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Der immer neue Exodus E-Book

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Beschreibung

Der Exodus stellt ein Grunddatum biblischer Überlieferung dar. Seine mannigfaltigen Rezeptionen und Variationen prägen wichtige Bereiche des Judentums und wurden darüber in das frühe Christentum und bis in den Islam vermittelt. Rezeption ist jedoch immer ein wechselseitiger Vorgang. Tradierung bedeutet Aneignung, und dies führt zu Transformationen, nicht nur der Rezipienten, sondern auch des Rezipierten. Dadurch wird der Exodus immer wieder neu geschrieben, und nur so konnte er in immer neuen religiösen, politischen und sozialen Konstellationen neuen Sinn generieren. Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen der Frage nach, warum und mit welcher aktualisierenden Ausprägung das Motiv in konkreten historischen Situationen aufgenommen wurde, wie es diese transformierte und zugleich selbst neu geformt wurde. Damit dokumentiert der Band die Kraft, die in der je neu belebten Befreiungserfahrung steckt.

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Carolin Neuber (Hg.)

Der immer neue Exodus

Aneignungen und Transformationen des Exodusmotivs

STUTTGARTER BIBELSTUDIEN 242

Begründet von Herbert Haag, Norbert Lohfink und Wilhelm Pesch Fortgeführt von Rudolf Kilian, Hans-Josef Klauck, Helmut Merklein und Erich ZengerHerausgegeben von Christoph Dohmen und Michael Theobald

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2018Alled Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Finken & BumillerSatz: SatzWeise GmbH, TrierDruck: Sowa Sp. z.o.o., WarschauPrinted in Poland

www.bibelwerk.deeISBN 978-3-460-51057-9ISBN 978-3-460-03385-6

Inhalt

Ein altes Motiv immer neu – Zu den Transformationen des Exodus.Eine Einführung

Carolin Neuber

Exodus – historisch, mythisch, theologisch

Andreas Michel

„Und gedenke, dass du Sklave warst im Land Ägypten“ (Dtn 5,15).Zur Transformation des Exodusmotivs durch seine Verknüpfung mit der Sabbattradition

Alexandra Grund-Wittenberg

Auszug in die Wüste des Gerichts.Transformation des Exodusmotivs in Ez 20

Carolin Neuber

The Exodus – The Biblical Big Bang:Reading Psalm

Yair Zakovitch

Auszug unter dem Joch der Sklaverei.Transformationen des Exodus im Galaterbrief

Hans-Ulrich Weidemann

Exodus und Pesach: Transformation durch Interpretation im frühen Christentum und im Judentum

Clemens Leonhard

Christus – unser Passah?!Zu Rezeption und Transformation des Exodus in der christlichen Liturgie im Angesicht des Judentums

Stephan Winter

Das Exodus-Motiv im Midrasch Schir ha-Schirim Rabba

Agnethe Siquans

Der Exodus im Koran

Catharina Rachik

The Exodus theme in Jewish Tradition

Jonathan Magonet

Von der Befreiung des Schülervolkes von Rektor-Pharao.Das Exodusmotiv in der gelben Transformation derSimpsons

Johannes Heger

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

Ein altes Motiv immer neu – Zu den Transformationen des Exodus

Eine Einführung

Von der Transformation eines Motivs, eines Motivkomplexes oder einer Tradition ist in exegetischer Literatur nicht selten zu lesen. In der Regel ist damit die gegenüber vorherigem Gebrauch bewusst veränderte Wiederaufnahme von etwas gemeint, das schon früher seinen Platz in der Überlieferung hatte. Im vorliegenden Band wird der Begriff „Transformation“ in einem ähnlichen, jedoch wesentlich geschärften Sinn verwendet, der sich am Transformationskonzept orientiert, das im Sonderforschungsbereich „Transformationen der Antike“ (SFB 644) an der Humboldt-Universität Berlin entwickelt und von Thomas Böhme programmatisch formuliert wurde.1Am Beispiel der klassischen Antike wurde im Rahmen dieses Sonderforschungsbereichs ergründet, wie die Vergangenheit und der Zugriff auf sie in Beziehung zu setzen sind. Die Vergangenheit ist demnach nichts, das, einmal geschehen, unverändert feststeht und von späteren Zeiten als Faktum aufgedeckt, objektiv betrachtet und aneinandergereiht werden könnte. „Vielmehr wird die Vergangenheit erst im Effekt ihrer Transformation gebildet, modelliert, verändert, angereichert, aber auch negiert, verfemt, vergessen oder zerstört.“2Dennoch ist sie auch nicht bloß rückblickende Konstruktion, da der Zugriff auf die Vergangenheit über real existierende Artefakte (Quellen und Monumente) geschieht. Die Artefakte bilden aus sich heraus wiederum nicht schon die Vergangenheit ab, der sie entstammen. Erst durch ihre Rezeption wird ein Zeugnis der Vergangenheit hervorgebracht, das ebenso sehr ein Zeugnis der Kultur ist, in der die Rezeption stattfindet. Die Berliner Forscher fassten diesen Zusammenhang unterden von ihnen neu geschaffenen BegriffAllelopoiese, das gegenseitige Erschaffen von Aufnahmekultur und Referenzkultur.3

Vergangenheit entsteht nach diesem Konzept erst in einem offenen Prozess in der Aneignung durch die Akteure der jeweiligen Gegenwart (diese können Personen sein, aber auch Institutionen, Diskursformationen u.a.). Indem die Rezipienten ihre eigene, auf dem Rezipierten aufgebaute oder davon distanzierte Kultur erschaffen, konstruieren sie zugleich das Rezipierte in einer Weise, die der eigenen Kultur entspricht. Der Transformationsprozess verläuft dementsprechend interdependent und asymmetrisch zwischen Referenz- und Aufnahmekultur. Das Rezipierte wird nicht nur einseitig übernommen, sondern auch verändert, so dass sich für jede historische Zeit, für jeden Aufnahmekontext ein anderes Bild der Referenzkultur ergibt. Bei diesem Vorgang entstehen häufig Transformationsketten, indem jede neue Gegenwart in ihrer kulturellen Produktion auf den Ergebnissen früherer Transformationen aufbaut. „Transformationen sind dabei performative Akte von Beobachtern, die ihre Konstruktionen von Objekten kommunizieren. Im Effekt entstehen dabei zugleich eine Antikeundeine kulturelle Identität, welche sich in Referenz auf eben diese Antike konstituiert.“4So kann sich etwa eine bestimmte Zeit an Merkmalen der klassischen Antike orientieren, die nicht eigentlich der Antike eignen, sondern dem Bild, dass sich die Aufnahmekultur von dieser macht.

Das Transformationskonzept des Berliner Sonderforschungsbereichs hat den Anspruch, ein generalisierbares Modell darzustellen, das über die Geschichtswissenschaften hinaus anwendbar und fruchtbar ist.5Geradefür die Erforschung der Bibel, ihrer Überlieferung und Rezeption scheint es ein geeignetes Werkzeug zu sein. Hierbei sticht besonders das Exodusmotiv als Untersuchungsgegenstand hervor, das über einen langen Zeitraum in einer schier endlosen Transformationskette konstruiert und immer neu erfunden wurde. Das Exodusmotiv gehört zudem ins Zentrum biblischer Überlieferung und Theologie. Der Exodus stellt als Erzählung einer Befreiung aus Unterdrückung ein Grunddatum biblischer Überlieferung dar und konstituierte als Identifikationsmerkmal nicht nur dieIdentität des biblischen Israel als Gottesvolk. Schon seine literarische Fixierung im Buch Exodus ist unlösbar mit den komplexen innerjüdischen Prozessen der Entstehung und der Kanonwerdung der Tora verbunden. Darüber hinaus wirkte das Exodusmotiv in vielfältigen literarischen, liturgischen, politischen und sozialen Formationen weiter: in der Rezeption durch die Propheten im Babylonischen Exil, die einen neuen Exodus ankündigten, in den Geschichtspsalmen und in anderen jüdischen Texten, aber auch im frühen Judenchristentum, wo das Christusgeschehen vor diesem Hintergrund gedeutet wurde, weiter in den diversen jüdischen und christlichen Liturgien – bis hin zur modernen Literatur, Kunst, Theologie und Religionspädagogik. Seine Transformationsgeschichte reicht weit über das Judentum hinaus, der Exodus zählt auch im Christentum und sogar im Islam zu den grundlegendenidentity markers. Im Unterschied zu Sabbat, Speisegeboten und Beschneidung gehört der Exodus zu jenen Motiven, die sich in allen drei sog. abrahamitischen Religionen finden. Es lohnt sich also, dieses Motiv und seine Rezeption einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.6

Natürlich ist in den Bibelwissenschaften der Gedanke, dass ein Motiv oder eine Tradition bei ihrer erneuten Verwendung dem Aufnahmekontext entsprechend verändert werden kann, nicht neu. Doch wird bisher meist nur die eine Seite der Rezeption wahrgenommen, wie man beispielsweise an der folgenden Aussage erkennen kann: „Traditionen werden … in unterschiedlichen historischen Situationen relevant und als Modell für die Interpretation der je eigenen Erfahrungen verwendet. In diesem Zuge verändert sich dann häufig auch ihre konkrete, die Texte prägende und in Texten greifbare Gestalt.“7In dieser Sichtweise sind Motive und Traditionen feststehende, vorgegebene Komplexe, die aufgegriffen werden, weil sie zufällig gerade zur gegenwärtigen Situation passen und nur noch ihre äußere Gestalt verändern. Nach dem oben dargestellten Transformationsmodell ist der Sachverhalt jedoch differenzierter zu fassen, wie nun am Beispiel des Exodusmotivs erschlossen werden soll.

