Der kalte Hauch der Nacht - Inspector Rebus 11 - Ian Rankin - E-Book

Der kalte Hauch der Nacht - Inspector Rebus 11 E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

In Queensberry House, das demnächst das schottische Parlament beherbergen soll, werden kurz hintereinander zwei Leichen gefunden. Der erste Tote ist bereits mumifiziert, das zweite Opfer wird wenig später erschlagen aufgefunden. Ein dritter Todesfall weist auf einen Zusammenhang zwischen den Leichenfunden hin. Trotz Anfeindungen aus den eigenen Reihen macht sich Inspector John Rebus an die Lösung des Falls – obwohl ihn das nicht nur die Karriere, sondern auch das Leben kosten könnte...

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Buch

Früher diente Queensberry House in Edinburghs historischem Stadtkern als Krankenhaus, nun wird es umgebaut, um demnächst das schottische Parlament zu beherbergen. In vergangenen Jahrhunderten sollen in dem Gebäude schreckliche Gräueltaten verübt worden sein, Gespenster, heißt es suchen die Gänge noch heute heim. Mit Spukgeschichten ist die Gruppe von Polizeibeamten allerdings nicht zu beeindrucken, die an einem frostigen Wintermorgen durch das künftige Parlament geführt wird. Doch dann wird Detective Inspector Rebus mit seinen Kollegen Zeuge, wie Restauratoren die mumifizierten Überreste eines Mannes finden, der vor mindestens zwanzig Jahren getötet worden sein muss. Kurz darauf wird ein weiterer toter entdeckt – und die Serie mysteriöser Vorfälle reiß nicht ab: Als sich wenig später ein Obdachloser von einer Brücke in den Tod stürzt, finden sich in seinem Nachlass ein Sparbuch über 400.000 Pfund sowie ein Zeitungsartikel über den bislang unidentifizierten Toten aus Queensberry House. Trotz Anfeindungen aus den eigenen Reihen macht sich Rebus daran, die Verbindung zwischen den drei Fällen aufzudecken, und mit Hilfe einer jungen Kollegin entreißt er der Vergangenheit Stück für Stück ihre dunkelsten Geheimnisse – obwohl ihn das nicht nur die Karriere, sondern auch das Leben kosten könnte …

Weitere Informationen zu Ian Rankin sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Ian Rankin

Der kalte Hauch der Nacht

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Christian Quatmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Set in Darkness« bei Orion Books Ltd., London.

Neuveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © der Originalausgabe 2000 by Ian Rankin

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Thais Ramos Varela / stocksy images

Redaktion: Irmgard Perkounigg

Th · Herstellung: mw

ISBN: 978-3-89480-693-4V003

www.goldmann-verlag.de

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Für meinen Sohn Kit– dem all meine Hoffnung, meine Träume und meine ganze Liebe gelten

Muss auch meine Seele sich dereinst ergeben,wird sie sich zu neuem Licht erheben.Denn zu sehr geliebt hab ich die Sterne,die auch weiterhin mir leuchten aus der Ferne.

Sarah Williams,»The Old Astronomer to his Pupil«

Erster Teil

Zerstobene Hoffnungen

Und dieses lange schmale Land so voller Versprechungen …

Deacon Blue, »Wages Day«

1

Es wurde schon dunkel, als Rebus von dem Führer der Gruppe den gelben Helm entgegennahm.

»Das hier dürfte früher der Verwaltungstrakt gewesen sein«, sagte der Mann. Er hieß David Gilfillan und arbeitete für die Schottische Nationalstiftung. Er leitete die baugeschichtliche Erforschung von Queensberry House. »Das ursprüngliche Gebäude stammt aus dem späten 17. Jahrhundert. Der erste Besitzer war ein gewisser Lord Hatton. Wenig später ist es dann in den Besitz des ersten Herzogs von Queensberry gelangt und wurde bedeutend erweitert. Das Gebäude muss damals eines der größten Häuser in Canongate gewesen sein – nur einen Steinwurf von Holyrood entfernt.«

Um sie her waren die Abbrucharbeiten in vollem Gang. Zwar sollte das klassische Queensberry House erhalten bleiben, doch die späteren Erweiterungen des Gebäudes mussten weichen. Auf den Dächern hockten Arbeiter, deckten die Dachziegel ab und banden sie zu kleinen Päckchen zusammen. Dann ließen sie die Stapel an Seilen zu den unten bereitstehenden Transportwägelchen hinab. Überall lagen geborstene Ziegel herum und bezeugten, dass die Arbeiten nicht ganz ungefährlich waren. Rebus setzte den Helm auf und gab sich redlich Mühe, Gilfillan wenigstens halbwegs interessiert anzusehen.

Alle hatten zu ihm gesagt, dass dieser Auftrag etwas zu bedeuten hatte. Angeblich war er hier, weil die Chefs in der Zentrale etwas mit ihm vorhatten. Doch Rebus wusste es besser. Er wusste, dass sein Boss, Hauptkommissar »Farmer« Watson, ihn nur vorgeschlagen hatte, weil er Rebus weitere Schwierigkeiten ersparen und ihn sich selbst vom Leib halten wollte. Ja, so einfach war das. Und falls, ja falls Rebus den Auftrag klaglos übernehmen und ausführen sollte, bestand vielleicht die vage Möglichkeit, dass Watson seinen geläuterten Mitarbeiter eventuell wieder mit seiner Huld beglücken würde.

Sechzehn Uhr an einem Dezembernachmittag in Edinburgh. John Rebus hatte die Hände in die Taschen seines Regenmantels geschoben. Die Ledersohlen seiner Schuhe hatten sich bis obenhin mit Wasser voll gesogen. Gilfillan trug grüne Gummistiefel. Rebus fiel auf, dass die Füße von Inspektor Derek Linford in einem fast identischen Paar steckten. Wahrscheinlich hatte er sich mit dem Bauhistoriker vorher noch rasch telefonisch über die modischen Erfordernisse der Jahreszeit verständigt. Linford war der klassische Karrieretyp und hatte gute Aussichten, es im Präsidium noch weit zu bringen. Er war Ende zwanzig, konnte sich von seinem Schreibtisch kaum losreißen und liebte seinen Job über alles. Etliche seiner Kollegen – die meist älter waren als er – ließen schon mal vorsorglich verlauten, dass man sich mit Derek Linford besser nicht anlegen sollte. Vielleicht hatte der Mann ja ein gutes Gedächtnis. Und vielleicht würde er sich eines Tages in der Zentrale im Zimmer 279 häuslich einrichten und sie alle aus der Vogelperspektive betrachten.

Die Zentrale: das Polizeipräsidium in der Fettes Avenue; 279: das Büro des Polizeipräsidenten.

Linford hatte sein Notizbuch aufgeschlagen. Zwischen den Zähnen hielt er einen Stift. Er lauschte den Ausführungen. Ja, der Mann hörte wirklich zu.

»Vierzig Adelige, sieben Richter, Generäle, Ärzte, Bankiers …« Gilfillan berichtete seinen Zuhörern gerade, wie wichtig Canongate in der Geschichte der Stadt einmal gewesen war. Und kam dabei auch auf die nahe Zukunft zu sprechen. Die Brauerei auf dem Grundstück neben Queensberry House sollte im folgenden Frühjahr abgerissen und an dieser Stelle später das neue Parlamentsgebäude errichtet werden, und zwar direkt gegenüber Holyrood House, der Residenz der Königin in Edinburgh. Auf der anderen Straßenseite entstand gerade der naturhistorische Themenpark Dynamic Earth. Der Rohbau des Redaktionsgebäudes der größten Tageszeitung der Stadt gleich daneben war derzeit noch ein undurchschaubares Gewirr von Stahlstützen und -trägern. Und wieder gegenüber dieser Baustelle wurde bereits das Gelände für den Bau eines Hotels und eines Luxus-Appartementhauses erschlossen. Rebus befand sich also im Zentrum der wohl größten Baustelle in der Geschichte der Stadt Edinburgh.

»Sie werden Queensberry House vermutlich alle als Krankenhaus kennen«, sagte Gilfillan. Derek Linford nickte, wie er fast jede Mitteilung des Mannes mit einem verständnisvollen Nicken beschied. »Wo wir jetzt stehen, war früher einmal ein Parkplatz.« Rebus beäugte die schmutzstarrenden LKWs des Abrissunternehmens. »Doch bevor das Gebäude als Krankenhaus gedient hat, war es eine Kaserne. Das unbebaute Gelände hier war damals ein Exerzierplatz. Unsere Grabungen haben ergeben, dass sich noch früher an dieser Stelle ein französischer Garten befunden hat. Vermutlich hat man das Gelände später aufgeschüttet und in einen Exerzierplatz umgewandelt.«

Rebus betrachtete im Dämmerlicht Queensberry House. Die grauen, fast verwahrlosten Mauern des Gebäudes wirkten irgendwie ungeliebt. In den Dachrinnen wuchs Gras. Ein riesiges Gebäude. Trotzdem konnte er sich nicht erinnern, es je gesehen zu haben, und das, obwohl er in seinem Leben ganz sicher ein paar hundert Mal daran vorbeigefahren war.

