in die Argumentation der Untersuchung

1. Archaische Staaten und Hochreligionen

Was ist eine Religion? Oder genauer: Wozu dienen Religionen in der Geschichte? Religionen sind, soziologisch betrachtet, Ideologien, die nicht nur Weltanschauungen vermitteln, sondern vor allem ethische Werte und eine soziale Identität. In archaischen Staaten1 waren Hochreligionen mit Staaten verbunden, sie waren Ideologien entstehender Staaten, in denen die Herrscher als Götter oder als Nachkommen von Göttern verehrt wurden. Götter wurden als Quelle von Macht, von Gesetzen und von Glück, verehrt. Die Herrscher waren die Vertreter der Götter, die Lieblinge der Götter. In China wurde der Kaiser als Sohn des Himmels verehrt, der das Mandat des Himmels hatte, jedenfalls solange seine Regierung vom Glück begünstigt war.

Wenn Frühjudentum und Urchristentum wie alle anderen Religionen Ideologien waren, die ihre Existenz staatlichen Mächten verdankten, denen sie Weltanschauungen, ethische Standards, Herrscherverehrung und soziale Identität lieferten, dann können wir im Umkehrschluss nach historischen Staaten suchen, denen unsere Religionen als Staatsreligionen dienen konnten. Wenn sich das Urchristentum als neue Religion etablieren konnte, müssen wir fragen, wo soziale Umbrüche in so großem Ausmaß stattfanden, dass neue ethische Standards nötig wurden und neue soziale Identitäten entstanden.

2. Das Rom des Kaisers Augustus

Das Römische Reich war zur Zeit der Kaiser Augustus (31 v. bis 14 n. Chr.) und Tiberius (14 bis 37 n. Chr.) ein Reich im Umbruch. Die römische Adelsrepublik war in den Wirren des Bürgerkriegs untergegangen, das neue Kaiserreich suchte noch nach Stabilität. In derrömischen Republik galt das Prinzip der Gegenseitigkeit und des Ausgleichs der führenden Familien. Als Caesar die Alleinherrschaft errang, erkannte er, dass er Feindschaft nicht wie bisher mit Feindschaft beantworten durfte, sondern dass er den Feinden aus dem Bürgerkrieg ein Angebot zur Mitarbeit im neuen Staat machen musste. Das Problem wird im Epos Pharsalia oder Der Bürgerkrieg des Dichters Lukan (39-65 n. Chr.) in der Person von Caesars Gegner Cato thematisiert, der die Milde Caesars als Ausdruck von dessen Überlegenheit ablehnt.

Die politische Struktur des Römischen Reiches war im Umbruch, die Kultur antwortete mit vielen Werken der römischen Dichter auf die sozialen Verwerfungen und den politischen Neuanfang. Die Aeneis Vergils (70 bisl9 v. Chr.) markiert einen Meilenstein auf diesem Wege. In der Religion setzte Augustus zunächst auf die alten römischen Staatskulte, die das öffentliche Leben dominierten, aber die individuellen religiösen Bedürfnisse nicht befriedigen konnten. Das taten Mysterienkulte, die damals einen großen Aufschwung erlebten. Im Osten des Reiches, besonders in Kleinasien, begann der Kaiserkult, der in Rom noch verpönt war, sich als neue Religion zu etablieren. In der Hauptstadt wurden aber verschiedene Kulte zu Ehren des Kaisers und seiner Vorfahren ins Leben gerufen, die den Kaiserkult vorbereiteten.

3. Das Galiläa des Herodes Antipas

Was die globale Supermacht vorexerzierte, wiederholte sich in den abhängigen Staaten. In Palästina hatte Herodes der Große (40 bis 4 v. Chr.) den Römern mit Bauten nachgeeifert, aber sein Reich mit harter Hand regiert. Seine Söhne hatten in Rom studiert und die augusteische Kultur und den augusteischen Rechtsstaat kennen gelernt. Uns interessiert hier vor allem Herodes Antipas (4 v. bis 39 n. Chr.), der Galiläa als Fürstentum erhielt und erfolgreich regierte. Er stand aber vor einem grundlegenden Problem: Bis zur Herrschaft des alten Herodes war das Judentum eine Tempelreligion gewesen, fixiert auf den Tempel in Jerusalem und andere Heiligtümer. Keiner der großen heiligen Orte befand sich im Herrschaftsbereich des Antipas. Außerdem musste er anstelle des autoritären Herrschaftssystems seines Vaters ein auf Gesetzen und freiwilliger Zustimmung der Einwohner beruhendes Gemeinwesen nach dem Vorbild des kaiserlichen Rom schaffen.

Antipas hatte zwei Möglichkeiten, diese Aufgabe zu bewältigen: 1. Sich selbst nach dem Vorbild des Augustus als übernationalen Herrscher und Garant der staatlichen Ordnung verehren zu lassen, 2. auf die große jüdische Bevölkerungsgruppe zuzugehen und sich als Gesetzgeber der jüdischen sozialen und Religionsgesetze feiern zu lassen. Beide Möglichkeiten, eine Staatsreligion als Staatsideologie zu etablieren, hat Antipas genutzt.

4. Antipas und die biblischen Religionen

Die Herrscherideologie ist im Judentum mit dem Begriff des Messias verbunden. Eine messianische Religion entstand in Galiläa zur Zeit des Antipas tatsächlich, aber als Messias ist Jesus von Nazareth überliefert, nicht der regierende Fürst Antipas. Die Religion des Judentums auf der Basis der jüdischen sozialen und Religionsgesetze ist tatsächlich in den Schriften des Alten Testaments dokumentiert, nur ist diese Religion mit dem Namen des Mose verbunden, nicht mit dem in Galiläa regierenden Fürsten Antipas. Nach der geschichtlichen Logik, die hier aufgezeigt wurde, sollten Christentum oder Judentum oder beide auf den Fürsten Antipas zurückgehen, der eine Staatsreligion als Staatsideologie benötigte. Die Frage, in welchem Verhältnis Antipas zu den beiden Religionen stand, wird ein Thema dieses Buches sein.

5. Der Ausgangspunkt der Untersuchung: Die antiken Texte, nicht die kirchliche Tradition

Der Ausgangspunkt unserer Untersuchung sind die antiken Texte über Jesus, egal, wo sie zu finden sind. Unser Ausgangspunkt ist nicht die kirchliche Tradition über Jesus Christus, die in den theologischen Jesusbüchern anhand der neutestamentlichen Texte verifiziert und behutsam korrigiert wird. Antike Texte über Jesus und die Apostel finden sich nicht nur in den neutestamentlichen Schriften, und diese Schriften selbst bergen manche verschüttete Information, die es offen zu legen gilt. Welche Texte im Einzelnen herangezogen werden können, wird im Laufe der Untersuchung deutlich werden.

Fünf Schwierigkeiten, eine Geschichte Jesu aus der Sicht des Historikers zu schreiben

Warum hat bisher niemand eine Geschichte Jesu und des Urchristentums aus geschichtswissenschaftlicher Sicht geschrieben? Es gibt viele Hindernisse zu überwinden:

1. Die Sprachbarriere. Das Neue Testament ist in Altgriechisch geschrieben, in einer Sprachform, die als Koine bezeichnet wird und im 1. Jahrhundert gebräuchlich war. Das Alte Testament ist in Hebräisch geschrieben, einer semitischen Sprache, die in vorpersischer Zeit in Judäa gesprochen und in persischer Zeit vom Aramäischen verdrängt wurde. Das Hebräische wurde von Priestern weiter gepflegt und im 1. Jahrhundert als heilige Sprache der Juden wiederbelebt und von religiösen Gemeinschaften wie in Qumran und Dichtern für heilige Texte wie die alttestamentlichen Schriften verwendet.

2. Die hermeneutische Frage. Hat man die Sprachbarriere gemeistert - es gibt ja auch gute Übersetzungen, die dabei helfen - steht als nächste Barriere die Textinterpretation an. Ist mein Text ein historischer Bericht, wenn ja, wie verlässlich sind die Quellen des Verfassers? Welches Interesse verfolgt der Autor? Welche schriftstellerischen Gepflogenheiten musste er beachten? War der Verfasser ein Dichter? Welche Vorbilder hatte er, denen er nacheiferte, nach denen er seinen Text gestaltete? Die klassische Philologie, die die griechischen und lateinischen Texte erforscht, hat in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte in der Interpretation antiker Texte gemacht. Sind diese Fortschritte bei der Bibellektüre zu beachten oder sind biblische Texte Literatur sui generis, von eigener Art, die eine eigene religiöse Interpretation erfordern und irdischen Fragestellungen enthoben sind?