Rezeption ist demnach immer ein wechselseitiger Vorgang. Dass und wie die Exoduserzählung „Wirkung“ zeigte, ist nur die eine Seite dieses komplexen und Jahrtausende umfassenden Prozesses. Denn keineswegs wird ein in sich stabiles literarisches oder theologisches Motiv wie ein Gepäckstück von Generation zu Generation weitergereicht und unverändert in neue Kontexte vermittelt. Tradierung bedeutet immer Aneignung, und dies führt zwangsläufig zu Transformationen sowohl der Rezipienten als auch des Rezipierten. Auf der einen Seite wird das Motiv für den jeweiligen Aufnahmekontext „passend gemacht“, es wird im Blick auf die je eigene Situation erst neu konstruiert, es können Erwartungen an ein Motiv bewusst konterkariert werden – kurz: es wird eine für den eigenen Bedarf passendestoryerzählt, die oft nur wenig oder gar nichts mit der eigentlichenhistory, den historischen Gegebenheiten, zu tun hat.8Dabei entsteht eine Transformationskette, denn viele Wiederaufnahmen des Motivs beziehen sich auf frühere Transformationen, die sie vorfinden. Ein großer Teil der Exodus-Rezeption bezieht sich auf die Exodus-story, wie sie im Pentateuch erzählt wird. Dies ist aber bereits eine Rekonstruktion, die mehr über die Zeit ihrer Entstehung aussagt als über den eigentlichen „historischen“ Exodus. Wir wissen nicht, wie das Exodusereignis „gewesen ist“, wenn wir die Rezeption desselben betrachten. Wir wissen nur, wie in der jeweiligen Situation der Exodus „gewesen sein soll“, um jetzt hilfreich zu sein.9Jede Generation, jede Gemeinschaft erzählt ihre eigene Exodus-story. Auf der anderen Seite wirkt die jeweilige Exodus-storyauf ihren Aufnahmekontext ein. Die Verwendung eines Motivs führt dazu, dass der Diskurs, in dem sie erfolgt, angereichert wird, indem er sich z.B. Legitimation verschafft oder neue Verhaltensnormen etabliert. In dieser Sichtweise stellt das Exodusmotiv ein Element dar, das bei den Akteuren, in den Diskursformationen immer wieder einen solchen Transformationsprozess auslöst, in dem sich die Akteure für ihren jeweiligen Kontext neu schaffen und zugleich das verwendete Motiv transformieren. Damit ist es möglich, die Prozesse der „Rezeption“ des Exodusmotivs differenzierter zu beschreiben, nämlich als Aneignungsund Transformationsprozesse, die einen „Rückkopplungseffekt“ (Böhme) auf das rezipierte Motiv selbst haben.

In dem für die Antike erstellten Transformationsmodell werden die aus der Antike erhaltenen gegenständlichen Relikte, also Dokumente und Monumente, als Elemente wahrgenommen, die eine Rezeption entzünden und damit den Konstruktionsprozess der Referenzkultur in der jeweiligen Aufnahmekultur in Gang setzen. Im Falle des Exodusmotivs ist es schwierig zu bestimmen, worin diese „Relikte“ bestehen können, da das Exodusereignis, falls es überhaupt je stattgefunden hat, im Dunkel der Geschichte verborgen liegt.10Die immer neuen Transformationen machen den Exodus erst zu dem, was er als Exodus seinkann. Wie für die Transformationen der Antike gilt auch für den Exodus: „In den Transformationsakten wird also diePotentialität[des Transformierten]kreiertund es wirdnichtvordringlichentdecktoderfreigelegt, was [es]‚in Wirklichkeit‘ gewesen sein mag.“11Und wie für die Antike mag sich auch hier Einspruch regen, der fragt, wie es bei einer solchen Auflösung des Rezeptionsgegenstands dennoch zur bekannten Kontinuität in der Verwendung des Exodusmotivs kommen konnte.12Offenbar enthält die Geschichte vom Exodus auch ein großes Beharrungsvermögen, eine Widerständigkeit, einen fast unveränderbaren Kern. Die Spannung zwischen Kontinuität und Potentialität, die für das Exodusmotiv gegeben zu sein scheint, ist die Grundlage für seine bis heute prägende Kraft. So konnte es in immer neuen religiösen, politischen und sozialen Konstellationen (Dispositiven) immer neuen Sinn generieren – zum Teil eben „neuen“ Sinn im wahrsten Sinne des Wortes.

Dieser Sammelband ist der Rekonstruktion des Exodusmotivs in solchen unterschiedlichen religiösen und politischen Kontexten gewidmet. Die Beiträge gehen der Frage nach, warum und mit welcher je neuen Ausprägung das Motiv in konkreten historischen und sozialen Situationen aufgenommen wurde und welchen Interessen das jeweils diente. Sie bieten keine flächendeckende Beschreibung der Rezeption des Exodusmotivs, sondern setzen einzelne Schlaglichter. Die Analysen dokumentieren die Kraft, die in der immer neu belebten Befreiungserfahrung steckt: Warum kann sie in so verschiedenen Situationen hilfreich sein – und für wen? Und worauf kann sie heute noch antworten? Transformation ist dabei niemals „unschuldig“, dient sie doch in der Regel strategischen Interessen wie der Etablierung von Identität und Abgrenzung, meist im Kontext von Krisensituationen und Neuformierungen. Die einzelnen Beiträge sind grob chronologisch angeordnet, eine absolute Chronologie wurde aber nicht angestrebt. Sie folgen der Entwicklung derstoryvom ersten Exodusgeschehen – der Frage nach der Historizität eines Auszugs aus Ägypten – bis zur Adaption dieser Befreiungsgeschichte in einer Folge der US-amerikanischen FernsehserieThe Simpsons. Es ist zu hoffen, dass die hier vorliegenden Untersuchungen einen ersten Anstoß für nachfolgende vertiefende Arbeiten bilden.

Andreas Michelblickt in seinem Beitrag auf die ersten Anfänge des Exodusmotivs, den möglichen „historischen“ Auszug aus Ägypten, und auf die Verwendung des Motivs in Texten bis zum Babylonischen Exil. Mit der Rückfrage nach der Historizität legt Michel auch einen Prüfstein für die späteren Transformationen dieses Befreiungsgeschehens. Ausgehend von der Kritik einiger Vertreter der archäologischen Forschung, die den Exodus für einen Mythos halten, differenziert Michel anhand der (legendarischen Züge in der) biblischen Erzählung und historisch-archäologischer Fakten detailliert, was aus historischer Sicht nicht möglich ist und was gewesen sein könnte. Eine Flucht kleinerer semitischer Gruppen um 1200 v.Chr. aus Ägypten wird weithin als denkbar angenommen. Erzählungen hiervon könnten bei Bewohnern des efraimitisch-manassitischen Berglands auf fruchtbaren Boden gefallen sein, die noch bis ins 10. Jh. unter der Herrschaft der ägyptischen Großmacht litten und denen die Botschaft von der Befreiung aus der ägyptischen Unterdrückung Hoffnung und Identität stiftete. Weitere „Stationen“ des Exodusmotivs sind die Zeit der assyrischen Oberherrschaft im 8./7. Jh. und die babylonische Zeit im 6. Jh., die den fremden Mächten die Macht des eigenen Gottes JHWH entgegenstellen. Bereits in der frühesten Zeit nach einem möglichen historischen Exodusereignis dürfte die Botschaft von der Befreiung aus Unterdrückung daher aufgegriffen worden sein, wobei „Ägypten“ zur Chiffre für die jeweilige Macht stand, der die Träger der Erzählungen begegnen wollten. Diese Erzählungen wirkten zugleich identitätsstiftend und prägten das Selbstverständnis der Trägergruppen als schwach und hilfsbedürftig, doch im Glauben an den Retter-Gott JHWH den Unterdrückern ebenbürtig oder gar überlegen. Es wird deutlich, dass das Exodusmotiv schon in den ersten Anfängen im Rahmen einer Transformationskette aufgebaut wurde – und so in die schriftlichen Zeugnisse Israels hineinwirkte.

Die Konstruktion und Transformation des Exodus in der hebräischen Bibel beleuchten drei Einzeluntersuchungen exemplarisch für die drei Kanonteile Tora, Propheten und Schriften.Alexandra Grund-Wittenberggeht der Verbindung von Exodus und Sabbat im Dekalog (Dtn 5,12–15) und in der priesterlichen Exoduserzählung nach. Die Arbeitsruhe erinnert nach Dtn an die Ausbeutung der Israeliten im Sklavenhaus Ägypten, was durch die Betonung der Arbeitsruhe gerade auch für die Sklavenhervorgehoben wird. Der Sabbat wird zu einem regelmäßigen kleinen Exodus aus knechtlicher Arbeit. Umgekehrt wird die Erinnerung an den als Erfahrung der Befreiung aus dem Sklavenhaus gezeichneten Exodus zum Impulsgeber für die Gesellschaft und befestigt zugleich Israels Identität als Volk der Befreiung. Im priesterlichen Duktus wird der Sabbat in den Zusammenhang der Auszugs- und Wüstenüberlieferung eingebunden. Für P ist der Exodus kein Selbstzweck, sondern Beginn der Entstehung Israels als Gottesvolk, mithin nicht nur Befreiungvonden Lastarbeiten der Ägypter, sondern vor allem BefreiungzumLeben in Gottes Gegenwart. Die Teilnahme an den beiden Exodus-Gedenkfesten Pesach und Sabbat befördert das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die eng an ihren Retter-Gott gebunden ist und daraus Solidarität mit den sozial Schwachen zieht.