»Meine Frau hat früher mal hier gearbeitet«, berichtete einer der Anwesenden, »als hier noch ein Krankenhaus war.« Dies sagte Detective Sergeant Joseph Dickie, der im Polizeirevier am Gayfield Square arbeitete. Die ersten beiden von den bislang vier Zusammenkünften des Polizei-Parlaments-Verbindungskomitees – PPVK – hatte er geschwänzt. Seinen Namen verdankte das Komitee den Mysterien bürokratischer Sprachschöpfung. Allerdings handelte es sich bei der Gruppe in Wahrheit nur um ein Unterkomitee, und zwar um eines von mehreren, deren Aufgabe es war, für sämtliche das schottische Parlament betreffende Sicherheitsfragen Lösungen zu finden. Dem PPVK gehörten acht Mitglieder an, darunter auch ein Vertreter des Schottland-Ministeriums und eine finstere Gestalt, die sich als Mitglied von Scotland Yard ausgab. Als Rebus jedoch bei der Londoner Stadtpolizei Erkundigungen eingezogen hatte, war der Mensch dort niemandem bekannt. Rebus war sicher, dass der Mann – Alec Carmoodie – dem Geheimdienst MI5 angehörte. An diesem Nachmittag war Carmoodie allerdings nicht anwesend und ebenso wenig Peter Brent vom Schottland-Ministerium, ein Herr, der ebenso durch sein markant geschnittenes Gesicht wie durch seine erstklassig geschneiderten Anzüge auffiel. Brent gehörte nämlich mehreren Unterkomitees an und hatte sich an diesem Tag von seiner Pflicht mit der unabweisbaren Entschuldigung entbinden lassen, dass er das Haus bereits zweimal als Begleiter durchreisender Würdenträger besichtigt habe.

An diesem Tag bestand die Gruppe deshalb nur aus sechs Leuten. Die drei anderen waren Inspektor Ellen Wylie, die im Präsidium am Torphichen Place in der Abteilung C arbeitete. Es schien sie nicht weiter zu stören, dass sie die einzige Frau in dem Komitee war. Anscheinend sah sie in der Arbeit einen ganz normalen Job und stellte bei den Zusammenkünften kluge Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste. Inspektor Grant Hood versah genau wie Rebus seinen Dienst in der St. Leonard’s Street. Zu zweit waren sie deshalb vertreten, weil die Holyrood-Baustelle und auch das künftige Parlament zu ihrem Bezirk gehörten. Obwohl Rebus in demselben Revier arbeitete wie Hood, kannte er ihn kaum. Sie hatten bis dahin nur selten dieselbe Schicht gehabt. Das fünfte Mitglied des PPVK – nämlich Inspektor Bobby Hogan von der Abteilung D in Leith – hingegen kannte Rebus sehr wohl. Schon bei der ersten Zusammenkunft hatte Hogan Rebus beiseite genommen.

»Was, zum Teufel, machen wir hier eigentlich?«

»Mich haben sie strafversetzt«, hatte Rebus entgegnet. »Und wieso bist du hier?«

Hogan hatte in dem Raum umhergeblickt. »Mein Gott, schau dir bloß mal diese Grünschnäbel an. Verglichen mit denen sind wir doch Altes Testament.«

Rebus musste unwillkürlich lächeln, als er jetzt daran zurückdachte, und zwinkerte Hogan zu. Hogan schüttelte kaum merklich den Kopf. Rebus wusste haargenau, was der Mann dachte: Reine Zeitverschwendung. Für Bobby Hogan war fast alles Zeitverschwendung.

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, sagte Gilfillan, »dann können wir uns innen etwas umschauen.«

Auch aus Rebus’ Sicht war diese Führung reine Zeitverschwendung. Aber da es das Komitee nun mal gab, musste es ja irgendwie beschäftigt werden. Und so schlenderten sie also durch die dunklen Innenräume von Queensberry House. Die einzige Beleuchtung waren ein paar schwache Baulampen und die Taschenlampe, die Gilfillan mitgebracht hatte. Als sie jetzt die Treppe hinaufgingen – da niemand den Aufzug benutzen wollte –, fand Rebus sich plötzlich neben Joe Dickie wieder, der schon zum zweiten Mal fragte:

»Schon die Spesenabrechnung eingereicht?«

»Nein«, erwiderte Rebus.

»Je früher Sie die Belege einreichen, um so früher kriegen Sie Ihre Kohle.«

Während der Zusammenkünfte des Komitees war Dickie meist damit beschäftigt gewesen, irgendwelche Figuren auf seinen Notizblock zu malen. Rebus hatte noch nie gesehen, dass der Mann auch nur ein Wort, geschweige denn einen Satz zu Papier gebracht hatte. Dickie war Ende Dreißig, ein kräftig gebauter Mann, dessen Kopf irgendwie an eine Kanonenkugel erinnerte. Er hatte kurz geschorenes schwarzes Haar und auffällig kleine, runde Augen – wie bei einer Porzellanpuppe. Als Rebus Bobby Hogan von diesem Vergleich erzählte, hatte der nur bemerkt, dass eine Puppe mit Joe Dickies Zügen ganz sicher »jedes Kind in Angst und Schrecken versetzen« würde.

»Er macht ja mir sogar Angst«, hatte Hogan noch hinzugefügt, »obwohl ich schon erwachsen bin.«

Als sie jetzt die Treppe hinaufstiegen, musste Rebus wieder lächeln. Ja, er war froh, dass Bobby Hogan mit von der Partie war.

»Übrigens«, ließ Gilfillan gerade verlauten, »haben wir einen unserer aufregendsten Funde auf dem Dachboden gemacht. Man hat nämlich irgendwann über dem alten ein neues Dach errichtet. Und als wir uns die Sache näher angeschaut haben, sind wir dort oben auf die Überreste eines Turms gestoßen. Man muss allerdings eine Leiter hinaufsteigen, um in den Hohlraum zu gelangen, aber falls jemand Interesse hat …?«

»Oh ja, sehr gerne«, sagte eine Stimme. Derek Linford: Rebus kannte sein Näseln inzwischen nur allzu gut.

»Schleimer«, flüsterte eine andere Stimme neben Rebus. Natürlich Bobby Hogan, der das Schlusslicht bildete. Ein Kopf drehte sich um: Ellen Wylie. Sie hatte gehört, was Hogan gesagt hatte. Auf ihrem Gesicht lag der Anflug eines Lächelns. Rebus sah Hogan an, der nur mit den Achseln zuckte und ihm zu verstehen gab, dass Wylie nach seiner Ansicht sauber war.

»Und wie gelangt man später vom Queensberry House zum Parlament? Sind da spezielle Verbindungsgänge vorgesehen?« Wieder stellte Linford die Frage. Er ging ganz vorne direkt neben Gilfillan. Die beiden waren inzwischen hinter einer Krümmung der Treppe verschwunden, so dass Rebus nur mit Mühe Gilfillans zögerliche Antwort verstehen konnte.

»Das weiß ich leider auch nicht.«

Der Tonfall seiner Stimme sagte alles: Er war Bauhistoriker und nicht Architekt. Sein Job war es, sich mit der Vergangenheit des Anwesens auseinander zu setzen, dessen Zukunft ging ihn nichts an. Ja, er wusste selbst nicht mal genau, wieso er die Leute hier eigentlich durch das Gebäude führte, man hatte ihn schlicht darum gebeten. Hogan verzog das Gesicht, und jeder in seiner Nähe wusste, was er dachte.

»Und wann soll das Gebäude fertig sein?«, fragte Grant Hood. Eine leichte Frage, und sie alle kannten bereits die Antwort. Rebus verstand, was Hood wollte – Gilfillan trösten, indem er ihm eine Frage stellte, die der Mann beantworten konnte.

»Baubeginn ist im Sommer«, ließ Gilfillan verlauten. »Im Herbst 2001 soll dann alles fertig sein.« Sie hatten das Zwischengeschoss erreicht und konnten jetzt mehrere Gänge erkennen, die zu den verschiedenen Stationen des ehemaligen Krankenhauses führten. Die Wände waren teilweise aufgestemmt und die Fußböden aufgerissen – offenbar hatten sich die Planer zunächst einen Eindruck vom Zustand der Bausubstanz verschafft. Rebus blickte aus einem der Fenster. Unten packten die Arbeiter gerade ihre Sachen zusammen. Inzwischen war es fast dunkel und zu gefährlich, auf irgendwelchen Dächern herumzuklettern. Ein Stück entfernt auf dem Gelände stand ein Sommerhaus. Es war ebenfalls zum Abriss freigegeben. Und dann gab es noch einen einsamen Baum inmitten einer Trümmerlandschaft. Die Königin hatte ihn höchstpersönlich gepflanzt. Ohne ihre Einwilligung konnte man ihn unter gar keinen Umständen entfernen oder gar fällen. Laut Gilfillan war die Erlaubnis inzwischen erteilt und das Schicksal des Baumes somit besiegelt. Ob dort unten wieder ein Garten oder nur ein Parkplatz entstehen würde, wusste niemand so genau. 2001 schien noch ziemlich weit weg. So lange hier noch gebaut wurde, tagte das Parlament in der Assembly Hall der Kirche von Schottland oben auf The Mound. Das Komitee hatte das Gebäude und die angrenzenden Häuser schon zweimal inspiziert. In den benachbarten Bürokomplexen sollten nämlich bis zur Fertigstellung des neuen Parlamentssitzes die Mitglieder des schottischen Parlaments ihrer Arbeit nachgehen. Bobby Hogan hatte einmal in einer Sitzung gefragt, warum die Herrschaften denn »nicht warten können, bis die Bude an der Holyrood Road fertig ist«, wie er sich ausdrückte. Peter Brent, der Beauftragte der Schottland-Ministeriums, hatte ihm daraufhin einen völlig entgeisterten Blick zugeworfen.