3. Der garstigen historischen Graben. Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) hat so die geschichtliche und kulturelle Barriere genannt, die uns das Verständnis der Vergangenheit erschwert. Ein Beispiel: Viele vergleichen das Römische Reich mit dem britischen Kolonialreich und den Widerstand der Juden mit dem Widerstand der Kolonialvölker gegen die Briten. Trotz Parallelen gibt es aber gewaltige Unterschiede, die zu beachten sind.

4. Der Respekt vor der eigenen religiösen Tradition. Der Theologe Martin Kähler (1835-1912) schrieb 1892:

Niemand ist im stande, die Gestalt Jesu wie irgend eine andre Gestalt der Vergangenheit zum Gegenstände lediglich geschichtlicher Forschung zu machen; zu mächtig hat sie zu allen Zeiten unmittelbar auf weite Kreise gewirkt...2

5. Der Respekt vor dem Jesusbild der heutigen Wissenschaft. Die Jesuswissenschaft ist fest in kirchlicher Hand. Aber eine andere Jesuswissenschaft gibt es nicht. Die beteiligten Wissenschaftler, die meist ihre Karriere auf den zurzeit gültigen wissenschaftlichen Normen aufgebaut haben, haben einen hohen Respekt vor ihren älteren und erfahreneren Kollegen, die das Fach prägen.

Der Versuch, aus dem kirchlichen Deutungsrahmen auszubrechen

Die Jesuswissenschaft ist fest in kirchlicher Hand. Die Theologen im Fach Neues Testament, die sich dieser Aufgabe widmen, sind entweder an Kirchlichen Hochschulen angestellt oder üben ihren Beruf an Universitäten aus, wo sie nicht ohne kirchliche Zustimmung berufen werden und im Amt bleiben können. Dieser Zustand ergibt sich ganz natürlich daraus, dass im Fächerkanon der Universitäten für die Jesusforschung die Theologie zuständig ist, die die Ausbüdung der Pfarrer und Religionslehrer verantwortet. Außerhalb der Theologie gibt es keine wissenschaftliche Tradition zur Jesusforschung, dazu ist das Interesse der Öffentlichkeit zu gering. Was es allerdings gibt, sind theologische Dissidenten, die nach ihrer theologischen Ausbüdung ein Jesusbüd zeichnen, das von der kirchlichen Lehre abweicht. Die Dissidenten stehen allerdings so sehr in der theologischen Tradition und sind dem theologischen Denken, dem hermeneutischen Zirkel, so stark verhaftet, dass sie dem kirchlichen Jesusbild keine wirkliche Alternative entgegenstellen können. Die Autoren wirklich kritischer oder alternativer Jesusbücher andererseits scheitern daran, dass sie weder die theologische Forschung noch die Forschungen zur alten Geschichte und zur klassischen Phüologie zur Kenntnis nehmen. Die Fachleute auf diesen Gebieten wiederum beachten peinlich genau die universitäre Fächeraufteüung und publizieren nicht zu theologischen Themen.

Wir wollen in dieser Studie den Versuch wagen, den kirchlichen Deutungsrahmen der Geschichte Jesu, den hermeneutischen Zirkel, komplett zu verlassen. Deshalb haben die methodischen Beschränkungen, denen sich die christlichen Jesusforscher unterwerfen, hier keine Bedeutung. Als Geschichtsforscher können und wollen wir uns frei innerhalb und außerhalb des christlichen Deutungsrahmens bewegen, wir können Jesus als religiösen Lehrer verstehen oder ein neues Verständnismodell entwickeln, wir können die christlichen Quellen christlich oder in neuer und kritischer Weise verstehen und wir sind frei, andere Quellen zu suchen und deren Sicht auf das Urchristentum auszuwerten.

Die neuen Quellen Die Freiheit, neue Quellen zu suchen und alle Quellen nach christhchen und anderen Methoden auszuwerten, ist die wichtigste Errungenschaft, wenn wir den christlichen Deutungsrahmen verlassen. Die Schriften des Neuen Testaments bleiben die wichtigsten Quellen für die Geschichte Jesu. Aber diese Schriften wurden von vielen verschiedenen Autoren verfasst, die ihrerseits viele verschiedene Überlieferungen zitieren. Da wir von der christlichen Pflicht zur Harmonisierung der unterschiedlichen Traditionen befreit sind, können wir die verschiedenen Quellen und ihre gegensätzlichen Standpunkte innerhalb des Neuen Testaments herausarbeiten und für die Geschichtsschreibung nutzbar machen. Liest man den jüdischen Historiker Flavius Josephus sorgfältig und ohne die christliche Brille, erkennt man vielfältige Parallelen zur christlichen Geschichte und manche Polemik gegen die christliche Frömmigkeit. Da wir nicht an die christhchen und jüdischen Vorstellungen zur Entstehung des Alten Testaments gebunden sind, können wir dessen Schriften und ihre Entstehung neu bewerten. Aufgrund des hellenistischen Erzählstils und der Abhängigkeit von römischen Vorbildern können wir die Entstehung dieser Schriften in die Herodeszeit datieren, in das 1. Jahrhundert n. Chr. Die Dichter des Alten Testaments beschreiben die Geschichte der vorhellenistischen Kleinkönigtümer Israel und Juda und verwenden dabei Motive aus der Geschichte der Jesuszeit. Sie machen dabei dasselbe, was ihre römischen Vorbilder Vergil und Livius getan haben. Wir können diese Dichtungen als einen Schlüsselroman zur Jesuszeit lesen.

Der historische Jesus in der theologischen Diskussion

Klaus Wengst (geb. 1943) plädierte jüngst angesichts der offensichtlichen Schwächen der theologischen Jesusforschung dafür, die Suche nach dem historischen Jesus ganz einzustellen. Wengst versuchte in der Streitschrift Der wirkliche Jesus

aufzuzeigen, dass die Suche nach dem "historischen" Jesus zwar historisch grundsätzlich möglich, aber wenig ergiebig und dass sie in theologischer Hinsicht ein unmögliches Unternehmen ist. 3

Albert Schweitzer (1875-1965) war anderer Ansicht. Er schrieb 1906:

Man kann es nicht hoch genug anschlagen, was die Leben-Jesu-Forschung geleistet hat. Sie bedeutet eine einzigartig große Wahrhaftigkeitstat, eines der bedeutendsten Ereignisse in dem gesamten Geistesleben der Menschheit. 4

Wie kann es sein, dass zwei Theologen in einer so wichtigen Frage so unterschiedlicher Meinung sind? Vielleicht hilft ein kurzer historischer Rückblick.

Den Glauben intellektuell verantworten

Im Kern geht es beim Streit um das Leben Jesu und die Frage, wie das Christentum entstand, um die alte Frage, wie man als Christ seinen Glauben intellektuell verantworten oder wie man als Nichtchrist einen intellektuellen Zugang zum christlichen Denken finden kann. Die Frage, wie der Jesus des Glaubens im größeren Rahmen der allgemeinen Geschichte und der Philosophie gedacht werden kann und gedacht werden soll, beschäftigt Kirche und Theologie von Anfang an. Schon im Neuen Testament wird gefragt, wie das Besondere an Jesus in Worte, in Begriffe, in Gedanken gefasst werden kann: Wer sagen die Leute, dass ich sei? (Mk 8,27) Solange es neugierige, wissbegierige oder auch nur denkende Menschen gibt, wird die Frage, wie die Sache mit Jesus begann, die Leute beschäftigen und dem Büchermarkt Umsätze bescheren. Am Anfang und in neutestamentlicher Zeit wurden der Titel und die Vorstellungen des Messias, eines jüdischen Königs, als für Jesus angemessen angesehen und auf ihn übertragen, so dass er schon bei Paulus zum Namensbestandteil wurde: Jesus Christus. Ein weiterer Titel war der Sohn Gottes, aber auch der Logos, das Wort, die Sophia, die Weisheit, und viele andere Bezeichnungen finden sich im Denken der Alten Kirche. Als die Alte Kirche die christologischen Dogmen im philosophischen System des Neuplatonismus formulierte, war das ein ganz neuer Schritt, um die Bedeutung Jesu im größeren Rahmen der ursprünglich heidnischen Philosophie auszusagen. Das Mittelalter war begeistert von der Idee, dass Glaube und Wissen keine Gegensätze sein könnten, da beide ihren Ursprung in Gott hätten. Jesus Christus als Herr der Welt, das ist ja eine durchaus biblische Aussage. Die Person und die Macht Jesu wurden immer größer, immer gigantischer gedacht. Das Spätmittelalter und die Reformationszeit nahmen wieder Abschied von den großen theologischen Spekulationen. Es setzte eine allmähliche Verschlankung bis zur Verzwergung der Person und der Macht Jesu ein. Über die Stationen Spätmittelalter, Reformation, Aufklärung, Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts wurde Jesus immer bescheidener und unscheinbarer, immer weniger bedeutsam und auf einen immer kleineren Raum beschränkt, heute scheint Jesus nur noch ein jüdischer Sektenführer zu sein.