Ganz anders der Geschichtsrückblick in Ez 20*, mit dem sich der Beitrag vonCarolin Neuberbefasst: Ägypten ist nicht mehr das Sklavenhaus, sondern der Ort, an dem Israel den „Götzen Ägyptens“ anhängt. Die Herausführung aus diesem Land, die zugleich ein Bekenntnis zu JHWH als einzigem Bezugspunkt des Volkes fordert, scheitert. Das Befreiungsgeschehen wird zum Gericht. Kein anderer Text des Alten Testaments zeichnet den Exodus so negativ wie dieses Kapitel des Ezechielbuches. Während der Auszug aus dem Land der Unterdrückung in anderen Texten identitätsstiftend wirkt oder, in späten Texten aus dem Babylonischen Exil, die Hoffnung auf Restitution im eigenen Land wachhält, zerstört Ez 20* jegliche Bezugnahme auf den positiven Anfang, der sonst im Exodusereignis gesehen wird. Damit spricht der Text in die Situation des Exils hinein: Die Herausführung und Sammlung aus dem fremden Land ist zwar die Hoffnung der Exilierten, ihnen wird jedoch mit der Unheilsgeschichte vor Augen geführt, dass ohne eine klare Entschiedenheit für JHWH keine Zukunft möglich ist. Dass Ägypten nicht mehr als Sklavenhaus gezeichnet wird, sondern als Ort des Abfalls der Väter zu den Götzen, der von den Söhnen perpetuiert wird, macht aus den einstigen Opfern von Unterdrückung nun schuldig gewordene Täter der Übertretung. Die Transformation des Motivs ist extrem, die Erwartungen der Hörer/Leser werden bewusst durchkreuzt, um auch bei ihnen eine Transformation auszulösen.

In eine noch spätere Entstehungszeit ist Psalm 114 einzuordnen, der Traditionen von Schöpfung und Exodus zu einer neuen Aussageintention kombiniert, nach derYair Zakovitchfragt. Die großen Umwälzungen inder Schöpfung, die das Exodusereignis verursacht hatte, finden nach Ps 114 immer noch statt; Schöpfung, Geschichte (= Exodus) und Gegenwart sind eins. Der Exodus als biblischerBig Banghat Auswirkungen, die keine räumlichen und zeitlichen Grenzen kennen. Dasselbe gilt für den, der darin gehandelt hat: Gottes früheres Handeln verändert noch heute die Welt zum Guten. Damit trägt der Rekurs auf den als Heilsgeschehen für alle Zeiten und Räume konstruierten Exodus zur Konstitution einer Identität des erwählten Volkes bei.

Die nun folgenden fünf Artikel beleuchten, wie die Verwendung des Exodusmotivs in sehr unterschiedlichen Kontexten immer wieder auch zur Markierung von Gruppengrenzen dient, die in den ersten vier Fällen zwischen (früh)jüdischen und (früh)christlichen Gruppierungen der Antike und des Mittelalters verlaufen, im fünften Beitrag dagegen die entstehende muslimische Gemeinde betreffen.

Der Beitrag vonHans-Ulrich Weidemannwidmet sich dem Exodusmotiv im Galaterbrief, das von Paulus auf das Herausreißen der Christus-Gläubigen „aus dem gegenwärtigen bösen Äon“ übertragen wird. Das Befreiungsgeschehen des Auszugs Israels aus Ägypten wird dabei nicht bloß als Motivgeber und heilsgeschichtliche Parallele herangezogen, sondern für die Argumentation so verändert, dass es ins Negative gewendet wird: Das als Finale des Exodus gegebene Gesetz wird zu einer Art Verlängerung und Verschärfung der Versklavung und somit der in Christus gegebenen Verheißung kontrastiv gegenübergestellt. Die Exodus-storywird dadurch radikal transformiert: Statt in die Freiheit führt der Exodus „unter das Joch der Sklaverei“. Dies geschieht mit Blick auf die Adressaten des Galaterbriefes, die sich offenbar als Heidenchristen unter das jüdische Gesetz stellen wollten. Für sie gestaltet Paulus diese radikale Neuinterpretation des Exodusmotivs, damit ihre Wahrnehmung verändert wird: Die Tora ist nicht länger Garant der im Exodus gewonnenen Freiheit, sondern wird degradiert zum „Pädagogen“, dem Israel untersteht, bis Christus das Gesetz außer Kraft setzt und die Verheißung einläutet. Die Transformation des Exodusmotivs erfolgt zielgerichtet auf die Gegenwart der galatischen Gemeinde und ihre Praxis hin. Damit wird das Motiv verändert, die neue Konstruktion des Motivs hat aber auch wieder prägende Auswirkungen auf die Rezeptionsgemeinde, deren Geschichte zum eigentlichen Exodusgeschehen wird.

Clemens Leonhardplädiert in seinem Beitrag dafür, die antiken Transformationsprozesse wahrzunehmen, statt eine vermeintliche Kontinuität von Motiven und Bedeutungen seit der biblischen Literatur zu insinuieren. Dabei nehmen die frühen christlichen wie die jüdischen Traditionen bereits in einigen späten biblischen Schriften angelegte Deutungsmuster wieder auf und führen sie weiter. Der Exodus hat für die jüdische wie christliche Liturgie eine besonders große Rolle. Die Rezeption und Transformation des Motivs ist daher eng verbunden mit den Entwicklungen ritueller Praxis in der Ausformung des rabbinischen Judentums und des Christentums. Dabei spielt wohl auch die gegenseitige Abgrenzung der entstehenden Gemeinschaften eine Rolle. Was von den Christen antijüdisch aufgegriffen wurde, wurde vom Judentum eher nicht zur Schärfung der eigenen Identität herangezogen. Christliche Autoren bedienen sich eher der allegorischen Exegese der Schrifttexte statt aus ihnen direkt eine rituelle Praxis abzuleiten. So transformiert der Exodus die Liturgie und Identität der sich voneinander abgrenzenden Größen Judentum und Christentum, und er wird in der Auseinandersetzung zwischen diesen selbst in erheblichem Maße transformiert.

Dies wird in den Überlegungen vonStephan Winterim Blick auf die christliche Osternachtfeier und exemplarisch anhand des Elements des Pesachlammes weitergeführt und illustriert. Bereits in der frühesten Phase des Christentums sind das Gedenken an Passion und Sterben Jesu Christi und die Exodus-Thematik mit der Schlachtung und dem Verzehr der Pesachlämmer in typologischer Lesart miteinander verbunden. Die in Christus Erlösten deuten ihre Rettung im Bild vom Durchzug durchs Rote Meer, sie fühlen sich hineingenommen in dieses Ereignis der Geschichte Gottes mit seinem Volk, wobei Christus als neuer Mose firmiert und zugleich als geschlachtetes Pesachlamm verstanden wird, dessen Blut vor dem Würgeengel des ersten Pesach (Ex 12) schützt. In einer Initiale des Codex Gisle wird die Verbindung zwischen Eucharistie und neu gedeutetem Exodus polemisch antijüdisch aufgenommen. Transformation kann also nicht nur, wie bei Ez 20* gesehen, die Aussage des Motivs in ihr Gegenteil verkehren, sondern wie im Codex Gisle gar zu dem Zirkelschluss führen, dass der Antijudaismus der Aufnahmekultur doch bereits in der Referenzkultur (der Schrift) angelegt sei.

Wie S. Winter der Verwendung des Exodusmotivs in der Abgrenzung des Christentums vom Judentum nachgeht, so spürtAgnethe Siquansumgekehrt dem Motiv in der Abgrenzung des rabbinischen Judentums vom entstehenden Christentum an einem nur auf den ersten Blick ungewöhnlichen Ort nach: im Hohelied, genauer im Midrasch zum Lied der Lieder. Die Befreiung Israels aus Ägypten wird darin zum entscheidenden Deuterahmen für das Hld – oder wird vielmehr das Hld zum Deuteschlüssel des Exodusbuches, das so als Liebesgeschichte zwischen JHWH und seinem Volk gelesenwerden kann? Die Befreiung aus Ägypten ist demnach auf alle späteren Notsituationen typologisch übertragbar, sie realisiert sich primär in der Bindung an JHWH. So wird der Exodus zu einem zeitlosen Modell für die Beziehung Gott-Volk, das in Zeiten, in denen die eigene Identität angefragt ist (z.B. im Angesicht des entstehenden Christentums), stabilisierend wirkt. Der Text kann mit der eigenen Situation ins Gespräch gebracht werden. Die rabbinischen Vorstellungen von einem richtigen jüdischen Leben formen dabei die Lektüre des biblischen Textes und verändern so diese Texte selbst, jedoch innerhalb des Rahmens, den diese Texte bereitstellen. Gerade wenn die Gegenwart keine Anzeichen für Erlösung und Befreiung sehen lässt, bieten die Tora und ihr Studium die Möglichkeit eines „inneren Exodus“. Das so transformierte Exodusmotiv kann die Identität stärken und transformiert wiederum die Gemeinde.