»Weil Schottland bereits jetzt ein Parlament braucht.«

»Komisch, dass wir dreihundert Jahre ohne ausgekommen sind …«

Als Brent gerade eine lange Rede halten wollte, hatte Rebus eingeworfen: »Bobby, jedenfalls nehmen sie sich genügend Zeit für die Planung und Ausführung.«

Hogan hatte gelächelt. Er wusste nämlich genau, dass Rebus über das kurz zuvor eröffnete Schottische Nationalmuseum sprach. Die Königin war zur offiziellen Eröffnung eigens angereist, obwohl der Bau noch gar nicht fertig gewesen war. Man hatte die Gerüste und die Farbeimer bis zu ihrer Abreise einfach hinter irgendwelchen Planen verschwinden lassen.

Gilfillan stand jetzt neben einer ausziehbaren Leiter und wies zu einer Klappe in der Decke hinauf.

»Das ursprüngliche Dach ist gleich da oben«, sagte er. Derek Linford stand bereits mit beiden Füßen auf der untersten Sprosse. »Sie brauchen gar nicht ganz hinaufzusteigen«, fuhr Gilfillan fort, als Linford sich in Bewegung setzte. »Wenn ich mit der Taschenlampe hinaufleuchte …«

Doch Linford war bereits auf dem Dachboden verschwunden.

»Am besten, wir machen die Klappe dicht und hauen einfach ab«, sagte Bobby Hogan und lächelte unschuldig.

Ellen Wylie zog die Schultern hoch. »Merkwürdige Atmosphäre hier …«

»Meine Frau hat hier im Haus mal ’n Gespenst gesehen«, sagte Joe Dickie. »Aber nicht nur sie, auch ihre ehemaligen Kollegen. Eine weinende Frau. Meistens saß sie am Fußende eines Bettes.«

»Vielleicht ’ne Patientin, die hier gestorben ist«, gab Grant Hood zu bedenken.

Gilfillan drehte sich zu ihnen um. »Die Geschichte kenne ich. Die Frau war die Mutter eines Bediensteten hier. An dem Abend, als der Unionsvertrag zwischen Schottland und England unterzeichnet wurde, hat ihr Sohn hier gearbeitet. Der arme Kerl wurde ermordet.«

Linford teilte von oben mit, dass er die Stufen gefunden hatte, die zu dem Turm hinaufführten, doch niemand hörte ihm zu.

»Ermordet?«, fragte Ellen Wylie.

Gilfillan nickte. Der Kegel seiner Taschenlampe zuckte an den Wänden hin und her und tauchte die Spinnweben in gleißendes Licht. Linford versuchte gerade, ein Graffito an der Wand zu entziffern.

»Sieht aus wie eine Jahreszahl … 1870, glaub ich.«

»Wissen Sie eigentlich, dass Queensberry der Architekt des Unionsvertrages gewesen ist?«, sagte Gilfillan. Er spürte, dass seine Zuhörer sich plötzlich für seine Ausführungen interessierten. »Damals, 1707.« Er kratzte mit dem Schuh über die bloßen Fußbodendielen. »Ja, genau an dieser Stelle ist damals Großbritannien entstanden. Am Abend der Vertragsunterzeichnung hat ein junger Bediensteter in der Küche gearbeitet. Der Herzog von Queensberry war damals Außenminister und in dieser Funktion mit der Leitung der Verhandlungen betraut. Er hatte jedoch einen Sohn: James Douglas, Earl von Drumlanrig, der an dem Abend angeblich völlig ausgerastet ist …«

»Und was ist passiert?«

Gilfillan sah durch die geöffnete Luke auf den Dachboden hinauf. »Alles in Ordnung da oben?«, rief er.

»Ja, alles okay. Möchte sich sonst noch jemand hier oben umsehen?«

Niemand rührte sich. Ellen Wylie wiederholte ihre Frage.

»Er hat den Bediensteten mit einem Schwert erstochen«, sagte Gilfillan, »und dann in einem der Kamine in der Küche gebraten. Als er entdeckt wurde, war James gerade damit beschäftigt, den armen Kerl zu verspeisen.«

»Guter Gott«, sagte Ellen Wylie.

»Glauben Sie die Geschichte etwa?« Bobby Hogan schob die Hände in die Taschen.

Gilfillan zuckte mit den Achseln. »So ist es jedenfalls überliefert.«

Kalte Luft strömte plötzlich von oben herab. Kurz darauf erschien die Sohle eines Gummistiefels auf der Leiter, und Derek Linford begann – völlig verstaubt – seinen langsamen Abstieg. Als er unten angekommen war, nahm er den Stift aus dem Mund, den er sich zwischen die Zähne geklemmt hatte.

»Interessant dort oben«, sagte er zu den anderen. »Sie sollten sich das nicht entgehen lassen. Wahrscheinlich Ihre erste und einzige Chance.«

»Wieso?«, fragte Bobby Hogan.

»Ich nehme doch an, dass dieser Bereich in Zukunft für Touristen gesperrt ist, Bobby«, sagte Linford. »Stellen Sie sich nur mal die Sicherheitsrisiken vor.«

Hogan stürmte plötzlich auf Linford los, so dass dieser zurückwich. Dann entfernte er nur eine Spinnwebe von der Schulter des jungen Mannes.

»Sie können doch unmöglich in diesem Zustand in der Zentrale aufkreuzen, junger Mann«, sagte Hogan. Linford ignorierte ihn. Vermutlich hatte er das Gefühl, dass er auf einen alten Knochen wie Bobby Hogan nicht angewiesen war. Aber auch Hogan wusste, dass er von Linford nichts zu befürchten hatte. Sollte Linford je einen hohen Posten bekleiden, würde Hogan sich schon lange seines Ruhestands erfreuen.

»Ich kann mir die alte Bruchbude beim besten Willen nicht als Machtzentrale vorstellen«, sagte Ellen Wylie und inspizierte die Wasserflecken an den Wänden und die Risse im Putz. »Hätte man den Kasten nicht besser ganz abreißen und was Neues bauen sollen?«

»Das Gebäude steht unter Denkmalschutz«, belehrte sie Gilfillan. Wylie zuckte gleichgültig mit den Achseln. Immerhin hatte sie ihr eigentliches Ziel erreicht und eine Eskalation des Streits zwischen Hogan und Linford verhindert. Gilfillan war jetzt wieder in seinem Element und hielt einen Vortrag über die Geschichte des ganzen Anwesens. Er sprach von den Brunnen, die man unter der Brauerei entdeckt hatte, von der Schlachterei, die früher einmal gleich nebenan gestanden hatte. Als der kleine Trupp nun wieder die Treppe hinunterstieg, blieb Hogan stehen, zeigte auf die Uhr und hob ein imaginäres Glas zum Mund. Rebus nickte. Gute Idee, später noch irgendwo einen Drink zu nehmen. Das Jenny Ha’s war ganz in der Nähe. Und die Holyrood Tavern lag auch auf dem Weg zum Revier. Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, hielt Gilfillan gerade einen kleinen Vortrag über die Younger’s-Brauerei.

»Das Brauerei-Areal war früher mal zwölf Hektar groß. Damals hat das Unternehmen ein Viertel des schottischen Biers produziert. Wissen Sie, schon im elften Jahrhundert hat es hier auf dem Gelände eine Abtei gegeben. Unwahrscheinlich, dass die Mönche nur Quellwasser getrunken haben.«

Durch ein Fenster sah Rebus, dass es draußen bereits stockdunkel war. Schottland im Winter: Wenn man zur Arbeit ging, war es noch dunkel, und wenn man abends nach Hause kam, schon wieder. Immerhin hatten sie einen kleinen – wenn auch völlig sinnlosen – Ausflug unternommen und konnten jetzt wieder – bis zum nächsten Treffen – auf ihren diversen Revieren ihrer Arbeit nachgehen. Rebus empfand die Zusammenkünfte des Komitees als Strafe, und genau das hatte sein Chef wohl auch bezweckt. Farmer Watson selbst war ebenfalls Mitglied in einem – allgemein SPINS genannten – Komitee mit dem stolzen Titel »Strategien für die Polizeiarbeit im Neuen Schottland«. Und so wurde Komitee um Komitee gegründet. Nur Papier, dachte Rebus, nichts als Papier. Immer neue Ausschüsse, die sich mit der »Strukturreform der Polizei« und deren angeblicher Modernisierung befassten. Dabei produzierten sie so viel Papier, dass man damit Queensberry House bis obenhin hätte voll stopfen können. Und je mehr man redete und Berichte verfasste, um so weiter schien man sich von der Wirklichkeit zu entfernen. Queensberry House war für ihn ein Hirngespinst und das ganze Konzept eines Parlaments in seinen Augen der Traum eines dem Wahn verfallenen Gottes: »Denn Edinburgh ist der Traum eines dem Wahn verfallenen Gottes/Launisch und dunkel …« Diese Worte hatte er am Anfangs eines Buches über die Stadt entdeckt. Sie stammten aus einem Gedicht von Hugh MacDiarmid. Erst unlängst hatte er dieses Buch in dem relativ vergeblichen Bemühen gelesen, seine Heimatstadt etwas besser zu verstehen.