Die Wahrheitsfrage

Um es noch einmal anders zu formulieren: Es geht um die Wahrheitsfrage. Wir können diese Frage religiös verstehen: Worauf verlasse ich mich im Leben und Sterben? Wir können diese Frage philosophisch verstehen: Worin kann der Sinn des Lebens bestehen, wenn wir von religiösen Weltdeutungen absehen? Wir können diese Frage wissenschaftlich verstehen: Wie können wir Sachverhalte mit dem Verstand begreifen? Seit der Aufklärung hat sich unser Verständnis von Wahrheit auf Tatsachen reduziert. Bei den Wundern fragen wir nicht mehr: Was können sie uns bedeuten? Sondern wir fragen: Haben sie tatsächlich stattgefunden? Ist das nicht der Fall, hat das die Abwertung zur Lügengeschichte zur Folge. Aus dem berichteten Wunder wird eine fake news, eine Falschnachricht, aus dem Berichterstatter ein Lügner. Wenn man sonntags in die Kirche geht und die Woche über im Beruf logische Entscheidungen treffen muss, vielleicht sogar als Wissenschaftler den Nachwuchs in die Methoden wissenschaftlichen Denkens einführt, entsteht ein Denkkonflikt.

Die Frage nach dem historischen Jesus als Wahrheitsfrage

In dem Konflikt zwischen Glauben und Vernunft versuchte die Leben-Jesu-Forschung zu vermitteln, und unabhängig von den Ergebnissen dient jede Beschäftigung mit dem Problem des historischen Jesus der Wahrheitsfindung. Albert Schweitzer verdient unsere Zustimmung, weil er die Anstrengungen würdigte, die zu diesem Zweck unternommen wurden.

Jede Zeit ist bestrebt, nicht nur die biblische Überlieferung weiterzugeben, sondern auch des Ereignis Jesus und seine Botschaft intellektuell zu begreifen und mit den Mitteln der eigenen Zeit auszudrücken. Insofern liegt die Forschung zum historischen Jesus auf derselben Ebene wie alle bisherigen intellektuellen Bemühungen, das Phänomen Jesus darzustellen, angefangen von den Apologeten des 2. Jahrhunderts über den Neuplatonismus, die Scholastik, Luther und die lutherische Orthodoxie. Es gibt also keinen Grund, den christhchen Generationen seit der Aufklärung das zu verweigern, was wir allen anderen Zeitaltern zugebilligt haben, die intellektuelle Auseinandersetzung mit der christlichen Lehre und Botschaft. Gerade theologisch ist die Wahrheitsfrage, die sich in der Forschung zum historischen Jesus ausdrückt, aktuell wie eh und je.

Negative Urteile über den Ertrag der Jesusforschung seit Reimarus

Anders sieht es aus, wenn wir nach dem Ertrag der Jesusforschung in den 250 Jahren seit Hermann Samuel Reimarus fragen. Wengst nennt das Ergebnis wenig ergiebig. Ich möchte hier einige Stimmen aus den letzten 130 Jahren zitieren, die den Erfolg der Jesusforschung hinsichtlich ihrer Ergebnisse in Zweifel ziehen:

Albert Schweitzer (1906): Diejenigen, welche gerne von negativer Theologie reden, haben es im Hinblick auf den Ertrag der Leben-Jesu-Forschung nicht schwer. Er ist negativ. Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches verkündete und starb, um seinem Werke die Weihe zu geben, hat nie existiert.

(Die Leben-Jesu-Forschung) löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück.5

Martin Kähler (1892) Wir besitzen keine Quellen für ein Leben Jesu, welche ein Geschichtsforscher als zuverlässige und ausreichende gelten lassen kann.6

Es gibt hier keine Mitteilung aufmerksam gewordener unbefangener Beobachter, sondern durchweg Zeugnisse und Bekenntnisse von Christusgläubigen.7

Niemand ist im stande, die Gestalt Jesu wie irgend eine andre Gestalt der Vergangenheit zum Gegenstand lediglich geschichtlicher Forschung zu machen; zu mächtig hat sie zu allen Zeiten unmittelbar auf weite Kreise gewirkt, zu bestimmt tritt noch einem jeden ihr Anspruch entgegen, als dass nicht selbst schon darin eine entschlossene Stellungnahme läge, wenn man sich zu der beanspruchten Bedeutung dieser "Erinnerung" ablehnend verhält, neben der "das Menschengeschlecht keine hat, die dieser nur von ferne vergleichbar wäre".8

Günther Bornkamm (1956) Die Art der Quellen verbietet uns, Jesu Geschichte biographisch in die Geschichte seines Volkes und seiner Zeit hineinzuzeichnen.9

Klaus Wengst (2013): Als historisches Unternehmen ist daher historische Jesusforschung eine doppelte Unmöglichkeit. Sie hintergeht zum einen methodisch notwendig den sachlichen Ausgangspunkt der Evangelien und des ganzen Neuen Testaments, das Zeugnis von der Auferweckung Jesu durch Gott. Daher muss sie andererseits vom Menschen Jesus, um ihn "glaubwürdig" zu machen, Außerordentliches aussagen. Der Glaube wird so aber abhängig von historischer Wissenschaft, die zudem in diesem Fall aufgrund der Quellenlage nur sehr Dürftiges mit großer Wahrscheinlichkeit sagen kann und darüber hinaus nur immer wieder wechselnde Hypothesengebilde bietet. Zudem wird fraglich, ob diese historische Wissenschaft überhaupt solche Aussagen machen kann, die Unvergleichliches von einem Menschen aussagen.10

Ist die Fortsetzung der Jesusforschung erfolgversprechend?

Wenn man mit einer Unternehmung scheitert, gibt es immer zwei Fragen: 1. Welche Fehler wurden gemacht und welche ungünstigen Umstände wurden nicht berücksichtigt? 2. Ist ein erneuter Versuch erfolgversprechend? Können günstigere Umstände herbeigeführt oder abgewartet werden? Können die Fehler des 1. Versuchs vermieden werden? Zur 1. Frage: Welche Fehler wurden bei der Jesusforschung gemacht? Bei Martin Kähler und Klaus Wengst sehe ich die klammheimliche Freude, dass die ungeliebte Wissenschaft der Jesusforschung gescheitert ist und man zur geliebten Bibelstunde zurückkehren kann. Wenn ich es richtig sehe, sehen beide Theologen im Scheitern der Jesusforschung den Wink einer höheren Macht. Dem Menschen, besonders dem Christenmenschen, sei das Studium der Bibel aufgegeben und die volle Einsicht in die geschiehtlichen Umstände der Entstehung des Christentums von höherer Warte verwehrt worden. So sehen das offenbar viele Christen, und diese Sicht der Dinge ist ihr gutes Recht. Im Übrigen ist es auch eine sinnvolle Strategie, Probleme, die man nicht lösen kann, anderen zu überlassen. Problematisch wird diese Sicht dann, wenn die Parole heißt: Wenn nicht einmal ich das Problem lösen kann, dann können das andere erst recht nicht, dann ist uns Menschen die Lösung dieses Problems prinzipiell verwehrt. Das persönliche oder ein strukturelles Unvermögen, ein Problem zu lösen, ist noch kein Hinweis darauf, dass dieses Problem prinzipiell nicht lösbar ist.