Um Identitätsbildung und Abgrenzung geht es auch in der Rezeption des Exodusmotivs im Koran, wieCatharina Rachikherausstellt. Es dient Muḥammad und der gerade entstehenden muslimischen Gemeinde im Konflikt mit ihrer Umgebung zur Identifikation mit Mose und den „Dienern Gottes“ in deren Streit mit Pharao. Zugleich verweist der Koran im Rückgriff auf die biblische Tradition darauf, dass Muḥammad und seine Anhänger rechtmäßige Erben der religiösen Geschichte ihrer Vorläufer sind. Die Transformation entsteht in einem lebendigen Dialog zwischen der Offenbarung der Suren und der die Offenbarung empfangenden Gemeinde und antwortet auf deren zeitgeschichtliche Umstände, Nöte und Fragen. Aus den „Kindern Israels“ werden bisweilen allgemein „Diener Gottes“, eine Gemeinschaft von Gläubigen an den einen, wahren Gott. Der Konflikt mit Pharao und den ägyptischen Zauberern wird dadurch transparent auf den Konflikt Muḥammads und seiner Anhänger in Mekka: Auch in der Unterdrückung sollen sie an ihrem Glauben festhalten, denn dann wird Gott ihnen gegen das Böse beistehen. Aus dem Exodus aus Ägypten wird eine spirituelle Befreiung, eine Rettung durch den Glauben und aus dem Unglauben.

Ähnlich und doch ganz anders sieht RabbinerJonathan Magonetin der am jüdischen Sederabend je neu aktualisierten Exoduserinnerung eine Befreiungserfahrung, die ewige und universale Geltung hat. Wer am Sederabend teilnimmt, erlebt in den Ritualen selbst den Übergang von Sklaverei zu Freiheit. So konnte die Erzählung vom Exodus aus Ägypten in der Geschichte des jüdischen Volkes in jeder Generation Hoffnung auf ein Ende der Unterdrückung und Verfolgung stiften. Doch es geht heute darin nicht mehr nur um ein einzelnes Volk, sondern um jeden Einzelnen und um die ganze Menschheit. Das kann konkrete politische Auswirkungen haben, z.B. während der Civil Rights Movement in den USA der 1960er Jahre, als u.a. jüdische Rabbis und Anwälte gegen Rassismus und für die Rechte von schwarzen US-Amerikanern und US-Amerikanerinnen einstanden. So kann der Durchzug durchs Rote Meer zum Sinnbild werden für den Weg der Schwarzen in die „weißen“ Institutionen und Wohnviertel. Der transformierte Exodus entfacht politische Sprengkraft mit dem Ziel, unsere Welt umzugestalten. Gerade weil zum Sederabend in informellem Kontext Familie und Freunde zusammentreffen, bestehen unendliche Möglichkeiten, die Ur-Erzählung neu zu entzünden. Eine Herausforderung besteht dabei für J. Magonet darin, was es für den modernen Staat Israel bedeutet, dass die Unterdrückten der Exodusgeschichte nun zu Machthabern geworden sind.

Mit dem Beitrag vonJohannes Hegerwird ein säkularer Rezeptionskontext, die modernen Medien, betreten. Die US-amerikanische FernsehserieDie Simpsonswill unterhalten, tut dies aber, indem sie spitzfindig und pointiert unsere gegenwärtige Welt auf die Schippe nimmt und uns damit einen Spiegel vorhält, wobei dementsprechend auch religiöse Themen, Motive und Zitate eingespielt werden. Die Aufnahmekultur bringt sich auch hier in der Transformation der Referenzkultur hervor, sie offenbart darin ihre Bedürfnisse, Defizite und Fragen und ist somit auch für die theologische Forschung interessant. Der Exodus wird in der Serie unverkennbar angespielt, jedoch vollständig verfremdet, denn die theologische Aussage der Befreiungserzählung fällt komplett aus. Im Setting der Serie geht es nicht mehr um die Beziehung zu Gott, sondern um Deutung und (eigenmächtige) Bewältigung der Lebenswelt. Für die praktische Theologie stellt nicht nur diese Rezeption des Exodus die Frage, was die Exodus-storyheute noch, im religiösen wie im säkularen Umfeld, bedeuten und welche Kraft sie entfalten kann.

Selbst diese nur exemplarische Durchsicht der Transformationen des Exodus zeigt, dass der vorliegende Band ein lohnendes Projekt war, an dem viele Köpfe beteiligt waren, über deren Unterstützung ich mich freuen konnte. Mein erster Dank gebührt Prof. Dr. Hans-Ulrich Weidemann, der den Anstoß zur Fragestellung gegeben hat, mir mit steter Bereitschaft zur Diskussion, stetem Rat und unschätzbarer Hilfe zur Seite stand, auch als ich dann schon nicht mehr an seinem Lehrstuhl beschäftigt war. Dank auch den Kolleginnen und Kollegen vom Seminar für Katholische Theologie an der Universität Siegen, in dessen Umfeld es mir möglich war, das Projekt in Angriff zu nehmen. Drei der Beiträge nahmen ihren Anfang als Vorträge bei einer Lehrerfortbildung zum Thema Exodus, die am Siegener Seminar für Katholische Theologie veranstaltet wurde, und wurden für den hier vorliegenden Zusammenhang angepasst und überarbeitet. Ich danke Prof. Dr. Christoph Dohmen für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Stuttgarter Bibel-Studien, Herrn Dr. Michael Hartmann für die Betreuung im Lektorat und Herrn Dr. Jean Urban Andres und dem Team von SatzWeise GmbH für die Erstellung der Druckvorlage. Einen herzlichen Dank auch meiner Hilfskraft an der Universität Freiburg i.Br. Frau Antonia Lelle für unermüdliches Korrekturlesen. Zu guter Letzt bleibt mir, allen Beitragenden dafür zu danken, dass sie sich bereitwillig auf den neuen Blickwinkel der Transformation eingelassen haben. Wie im Gleichnis der Arbeiter im Weinberg erhalten alle Beitragenden den gleichen Dank – die, die geduldig auf die Publikation warteten, als sich das Projekt verzögerte, und die, die spontan aufsprangen und mit wichtigen Beiträgen Lücken schlossen – doch glücklicherweise ist Dank nicht zu quantifizieren.

Freiburg i.Br., Pesach/Ostern 2018

Carolin Neuber

1Vgl. hierzu grundlegend Böhme, H., Einladung zur Transformation, in: ders. u.a. (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, 7–37.

2Böhme, Einladung 8.

3Vgl. Böhme, Einladung 9.

4Böhme, Einladung 15, Hervorhebung i. Orig.

5Vgl. Böhme, Einladung 8.

6Dass sich das Exodusmotiv im Fokus der Wissenschaft befindet, zeigen die beiden kürzlich erschienenen Sammelbände zur Erforschung seiner Rezeption: J. Gärtner/B. Schmitz (Hg.), Exodus. Rezeptionen in deuterokanonischer und frühjüdischer Literatur (DCLS 32), Berlin/Boston 2016; M. Ederer/B. Schmitz (Hg.), Exodus. Interpretation durch Rezeption (SBB 74), Stuttgart 2017. Von ihnen unterscheidet sich der hier vorliegende Band durch den mit der Berücksichtigung des Transformationskonzepts veränderten Blickwinkel.

7H. Utzschneider/S. A. Nitsche, Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh32008, 194. In der 4. Aufl. (2014) wird stärker die „Plastizität“ (242) von Traditionen hervorgehoben.

8Zur Unterscheidung vonstoryundhistoryvgl. C. Frevel, Geschichte Israels (Kohlhammer Studienbücher Theologie 2), Stuttgart 2016, 19f.

9Das kommt der Konzeption nahe, die B. W. Breed für die Rezeptionsgeschichte der Bibel nahelegt (vgl. B. W. Breed, Nomadic Text. A Theory of Biblical Reception History, Bloomington/Indianapolis 2014, hier bes. 202–206): „Originaler“ Text und Kontext sind demnach nicht zu erfassen, vielmehr verändert sich ein Text (dies ist in seinem Sinne übertragbar auf ein Motiv oder eine Tradition) beständig im Laufe der Weitergabe. Breed schlägt daher vor, den Text (das Motiv, die Tradition) als „nomadisch“ zu betrachten: nirgendwo zu Hause, immer unterwegs von Kontext zu Kontext (oder, im hier verwendeten Modell: vonTransformation zu Transformation). Demnach ist der einzige Blickwinkel, von dem aus ein Text betrachtet werden kann, der aus einem jeweiligen Kontext. Ein „originaler“ Blickwinkel ist jedoch nicht mehr zu erheben. Auch wenn den Schlussfolgerungen Breeds nicht in aller Konsequenz gefolgt werden kann (es muss, wie er selbst implizit zugibt [ebd. 206], ein „erstes Mal“ gegeben haben, ein erstes Ereignis oder eine erste Erzählung, auch wenn diese sich im Dunkel der Geschichte verliert und Breed zugestimmt werden muss, dass das „Original“ nicht bestimmt werden kann), geben sie doch einen entscheidenden Wink für die Betrachtung biblischer Texte, der auch für das hier vorgestellte Modell interessant ist: Texte sollten nicht nach äußeren Kriterien („Wo kommt der Text her?“; Nationalität, religiöser oder zeitgeschichtlicher Kontext des „Autors“) eingeordnet werden, sondern nach internen Kriterien, die aus dem Text selbst erhoben werden, so dass sich die Frage einstellt: „Was kann dieser Text tun?“

10Vgl. dazu den Beitrag von A. Michel.

11Böhme, Einladung 15, Hervorhebungen i. Orig.

12Dabei wäre allerdings erst zu erheben, wie hoch diese Kontinuität objektiv tatsächlich ist, vgl. zu stark abweichenden Transformationen des Exodusmotivs u.a. die Beiträge von C. Neuber, H.-U. Weidemann und J. Heger.