Er nahm seinen Schutzhelm ab, fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und überlegte, ob der gelbe Plastikschutz wohl irgendwas nützte, wenn einem aus einigen Metern Höhe ein Gegenstand auf den Kopf fiel. Gilfillan bat ihn, den Helm wieder aufzusetzen und erst an dem Container abzunehmen, in dem die Baustellenleitung untergebracht war.

»Möglich, dass Sie bei einem Unfall keine Schwierigkeiten mehr hätten«, meinte Gilfillan, »aber ich dafür um so mehr.«

Rebus setzte den Helm wieder auf, während Hogan tadelnd den Finger hob. Sie waren inzwischen wieder im Erdgeschoss angelangt, wo sich früher vermutlich der Eingangsbereich des Krankenhauses befunden hatte. Ein ziemlich trostloser Anblick. Neben der Tür lagen ein paar Kabelrollen. Klar, in den Büros mussten ja neue Leitungen verlegt werden. Auch die Kreuzung Holyrood Road/St. Mary’s Street sollte demnächst wegen unterirdischer Kabelarbeiten gesperrt werden. Rebus, der die Strecke häufig fuhr, sah der Umleitung mit Grausen entgegen. Manchmal hatte er den Eindruck, dass die ganze Stadt eine einzige Baustelle war.

»Also gut«, sagte Gilfillan und breitete die Arme aus, »das war’s dann wohl. Falls Sie noch irgendwelche Fragen haben, stehe ich Ihnen natürlich gerne zur Verfügung.«

Bobby Hogan hustete in die Stille hinein. Offenbar wollte er Linford warnen. Vor nicht allzu langer Zeit war nämlich einmal ein Mensch aus London angereist, um vor dem Komitee über Sicherheitsfragen im House of Parliament zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit hatte Linford so viele Fragen gestellt, dass der arme Engländer seinen Zug nach Süden verpasst hatte. Hogan erinnerte sich nur zu gut daran. Schließlich war er mit dem guten Mann höchstpersönlich wie ein Hirnamputierter zum Waverley-Bahnhof gerast und hatte dann den ganzen Abend mit ihm verbracht und ihn schließlich in den Nachtzug gesetzt.

Linford blätterte in seinem Notizbuch, während sechs Augenpaare ihn durchbohrten und einige der Anwesenden verstohlen auf die Uhr blickten.

»Also gut, in dem Fall«, sagte Gilfillan.

»Hey, Mr Gilfillan! Sind Sie da oben?« Die Stimme klang aus einer Kellertür herauf. Gilfillan ging zu der Tür hinüber und rief nach unten. »Was ist denn los, Marlene?«

»Schauen Sie sich das bitte mal an.«

Gilfillan sah kurz seine etwas ratlosen Gäste an und war dann schon unterwegs nach unten. Die anderen konnten sich nicht gut ohne Abschied verdrücken. Also blieb ihnen nur die Wahl: Entweder sie warteten im Licht einer nackten Glühbirne in dem vormaligen Eingangsbereich des Krankenhauses auf die Rückkehr ihres Begleiters, oder aber sie stiegen ebenfalls in den Keller hinab. Derek Linford setzte sich an die Spitze.

Unten gelangten sie zunächst in einen – auf beiden Seiten von Räumen gesäumten – schlecht beleuchteten schmalen Gang. An diese Räume schlossen sich offenbar wieder andere Räume an. Rebus meinte im Vorbeigehen in einem der Räume einen Generator zu entdecken. Weiter vorne Stimmen und die Lichtkegel von Taschenlampen. Am Ende des Gangs traten sie in einen nur von einer einzelnen Bogenlampe erleuchteten Raum. Das Licht war auf eine lange Wand gerichtet, deren untere Hälfte mit Holz verkleidet war. Das Holz und der Wandputz waren in derselben krankenhaustypischen Cremefarbe gehalten. Da die meisten Bodendielen entfernt waren, musste die kleine Gruppe über die nackten Balken balancieren, die auf dem bloßen Erdreich aufruhten. In dem Raum roch es feucht und muffig. Gilfillan und die Frau, die er Marlene genannt hatte, hockten vor der Wand und untersuchten das hinter der Holzvertäfelung verborgene Gemäuer. Die beiden blickten in zwei halbrunde Nischen in der Wand. Wie kleine Eisenbahntunnels, dachte Rebus. Dann drehte sich Gilfillan um und wirkte zum ersten Mal an diesem Tag hellwach.

»Feuerstellen«, sagte er, »sogar zwei. Hier muss früher mal die Küche gewesen sein.« Er erhob sich und trat ein paar Schritte zurück. »Der Fußboden muss später aufgeschüttet worden sein, deshalb sehen wir nur die obere Hälfte der beiden Kamine.« Er war mit seiner Aufmerksamkeit nur halb bei seinen Zuhörern und starrte wie gebannt auf die Wand. »In einem davon hat dieser James wahrscheinlich damals den Bediensteten …?«

Einer der beiden Kamine war offen, der andere mit ein paar rostigen Metallplatten verschlossen.

»Was für eine außergewöhnliche Entdeckung«, sagte Gilfillan und strahlte seine junge Mitarbeiterin an. Sie grinste zurück. Richtig schön, mal wieder Leute zu sehen, denen ihre Arbeit Spaß machte. Die Vergangenheit ausgraben, Geheimnisse aufdecken …, Rebus musste unwillkürlich denken, dass diese Leute fast wie Detektive arbeiteten.

»Gegen einen hübschen Braten hätte ich auch nichts einzuwenden«, sagte Bobby Hogan, und Ellen Wylie prustete vor Lachen. Gilfillan war jedoch in Gedanken ganz woanders. Er stand vor der abgedichteten Feuerstelle und schob die Fingerspitzen in den Spalt zwischen dem Metall und der Mauer. Die Platte ließ sich leicht entfernen. Marlene half ihm, sie wegzuziehen und vorsichtig auf dem Boden abzustellen.

»Wer die Platten wohl dort angebracht hat?«, sagte Grant Hood.

Hogan berührte die Metallplatte. »Sieht nicht gerade prähistorisch aus, das Ding.« Gilfillan und Marlene entfernten jetzt eine zweite Platte. Alle starrten in den offenen Kamin. Gilfillan leuchtete mit der Taschenlampe hinein, obwohl die Bogenlampe reichlich Licht spendete.

Es gab nicht den geringsten Zweifel: Was sie da vor sich sahen, war eine verschrumpelte Leiche.

2

Siobhan Clarke zupfte am Saum ihres schwarzen Kleides. Zwei Typen, die sich am Rande der Tanzfläche entlangschoben, blieben stehen und glotzten sie an. Sie warf ihnen einen bösen Blick zu, doch die beiden waren schon wieder in ihr Gespräch vertieft und legten die hohlen Hände an den Mund und brüllten sich irgendwas zu. Dann nickten sie, nippten an ihrem Bier, schoben sich weiter und beäugten die anderen Gäste. Clarke sah ihre Begleiterin an, die durch ein Kopfschütteln kundtat, dass sie die Männer nicht kannte. Sie hockten in einer Sitznische, die einen großen Halbkreis bildete. Insgesamt vierzehn Personen hatten sich dort an den Tisch gequetscht. Acht Frauen, sechs Männer. Einige der Männer trugen Anzüge, andere Jeansjacken, allerdings mit weißem oder hellblauem Hemd. »Jeans und Jogginghosen nicht erlaubt« hieß es zwar draußen am Eingang auf einem Schild, doch diese Vorschrift wurde relativ locker gehandhabt. Der Club war völlig überfüllt. Clarke überlegte, was wohl bei einem Brand passieren würde. Sie sah ihre Begleiterin an.

»Ist es hier immer so voll?«

Sandra Carnegie zuckte mit den Achseln. »Scheint so«, schrie sie. Obwohl sie direkt neben Clarke saß, konnte sie sich bei der hämmernden Musik kaum verständlich machen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Clarke, wie man sich nur an einem solchen Ort mit jemandem verabreden konnte. Die Männer an dem Tisch nahmen Augenkontakt mit den Frauen auf und nickten dann Richtung Tanzfläche. Falls die Erwählte einverstanden war, mussten mehr oder weniger alle aufstehen, damit das Paar sich Richtung Tanzfläche in Bewegung setzen konnte. Und wenn sie dann tanzten, versanken beide in ihrer eigenen Welt und sahen den Partner kaum einmal an. Auch wenn ein Fremder an den Tisch trat, verlief das Ritual ganz ähnlich: Augenkontakt, ein Nicken Richtung Tanzfläche und dann das zuckende Gehoppel selbst. Hier und da tanzten auch zwei Frauen zusammen – mit hängenden Schultern und schweifenden Blicken. Außerdem gab es ein paar Männer, die allein tanzten. Jedes Mal wenn Clarke Sandra auf eines der Gesichter aufmerksam machte, sah diese sich den betreffenden Mann genau an und schüttelte dann den Kopf.

Eine Single-Party im Marina Club. Guter Name für einen Nachtclub, der gerade mal vier Kilometer von der Küste entfernt lag. Das Wort »Single-Party« hatte allerdings nicht viel zu bedeuten. Theoretisch bedeutete es, dass vor allem Musik aus den Achtziger- oder Siebzigerjahren hätte gespielt werden müssen, weil hier eine etwas andere Klientel angesprochen werden sollte als in den meisten anderen Clubs. Für Clarke war ein Single zwischen dreißig und vierzig und nicht selten schon geschieden. Doch hier in dem Schuppen waren auch Knaben vertreten, die wohl erst noch ihre Hausaufgaben gemacht hatten, bevor sie hier aufgekreuzt waren.