Warum die theologische Jesusforschung scheitern musste

Zurück zur Frage 1: Ungünstige Umstände gibt es immer, vielleicht war die Zeit einfach noch nicht reif. Welche Fehler wurden gemacht? Geschichtliche Wissenschaft ist ein sprödes Geschäft, das Fehler nicht verzeiht. Egal, wieviel Erfolg man bei den Lesern hat, ob die Ergebnisse Bestand haben, zeigt sich erst später, wenn neue Quellen und neue Methoden die alten Ergebnisse bestätigen oder verwerfen. Die Theologen haben, als sie den historischen Jesus suchten, nicht ergebnisoffen wie Historiker geforscht. Sie haben wie Prediger versucht, die ihnen aufgetragene Botschaft mit historischen Fakten zu untermauern. Die Theologen haben historische Beweise für ihren eigenen Jesus gesucht und, wen wundert's, auch gefunden. Nur leiden haben die theologischen Kollegen ihnen den Erfolg geneidet und Gegendarstellungen mit dem gleichen Erfolg veröffentlicht. Historische Beweise für den theologischen Jesus zu finden gleicht der Quadratur des Kreises, es ist unmöglich. Das ist in Kurzform meine Erklärung für das Scheitern der theologischen Suche nach dem historischen Jesus. Frage Nr. 2: Ist ein erneuter Versuch erfolgversprechend? Nein, da muss ich Klaus Wengst Recht geben. Das liegt aber nicht an der Aufgabe, sondern an der Profession der beauftragten Personen. Luise Schottroff urteilte 1973,

dass Jesusdarstellungen nicht als Darstellungen eines historischen Befundes begriffen werden können, sondern nur als Selbstdarstellungen von Theologie des jeweiligen Autors in der Form einer Jesusdarstellung.11

Theologen, da gebe ich Luise Schottroff Recht, werden in der Frage des historischen Jesus keine substantiellen Fortschritte erzielen, weil sie nicht ergebnisoffen forschen können. Ihnen bleibt nur, die Jesusfrage als ewige Frage zu betrachten, für die es letztlich keine Antwort geben kann.

Der Gang der Untersuchung

Die Untersuchung beginnt mit der Biographie des historischen Jesus. Am Anfang wird nach der Stellung Jesu in der tief gestaffelten sozialen Pyramide der antiken Gesellschaft Palästinas gefragt. Es folgt eine Analyse des Bildungsstandes und der Ausbildung Jesu. Abschließend wird gefragt: Welche Tätigkeiten werden von dem erwachsenen Jesus berichtet, wie sind die Berichte über Natur- und Heilungswunder zu interpretieren, wie die Entstehung seiner Gleichnisse und Aussprüche? Quellen werden, soweit sie für das Verständnis des Themas notwendig sind, laufend zitiert, und wichtige Sachfragen werden laufend diskutiert. Darüber hinausgehende Fragen zu Quellen und den Fluss der Darstellung störende Erörterungen wurden in den Anhang verbannt, um den Fortgang der Untersuchung nicht unnötig mit Einzelfragen zu belasten. Wer den schnellen Zugang zum argumentativen Ausgangspunkt der Untersuchung sucht, sei auf den Anhang A2 verwiesen.

Im zweiten Kapitel über die Botschaft Jesu stehen die Rede vom Reich Gottes, sein Selbstbewusstsein und die von Jesus angestrebte Gesellschaft im Mittelpunkt. Das dritte Kapitel ist der Passion Jesu gewidmet. Es beginnt mit der besonderen historischen Situation, aus der heraus die Passion zu verstehen ist, es folgt ein Hinweis auf die unterschiedlichen Quellen, die das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Die Passion selbst, die Verurteilung durch Juden und Römer, die römische Anklage und ihre Beurteilung, das Urteil und Jesu Stellung zu seinem Tod beschließen das Kapitel. Das letzte Kapitel behandelt Ursachen und Verlauf des religiösen Neubeginns nach Jesu Tod, die Entwicklung des Urchristentums in Palästina bis zum jüdischen Krieg und die Rolle des Paulus bei der Ausbreitung der christlichen Botschaft nach Syrien und Kleinasien. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse schließt die Untersuchung ab.

1 Siehe Feinman, Gary M. and Joyce Marcus (ed.): Archaic States, Santa Fe, New Mexiko 1998; Kirch, Patrick Vinton: How Chiefs Became Kings. Divine Kinships and the Rise of Archaicc States in Ancient Hawaii, Berkeley, Los Angeles, London 2010

2 Kähler, Martin: Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus, Neu hrsg. von E. Wolf, München, 3. Aufl. 1961, S. 74.

3 Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem "historischen" Jesus, Stuttgart 2013, S. 8.

4 Schweitzer, Albert: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Gütersloh, 3. Aufl. des Taschenbuchs 1977, S. 621.

5 Schweitzer, Albert: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Gütersloh, 3. Aufl. des Taschenbuchs 1977, S. 620.

6 Kähler, Martin: Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus, Neu hrsg. von E. Wolf, München, 3. Aufl. 1961, S. 21.

7 A.a.O., S. 75.

8 A.a.O., S. 74 mit einem Ranke-Zitat.

9 Bornkamm, Günther, Jesus von Nazareth, Stuttgart u. a. 11. Auflage 1977, S. 48.

10 Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem "historischen" Jesus, Stuttgart 2013, S. 212.

11 Luise Schottroff: Der Mensch Jesus im Spannungsfeld von Politischer Theologie und Aufklärung, in: Theolog. Praxis 8, 1973, S. 243-257, 246.

1. Die Biographie

1.1. Sohn Davids?Familie und soziale Prägung

Stammte Jesus aus einer Handwerkerfamilie in Nazareth oder war er der Sohn alteingesessener und vermögender Grundbesitzer in Bethlehem? Die antiken Gesellschaften waren sozial weit aufgefächert, von den ungebildeten Sklaven und Tagelöhnern über eine bäuerliche und städtische Mittelschicht mit eingeschränkten Bildungschancen bis zur sozialen Oberschicht und Bildungselite, deren Mitgliedern alle Möglichkeiten offen standen. Die führenden Familien einer Stadt und eines Landes müssen wir uns als eine extrem kleine exklusive Bevölkerungsgruppe vorstellen, die die Geschicke einer Stadt und eines Landes lenkte und die die Kultur und Bildung dominierte. Ein sozialer Aufstieg war möglich, aber meist nur über mehrere Generationen durchführbar, weil die Bildungssituation und die Partnerwahl stark von der sozialen Schicht abhängig waren. Wenn sozialer Aufstieg ungewohnt schnell möglich war wie in der neuen galiläischen Hauptstadt Tiberias, die um 20 n. Chr. gegründet wurde, rief das den Unwillen der Wohlhabenden hervor: Josephus kritisiert, dass in der Gründungsphase von Tiberias sogar hergelaufene Sklaven als Bürger Eigentum erhielten, Ant 18,2,3. Wenn jemand eine hohe Bildung oder Ausbildung erworben hatte wie Manaen in Antiochia, der mit dem Landesfürsten Herodes erzogen worden war, Acta 13,1, dann ist das die Ausnahme und der Erwähnung wert.

Kein Bericht über den sozialen Aufstieg

Das Leben des Fabeldichters Aesop (ca. 620-560 v. Chr.) ist in vieler Hinsicht mit dem Leben Jesu vergleichbar. Aesop wurde als Sklave geboren, konnte durch Mutterwitz und ein freundliches Wesen auf sich aufmerksam machen, wurde berühmt, unternahm Reisen, zuletzt ging er nach Delphi, wo er als Tempelräuber und Gotteslästerer angeklagt wurde. Die Delphier stürzten ihn von einem Felsen, angeblich war es ein Justizmord. Der Aesop-Roman, der in der frühen römischen Kaiserzeit entstand, widmet einen großen Teil seiner Darstellung dem sozialen Aufstieg vom stummen, missgebildeten Sklaven zum geachteten Beamten. Wolfgang Müller schreibt in der Einleitung zu einer Ausgabe des Romans: Ein zunächst stummer phrygischer Sklave - nach anderen Quellen soll er in Thrakien geboren sein -, Landarbeiter, mißgestaltet und häßlich, doch begabt mit Intelligenz und Gerechtigkeitssinn, Schlagfertigkeit und Witz, wird zum Lohn für seine Freundlichkeit, die er einer Priesterin der ägyptischen Göttin Isis erweist, von dieser mit der Sprache beschenkt. Da sein Verstand und seine Ehrlichkeit ein mahnender lebender Vorwurf für die menschliche Unzulänglichkeit sind, verkauft man ihn an einen Sklavenhändler, der ihn bald auf Samos an den Philosophen Xanthos abgibt. Hier wird der Diener bald zum geistig überlegenen Partner, zuletzt sogar zum Retter seines Herrn, der ihn endlich freigeben muß, nachdem sich der Sklave als kluger politischer Ratgeber der Samier gegenüber dem Lyderkönig Kroisos bewährt hatte.