Exodus – historisch, mythisch, theologisch

Andreas Michel

Die folgende Untersuchung fragt nach der Möglichkeit und den Bedingungen des antiken „Ereignisses“ Exodus, dem für unterschiedliche Gegenwarten, speziell jüdische, sinnstiftende Funktion, insofern „Geltung“ zukommt.1Es geht hier um die „Robustheit“2dessen, wovon die Exoduserzählung ausgeht, also um die Frage: Hat die Exoduserzählung, historisch gesehen, ein robustes Mandat, das sich gegen die Behauptung reiner Fiktionalität des Exodus zur Wehr setzen kann und die Basis eines nachmaligen Gedächtnisses darstellt?3Oder ist die einzige Auskunft, die man über die Historizität des Exodus treffen kann, diejenige von William Dever von 1997: „As a Syro-Palestinian archaeologist, I regard the historicity of the Exodus as a dead issue …“?4Ist die Historizität des Exodus auch für den gläubigen, speziell auch den jüdischen Bibelleser „a dead issue“, darf sie das sein? Ist das für eine seit dem II. Vatikanischen Konzil auch heilsgeschichtlich ausgerichtete christliche Theologie eine nachrangige, belanglose Frage? Lässt sich in der für das Alte Testament zentralen Formulierung: „JHWH hat Israel aus Ägypten herausgeführt“ ein historischer Kern ausmachen? War Israel überhaupt je in Ägypten? Ist der Exodus „mythische Gründungsgeschichte“, die sich dem historischen Zugriff entzieht, geradezu entziehen will, oder ist die Rede vom Mythos gar doch nur eine allzu moderne Immunisierungsstrategie gegen die schwierige historische Frage? Dem kundigen Leser des Neuen Testaments und der christlichen, gar katholischen Debatte um den historischen Jesus drängt sich da schon die eine oder andere Frage auf.5Der Exodus – ein Mythos?

Wenn es gelingt, den Exodus doch ein Stück weit vom Geruch des Todes zu befreien, soll in einem zweiten Zug nach frühen Transformationen dieses dann für historisch fundiert gehaltenen Motivs gesucht werden, nach mythischen Tiefendimensionen der Exoduserzählung speziell im Exodusbuch und der theologischen Funktion dieser Texte. Einer Erzählung wie in Ex 1–14 oder einem Gedicht wie in Ex 15 inhärieren natürlich ipso genere fiktive, mythische Elemente. Ohne sie funktioniert Erzählung, klingt Poesie nicht. Aber „nur“ Mythos? Gehen wir an die Bedingungen der Möglichkeit eines Exodus, auch wenn er ggf. sehr anders ausgesehen haben mag als im biblischen Exodusbuch gezeichnet.

1.Was der Exodus nicht ist bzw. nicht gewesen sein kann

Fangen wir mit dem an, was historisch einfach nicht geht.

1.1Die Anzahl der Flüchtenden

Nach Ex 1,5 sind einst in der Generation nach Jakob/Israel 70 menschliche Lebewesen nach Ägypten ausgewandert, wenige Generationen später allein 600.000 erwachsene Männer – in der Mehrheit Israeliten – aus Ägypten ausgezogen (Ex 12,37f.).6Solche Zahlen entspringen offenkundig der Großmannssucht. Das ist auch besser so, denn wenn wirklich vielleicht insgesamt 2.000.000 Menschen/Israeliten aus Ägypten ausgezogen wären, dann bekämen wir mit der Güte und Fürsorglichkeit des sie herausführenden Gottes ein großes Problem: Nach allem, was wir halbwegs sicher sagen können, wohnen selbst im entwickelteren nachmaligen Israel/Juda des 8. Jh. nur noch ein Bruchteil davon, 10 oder 20%.7Eingöttlich veranstalteter Genozid größten Ausmaßes? Es ist ohnehin klar, dass wir nicht über ein Zwölf-Stämme-Volk Israel reden, wie es Ex 1,1–5 insinuiert. Das ist allzu offenkundig eine spätere Konstruktion.

1.2Die Datierung der Flucht

Die einzige ausdrückliche innerbiblische Datierung des Exodus bietet 1 Kön 6,1: „Im vierhundertachtzigsten Jahr nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, im vierten Jahr der Regierung Salomos über Israel, imMonat Siw, das ist der zweite Monat, begann er das Haus des Herrn zu bauen.“ Demnach fand der Exodus 480 Jahre vor dem salomonischen Tempelbau statt. 480 ist mit 12 mal 40 natürlich eine mehrfach verdächtig runde Zahl. Sie führt uns just in die Zeit der 18. Dynastie unter Thutmosis III. (1479–1426), der wie kein anderer vor und nach ihm über Kanaan und sogar Syrien geherrscht hat. Er mag in vielem den lokalen städtischen Potentaten freie Hand gelassen haben, solange sie ihren Vasallenpflichten Ägypten gegenüber nachkamen. Gleichwohl: Die ägyptische Herrschaft in Kanaan war gefestigt. Wer um 1440 v.Chr. von Ägypten nach Kanaan vor Ägypten geflohen wäre, wäre in Ägypten gelandet, selbst wenn er sich ins periphere efraimitisch-manassitische Bergland zurückgezogen hätte.

1.3Die Umstände von Ägyptenaufenthalt und Flucht

Es gibt eindeutig legendarische Züge der Erzählung, für die die Behauptung eines fundamentum in re unsinnig wäre. Dazu gehört die Bedrohung des Mosekindes und die Binsenkorberzählung, die wohl doch der späten Legitimation dient und in die neuassyrische Zeit verweist.8Dazu gehört die hebräische Ableitung des Namens Mose (Ex 2,10), die vor allem eins verrät: ein ganz unverkrampftes, von Problembewusstsein unbekümmertes Verhältnis zur hebräischen Grammatik bzw. Morphologie, denn die in Ex 2 gegebene Form funktioniert sprachlich einfach nicht. Etwaige Geschwister des Mose, in der Bibel heißen sie Mirjam und Aaron, sind historisch nicht greifbar. Die Tötung der israelitischen Erstgeborenen (Ex 2) verdichtet und übersteigert ebenso wie die konkrete Ausgestaltung der Plagenerzählung (Ex 7–11) Erfahrungen, die man damals im soziopolitischen, religiösen wie auch naturalen Umfeld machen konnte, aber unspezifisch über viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende.9Zum Legendarischen gehört sicher das Ausplündern der Ägypter (Ex 12,35– 36). Auch dass die Einführung von Pessach und Erstgeborenenbestimmungen10in den historischen Kontext einer möglichen Flucht aus Ägypten hineingehören, ist nicht wirklich plausibilisierbar, wenn auch nicht völlig unmöglich. Auszugsrouten über die alte Militärstraße am Mittelmeer oder – wie ausdrücklich erst in der Septuaginta – über das Rote Meer sind deutlich Konstruktionen der jeweiligen Gegenwart in ihrer Kenntnis über die aktuelle ägyptische politisch-ökonomische Geographie. Wenn außerdem ein großes ägyptisches Heer, sogar inklusive des Pharao, eine solche Niederlage erlitten hätte und untergegangen wäre (Ex 14), hätten wir mit einiger Wahrscheinlichkeit darüber irgendwelche indirekten, ägyptischen Dokumente, wenngleich Niederlagen nie gern berichtet werden.

1.4Verkettung mit anderen Traditionen

Die Verkettung der engeren Exodustradition mit anderen großen Traditionen, namentlich der vierzigjährigen Wüstenwanderungszeit, den Sinaierlebnissen und der ostjordanischen Landnahme ist kaum ursprünglich, das hat die traditionsgeschichtliche Forschung des letzten Jahrhunderts eigentlich zweifelsfrei erbracht.11Die Wüstenwanderungstradition ist eindeutig von späteren theologischen wie literarischen Konzepten her entwickelt, verdächtig ist allein schon wieder die Angabe der Dauer mit 40 Jahren. Es fehlen dafür ja außerdem im Sinai jegliche relevanten archäologischen Spuren aus der Spätbronze- bzw. frühen Eisenzeit insbesondere an den Orten, die am Rand der Wüste und im Übergang zum Kulturland berührt worden sein sollen.12Die Sinaitradition enthält zwar durchaus z.B. ältere Theophanieelemente, das heißt abernicht, dass diese automatisch oder von vornherein mit der Exodustradition verbunden waren. Das anerkanntermaßen älteste Rechtsbuch der Bibel, das Bundesbuch, das sich grob in Ex 21–23 findet, ist selbst wohl erst im Laufe der Zeit in den jetzigen Kontext eingebettet worden. Auch die ostjordanische Landnahme nimmt wohl kaum historische Erinnerungen auf, die mit dem Exodus zusammenhängen.

Wenn man diese Grenzen historischer Plausibilitäten beachtet und insofern die Vorstellung vom Exodus „abrüstet“ bzw. redimensioniert, dann kann man m.E. durchaus ernsthaft über plausible Züge eines möglichen Exodusereignisses oder – eher im Plural – möglicher Exodusereignisse diskutieren.

2.Plausible Züge des Exodus

Gab es bekanntermaßen überhaupt Semiten aus dem Großraum Kanaan, Syrien, Sinai, Ostjordanland, die festgehalten und unterdrückt wurden und insofern ihr Heil in der Flucht gerade nach Kanaan hätten suchen können? Ist Kanaan überhaupt ein Raum, in den man jemals vor der ägyptischen Macht hätte fliehen können, ohne wieder wie im 15. Jh. in Ägypten zu landen? Wann wäre also eine solche Flucht aus Ägypten nach Kanaan möglich und zielführend gewesen? Wann bzw. ab wann gibt es eine ethnische Größe „Israel“ bzw. einen Gott JHWH in Verbindung mit einer Größe „Israel“, ggf. auch aus ägyptischer Wahrnehmung? Gibt es also doch irgendwelche plausiblen Detailzüge in der Exoduserzählung des Exodusbuches, die an historisch-archäologische Kenntnisse anschlussfähig wären? Und schließlich: Wo kommt eigentlich das biblische Grundzeugnis vom Exodus her, wie alt ist es und warum ist es entstanden?