Oder wurde sie selbst langsam älter?

Sie war zum ersten Mal auf einer Single-Party. Um sich zu wappnen, spielte sie im Geist einige Standard-Gesprächssituationen durch. Sollte zum Beispiel irgendein Schwachkopf auf die Idee kommen, sie zu fragen: »Und wie hast du deine Frühstückseier am liebsten?«, würde sie antworten: »Unbefruchtet«. Doch was sollte sie nur sagen, falls jemand sie nach ihrem Beruf fragte?

Ich bin Kriminalbeamtin klang nicht gerade wie die ideale Gesprächseröffnung, so viel wusste sie schon aus Erfahrung. Vielleicht war das ja der Grund, weshalb sie solche Situationen mied. Die Leute an ihrem Tisch wussten alle, wer sie war und was sie hier zu tun hatte. Keiner der Männer hatte versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Nur die Frauen hatten Sandra Carnegie getröstet und geherzt und den reichlich verunsicherten Männern böse Blicke zugeworfen. Klar: Auch die Typen, die mit am Tisch saßen, waren nur Männer. Und waren nicht letzten Endes alle Männer Schweine? Schließlich hatte ein Mann Sandra Carnegie vergewaltigt und aus der fröhlichen allein erziehenden Mutter eine leidende junge Frau gemacht.

Clarke hatte Sandra dazu überredet, den Dreckskerl zu jagen – ja, genau so hatte sie sich ausgedrückt.

»Wir müssen den Spieß einfach umdrehen, Sandra – finde ich jedenfalls …, bevor der Kerl so was noch mal macht.«

Der Kerl … Dabei waren es eigentlich zwei gewesen. Einer, der die junge Frau vergewaltigt hatte, und ein anderer, der sie festgehalten hatte. Als dann die Zeitungen über das Verbrechen berichteten, hatten sich zwei weitere Frauen gemeldet. Auch sie waren sexuell belästigt, jedoch im Sinne des Strafgesetzbuches nicht direkt vergewaltigt worden. Alle drei Frauen hatten fast die gleiche Geschichte erzählt. Alle drei gehörten einem Single-Club an. Alle drei waren an den betreffenden Abenden im Single-Club gewesen. Alle drei waren allein nach Hause gegangen.

Einer der beiden Männer war ihnen nachgegangen und hatte sie festgehalten, der andere hatte den Lieferwagen gefahren, der plötzlich neben ihnen aufkreuzte. Die Vergewaltigungen selbst hatten dann auf der Ladefläche des Lieferwagens stattgefunden, dessen Boden mit einer Art Plane bedeckt gewesen war. Hinterher hatten die Männer die Frauen – meist irgendwo am Stadtrand – einfach aus dem Wagen gestoßen und sie davor gewarnt, irgendetwas zu verraten oder zur Polizei zu gehen.

»Hast ja ohnehin nur bekommen, was du wolltest. Wieso gehst du sonst zu diesen Single-Partys?«

So hatte sich der Vergewaltiger von seinen Opfern verabschiedet. Immer wieder hatte Siobhan Clarke in ihrem winzigen Büro über diesen Ausspruch nachgedacht. Nur eines wusste sie genau: Der Verbrecher wurde von Mal zu Mal dreister. Am Anfang hatte er sich noch mit Tätlichkeiten begnügt, der nächste Schritt war dann eine Vergewaltigung gewesen. Wer wusste schon, was er als Nächstes tun würde? Eines war jedenfalls klar: Er hatte eine Vorliebe für Single-Clubs. Ob er seine Opfer beobachtete? Und woher bezog er seine Informationen?

Eigentlich arbeitete sie schon länger nicht mehr im Sittendezernat, sondern bei der Kripo in der St. Leonard’s Street. Doch dann hatte man ihr den Fall Sandra Carnegie übertragen. Ihre Vorgesetzten hatten offenbar gehofft, dass es ihr gelingen würde, die junge Frau zu einem Besuch des Marina zu überreden. Seither hatte Siobhan immer wieder überlegt: Woher hat der Kerl gewusst, dass seine Opfer einem Single-Club angehören, wenn er nicht selbst in dem Nachtclub gewesen ist? Sie hatte auch schon etliche Mitglieder der drei Single-Clubs der Stadt verhört und sogar Leute, die abgesprungen oder rausgeflogen waren.

Sandra war aschgrau im Gesicht und trank ein Bacardi-Cola. Bis dahin hatte sie fast den ganzen Abend auf die Tischplatte gestarrt. Bevor die ganze Gruppe ins Marina gegangen war, hatte man sich in einer Kneipe getroffen. So ging das jedes Mal: Manchmal trafen sich die allein stehenden Damen und Herren in einer Kneipe und zogen dann weiter, manchmal blieben sie den ganzen Abend auch an einem Ort. Bisweilen unternahmen sie aber auch gemeinsam etwas und gingen zum Beispiel zusammen tanzen oder ins Theater. Vielleicht war ihnen der Kerl sogar von der Kneipe aus gefolgt. Doch wahrscheinlich hatte alles in dem Nachtclub angefangen, und der Bursche hatte – das Gesicht hinter einem Glas verborgen – die Tanzfläche umkreist, wie Dutzende anderer Männer auch.

Clarke überlegte, ob ein paar Singles auf einem Haufen ohne weiteres als solche zu erkennen waren. In der Regel war eine solche Gruppe ziemlich groß und bestand aus Männern und Frauen. Aber das traf auch auf eine Runde von Büroangestellten zu. Natürlich trugen Singles keinen Ehering … Außerdem waren die Leute unterschiedlich alt. Aber ganz sicher waren keine Teenager darunter, die als Büronachwuchs hätten durchgehen können. Clarke hatte mit Sandra über deren Gruppe gesprochen.

»Ich geh dort nur hin, um andere Leute zu treffen. Wissen Sie, ich arbeite in einem Altenheim, und da lerne ich natürlich niemanden in meinem Alter kennen. Außerdem gibt es ja noch David. Wenn ich ausgehen will, muss meine Mutter ihn hüten.« David war ihr elfjähriger Sohn. »Mir geht es nur um ein bisschen Geselligkeit … das ist alles.«

Eine andere Frau aus der Gruppe hatte fast das Gleiche gesagt und dann noch hinzugefügt, dass viele Männer in Single-Clubs – »na ja, etwas merkwürdig sind«. Im Gegensatz zu den Frauen, »die sind in Ordnung«.

Da sie am Rand der Sitznische auf der Bank saß, hatten bereits zwei Männer Clarke zum Tanzen aufgefordert. Sie hatte jedoch in beiden Fällen abgelehnt. Eine der Frauen hatte sich daraufhin über den Tisch zu ihr hinübergebeugt.

»Du bist noch neu hier!«, brüllte sie. »Das riechen die Typen förmlich!« Dann hatte sie sich zurückgelehnt und gelacht und dabei ihre ungepflegten Zähne und ihre Cocktail-grüne Zunge gezeigt.

»Moira ist bloß eifersüchtig«, sagte Sandra. »Die hat doch nur Chancen bei Typen, die den ganzen Tag beim Sozialamt anstehen.«

Moira konnte diese Bemerkung unmöglich verstanden haben. Trotzdem starrte sie die beiden beleidigt an.

»Ich muss mal auf die Toilette«, sagte Sandra.

»Ich komme mit.«

Sandra nickte zustimmend. Clarke hatte ihr versprochen, sie nicht einen Moment aus den Augen zu lassen. Die beiden nahmen ihre Handtaschen und bahnten sich einen Weg durch die Menschenleiber.

Auf dem Klo war ebenfalls mächtig was los, aber wenigstens war es dort nicht so heiß, und die Tür dämpfte die hämmernde Musik ein wenig ab. Clarkes Ohren dröhnten, und ihre Kehle war von dem vielen Zigarettenrauch und dem Schreien ganz rau. Sandra stellte sich vor einer der Kabinen an, und Clarke nahm währenddessen vor einem der Waschbecken Aufstellung. Sie betrachtete sich im Spiegel. Da sie sich normalerweise nicht schminkte, war sie überrascht, wie fremd ihr Gesicht ihr erschien. Ihre angemalten Augen wirkten eher härter als sonst und nicht etwa verführerischer. Sie zupfte an einem der Träger ihres Kleides. Im Stehen berührte dessen Saum zwar ihre Knie. Doch wenn sie saß, hatte sie ständig das Gefühl, dass die Taille nach oben rutschte. Erst zweimal hatte sie das Kleid getragen: einmal auf einer Hochzeit und dann auf einer Abendgesellschaft. Damals hatte sie das Problem noch nicht gehabt. Ob sie vielleicht am Bauch zugenommen hatte? War das der Grund? Sie stellte sich seitlich vor den Spiegel und überprüfte ihre Figur. Dann inspizierte sie ihr kurz geschnittenes Haar. Sie mochte die Frisur – ließ ihr Gesicht länger erscheinen. In dem allgemeinen Gedränge vor dem Händetrockner stieß sie mit einer Frau zusammen. Aus einer der Kabinen drang lautes Schniefen nach draußen. Ob sich dort gerade jemand ’ne Ladung Koks reinzog? In der Schlange vor den Toilettentüren sprachen einige Frauen über die Typen in der Disco. Sie machten wenig geschmackvolle Bemerkungen über deren Vorzüge, sei es eine dicke Brieftasche oder die entsprechende Wölbung in der Hose. Sandra war in einer der Kabinen verschwunden. Clarke verschränkte die Arme und wartete. Plötzlich stand eine Frau vor ihr.