Bald reist Äsop in diplomatischem Auftrag zu Kroisos, wo er ehrenvoll aufgenommen wird; er ist jetzt durch seine Weisheit ein berühmter Mann geworden, besucht fremde Länder und erlangt als / Wesir das höchste Staatsamt in Babylon.12

Vergleicht man diese Geschichte des sozialen Aufstiegs mit der Geschichte Jesu in den Evangelien, fällt auf, dass es von Jesus keine Erzählungen über einen sozialen Aufstieg gibt. Schon seine Geburt wird von den Sternen(göttern) angezeigt und von Engeln verkündet. Beim Beginn seines öffentlichen Wirkens kann er es sich leisten, die angebotene Herrschaft über die Reiche der Welt auszuschlagen. Am Ende gibt es mit dem Hohenpriester in Jerusalem und dem römischen Statthalter Pilatus Gespräche auf Augenhöhe, obwohl Jesus der Angeklagte ist. Das Fehlen von Erzählungen über den sozialen Aufstieg Jesu lässt nur einen Schluss zu: Es gab ihn nicht, es gab keinen sozialen Aufstieg, weil Jesus von Anfang an zur Oberschicht, zur Elite gehörte. Man könnte überlegen, ob die neutestamentlichen Schriftsteller die Aufstiegsgeschichten unterdrückt haben, aber das ist extrem unwahrscheinlich. Denn die Anhänger Jesu würden voller Stolz seinen sozialen Aufstieg geschildert haben, an dem sie selbst Anteil gehabt hätten. Diese Berichte hätten in den Evangelien ihren Niederschlag finden müssen. Die einzige Aufstiegsgeschichte findet sich in 1 Sam 16, wo die körperlichen Vorzüge Davids (=Jesus') hervorgehoben werden (Vers 12), wo David von Samuel zum König gesalbt wird (Vers 13) und anschließend an den Hof des Königs Saul (=Herodes) kommt (Verse 14-23).13

Im Folgenden werde ich einige Texte des Neuen Testaments, die als Aussagen über die soziale Herkunft Jesu interpretiert werden können, untersuchen.

Der Christuspsalm Philipper 2,6-11

6 Er, der in göttlicher Gestalt war,

hielt es nicht für einen Raub,

Gott gleich zu sein,

7 sondern entäußerte sich selbst

und nahm Knechtsgestalt an,

ward den Menschen gleich

und der Erscheinung nach als

Mensch erkannt.

8 Er erniedrigte sich selbst

und ward gehorsam bis zum Tode,

ja zum Tode am Kreuz.

9 Darum hat ihn auch Gott erhöht

und hat ihm einen Namen gegeben,

Der über alle Namen ist,

10 dass in dem Namen Jesu sich beugen

Sollen aller derer Knie,

die im Himmel und auf Erden

und unter der Erde sind,

11 und alle Zungen bekennen sollen,

dass Jesus Christus der Herr ist,

zur Ehre Gottes, des Vaters.

Der bekannte Christuspsalm aus der Brief des Paulus an die Gemeinde in Philippi ist ein besonderes Kleinod der urchristlichen Überlieferung. Nach allgemeiner Einschätzung vorpaulinisch, gehört er weder dem paulinischen noch dem johanneischen noch dem synoptisch-lukanischen Überlieferungsgut an. Ähnliche hymnische Stücke werden in 1. Timotheus 3,16 und im Brief an die Hebräer 1,3-4 zitiert, aber der Christuspsalm von Philipper 2 ist in seiner Schönheit und Vollständigkeit einzigartig. Von der Struktur her erinnert das Stück an alttestamentliche Psalmen, und der Gedankengang und der Begriff Knechtsgestalt lässt Bezüge zu Jesaja 53, wo vom Knecht Gottes die Rede ist, erkennen. Der Christuspsalm bietet als Ganzes ein wichtiges Stück urchristlicher Theologie, hier geht es um Vers 6 und um die Begriffe in göttlicher Gestalt und Gott gleich zu sein. Der zweite Teil des Textes ab Vers 9 hat einen mythischen Inhalt: In dem Namen Jesu sollen sich die Knie aller (zur Anbetung) beugen, das alle wird ausgeführt: alle im Himmel, alle auf der Erde und alle unter der Erde. Jesus wird also über seine irdische Bedeutung hinausgehoben, auch die Geister im Himmel und die Geister der Verstorbenen unter der Erde sollen Jesus anbeten.

Der Text spielt in der christlichen Dogmatik, genauer in der Präexistenzchristologie, also in der Lehre von der göttlichen Existenz Christi vor seinem Erdenleben, eine Rolle. Es wird folgendermaßen argumentiert: 1. Stufe: Wenn Jesus von allen im Himmel, auf und unter der Erde kultisch verehrt werden soll, heißt das, dass er von Gott in den Himmel erhöht wird. 2. Stufe: Wenn Jesus von Gott in den Himmel erhöht worden ist, dann muss die in den Versen 6-8 beschriebene Erniedrigung Jesu von dort, vom Himmel, ihren Ausgang genommen haben. In der christlichen Dogmatik kommt es darauf an, die dogmatischen Aussagen mit Bibelstellen zu begründen. Dort geht es also darum, die Präexistenzchristologie zu begründen, also die dogmatische Aussage, Jesus habe vor seinem Erdenleben bereits im Himmel gelebt, habe eventuell schon an der Schöpfung teilgenommen usw. Für den, der an die vor-irdische Existenz Jesu glaubt und diese in der Bibel bestätigt finden will, bietet sich die Stelle Phil 2,6-7 an. Soweit die dogmatische Auslegung.

Anders sieht die exegetische Sicht aus, die Textanalyse: Hier gilt der Grundsatz, dass zunächst der Einzeltext zu analysieren ist, bevor weitreichende Schlussfolgerungen gezogen werden können. Bevor wir mit der Textanalyse beginnen, müssen wir uns daran erinnern, dass die strikte Trennung von Diesseits und Jenseits eine moderne Idee ist. Die Antike denkt anders: Diesseits und Jenseits sind verschränkt. Der König und der Kaiser haben mehr Macht als die kleinen Geister, die überall herumwuseln. Jeder Mensch lebt mit seinem Körper im Diesseits, aber sein Geist gehört der geistigen, der jenseitigen Welt, an und wird die Erde nach dem Tod verlassen und im Hades, in der Totenwelt, oder im Himmel sein. Jesus wird von den Geistern im Himmel und unter der Erde verehrt werden und von Geistern und Menschen auf der Erde. Ob Jesus selbst sich im Himmel befinden wird, oder als Nachfolger des römischen Kaisers ein das Diesseits transzendierendes Friedensreich auf der Erde errichtet, dem auch die Geister untertan sein werden, wird in den Versen 10-11 nicht beschrieben. Fazit: Die Verehrung Jesu durch die diesseitigen und die jenseitigen Wesen schließt nach Phil 2,10-11 seine Verbringung in den Himmel nicht ein.