2.1Zur möglichen Datierung der Exodusereignisse

Da die ausdrückliche biblische Datierung, die ohnehin offenkundig zahlensymbolischer Art ist, nicht funktioniert, ist ein anderer Haftpunkt zu suchen. Den entscheidenden Anlass dafür gibt die in Ex 1,11 und 12,37genannte „Vorratsstadt“ Ramses. Die Nennung einer solchen Stadt verbietet ohnehin eine kurzschlüssige Lektüre der Bibel in Bezug auf die vermeintlich historischen Angaben, denn eine Stadt „Ramses“ kann es schlicht vor der Ramessiden-Zeit nicht gegeben haben, und die regieren in Ägypten erst ab dem beginnenden 13. Jh. (19. Dynastie mit Ramses I. und Ramses II.) und dann bis ins 11. Jh. hinein (20. Dynastie mit Ramses III. bis Ramses XI.). Wer also, reichlich biblizistisch, den Exodus ins 15. Jh. datieren wollte, müsste wenigstens, unter Hintanstellung eines solchen Biblizismus, annehmen, dass die Angabe der Stadt Ramses doch erst eine literarische Korrektur frühestens aus dem 13. Jh. darstellt. Einfacher ist es, das Ereignis „Exodus“ ab dem 13. Jh. und eigentlich spätestens ins 12. Jh. zu datieren, weil es mit der im Text genannten Stadt Ramses eine besondere Bewandtnis hat, freilich nicht als einer beliebigen Vorratsstadt, sondern als hervorgehobener Residenz- bzw. Hauptstadt:13Es würde passen, sie mit der zu Beginn der Regierungszeit Ramses II. am östlichen, pelusischen Nilarm gegründeten neuen Hauptstadt Pi-Ramesse zu identifizieren. Diese wurde wohl nie richtig fertiggestellt und geriet gegen Ende des 12. Jh. in Vergessenheit, als der pelusische Nilarm versandete und nicht mehr schiffbar war und die Stadt wegen fehlender Logistik im Sand unterging. Die Stadt war also ab dem 11. Jh. abgängig und wurde erst im letzten Jahrhundert von einer österreichischen Expedition wieder ausgegraben, nahe dem heutigen Qantir. Die Nennung der Stadt Ramses ist ein gewichtiges Argument für die Historizität eines Kerns der Exoduserzählung und für die Datierung des Exodus in das 13./12. Jh.14So könnte der Grundzug der Exoduserzählung mit dem erzwungenen Bau einer Stadt Ramses durchaus historisch sein.15

2.2Mose als historische Gestalt im Zusammenhang des Exodus

Beim menschlichen Protagonisten der Exoduserzählung handelt es sich offensichtlich um den Träger eines ägyptischen Satznamens („xy hat geboren“), vergleichbar Thutmosis oder Ramses, nur ohne ein theophores Element wie Thot bzw. Re. Die hebräische Etymologie in Ex 2,10 von der WurzelMŠH(„ich habe ihn aus dem Wasser gezogen“) ist dagegen selbst sogar an den Haaren herbeigezogen und schlicht unmöglich. Dass man dem eigenen Heros später und anlasslos einen ägyptischen Namen gegeben hätte, ist unwahrscheinlich: Es handelt sich um eine eher schwierige, problematische Erinnerung, auch wenn der Leser im hebräischen Text und womöglich schon seit früher Zeit wegen des S/Š-Übergangs die ägyptische Ableitung nicht mehr so leicht erkannt hat: Ramses heißt „Ramses“, Mose heißt „Mosche“. Erschwerend zur Diskonformität, zur Unangepasstheit der Figur des Mose kommt hinzu, dass Mose eine unstrittige Eheverbindung mit einer Midianiterin bzw. intensive Kontakte zu den in der späteren Tradition verhassten Midianitern hatte, das kann man insbesondere in Ex 2,15–4,26 und Ex 18 nachlesen. Dabei muss es sich wie beim Namen um eine alte Tradition handeln. Dass sie sicher authentisch ist, ist freilich damit nicht beweisbar,16natürlich auch nicht ihre zwingende Verbindung mit der Exodustradition.17

2.3Die Rettung am Meer

Für die christliche Tradition ist, als Erbe der LXX-Übersetzung, das „Rote Meer“ Ort des Schauplatzes der Rettung am Meer, zumindest gibt die LXX das „Schilfmeer“ des hebräischen Textes (Ex 10,19; 13,18; 15,4.22) immer so wieder. Wahrscheinlich muss man diese extreme Südroute der LXX im Zusammenhang mit Ex 1,11 sehen, der Erwähnung von „On“,dem antiken Heliopolis, neben Ramses und Pitom. Von dieser in der hellenistischen Zeit wichtigen Stadt geht eine Hauptroute östlich mit leichter Südneigung genau an das Nordende des Roten Meeres, also in die Gegend des heutigen Suez. Die LXX hat also offenkundig zeitgenössisches Wissen bei der Übersetzung verwendet, was freilich problematisch ist: Schilf, und das setzt die Benennung Schilfmeer doch voraus, kann am Golf von Suez schwerlich gewachsen sein. Zudem führen in der späten Bronzezeit und frühen Eisenzeit auf dieser Route keine Wege, auch das spricht gegen eine mögliche Rettung am Roten Meer. Ohnehin ist wegen der Kurzform „Meer“ in Ex 15,1.21 fraglich, ob ursprünglich überhaupt die Langform „Schilfmeer“18zu einem älteren Bekenntnis bzw. einem authentischen Wissen gehört oder zu einer späteren Erweiterung, die vornehmlich der Verknüpfung von Plagenerzählung (Ex 10,19), Rettungserzählung (Ex 13,18) und Hymnus (Ex 15,4.22) dient. Unabhängig davon hätte auch eine ostwärts von Pi-Ramesse/Qantir führende Flucht an Brackwasserseen („Meer“), konkret dem Ballah-See, vorbei und durch sumpfige Landschaften, ggf. mit Schilfbewuchs, hindurch führen können, weniger wahrscheinlich weiter südlich von Pitom/Sukkot aus, am Timsah-See vorbei.19Wir wissen aus ägyptischen Quellen seit der Sinuhe-Erzählung vom Anfang des 2. Jt., dass die Ostgrenze im Sinai durch eine sog. „Fürstenmauer“20gesichert war, speziell im Seen- bzw.Sumpfbereich aber naturbedingt offene Flanken hatte, durch die man sich üblicherweise nicht hindurchtraute, aber eben doch fliehen konnte; eine solche ggf. mehrfache Flucht kleiner Gruppen hätte also durchaus Plausibilität für sich.21

2.4War Israel in Ägypten?

Als sicher identifizierbare und ethnisch wahrgenommene Größe taucht „Israel“ erstmals in der Stele des Ramsessohnes Merenptah 1209/8 v.Chr. auf.22Die Quelle denkt offensichtlich an einen Feldwirtschaft betreibenden Verband („liegt Israel brach ohne Samen“), der am ehesten in das Gebiet zwischen Askalon/Geser und den See Genezaret bzw. Syrien gehört, also im Prinzip sehr gut passend in das efraimitisch-manassitische Bergland.23Die Stele beschäftigt sich nicht schwerpunktmäßig mit dem kanaanäischen Bereich, lässt aber die Vermutung zu, dass es durchaus auch Menschen aus diesem Verband „Israel“ gegeben haben kann, die im Zusammenhang der kriegerischen Ereignisse von 1209/8 versklavt und nach Ägypten abtransportiert wurden. Zugleich ist um das Ende der Herrschaft Ramses II. bzw. des Merenptah vor 1200 aber auch eine Zäsur erreicht, was die ägyptische Dominanz in der Levante betrifft. Reicht sie unter Thutmosis III. im 15. Jh. noch fraglos bis weit nach Syrien hinein, so werden doch schon im 14. Jh. deutliche Abnutzungs- bzw. Erosionserscheinungen sichtbar, die die Stele des Merenptah in einem recht singulären Licht erscheinen lassen. Im 13. Jh. erreichen die Konflikte mit den Hetitern um die Herrschaft in der Levante ihren Höhepunkt. Nach den Hetitern, ab dem 12. Jh., mehren sich Nachrichten über Konflikte und Kontakte mit den sog. Seevölkern, zunächst im Nildelta, dann auch im kanaanäischen Raum. Gleichzeitig weisen die Quellen auf zunehmende kriegerische Konflikte zwischen den im Prinzip ägyptisch dominierten kanaanäischen Städten hin, die der Stabilität der ägyptischen Herrschaft mit dem Ziel hoher Steuererträge nicht günstig gewesen sein können.24Es ist im Zuge solcher militärischer Auseinandersetzungen, in die sich die Ägypter einmischen mussten, natürlich auch denkbar, dass Bewohner kanaanäischer Städte als Kriegsgefangene oderFlüchtlinge nach Ägypten gelangt sind.25Ab dem 12. Jh. verschärfen sich die ökologisch-ökonomischen Krisen im östlichen Mittelmeerraum. Ein Ergebnis davon dürfte gewesen sein, dass den Ägyptern die Herrschaft über das efraimitisch-manassitische Bergland praktisch völlig entglitt. In genau diesem Bergland hat sich erkennbar ab dem 12. Jh. der Kern des nachmaligen Israel entwickelt, ohne dass dieser Prozess hier nachgezeichnet werden müsste.26

