Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In seiner Kurzgeschichtensammlung "Der Jüngling" greift Heinrich Mann den gesellschaftlichen Umbruch in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auf. Die politische Lage ist angespannt, es gibt gesellschaftliche Spaltungen und Freunde werden zu Feinden. Ein Aufschrei geht durch das Volk: Rechts gegen Links. So greift Mann in "Die Verräter" die politische Gesinnung in Bekanntenkreisen auf und widmet sich in "Sterny" einem Kriegsheimkehrer und der Suche nach Identität. Mann zeigt durch seine Figuren auf, wie tief die gesellschaftliche Spaltung zu jener Zeit ging, kritisiert subtil das damals entstehende Regime und spricht über den entstehenden politischen Druck. -
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 69
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Heinrich Mann
SAGA
Der Jüngling und andere Novellen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1924, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726885378
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Der junge Österreicher erwachte in dem bescheidensten Gasthofe Zürichs, die Sonne schien herein, und sein Herz schlug hoch auf. Reisen! Wieder weiter heute! Er riß das Fenster fort von der großen Bläue, in die sein Atem, aus emporgewendetem Mund, sich blühend mischte. Reisen, und wie! Mit der Erträumtesten, und die war sein, sein, wiewohl niemand es wußte, auch sie selbst nicht. Er staunte doch, die Welt überbot sich an Überraschungen. Vom Hause fort engagiert nach Deutschland, an ein richtiges Stadttheater – aber er ist durch die Schweiz gereist, ist gewandert im Sommerregen, der schönen Glut, unter den blitzenden Nachthimmeln. Hat in Zürich ein Mädchen erblickt! War ihr nur begegnet, ihr nur gefolgt, hatte, anstatt sie selbst, die Spiegel angesehen, in denen sie vorbeiging, hatte stumm und geheim an ihrer Tür geharrt. Aber sie würde, träte er vor sie hin und sagte die ganze Gewalt seines Herzens in ihre Augen hinein, mit ihm fliehen von Vater und Mutter, aus dem großen Hotel fort in seine Dürftigkeit, sein Geschick. Flüchtig besann er sich, daß er kein Geld mehr habe. Dann würde einfach auch sie Komödie spielen, die Liebe ihr Spiel und ihr Leben. Aber nicht einmal mehr so viel, um pünktlich anzukommen bei seinem Direktor! Wie denn, heute der erste September? Und im Warten auf sie schon alles versäumt? Da lief er aus dem Haus, zum See nieder, atmete Bläue und hatte vergessen, was nicht fließend und endlos.
Vor dem großen Hotel stand schon das Auto, die Eltern stiegen ein. Nun erschien auch sie, da weitete sich der Raum. Portiers und Hausdiener schienen entrückt, der Bürgersteig ausgestorben, und einsam trat sie auf, inmitten der feierlichen Strenge eines großen Vorgangs. Sie milderte ihn, da sie ihr blondes Haupt rührend zur Seite neigte. Aber ihr Gang war so stolz wie leicht, und ihr Gesicht spiegelte hell den jungen Tag. Der schillernde Schleier ihr im Nacken wiederholte die zärtlichen Farben der Blumen, die sie im Arm trug. Hatte ihr Blick nicht jählings schräg hergestrahlt über den gewohnten Huldigenden? Schon rollte der Wagen, er aber stürzte zur Straßenbahn und dann am Bahnhof den Zug entlang. Sie war nicht zu sehen, von Zweifeln beklommen drang er in seine dritte Klasse. Kaum aber fuhr man, weiteten sich ihm, unter Schwatz und Geruch der Nachbarn, schon wieder das Herz und die Welt. Wohin sie reichten, nur Ruhm, nur Liebe! – und hier, der Hafen am Bodensee, im Flug erreicht, war der erste der Schritte, die alles wahr machten. Dort trat sie hervor, grüßte ihn, diesmal deutlich und als verstehe es sich, mit einem langsamen Blick: er mußte nur stillhalten und dann sich nachziehen lassen. Auf das Schiff – da entschwand sie ihm; und als das Getriebe der Reisenden sich lichtete, saß sie eingeengt zwischen den Leuten, nur ihren Kopf umrahmte der blaue See, nur ihr Schleier flog gegen den Himmel auf. Ihr Vater, der die Handtaschen übereinander ordnete, ließ eine hinunterrollen. Drauflos, sie aufheben! Gleich auch den Namen gemurmelt: Franz Velten – aber der sah ihn kaum an mit seinem fremden Gesicht und packte schon wieder. ›Hat sie es bemerkt? Sie blickt fort, was kümmert es sie. Auch ihre Mutter sieht fremd aus, nicht wie die Leute bei uns. Fremd, vornehm, kalt, und der Vater hat einen Bart wie ein hoher Beamter. Sie sprechen preußisch, die andern hier alle auch.‹ Entmutigt ging Franz beiseite, da fiel es ihm mit der ganzen Schwere der Wirklichkeit in den Sinn, daß er, am andern Ufer angelangt, keinen Heller mehr besitzen werde, laufen müsse und sich um Tage verspäte. Was tun, um Gottes willen! Sollten Liebe und Ruhm zugleich dahin sein?