Der gottgleiche Herrscher

Mit der exegetischen Demontage der 1. Stufe der dogmatischen Argumentation entfällt die 2. Stufe. Wie sind dann die Verse 6-8 zu verstehen? Wenn wir einen indischen Bauern fragen: Wer ist wie Gott, wer ist Gott gleich? Dann wird die Antwort lauten: Ein Maharadscha. Wenn wir einen ägyptischen Bauern des Pharaonenzeitalters gefragt hätten, wer wie Gott sei, hätten wir die Antwort erhalten, der Pharao, ein palästinischer Bauer des 1. Jahrhunderts n. Chr. hätte auf dieselbe Frage geantwortet, der König. Die Vergleichskriterien wären jedes Mal der materielle Reichtum und die Möglichkeit, Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben, seinen Willen zur Geltung zu bringen. Ernst Käsemann argumentiert in seinem Aufsatz über Phil 2,5-11: Auf die Frage, wer wie Gott sei -...- antwortet das gesamte Judentum: Niemand ist dir (Gott) gleich.14 Das ist die religiös korrekte Antwort, sie unterstreicht aber zugleich, dass die allgemeine Auffassung das Gegenteil besagt. Unser volkstümlicher Christuspsalm in Phil 2 könnte nun genau das meinen: Jesus war König oder ein königsgleicher Herrscher, der sich den Menschen gleichstellte. Raimund Schulz schreibt dazu in seiner Studie über die römischen Statthalter in den Provinzen:

Je mehr der Statthalter die Distanz gegenüber der breiten Masse der Untertanen betonte, umso wirkungsvoller ließen sich Auftritte auch außerhalb des Palastes oder des Prätoriums in Szene setzen, bei denen er sich betont zugänglich gegenüber den Klagen und Wünschen seiner Untertanen zeigte...

Diese Beschwörungen herrschaftlicher Zugänglichkeit (...) waren kein leeres Gerede. Jede herrschaftliche gravitas benötigte die öffentliche Bestätigung, um glaubwürdig zu bleiben und nicht den Kontakt zu den Untertanen zu verlieren... Von einer großen rat- und hilfesuchenden Menge allmorgend-/lich umdrängt zu werden - auch dies war ein Zeichen von Prestige und Macht. Es legitimierte den aristokratischen Herrscher und den erfolgreichen Feldherrn.15

Schulz zitiert weiter einen Passus von Cicero über Pompeius, der genau wie Phil 2,7 die Gleichstellung des Herrschers mit den gewöhnlichen Untertanen zeigt:

"Die Privatleute haben sogar", so Cicero über den Aufenthalt des Pompeius im Osten, "so unbehindert Zugang zu ihm, und Klagen über Ungerechtigkeiten anderer dürfen so offen vorgebracht werden, daß er, der durch seine Würde (dignitas) die Mächtigsten überragt, sich durch seine Umgänglichkeit (facilitas) den Niedrigsten gleichzustellen scheint.16

In der theologischen Auslegung biblischer Texte wird gern der Jenseitsbezug hervorgehoben. Die biblischen Autoren waren aber viel diesseitigerals gedacht, das Jenseits ist zunächst als geistige Welt im Diesseits anwesend.

Die Erfahrungswelt unserer Autoren ist das Diesseits, nicht die jenseitige Welt. Deshalb können wir zuerst Aussagen über das Diesseits erwarten, allerdings mit einer großen Bandbreite auch an sozialen Gegebenheiten. Bei der Auslegung von biblischen Texten frage ich deshalb immer zuerst nach dem Erfahrungshorizont des Autors. Im Fall Phil 2 wird allgemein der Bezug zu den alttestamentlichen Psalmen hervorgehoben. Dort wird ebenfalls die diesseitige Welt mit ihren ganz persönlichen Nöten und Erfahrungen thematisiert. Hätten wir in Phil 2 einen gnostischen Psalm vor uns wie bei Texten des Johannesevangeliums, man könnte an den gnostischen Mythos vom Lichtteilchen, das von den Sterngöttern auf die Erde kommt, denken. Das ist aber hier nicht der Fall. Allerdings möchte ich nicht eine Entweder- oder-Konzeption entwerfen. Ich halte beide Auslegungen des Gottgleichen für möglich, die des irdischen Herrschers oder die des Präexistenten Christus. Allerdings vermute ich eine zeitliche Bedeutungsverschiebung: das frühchristliche Lied besang den irdischen Herrscher, der sich wie Pompeius bei Cicero um die Untertanen kümmerte, in der späteren Theologie wurde die Linie der Erniedrigung unter dem Einfluss gnostischer Ideen so verlängert, dass der Abstieg im Himmel beginnt.

Der Johannes-Prolog, Joh 1,14

Im Prolog des Johannesevangeliums Joh 1,14 heißt es: Wir sahen seine Herrlichkeit... Das Wort ist eingebettet in den Mythos vom Wort (griechisch: Logos), das Gottes Sohn und Schöpfungsmittler ist und in Jesus als Mensch auf die Erde kommt. Der ganze Vers heißt:

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Joh 1,14

Das Wort ward Fleisch beschreibt das, was mit dem Fachausdruck Inkarnation genannt wird. Ein Gott erscheint auf der Erde, eine Formel, die jedem, der einmal griechische Sagen gelesen hat, geläufig ist. Wenn Zeus oder Dionysos in ihrer realen Gestalt auf einen Menschen treffen, geht die Begegnung für den Erdenbürger tödlich aus. Deshalb können die Götter, wenn sie sich Sterblichen nähern, nur inkognito, in menschlicher Gestalt, reisen. Der Mythos im Johannes-Prolog variiert die Szenerie: Der Gott reist nicht inkognito, er reist auch nicht als Gott, sondern hat sich in einen Menschen verwandelt. Der Evangelist will nun die positive Wirkung beschreiben, die der Gott trotz Verwandlung (Inkarnation) auf die Jünger machte. Er schreibt: Wir sahen seine Herrlichkeit. Das griechische Wort doxa, das Luther mit Herrlichkeit übersetzt, meint hier die Aura eines Gottes, den Lichtglanz, der einen Gott umgibt, an der die Jünger Jesu Göttlichkeit erkannt haben wollen.

Was hat das mit der sozialen Prägung und der Familie Jesu zu tun? Die Herrlichkeit Gottes korrespondiert mit der Herrlichkeit, der Aura, der Ehre und Ehrerbietung, die einem antiken Herrscher zukommt. Aber woran könnten die Jünger Jesus erkannt haben, wenn der nur ein armer Wanderprediger war? Einem armen, immer hungrigen Philosophen, der höchstens schöne Geschichten erzählt, kommt die Aura, die Ehre, die Herrlichkeit eines Gottes nicht zu. Als Agrippa I. 44 n. Chr. in einem reich verzierten königlichen Gewand sich auf seinen Thron setzt und eine Rede an sein Volk hält, da rufen die Zuhörer: Das ist Gottes Stimme, und nicht die eines Menschen! (Act 12,22). Götter werden in der Antike mit Reichtum, Schönheit, Glanz assoziiert, nicht mit bettelnden Philosophen. Wenn die Jünger sich an Jesus erinnern und dabei an die Aura, den Reichtum eines Gottes denken, kann Jesus zum Zeitpunkt der Jüngerbegegnung kein Wanderprediger gewesen sein. Oder? Ich möchte hier noch kein Urteil fällen, sondern zunächst einen Zweifel säen. Hier gibt es einen Widerspruch zwischen der gängigen Auffassung vom historischen Jesus als Wanderprediger und der Überlieferung des Johannesevangeliums. Das müssen wir im Gedächtnis behalten, wenn wir später die Frage der sozialen Prägung Jesu beantworten wollen.

Die Geburtsgeschichten

Matthäus und Lukas haben ihren Evangelien unterschiedliche Berichte über die Herkunft, die Familie, die Eltern und Legenden über besondere Vorkommnisse bei der Geburt vorangestellt, Mt 1-2, Lk 1-2. Diese Berichte sind von den Evangelisten gestaltet worden und müssen deshalb in ihrer jetzigen Gestalt als späte Überlieferung eingestuft werden. Bei Lukas finden wir außerdem eine Geburtslegende Johannes des Täufers, die auf eine Überlieferung der Jünger Johannes des Täufers zurückgeht. Matthäus bringt eine judenchristliche Legende und datiert die Geburt Jesu nach der Herrschaftszeit des Königs Herodes, Lukas bietet eine heidenchristliche Legende und datiert die Geburt Jesu nach der Regierungszeit des Kaisers Augustus und nach einer römischen Steuerschätzung. Beide Evangelisten haben als gelehrte jüdische Arbeit einen Stammbaum Jesu übernommen, beide Stammbäume enden mit Jesu Vater Joseph, führen über die männliche Linie zu König David und zu den jüdischen Erzvätern Jakob, Isaak und Abraham, Lukas führt den Stammbaum weiter bis zu Adam. Die Stammbäume unterscheiden sich in vielen männlichen Vorfahren, schon der Großvater Jesu, der Vater Josephs heißt bei Matthäus Jakob und bei Lukas Eli. Matthäus erwähnt in seinem Stammbaum auch vier Frauen aus dem Alten Testament: Tamar, Genesis 38, Rahab, Josua 2, Ruth, Buch Ruth, die Frau des Uria, 2. Samuel 11 (Bathseba). Alle vier Frauen gehören nicht zu den bekannten Stammmüttern Israels oder Judas, sondern sind Frauen mit Vergangenheit, die wegen ihrer Taten oder ihrer Geschichte in der Heilsgeschichte Israels ihren Platz gefunden haben. Was das für Maria bedeuten könnte, dazu unten mehr.