2.5Hapiru/ʿApiru und Hebräer

Eine auffällige semitische Gruppe, die verdichtet im 14.–12. Jh. in den vorderasiatischen Quellen auftaucht und danach aus den Quellen verschwindet, sind die Hapiru bzw.ʿApiru. Sie gehören besonders in denAmarna-Texten des 14. Jh. zu denjenigen Kräften, die die einzelnen Stadtherrschaften in Kanaan zu destabilisieren drohen. Es scheint sich nach Ausweis der Quellen um „outcasts“27der Stadtgesellschaften gehandelt zu haben, plausiblerweise z.T. also auch Menschen, die sich der Stadtherrschaft und der dortigen Steuerlast entzogen haben, von dort stammen, ethnisch und auch sozial aber wohl kaum homogen waren. Einerseits gleichwohl eine scheinbar benennbare Gruppe von Menschen zeigen die Quellen doch gleichzeitig, dass mit der Bezeichnung als „Hapiru“ auch nur die Diffamierung des städtischen Gegners oder sogar seines Herrschers einhergehen konnte, gleichsam um in einem „Kampfbegriff“28seine Sozialschädlichkeit hervorzuheben. Vom Kampf mit und der Gefangennahme solcher „Hapiru“ lässt sich entsprechend einiges in den ägyptischen Quellen lesen. Sie können also durch Versklavung und Kriegsgefangenschaft, ja sogar auch in bezahlten kriegerischen Diensten ins Niltal gelangt sein und könnten ein Bestandteil einer möglichen Exodusgruppe bzw. Exodusbewegung gewesen sein. Das wäre umso plausibler, wenn die außerbiblischen Hapiru mit den biblischen Hebräern doch in Beziehung zu setzen sind, was sprachlich immerhin nicht fern liegt. Auffällig ist nämlich einerseits, dass sich die Erwähnung der „Hebräer“ in der Bibel in Texten konzentriert, die sich um den Exodus bzw. die Philisterzeit ranken. Andererseits, dass der Begriff Hebräer bzw. Hebräerin in den älteren Texten eine stark soziale, teilweise auch von außen, den Philistern, gebrauchte verächtliche Konnotation besitzt.

2.6Schasu, Midianiter und JHWH

Noch interessanter als die Hapiru sind freilich unter mehrfacher Rücksicht die semitischen Schasu, die in den ägyptischen Quellen des 15.– 12. Jh. auftauchen. Bei den Schasu handelt es sich um Kleinviehnomaden aus dem südkanaanäischen bis nordarabischen Bereich. Auch sie sind häufig als Kriegsgegner dargestellt, etwa auf Reliefs, und beschrieben, ihre Kriegsgefangenschaft und Versklavung nach Ägypten hin wird in den Quellen festgehalten.29Einige dürften freilich auch als temporäre Wirtschaftsflüchtlinge, nämlich vor der Trockenheit, mit ihren Herden im Ostdelta Aufnahme gefunden haben.30Darüber, dass sie als solche temporäre Wirtschaftsflüchtlinge dann versklavt worden seien, sagen die Quellen nichts. Die Schasu sind deswegen besonders interessant, weil die Quellen die Schasu einerseits mit der Lokalität Seïr bzw. Edom, andererseits mit einem Gott Jahu – das ist die Kurzform des biblischen Gottesnamens JHWH – in Verbindung bringen.31Nun kennt Israel, als Isra-El, offenkundig JHWH nicht von Anfang seiner Geschichte an32,deshalb würde der „Kulturkontakt“ mit den Schasu die nachmalige Übermittlung des Gottes JHWH sehr gut erklären. Dieser muss nicht den Umweg über Ägypten genommen haben, aber unmöglich ist das natürlich nicht. Dabei ist zu beachten, dass die Bibel selbst JHWHs Herkunft mit dem südkanaanäisch-nordarabischen Raum verbindet, vgl. besonders Dtn 33,2 und Ri 5,3–5. Wenn man, m.E. immer noch mit guten Gründen, solche allochthonen Texte für alt und die autochthone Herkunft JHWHs aus dem Land für weniger plausibel und eher konstruiert hält,33dann wäre hier der recht alte Zug der Bibel gut erklärbar, nämlich dass „Israel“ JHWH erst aus Ägypten kennt. In der Bibel freilich kommen die Schasu als solche nicht vor. Am ehesten sind sie mit den biblischen Midianitern zu verbinden, was natürlich eine weitere Brücke zu Mose schlüge und im Übrigen auch eine Art archäologisch-ikonografisch gestützte Wiederkehr der älteren Midianiterhypothese darstellt.

2.7Alter der Exodustradition außerhalb des Exodusbuches

Ein letztes Argument muss noch genannt werden, und zwar all denjenigen zum Trotz, die sich eine Entwicklung der Exodustradition z. B. erst frühestens in der spätassyrischen Zeit des 7. Jh. vorzustellen vermögen. Es ist kaum zu bestreiten, dass schon beim Nordreichspropheten Hosea, Mitte des 8. Jh. v.Chr., der Exodus ein wichtiges Thema bildet, vgl. besonders Hos 11,1. Der Exodus findet sich damit sogar schon im ältesten schriftlichen Zeugnis, das wir aus Israel mit den beiden historischen Propheten Amos und Hosea überhaupt besitzen. Ein konkreter Anlass für die Entwicklung eines solchen „Gründungsmythos“ vor der Mitte des 8. Jh. ist nicht wirklich leicht erkennbar. Aber wahrscheinlich ist das Exodusbekenntnis ohnehin einiges älter, worauf der Kultruf von Bet-El in 1 Kön 12,28 mit der Aufnahme desselben in Ex 32 hinweist. 1 Kön 12,26–33 und dann Ex 32 stellen zwar kritische, verballhornende Auseinandersetzungen mit dieser Tradition dar, enthalten aber gerade deshalb erkennbar als einen unstrittig alten Kern ein Bekenntnis zu dem Exodus-Gott JHWH.34Dann liegt mit der Exodustradition ein StückGründungsmythos des Nordreiches vor, der ja auch ganz offenkundig in einer gewissen Konkurrenz zu der in dieser Form erst im Südreich gebildeten Erzvätertradition von Abraham über Isaak auf Jakob steht.35Auch deshalb kann die Exodustradition schlecht ein Spätling der Geschichte Israels sein, so unhistorisch diverse Details sein mögen.

2.8Fazit zur Historizität des Exodus

Man wird konzedieren müssen: Für einen Archäologen des Vorderen Orients, der nach 40-jährigen Besiedlungsspuren einer Millionengruppe im Sinai, dem Untergang eines ägyptischen Heeres nebst Pharao im Meer, gar noch nach Resten der Plagen in Ägypten sucht, ist und bleibt der Exodus „a dead issue“. Ohne Abrüstung von der biblischen Darstellung ist eine plausible Ausgangsbasis für die Möglichkeit eines Exodus nicht zu gewinnen, die biblische Darstellung ist unmöglich und in sich widersprüchlich. Ohne Neudatierung und Redimensionierung hätten wir es also wohl tatsächlich eher mit einem Untoten als mit Realitäten zu tun. Historische Erinnerungen hinter den Texten des Exodusbuches dürften am ehesten die Stadt Ramses und der Mosename enthalten, zusammen mit den Midianitern, die mit den ikonografisch und epigrafisch nachweisbaren Schasu in Verbindung stehen. Hinter der Rettung am Meerkann die ggf. wiederholte Erfahrung36stecken, dass es vor Arbeitszwang und Versklavung fliehenden Gruppen gelungen ist, über die Seen- und Sumpflandschaften im Ostdelta einen gefährlichen Fluchtweg zu finden und die ägyptischen Verfolger dabei mindestens abzuschütteln. Für die semitischen Flüchtlinge, denen sich noch „ein großer Haufen anderer Leute“ anschloss, wie die Bibel selbst sagt (Ex 12,38), kommen „Israel“, Kanaanäer aus den Städten, Hapiru und Schasu in Frage. Dass sich Flüchtlinge mit einer solchen Herkunft nach Israel/Palästina wenden, ist plausibel. Als Fluchtziel kommt das palästinische Hochland von Efraim und Manasse in Frage, das spätestens ab dem 12. Jh. dem ägyptischen Zugriff weitgehend entzogen war. Dort bildete sich ausweislich der Archäologie ab dem 12. Jh. langsam der Kern des nachmaligen Israel heraus. All das ist denkbar und plausibel, beweisen lässt es sich nicht; aber wenn es einen historischen Kern gibt, kann er nach derzeitigem Wissensstand nicht viel anders ausgesehen haben. Jedenfalls ist es damit nicht undenkbar, dass die Exodustradition auf einen historischen Kern aus der Zeit um 1200 v.Chr. zurückgeht, danach freilich sicher vielfältige Transformationen erfahren hat.