Wie zur Antwort geschah es, daß der Vater von seiner Tochter den Platz neben der Mutter verlangte, und daß sie aufstand, sich an das Ende der Bank zu setzen, gerade dort, wo am Geländer er selbst lehnte und in das Wasser sah. Sie gab nicht auf ihn acht, er wandte sich nicht nach ihr hin. Nur daß sein Herz in Stößen ging. Nur daß sie reglos saß und auf das dunstige Ufer starrte, wie er in den Dunst der Ferne. Er fühlte, ohne zu sehen, alles: ihr Brauenfalten, und daß es nicht Unzufriedenheit sagte, sondern scheue Erwartung. Auch ihm ward es ernst zumut wie noch nie. Der Wind, der alle Stimmen verwehte, warf ihm ihren Schleier an die Brust und trug nur ihr seine Stimme zu. Bevor er wußte, was geschah, hörte er seine Stimme.
»Oh, sie nur lehrt den Kerzen, hell zu glühn!
Wie in dem Ohr des Mohren ein Rubin,
So hängt der Holden Schönheit an den Wangen
Der Nacht –«
Im Sprechen war es ihm nicht mehr sicher, ob er das nicht selbst erfand. Sie gab es ihm ein, da sie aufstand, sich an seine Wange neigte und in seine Verse hineinsprach: »Lieber!« Er roch Veilchen, sie beide hob es vom Boden, von allen Paradiesen wich der Morgendunst, und man war stark! – Da wußte er auch schon wieder, daß sie stillsitze wie zuvor, und daß er eine Rolle spreche – freilich spreche wie noch nie. Beim letzten Klang dachte er: ›Sie ist wunderbar‹, und tiefer Schmerz befiel ihn. Ihr Name wehte her: Herta! Sie aber sah nicht um; zu ihm, als habe er gerufen, erhob sie das Gesicht, in dem Tränen standen, und inständig durchdrangen sich ihre Blicke.
Die Mutter rief nochmals »Herta!«. Da riß er sich heftig los und schritt davon, mitten durch die Reihen. Mochten sie ahnen, daß hier Großes erlebt ward! Sein Gang, seine Miene beschrieben ihnen, wie sehr er die Einsamkeit suche. Er schritt nach vorn. Eine Haltestelle war erreicht, wo viele ausstiegen, vorn ward es leer. Er legte seinen Mantel um, verschränkte die Arme und senkte darüber die Stirn. Gesammelt besann er das schwere Geschick des Verstoßenen, Fahrenden, den die Schönheit im Bann hält und die Gesellschaft der Tüchtigen meidet. So jung, so arm, so grad erst fort vom Vaterhaus, und für das ganze Leben Kampf, und bis zum Tode Sehnsucht. Statt der Geliebtesten nur in Versen ihr Bild, und dann weiter! Verbannt von allen und von ihr!
»Hier ist der Himmel,
Wo Julia lebt, und jeder Hund und Katze
Und kleine Maus, das schlechteste Geschöpf
Lebt hier im Himmel, darf ihr Antlitz sehen:
Doch Romeo darf nicht. Mehr Würdigkeit,
Mehr Ansehn, mehr gefällige Sitte lebt
In Fliegen als in Romeo.«
Er weinte das Gedicht, schrie es auf und stampfte es; er drückte die Faust in den Mund, er wollte sich hinwerfen. Da erstarrte er: unermeßliche Süßigkeit des Gefühls kündigte ihm an, sie sei da. Stehe hinter ihm, habe gehört, mit ihm geweint, und lächele jetzt: oh, so lächelt der offene Himmel, und nichts bleibt mehr zu wünschen. Er sah es, zitternd, brennend, erstickend. Seine Arme breiteten sich langsam aus, indes er die Wendung machte, dorthin, wo sie und der Himmel waren. O Grauen! Nichts? Leere Sonne auf Brettern? Er brauchte eine furchtbare Anstrengung, den Anlauf zu zügeln, der ihn schon gegen das Ersehnte warf. Dann brach er in Tränen aus, nicht mehr die des Zornes und Begehrens, nur der kindlichen Ohnmacht.