»Bist du hier für die Kondomausgabe zuständig?«

Einige Frauen in der Schlange lachten. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie vor dem Automaten stand. Sie trat einen Schritt beiseite, damit die Frau ein paar Münzen in den Geldschlitz werfen konnte, dabei inspizierte sie die rechte Hand der Frau. Leberflecken und faltige Haut. Die Frau zog mit der Linken an der Schublade. An ihrem Ringfinger war deutlich zu erkennen, dass sie ihren Ehering abgezogen hatte. Vermutlich hatte sie ihn in der Handtasche verstaut. Die Bräune ihres Gesichts stammte aus dem Solarium, und ihr Ausdruck war ebenso künstlich aufgekratzt wie resigniert. Sie zwinkerte Clarke zu.

»Man weiß ja nie.«

Clarke lächelte gezwungen. An ihrem Arbeitsplatz auf dem Revier hatten diese Single-Partys im Marina keinen guten Ruf. Jurassic Park nannten die Beamten die Veranstaltungen oder Oma-Abschleppen. Die üblichen Männerwitze. Sie selbst fand die Atmosphäre deprimierend, wusste aber selbst nicht genau, warum. Sie besuchte keine Nachtclubs, jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Schon als Schülerin und später Studentin hatte sie diese Orte gemieden. Zu laut, zu rauchig, zu viel Alkohol und Stumpfsinn. Doch das waren nicht die einzigen Gründe. Schon seit längerem war sie Anhängerin des Hibernian-Fußballclubs, und auch dort wurde auf den Tribünen kräftig geraucht und Testosteron produziert. Trotzdem gab es zwischen der Menschenmasse in einem Stadion und der Menge an einem Ort wie dem Marina einen Unterschied: Während eines Fußballspiels kamen die Männer wenigstens nicht auf die Idee, Frauen anzumachen. Deshalb fühlte sie sich in der Easter Road sicher. Ja, sie fuhr sogar zu Auswärtsspielen, wenn die Zeit es zuließ. Derselbe Platz bei jedem Heimspiel – sie kannte bereits die Gesichter der anderen Fans. Und nachher, nachher ließ sie sich in der anonymen Masse auf der Straße dahintreiben. Noch nie hatte jemand sie angemacht. Deshalb waren die Leute nicht gekommen, und sie wusste das und war richtig froh, wenn an kalten Winternachmittagen bereits beim Anstoß das Flutlicht aufflammte.

Der Riegel in der Kabine wurde zurückgeschoben, und Sandra trat heraus.

»Wird aber auch Zeit«, rief jemand. »Dachte schon, du bist mit ’nem Kerl in dem Kabuff.«

»Du meinst, um mir den Hintern daran abzuputzen?«, sagte Sandra. Sie gab sich zwar redlich Mühe, witzig zu klingen, aber ihre Stimme verriet ihren wahren Zustand. Sandra trat vor den Spiegel und schminkte sich nach. Sie hatte geweint. Kleine rote Äderchen waren in ihren Augenwinkeln zu erkennen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Clarke leise.

»Könnte noch schlimmer kommen.« Sandra inspizierte ihr Spiegelbild. »Vielleicht bin ich ja schwanger, wer weiß.«

Der Mann, der sie vergewaltigt hatte, hatte ein Kondom benutzt, also keine Samenspuren hinterlassen, mit denen das Labor etwas hätte anfangen können. Clarkes Kollegen hatten alle möglichen Sexualstraftäter gecheckt, mussten sie jedoch nach dem Verhör alle wieder laufen lassen. Sandra hatte sich die Fotobücher angesehen – eine ganze Galerie von Frauenhassern. In manchen Fällen brauchten die weiblichen Opfer bloß das Gesicht des Täters auf dem Foto wieder zu sehen, und schon waren ein paar weitere Horrortage und natürlich -nächte garantiert. Ungepflegte leere Gesichter, tote Augen, jämmerliche Gestalten. Clarke hatte immer wieder erlebt, dass die Opfer sich hinterher fragten: Wie konnte das nur passieren? Wieso hab ich mir das bloß von einem derart jämmerlichen Kerl gefallen lassen?

Ja, schwach wirkten diese Typen tatsächlich. Aber nur auf dem Foto, nur aus Erschöpfung oder weil sie sich von einer unterwürfigen Haltung was erhofften. Doch im entscheidenden Augenblick, jenem hassverzerrten Augenblick, da waren sie stark. Der zweite Mann, der Komplize … Siobhan wurde nicht schlau aus dem Burschen. Was hatte der denn von alledem gehabt?

»Und – haben Sie hier schon einen Kerl gesehen, der Ihnen gefällt?«, fragte Sandra. Ihr Lippenstift zitterte leicht, als sie sich jetzt die Lippen nachzog.

»Nein.«

»Und zu Hause wartet auch niemand auf Sie?«

»Sie wissen doch, dass es niemanden gibt.«

Sandra beobachtete sie im Spiegel. »Ich weiß nur, was Sie mir erzählt haben.«

»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt.«

Sie hatten lange Gespräche geführt. Clarke hatte die üblichen Verhaltensregeln außer Acht gelassen und ganz offen mit Sandra geredet. Sie hatte ihre Fragen beantwortet, ihre Polizisten-Rolle abgelegt und sich als Mensch offenbart. Anfangs war das alles nur ein Trick gewesen, ein Schachzug, um Sandra für den Plan zu gewinnen. Doch dann war plötzlich mehr daraus geworden, wirkliche Offenheit. Clarke hatte viel mehr preisgegeben, als ihr Job es von ihr verlangte – viel mehr. Aber jetzt hatte sie plötzlich das Gefühl, dass Sandra ihr nicht mehr so recht über den Weg traute. Doch hatte das nun mit ihr – Siobhan – persönlich zu tun, oder lag es daran, dass die junge Frau überhaupt niemandem wirklich vertraute? Schließlich kannten sich die beiden Frauen ja erst seit der Vergewaltigung und wären sich nie begegnet, wenn diese schlimme Sache nicht passiert wäre. Clarke gab sich hier im Marina als Sandras Freundin aus, doch das war natürlich nur ein Trick. In Wahrheit waren sie ja gar nicht befreundet, würden es vielleicht nie sein. Ein schreckliches Verbrechen hatte sie zusammengeführt. In Sandras Vorstellung war Siobhan Clarke unauflöslich mit jener Nacht verbunden, die sie unbedingt vergessen wollte.

»Wie lange müssen wir denn noch bleiben?«, wollte sie jetzt wissen.

»Liegt ganz bei Ihnen. Wir können jederzeit gehen.«

»Aber dann verpassen wir ihn vielleicht.«

»Das ist nicht Ihr Fehler, Sandra. Der Typ kann sich überall rumtreiben. Ich hab nur gedacht, dass es vielleicht einen Versuch wert ist.«

Sandra drehte sich um und sah sie an. »Also noch ’ne halbe Stunde.« Sie sah auf die Uhr. »Ich hab meiner Mutter versprochen, dass ich um zwölf zurück bin.«

Clarke nickte, und die beiden schoben sich zurück in die von zuckenden Lichtblitzen durchbrochene Dunkelheit. Fast schien es, als ob die geballte Energie des Raumes in diesen Lichtblitzen gebündelt war.

Als sie wieder ihren Tisch erreichten, saß ein Neuankömmling auf Sandras Platz. Ein jüngerer Mann. Vor ihm auf dem Tisch stand ein großes Glas Orangensaft, an dem er sich mit den Fingern zu schaffen machte. Die anderen Club-Mitglieder schienen ihn zu kennen.

»Tut mir Leid«, sagte er und stand auf, als Siobhan und Sandra näher kamen. »Ich hab Ihnen den Platz weggenommen.« Er starrte Siobhan an und streckte ihr die Hand entgegen. Der Mann hatte einen festen Händedruck und war offenbar nicht bereit, Siobhans Hand so ohne weiteres wieder freizugeben.

»Kommen Sie, tanzen wir ein bisschen«, sagte er und zog sie auf die Tanzfläche. Ihr blieb kaum eine Wahl, als ihm zu folgen, und zwar in das Auge des Sturms, wo spitze Ellbogen sie empfingen und die Tanzenden sich brüllend und gestikulierend drängten. Ihr Begleiter blickte sich um und vergewisserte sich, dass man sie von dem Tisch aus nicht mehr sehen konnte. Dann überquerte er, ohne stehen zu bleiben, die Tanzfläche und führte sie an einer Bar vorbei in ein Foyer.

»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Clarke. Er drehte sich um, schien zufrieden und sah sie an.

»Ich kenne Sie«, sagte er.

Plötzlich wusste sie, dass auch ihr sein Gesicht irgendwie vertraut war. Sie überlegte krampfhaft: Vielleicht ein Kerl, den sie in den Knast gebracht hatte? Sie blickte rasch nach rechts und links.