3.Exodustransformationen

3.1Der frühe Exodus der Exodustradition

Gehen wir also davon aus, dass es einen historischen Kern des Exodus gibt, der später Transformationen erfahren hat. Er beruht auf Fluchterfahrungen vorher unterdrückter Semiten aus Ägypten, die den Weg ins efraimitisch-manassitische Bergland gefunden haben. Es ist zusätzlich durchaus vorstellbar, dass sich jene Kanaanäer diese Tradition zu eigen machen konnten, die nie selbst am Nil waren, aber sich mit demZusammenbrechen der ägyptisch dominierten Herrschaft ins unwirtlichere Bergland zurückgezogen haben, vielleicht auch zuvor schon wegen der hohen Abgabenlast, ggf. wegen Verschuldung vor eben dieser ausbeuterischen Herrschaft dorthin geflohen waren und dort ggf. als Hapiru wahrgenommen wurden: Auch sie waren der ägyptischen Herrschaft und ihren Zwangsmechanismen entronnen.37Gerade ein Exodusbekenntnis mit einem von außen kommenden Gott JHWH hätte insofern durchaus eine identitätsstiftende Funktion für verschiedene Gruppen übernehmen können. Tatsächlich braucht es ja auch autochthone Gruppen, aus denen das spätere Israel hervorgegangen ist: „Ganz Israel“ kann schlecht aus Ägypten ausgezogen sein, eher nur so etwas wie eine oder mehrere impulsgebende Gruppen. Offenkundig ist dabei speziell im Nordreich Israel, wo sich ohnehin die erste Verdichtung von Siedlungsspuren findet, aus denen das nachmalige Israel hervorgeht, das Exodusbekenntnis früh identitätsstiftend geworden. Reste ägyptischer Herrschaft in Kanaan bleiben dabei freilich bis mindestens ans Ende des 10. Jh. spürbar, man denke etwa an den sicher bezeugten Feldzug des Pharao Scheschonq/Schischak I. in Palästina in der zweiten Hälfte des 10. Jh. (1 Kön 14,25ff.) oder auch an eine Stadt wie Bet-Schean 25 km südlich des See Genezaret, die offenkundig bis in die israelitische Königszeit ägyptisch dominiert war. Dass dagegen die Exodustradition ausschließlich von solchen Gruppen stammt, die nie im „eigentlichen“ Ägypten, also am Nil, gelebt haben, ist eine ziemlich schwache Hypothese.38

3.2Die „Abspaltung“ der Nordstämme von der davidischen Monarchie

Im narrativen biblischen Kontext spielt die Erinnerung an den Exodus bei der Gründung der Staatsheiligtümer in Dan und Bet-El eine besondere Rolle (1 Kön 12). Die wissenschaftliche Diskussion im Rahmen der klassischen Vier-Quellen-Hypothese im 19./20. Jh. hat das kombiniert mit den Informationen über den vermeintlichen Frondienst der (Nord) Israeliten unter Salomo und einen Jahwisten aus dem ausgehenden 10. Jh. konstruiert, dessen Exodusbotschaft tatsächlich subversiv gegen die neuen ägyptisierend-unterdrückerischen Tendenzen der salomonischen Herrschaft gerichtet gewesen sein soll. In diesem Fall wird man wohl sagen müssen, dass die Alttestamentler damit einen lange Zeit wirkmächtigen Mythos aufgerichtet haben, und zwar den vom Jahwisten des 10. Jh. Das historische und literarhistorische Setting sah sicher anders aus. Das davidische Reich ist schwer zu greifen, Salomo als Herrscher in frühen außerbiblischen Quellen überhaupt nicht auffindbar, ein literarisches Werk von Umfang und Qualität eines Jahwisten im ausgehenden 10. Jh. in Israel/Juda sowohl von der Produktions- wie von der Rezeptionsseite her praktisch undenkbar. Entsprechend den freilich teilweise umstrittenen archäologischen Fakten gibt es das Stichwort „Reichsteilung“ deshalb höchstens noch in Gänsefüßchen. Trotzdem bleibt natürlich die Frage, welche in der Grundtendenz ja doch eher staatskritische Funktion das Exodusbekenntnis im entstehenden (Nord)Israel des 9. Jh. und in den Auseinandersetzungen vor allem mit den Aramäern gehabt haben könnte. Wirklich überzeugend beantworten lässt sich diese Frage derzeit kaum.39Deutlicher wird manches erst bei Hosea, bei dem sichExodustradition (Hos 11,1; 12,10.14; 13,4) und Königskritik (Hos 10) geradezu idealtypisch verbinden.

3.3Der Untergang des Nordreiches 722 und die Flucht nach Süden

Der nächste denkbare Fixpunkt für eine Revitalisierung der Exodustradition ist sicherlich der Untergang des Nordreiches in der zweiten Hälfte des 8. Jh., endgültig 722. Es ist plausibel, dass im Zusammenhang der assyrischen Expansion und der Zerstörung Samarias namhafte Gruppen aus Israel in das benachbarte und nicht unter direkter assyrischer Herrschaft stehende Juda/Jerusalem geflüchtet sind.40Dabei dürfte es sich vornehmlich um Eliten gehandelt haben, die damit der von den Assyrern geübten Umsiedlungspraxis entkommen wollten. Offenkundig ist mit solchen Gruppen das Exodusbekenntnis, das z.B. der Jerusalemer Prophet Jesaja noch nicht kannte, erst wirklich in Juda/Jerusalem angekommen. Da die Machtübernahme der Assyrer im Nordreich Israel und in seinem Umfeld im 9./8. Jh. ein sukzessiver Prozess war, ist es sehr gut denkbar, dass mit der gelungenen Flucht in den Süden, heraus aus dem unmittelbaren Herrschaftsbereich der Assyrer, die Ägypter der Exodustradition nach und nach assyrische Farben zu tragen begannen, dass also „Ägypten“ gesagt wurde, aber „Assyrien“ gemeint war. Dass es in diesem Sinne antiassyrische Kräfte in Jerusalem/Juda gegeben hat, die ihrerseits das erste, indirekte Stadium assyrischer Vasallität nach 734 v.Chr. unter Benutzung der Exodustradition abzulehnen gewillt waren und damit das Exodusbekenntnis auch in Jerusalem/Juda heimisch machten, lässt sich nicht a priori von der Hand weisen.

3.4Begleitmusik zum Untergang der Assyrer

Literarisch wird die Exoduserinnerung in Ex 13–14 im Südreich allerdings frühestens im 7. Jh., im Jerusalemer Geschichtswerk,41in vielemdurchaus ähnlich dem früheren Jahwisten, oder nach der Konzeptionvon Utzschneider/Oswald42in einem Werk, das das Verschwinden und den langsamen Untergang der Assyrer im Blick hat und als Absage an die Abhängigkeit von den Assyrern bzw. als Legitimation der Aufkündigung der Vasallität der Judäer in der Mitte des 7. Jh. diente, und zwar mit Motiven jesajanischer Zionstheologie!43Die Ägypter, die im Meer untergehen, gleichen mit ihrer Reiterei jetzt definitiv den Assyrern. Das große Thema dieses Werks ist der „Glaube“ (Ex 14,30f.) an den Retter-Gott JHWH, der seinen Zion bzw. sein Volk schützt und keiner militärischen Unterstützung bedarf. Der Mose des Textes ist dabei ganz wie ein Antikönig dargestellt. Für Israel wie schon für die judäischen Könige Ahas und Hiskija zur Zeit des historischen Jesaja gilt in solchen Krisensituationen: Ruhe bewahren und auf JHWH vertrauen. So „nüchtern“ im Vergleich zur opulent konstruierten priesterschriftlichen Darstellung sich gerade die jahwistische Meerwundererzählung zeigt, so nahe, wenn überhaupt, eigentlich nur dieser Text zum vermuteten historischen Kern stehen kann: Er hat selbstverständlich von vorneherein nicht den Anspruch eines historischen Berichts – dafür bleibt die ägyptische Seite ohnehin viel zu blass und unbenamt –, sondern hat viele fiktionale und selbstverständlich mythische Züge, man denke alleine an das Meerwasserchaos, in dem die als gefährlich-chaotisch wahrgenommenen Ägypter untergehen.

3.5Inspiriert von der babylonischen Hochkultur

Die nächste Transformation bietet das priesterschriftliche Werk. Ausweislich der zentralen Erkenntnisformel (Ex 14,4: „die Ägypter sollen erkennen, dass ich der Herr bin“, vgl. 14,18), geht es jetzt nicht mehr um ein „Glauben“, sondern um ein „Erkennen“. Hinter diesem „Erkennen“ steht offenkundig der inklusiv monotheistische Anspruch, den die Priesterschrift seit Gen 1 vertritt. Den realgeschichtlichen Hintergrund bildet ja womöglich noch die Exilierung in Babylon. Zumindest ist dann besonders gut zu erklären, weswegen die Exoduserzählung in P zweigipfelig ist, nämlich mit der Plagenerzählung in Ex 7–12 einerseits, der Meerwundererzählung in Ex 14 andererseits: Erst werden die seinerzeit beeindruckenden mantisch-kultischen Potenzen, dann die militärischen Potenzen der Ägypter, also der tatsächlich gemeinten Neubabylonier niedergerungen bzw. karikiert. Eingebaut werden diese Erzählungen in einen schöpfungstheologischen Aufriss, in dem offenkundig die überbietende Auseinandersetzung mit der babylonischen Schöpfungstheologie – und den daraus sich ergebenden Machtansprüchen des Hauptgottes Marduk – eine zentrale Rolle spielt. Der priesterschriftliche Entwurf stellt den Versuch der Demonstration von Ebenbürtigkeit, ja Überlegenheit dar. Sollte die Gesamterzählung aber doch erst aus persischer Zeit stammen wie heute vielfach vermutet,44dann will sie wohl in besonderer Weise zum Neustart in und nach Jerusalem ermutigen, denn spätestens jetzt gehören zur Erzählung auch eine Wüsten- und eine Sinaierzählung dazu.

3.6Das Ensemble Ex 13–15

Mit Ex 15, einem in seiner Endgestalt späten Text,45liegt die Antwort Israels auf das Exodusgeschehen vor, wie es Ex 14,31 ankündigt.46Dieser