Die Bedeutung der Stammbäume liegt nicht in der Liste der Vorfahren, sondern in dem Glauben der christlichen Gemeinden, der sich in ihnen ausdrückt. Um die Jahrhundertwende vom 1. zum 2. Jahrhundert n. Chr. waren die Christen der Meinung, dass Jesus seine Ahnenreihe bis zu König David und Abraham zurückführen konnte. Ob damit Grundbesitz oder Ehrentitel verbunden waren, ist damit noch nicht gesagt, ein Nobody wird Jesus aber doch nicht gewesen sein. Natürlich kann man das alles für das Ergebnis der wuchernden Legende halten, die irgendwann einsetzte, plausibler ist es, die Stammbäume - getrennt vom Sohn-Davids-Titel - mit einer kürzeren Ahnenreihe eines Grundbesitzers zu verbinden, dessen Sohn sich einen Namen gemacht hat. Für sich genommen, sind die Stammbäume kein hinreichendes Argument für die Herkunft Jesu aus der sozialen Oberschicht, zusammen mit anderen Hinweisen sind sie ein wertvolles Teil in einem größeren Puzzle.

Wo stimmen die Geburtsgeschichten des Matthäus und des Lukas noch überein? Sie nennen beide die Mutter Maria, den Vater Joseph, den Geburtsort Bethlehem, den Wohnort der Familie Nazareth und machen keine Angaben zu Grundbesitz oder Vermögen, die offenbar nicht vorhanden waren. Beide Evangelisten führen Legenden an, die auf die kommende Bedeutung des Neugeborenen hinweisen, bei Matthäus sind es die Sternerscheinung, die Sternkundigen aus dem Osten und die Gegenüberstellung alter König Herodes und neuer Messiaskönig Jesus, bei Lukas sind es die Hirten in der Nähe, die von Engeln über das Ereignis informiert werden und die die frohe Kunde verbreiten. Die matthäische Legende über die Rivalität der beiden jüdischen Könige ist aus sich selbst verständlich, die Hirten haben bei den Auslegern oft Verwunderung hervorgerufen. Hier ist daran zu erinnern, dass in der antiken Literatur die Jagd als gute Vorbereitung auf den Krieg und das Weiden von Herdentieren als gute Vorbereitung für den zukünftigen Staatenlenker angesehen werden. Lukas denkt bei den Hirten also erst in zweiter Linie an das idyllische Hirtenleben, zuerst aber an die Hirten der Völker, an Könige und Fürsten, die dem zukünftigen Herrn der Welt ihre Reverenz erweisen müssen. Die Erwähnung der Hirten korrespondiert also mit der Angabe des Kaisers Augustus und dessen Statthalters in Syrien, Quirinius, unter deren Herrschaft Jesus nach Lukas geboren wurde.

Die Familie Jesu

Während in den Evangelien von Vater und Mutter und von der Geburt Jesu Legenden erhalten sind, fehlt jede Information über den familiären Hintergrund, sieht man einmal von der späten Notiz über die Mutter und die Geschwister Jesu in Mk 6,3 ab. Aber es gibt zwei Informationen aus früher Zeit, die hier zu besprechen sind. Wie im Anhang A7 erläutert, wurden die Schriften des Alten Testaments erst in der Mitte des 1. Jahrhunderts abgefasst, und die Gestalt Jesu wird dort häufig als Vorlage verwendet. Die Parallelen zwischen Johannes dem Täufer und dem Propheten Elia sind augenfällig und ausreichend thematisiert worden, in Luk 4,27 wird sogar ausdrücklich auf ein Wunder des Elisa verwiesen. Meist wird vermutet, Johannes habe sich als der neue Elia gesehen und sich entsprechend gekleidet und verhalten. Vergleicht man das alttestamentliche Prophetenpaar Elia und Elisa mit den neutestamentlichen Gottesmännern Johannes dem Täufer und Jesus, so liegt der umgekehrte Schluss nahe, dass die alttestamentlichen Propheten Elia und Elisa nach den neutestamentlichen Personen Johannes und Jesus gestaltet wurden. Diese Abhängigkeit wird uns noch beschäftigen. Hier setzen wir sie voraus und fragen nach dem in 1 Kön 19,19-21 berichteten familiären Hintergrund des Propheten Elisa. In 1 Kön 19,19 heißt es: Elisa pflügte mit zwölf Jochen (Gespannen) und war selbst bei dem zwölften. Die zwölf Gespanne werden meist und zu Recht als Hinweis auf den Wohlstand der Familie des Elisa angesehen. Den Namen des Vaters Schafat (=Jahwe richtet) könnte man als Hinweis auf eine richterliche Funktion eines Gutsherrn interpretieren. Elisa verabschiedet sich nicht nur von seinen Eltern, sondern mit einem Festmahl auch vom Volk, was auf die soziale Verantwortung Elisas, und wenn die Parallele zu Jesus richtig ist, auf das Abschiedsmahl Jesu hindeutet.

In 1 Sam 16 wird der Prophet Samuel von Gott zu dem Bethlehemiter Isai gesandt, unter dessen Söhnen Gott den nächsten König Israels bestimmen will, den Samuel dann sofort salben, also zum König weihen soll. Samuel lädt den Isai mit seinen sieben Söhnen und die Ältesten von Bethlehem zum Opfer, also zu einem heiligen Festmahl, bei dem er die mitgebrachte junge Kuh schlachten wird. Der erwählte neue König Israels ist dann David, der jüngste Sohn, der nicht am Festessen teilnehmen konnte, weil er die Schafherde der Familie weiden musste. David wird später an den Hof des Königs Saul kommen, den Königssohn Jonathan zum Freund gewinnen und Nachfolger König Sauls werden. Die Konkurrenz zwischen Jesus und Herodes, die Matthäus in der Geburtsgeschichte schildert, spiegelt sich in der Konkurrenz zwischen David und Saul. - Der Vater Davids, Isai, ist mit sieben Söhnen, die, so darf man voraussetzen, in der väterlichen Viehwirtschaft tätig sind, ein wohlhabender Mann, er gehört, wenn ein Sohn der nächste König werden soll, zu den angesehensten Bürgern des Landes.

Zusammenfassend können wir sagen: In den alttestamentlichen Geschichten, die die Gestalt Jesu porträtieren, gibt es zwei Berichte über die Familie des Porträtierten, die diese Familie einmal zu der wohlhabenden Oberschicht zählen, das zweite Mal zu den ersten Familien des Landes.

Personennamen in der erzählenden Literatur

Namen drücken Beziehungen aus, das gleiche gilt von Verwandtschaftsbezeichnungen. In der Kirche sprechen sich die Mitglieder mit Brüder und Schwestern anstatt mit Damen und Herren an, in manchen Parteien ist die Anrede Genosse üblich, in Genossenschaften die Anrede Genossenschafter. In der kirchlichen Hierarchie gilt auf der gleichen Hierarchieebene oder nach unten die Anrede Bruder, Schwester, nach oben die Anrede Vater, etwa Heiliger Vater für den Papst, oder Mutter, etwa Mutter Oberin. Bei der Auslegung von Bibeltexten oder anderen antiken Texten ist jeweils zu prüfen, ob Verwandtschaftsbezeichnungen buchstäblich oder im übertragenen Sinn zu verstehen sind. Das gleiche gilt übrigens auch für Verwünschungen wie das Wort Satan, das den Gegenspieler Gottes oder auch einen Menschen bezeichnen kann, z. B. Petrus in Mk 8,33; Mt 16,23.