»Sie arbeiten doch auf dem Revier in der St. Leonard’s Street«, sagte er. Sie sah auf seine Hand, die noch immer ihr Handgelenk umklammert hielt. Er folgte ihrem Blick und ließ sie plötzlich los. »Oh, Entschuldigung«, sagte er, »ich wollte nur …«

»Wer sind Sie?«

Er schien gekränkt, dass sie ihn nicht kannte. »Derek Linford.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Fettes Avenue?« Er nickte. Die Hauszeitung – genau, dort hatte sie sein Gesicht gesehen. Und vielleicht in der Kantine im Präsidium. »Und was machen Sie hier?«

»Das könnte ich Sie genauso gut fragen.«

»Ich bin mit Sandra Carnegie hier.« Oh, dachte sie, bin ich ja gar nicht … Ich stehe ja hier mit dir in diesem Foyer herum …, dabei hab ich ihr versprochen …

»Ja und«, sagte er. Dann verfinsterte sich plötzlich sein Gesicht. »Oh, verdammt, sie ist kürzlich vergewaltigt worden, nicht wahr?« Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. »Und Sie hoffen, dass sie den Kerl wieder erkennt?«

»Richtig.« Clarke lächelte. »Sind Sie auch Mitglied in dem Club?«

»Und wenn schon?« Er schien darauf zu warten, dass sie etwas sagte, doch Clarke zuckte nur mit den Achseln. »Das ist doch wohl meine Privatsache, Detective Clarke.« Ach so, jetzt spielte er also das hohe Tier, versuchte, sie einzuschüchtern.

»Ich sag’s auch nicht weiter, Inspektor Linford.«

»Ah. Da wir gerade von Diskretion sprechen …« Er legte den Kopf auf die Seite und sah sie an.

»Haben Sie den anderen eigentlich erzählt, dass Sie von der Kripo sind?« Er sah sie spöttisch an. »Wüsste zu gerne, was Sie denen verklickert haben.«

»Ist das wichtig?«

Clarke dachte kurz nach. »Warten Sie mal«, sagte sie. »Wir haben mit sämtlichen Club-Mitgliedern gesprochen. Ihren Namen habe ich auf der Liste allerdings nicht gesehen.«

»Ich bin erst seit einer Woche dabei.«

Clarke legte die Stirn in Falten. »Und was bedeutet das für unser weiteres Procedere?«

Linford rieb sich wieder die Nase. »Also gut. Unser Tänzchen ist jetzt zu Ende. Wir gehen einfach wieder an den Tisch. Und dann setzen Sie sich auf die eine und ich mich auf die andere Seite. Nicht mal mehr sprechen müssen wir miteinander.«

»Sehr charmant.«

Er grinste. »Ach, so war das nicht gemeint. Natürlich können wir ein bisschen plaudern, falls das bei dem Krach überhaupt möglich ist.«

»Ha, da fällt mir aber ein Stein vom Herzen.«

»Also, heute Nachmittag ist was Unglaubliches passiert.« Er nahm ihren Arm und führte sie zurück ins Gedränge. »Wenn Sie mir helfen, an der Bar ’ne Runde Drinks zu besorgen, erzähl ich Ihnen alles.«

»Er ist ein Arsch.«

»Kann sein«, sagte Clarke, »aber ein ziemlich attraktiver Arsch.«

John Rebus saß daheim in seinem Sessel und hielt sich das schnurlose Telefon ans Ohr. Der Sessel stand gleich neben dem Fenster. Vorhänge gab es keine, und die Fensterläden standen noch offen. In seinem Wohnzimmer brannte kein Licht, nur eine nackte 60-Watt-Birne vorne im Gang. Und so war der ganze Raum von dem gedämpft-gelben Licht der Straßenlaternen erfüllt.

»Wo, sagten Sie, haben Sie den Burschen noch mal aufgegabelt?«

»Aufgegabelt? Überhaupt nicht.« Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme.

»Alles sehr merkwürdig.«

»Na ja, jedenfalls nicht so merkwürdig wie die Geschichte mit dem Skelett.«

»Es ist kein Skelett, eher eine Mumie.« Er musste lachen. »Dieser Mensch, der die Führung gemacht hat, ich dachte schon, der springt mir direkt in die Arme.«

»Und was haben Sie bisher rausgefunden?«

»Hm. Die Jungs von der Spurensicherung haben erst mal den Tatort gesichert. Gates und Curt werden sich Skelly erst am Montag vornehmen.«

»Skelly?«

Rebus beobachtete ein Auto, das unten einen Parkplatz suchte. »Den Namen hat Bobby Hogan sich ausgedacht.«

»Irgendwas Besonderes an der Leiche?«

»Hm ja, die Klamotten: Jeans mit Schlag, ein Stones-T-Shirt.«

»Gut, dass gleich ein Experte vor Ort war.«

»Wenn Sie damit sagen wollen: ein Rock-Dinosaurier, dann nehme ich das Kompliment gerne an. Ja, auf dem Hemd war das Cover von Some Girls abgedruckt. Ist 1978 rausgekommen, die Platte.«

»Sonst noch irgendwas, was den Todeszeitpunkt eingrenzen könnte?«

»Nein. Die Taschen waren leer. Weder eine Uhr noch irgendwelche Ringe.« Er sah auf die Uhr: Zwei Uhr früh. Aber natürlich hatte sie gewusst, dass sie ihn noch anrufen konnte, dass er noch nicht schlief.

»Was hören Sie da eigentlich für Musik?«

»Die Kassette, die Sie mir gegeben haben.«

»The Blue Nile? Passt ja gar nicht zu Ihrem Dinosaurier-Image. Und worüber denken Sie gerade nach?«

»Ich glaube, dass Sie ganz hin und weg sind von diesem Linford.«

»Mag ich besonders, wenn Sie den fürsorglichen Papa spielen.«

»Passen Sie bloß auf, dass ich Sie nicht übers Knie lege.«

»Vorsicht, Inspektor. Heutzutage könnte eine solche Bemerkung Sie den Job kosten.«

»Gehen wir morgen zusammen zu dem Spiel?«

»Klar doch. Ich hab extra einen grün-weißen Schal für Sie beiseite gelegt.«

»Und erinnern Sie mich unbedingt daran, dass ich mein Feuerzeug mitnehme. Also dann um zwei Uhr in der Mather’s Street?«

»Ich bring auch ein paar Flaschen Bier mit.«

»Siobhan – Sie waren doch heute Abend beruflich in diesem Club …«

»Ja.«

»Haben Sie was erreicht?«

»Nein«, sagte sie und klang plötzlich sehr müde. »Nicht mal ein torloses Unentschieden.«

Er legte das Telefon beiseite und goss sich einen Schluck Whisky in sein Glas. »Richtig stilvoll heute Abend, John«, sagte er zu sich selbst. Er war nämlich inzwischen so weit, dass er oft genug direkt aus der Flasche trank. Das Wochenende lag vor ihm, und mal abgesehen von dem Fußballspiel, wusste er nicht, was er tun sollte. Im Dämmerlicht seines Wohnzimmers hingen ganze Schwaden Zigarettenrauch. Von Zeit zu Zeit dachte er daran, die Wohnung zu verkaufen, sich was Neues zu suchen, wo weniger Gespenster ihn verfolgten. Doch andererseits waren sie seine einzige Gesellschaft: die toten Kollegen, die Opfer zahlloser Verbrechen, die Frauen, mit denen er mehr oder weniger kurzlebige Beziehungen gehabt hatte. Er wollte sich noch etwas Whisky nachgießen. Doch die Flasche war leer. Als er aufstand, bemerkte er, dass der Boden unter ihm zu schwanken anfing. Eigentlich musste er noch eine frische Flasche in der Einkaufstasche unter dem Fenster haben, doch die Tasche war leer und zerknüllt. Er blickte aus dem Fenster und sah in der Scheibe sein ratloses Gesicht. Lag nicht noch eine Flasche unten in seinem Wagen? Hatte er eigentlich eine oder zwei Flaschen gekauft? Er ging im Geist die Kneipen durch, die auch um zwei Uhr früh noch geöffnet waren. Die Stadt – seine Stadt –, dort draußen wartete sie auf ihn, wartete darauf, ihm ihr dunkles, eingeschrumpftes Herz zu präsentieren.

»Ich brauch den verdammten Stoff nicht«, sagte er und legte die Handflächen auf die Fensterscheiben, als ob er das Glas herausdrücken und zugleich damit unten auf dem Gehsteig zerschellen wollte.

»Ich brauche den verdammten Stoff nicht«, wiederholte er. Dann richtete er sich wieder auf, ging nach vorne und zog den Mantel an.

3

Samstagmittag. Der Clan traf zum Essen im Witchery zusammen.

Ein Nobelrestaurant oben an der Royal Mile. Gleich neben dem Schloss. Von draußen strömte durch die großen Fenster das Tageslicht herein – fast wie in einem Glashaus. Roddy hatte auch im Namen der übrigen Geschwister das Essen zum fünfundsiebzigsten Geburtstag ihrer Mutter organisiert. Sie war Malerin, und das hatte ihn auf die Idee gebracht, ein Restaurant mit möglichst viel Tageslicht auszuwählen. Allerdings war der Himmel bedeckt. An den Fensterscheiben rann in Strömen der Regen hinab. Die Wolken hingen tief und verhüllten sogar die Spitze der Burg.

Zum Auftakt des Familientreffens war man kurz durch die Befestigungsanlagen gegangen. Doch die Jubilarin zeigte sich unbeeindruckt. Allerdings kannte sie den Ort schon seit fast siebzig Jahren und war seither gewiss schon hundertmal hier oben gewesen. Auch das Essen hatte ihre Stimmung nicht gehoben, obwohl Roddy jeden einzelnen Gang, jeden Schluck Wein in den höchsten Tönen gepriesen hatte.