Die urchristliche Überlieferung im Wandel

Die erste Generation einer neuen Bewegung interessiert sich für die Worte und Taten der Anführer, die ihr Orientierung bieten für weitere Aktionen und die Fortführung der Bewegung. Wenn in der zweiten und dritten Generation das aufopfernde Engagement des Anfangs einer gewissen Routine gewichen ist, wenn Phasen von aufregenden Aktionen mit Phasen des Innehaltens und der Ruhe abwechseln, wenn die nächste Generation von Mitgliedern in der Theorie des Kampfes unterwiesen werden muss und Außenstehende mit einer schönen Legende gewonnen werden sollen, beginnt die Rückschau auf die Anfänge und auf die Lebensläufe der Gründer. In vielen Fällen sind exakte Informationen bereits unwiederbringlich verloren, in manchen Fällen sind die bekannten Begebenheiten nicht so erbaulich wie erwünscht. Das ist die Stunde der Literaten, die die Dichtung im Allgemeinen und die Botschaften der Konkurrenz im Besonderen kennen und wissen, wie man die eigene Bewegung ins rechte Licht rückt. Da werden Ungeschicklichkeiten und Fehler des Anfangs wortreich umschifft, die Erfolge, glücklichen Zufälle und glückverheißenden Umstände gebührend herausgestrichen. Solange die mündliche Überlieferung andauert, hat man den Vorteil, die Erinnerungen selbst immer wieder so umgestalten zu können, dass sie den aktuellen Erfordernissen entsprechen. Ist die Überlieferung einmal verschriftet, kann man die alten heiligen Texte nur noch kommentierend ergänzen, mit aktuellen Einleitungen und abschließenden Zusammenfassungen versehen oder vorsichtig angepasste neue Fassungen erstellen.

In den neutestamentlichen Evangelien können wir diesen Prozess der Überlieferung nachverfolgen. Paulus übermittelt im 1. Korintherbrief einzelne Überlieferungsstücke zur Passionsgeschichte, Markus stellt die Überlieferungen der Einzelkirchen des Jakobus, des Johannes und des Petrus zusammen, Matthäus und Lukas fügen biographische Einleitungen hinzu, ergänzen mit der Logienquelle Q, aktualisieren den Text vorsichtig und runden den Text mit Auferstehungserzählungen ab. Johannes verwendet die Passionsgeschichte des Markus und schreibt im Übrigen ein für seine Gemeinden zugeschnittenes Evangelium. Ist der Überlieferungsprozess einmal abgeschlossen (Kanon), wird die ganze Sammlung zu heiligen Texten, die in unserem Falle bis in die Gegenwart zur Unterweisung und zur Erbauung der Gemeinden verwendet werden. Die verschrifteten Texte werden heute so wie am Anfang eingeleitet, kommentiert und zusammengefasst und den aktuellen Bedürfnissen angepasst. Die theologischen Kommentierungen zielen dabei auf eine Aktualisierung und die Vermeidung von Anstoß erregenden mythischen Bildern und heute unverständlichen übernatürlichen Vorstellungswelten.

Maria und Joseph, die Eltern Jesu, sind von der theologischen Kritik weitgehend unberührt geblieben. Während die Jungfrauengeburt beinahe stillschweigend als zeitbedingter Mythos entsorgt wurde und der Geburtsort Bethlehem wegen des Schriftbeweises Micha 5,1 der modernen Kritik anheimfiel, blieben die aus der Weihnachtsgeschichte liebgewordenen Eltern Maria und Joseph von Kritik verschont. Während die Stammbäume mit der biologischen David-Sohnschaft abgeräumt wurden, blieben die Mitteilungen über die Geschwister Jesu, den Wohnort Nazareth und den Beruf des Vaters, den Jesus übernahm (Bauhandwerker), unangetastet. So wurde aus der biblischen Legende des 1. Jahrhunderts eine unanstößige geradezu biedermeierliche Idylle, ein modern anmutendes kleinbürgerliches jüdisch-frommes Handwerkeridyll. Die biblische Idylle, die die Geburtslegenden ausstrahlen, wurde in eine moderne bürgerliche Idylle übertragen. Die religiöse Aktualisierung ist geglückt. Die historische Rückfrage darf beginnen.

Joseph

Der Name Joseph ist im Neuen Testament bis auf die Ausnahme des Bruders Jesu in Mt 13,55 väterlichen Figuren vorbehalten. Neben dem aus dem Alten Testament bekannten Erzvater Joseph und Vorfahren Jesu im Stammbaum bei Lukas wird auch der Vater Jesu Joseph genannt, außerdem Joseph von Arimathäa, ein väterlicher Freund, der den Leichnam Jesu von Pilatus erbittet und ein Grab für Jesus zur Verfügung stellt, der Apostel und Mentor des Paulus, Joseph Barnabas in Act 4,36 und der Kandidat für die Apostelnachfolge nach Judas, der sonst nicht erwähnte Joseph Barsabbas, Act 1,23.

Barnabas, in Act 4,36 Joseph Barnabas genannt, ist eine wichtige Person im Urchristentum, über die wir gern mehr wüssten als die wenigen Informationen, die die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe bereitstellen. Die berichtete Gütergemeinschaft der ersten Christen halte ich für ein Kennzeichen der Johanneskirche, deshalb sehe ich in Barnabas einen frühen Apostel der Johanneskirche. In Act 4,36f wird er als Levit und aus Zypern gebürtig vorgestellt, es heißt weiter, dass er einen Acker besaß, den er verkaufte und das Geld der Gemeinde spendete. Barnabas war wohl ein früher Heidenmissionar der Johanneskirche, er war es auch, der nach Act 11,25f Paulus in Tarsus aufsuchte und mit ihm zusammen nach Antiochien zurückkehrte. In Act 13,1 führt er die Liste der Propheten und Lehrer in Antiochien an. In Lystra werden er und Paulus nach Act 14,8ff wegen eines Wunders für Götter gehalten, Barnabas für Zeus und Paulus für Hermes, weil er das Wort führte, Vers 12. Am Apostelkonzil Act 15 nahm Barnabas neben Paulus als Vertreter der Heidenchristen aus Antiochien teil.

Der Ratsherr Joseph von Arimathäa, der auch auf das Reich Gottes wartete, Mk 15,43, ist eine literarische Gestalt aus der Passionsgeschichte der Synoptiker. Markus hat die Episode der Grablegung, in der Joseph von Arimathäa auftritt, aus der Überlieferung der Passion der Johanneskirche übernommen, aber nach der Ilias Homers umgestaltet: Wie der greise König Priamos in Ilias XXIV sich in die Höhle des Löwen wagt und von Achill den Leichnam seines Sohnes Hektor erbittet, den Achill im Kampf getötet hat, so wagt sich der angesehene Ratsherr Joseph von Arimathäa in den Palast des Pilatus und erbittet den Leichnam des von Pilatus gekreuzigten Jesus. Wie im Epos Homers wird der Pietät Genüge getan, die Bitte wird erfüllt und Joseph erhält den Leichnam zur Bestattung.

Joseph, der Vater Jesu, wird in den Evangelien erst sehr spät erwähnt. Der älteste Evangelist Markus kennt Joseph noch nicht. Erst die späteren Evangelien Matthäus, Lukas und Johannes erwähnen ihn. In der Geburtsgeschichte des Matthäus wird Joseph in Träumen in seine Rolle eingewiesen. In Mt 1,20; 2,13 und 2,19 wird die Handlungsweise des frommen Joseph mit Träumen motiviert. Hier können wir die Gestaltung des Evangelisten erkennen, der Joseph mit der Jungfrau Maria, dem Stern und den Magiern sowie dem Kindermord verbindet. In der Geburtsgeschichte in Lk 2 ist ebenfalls die Hand des Evangelisten zu erkennen. Die Verbindung mit den Zeitangaben in Lk 2,1 und die Erwähnung der Steuerschätzung, die ihrerseits die Reise Josephs motiviert, gehen auf Lukas zurück. In Lk 4,22 und Joh 6,42 wird Jesus, den man als Sohn Josephs kennt, kritisiert nach dem Spruch: Der Prophet gilt nichts in seiner Vaterstadt, in Joh 1,45 wird Jesus als Sohn Josephs identifiziert. Der Beruf Josephs: In Mk 6,3 wird als Beruf Jesu Zimmermann genannt. In der Übernahme bei Mt 13,55 wird derselbe Sachverhalt mit Sohn des Zimmermanns