»Warum musst du nur immer so übertreiben?«, fuhr sie ihn an.

Er überging die Bemerkung schweigend, starrte in sein Puddingschälchen und zwinkerte schließlich Lorna zu. Lorna sah wieder den kleinen Jungen vor sich, der ihr Bruder einmal gewesen war, fühlte sich an jene bezaubernde Scheu erinnert, mit der er inzwischen vor allem seine potenziellen Wähler und irgendwelche Fernsehreporter umgarnte.

Warum musst du nur immer so übertreiben? Die Worte standen noch immer im Raum. Fast schien es so, als ob die übrigen Familienmitglieder sich geradezu daran labten. Doch dann fing Roddys Frau Seona an zu sprechen.

»Ja, wo er das wohl herhat?«

»Was hat sie gesagt? Was hat sie gesagt?«

Natürlich war es Cammo, der die Friedensverhandlungen einleitete: »Also, Mutter, er hat sich die ganze Mühe doch nur gemacht, weil du heute …«

»Kannst du denn keinen einzigen Satz zu Ende sprechen?«

Cammo seufzte und holte tief Luft. »Weil du heute Geburtstag hast. Warum gehen wir nicht zu Fuß zum Holyrood-Palast hinunter?«

Seine Mutter funkelte ihn wütend an – ihre Augen wie feuernde Geschütze. Dann lag plötzlich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Die anderen beneideten Cammo um seine Fähigkeit, solche kleinen Wunder zu vollbringen. Ja, in solchen Augenblicken verfügte er geradezu über magische Kräfte.

Sie saßen zu sechst an dem Tisch. Cammo, der älteste Sohn, hatte das Haar aus der Stirn zurückgekämmt und trug die goldenen Manschettenknöpfe seines Vaters und damit die einzigen Dinge von Wert, die ihm dieser hinterlassen hatte. Über Politik hatten sie sich schon immer gestritten – Cammo und der alte Herr, der noch ein Liberaler vom alten Schlag gewesen war. Cammo selbst hingegen war bereits während des Studiums in St. Andrews der Konservativen Partei beigetreten. Inzwischen hatte er im Umland von London ein sicheres Abgeordnetenmandat errungen und vertrat einen vorwiegend ländlichen Wahlkreis zwischen Swindon und High Wycombe. Er wohnte in London, liebte das Nachtleben und die brodelnde Metropole. Verheiratet war er mit einer Trinkerin, die Unsummen in teuren Geschäften ausgab. Die beiden wurden nur selten zusammen gesehen. Dafür erschien er auf den diversen Bällen und Partys der Hauptstadt jedes Mal mit einer anderen Frau am Arm.

Ja, das war Cammo.

Er war in der vergangenen Nacht mit dem Schlafwagen angereist und hatte sich bereits heftig darüber beklagt, dass er im Speisewagen – wegen Personalmangels – nichts zu trinken bekommen hatte.

»Unverschämtheit. Da privatisiert man extra die Eisenbahn, und dann bekommt man nicht mal einen anständigen Whisky mit Soda.«

»Mein Gott, wer trinkt denn heute noch Soda?«

Diesen Satz hatte Lorna unbedingt noch loswerden müssen, bevor die kleine Gesellschaft sich vom Sitz der Familie aus zum Essen begeben hatte. Lorna hatte schon immer gewusst, wie sie ihren Bruder nehmen musste. Sie war nur elf Monate jünger als er und hatte es sogar geschafft, sich für das Familienfest von ihren zahlreichen Verpflichtungen frei zu machen. Lorna war nämlich Fotomodell – jedenfalls behauptete sie das trotz des nahenden Alters und der sinkenden Nachfrage nach ihrem Typ. Inzwischen war sie Ende Vierzig. Das große Geld hatte sie bereits in den Siebzigerjahren gemacht. Aber sie wurde auch jetzt noch bisweilen gebucht und hatte angeblich in Lauren Hutton eine Gönnerin. In ihrer Jugend hatte sie mit mehreren Parlamentsabgeordneten ein Verhältnis gehabt. Insofern war sie Cammo ziemlich ähnlich, der sich auch hier und da gerne mit einem Fotomodell zeigte. Lorna hatte schon so manche Geschichte über ihren Bruder gehört und war sicher, dass es sich umgekehrt genauso verhielt. Wenn die beiden einmal zusammentrafen, was selten genug der Fall war, tänzelten sie nervös umeinander herum wie zwei Boxer im Ring.

Und natürlich hatte Cammo als Aperitif einen Whisky-Soda bestellt.

Und dann war da noch der kleine Roddy, der inzwischen auch schon fast die vierzig erreicht hatte. Obwohl im Grunde seines Herzens ein Rebell, hatten ihn seine Lebensumstände daran gehindert, diese Seite auszuleben. Früher hatte er mal im Schottland-Ministerium gearbeitet, doch inzwischen war er als Anlageberater tätig. Auch wenn er sich zu New Labour bekannte, war er meist ziemlich ratlos, wenn sein Bruder schweres ideologisches Geschütz auffuhr. Roddy saß bei solchen Gelegenheiten einfach ruhig da und ließ sämtliche Granaten an sich abprallen. Nicht zufällig hatte ein politischer Kommentator ihn einmal als »Ausputzer« der Schottischen Labour-Partei bezeichnet. Denn tatsächlich verstand Roddy es prächtig, die vielen Landminen der Partei sorgfältig aufzuspüren und dann ebenso professionell zu entschärfen. Andere nannten ihn einen Schleimer, weil es ihm gelungen war, von Labour als Kandidat für das geplante Schottische Parlament aufgestellt zu werden. Tatsächlich hatte Roddy an diesem Tag doppelt Grund zum Feiern. Erst wenige Stunden zuvor hatte er nämlich erfahren, dass ihn seine Partei für den Wahlkreis Edinburgh West nominiert hatte.

»Oh, verdammt«, hatte Cammo bloß gesagt und die Augen verdreht, als für die anderen Gäste vorneweg Champagner gereicht wurde.

Roddy hingegen lächelte nur und schob sich eine dicke schwarze Haarsträhne hinters Ohr. Seine Frau Seona drückte ihm aufmunternd den Arm. Seona war nicht nur eine loyale Ehefrau, nein, sie war von beiden auch die politisch Aktivere. Sie unterrichtete Geschichte an einer Gesamtschule.

Billary nannte Cammo sie bisweilen in Anspielung auf Bill und Hillary Clinton. In seinen Augen waren die meisten Lehrer Staatsfeinde, was ihn freilich nicht daran gehindert hatte, Seona bei mehreren ebenso festlichen wie feuchtfröhlichen Anlässen massiv anzubaggern. Lornas Vorhaltungen hatte er mit der Auskunft beschieden: »Indoktrination durch Verführung. Wenn die verdammten Sekten das dürfen, warum dann nicht die Tory-Partei?«

Auch Lornas Ehemann war anwesend. Allerdings stand er die meiste Zeit mit dem Handy am Ohr an der Tür. Von hinten wirkte er nicht sonderlich beeindruckend: zu wohlgenährt für seinen cremefarbenen Leinenanzug und die spitzen schwarzen Schuhe. Und dann noch der langsam ergrauende Pferdeschwanz – Cammo hat laut gelacht, als er das Ding zum ersten Mal gesehen hatte.

»Bist du jetzt endlich auch im New Age angelangt, Hugh? Oder bist du unter die professionellen Ringer gegangen?«

»Schnauze, Cammo.«

Hugh Cordover war in den Siebziger-, Achtzigerjahren so eine Art Rockstar gewesen. Inzwischen war er als Plattenproduzent und Bandmanager aktiv. Allerdings interessierten sich die Medien neuerdings mehr für seinen Bruder Richard, einen Anwalt aus Edinburgh, als für den alternden Rockstar. Lorna hatte er erst gegen Ende ihrer Karriere kennen gelernt. Irgendein Berater hatte ihr damals eingeredet, dass sie unbedingt singen müsse. Und so war sie eines Tages zu spät und auch noch betrunken in Hughs Studio aufgekreuzt. Der hatte ihr zur Begrüßung erst mal ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet und ihr erklärt, sie solle gefälligst nüchtern wiederkommen. Vierzehn Tage später war sie in dem erwünschten Zustand wieder bei ihm aufgetaucht. Abends waren die beiden dann essen gegangen und hatten anschließend bis zum frühen Morgen im Studio gearbeitet.

Zwar wurde Hugh noch manchmal auf der Straße erkannt, doch meist von Leuten, die ihn nicht die Bohne interessierten. Im Zentrum seines Lebens stand jetzt sein heiliges Buch – ein in Leder gebundener dicker Terminkalender. Dieses Buch hielt er geöffnet in der Hand, während er – das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt – in dem Restaurant auf und ab ging. Seine Hauptbeschäftigung bestand offenbar darin, Termine zu vereinbaren, immer neue Termine. Lorna beobachtete ihn über den Rand ihrer Brille hinweg, und ihre Mutter wollte plötzlich unbedingt, dass jemand das Licht einschaltete.

»Mein Gott, wie dunkel es hier ist. Wollt ihr mir unbedingt einen Vorgeschmack auf den Friedhof geben?«

»Ja, Roddy«, sagte Cammo, »kannst du nichts dagegen unternehmen? Schließlich hast du das Lokal ausgewählt.« Er sah sich verächtlich in dem Raum um. Zwischenzeitlich waren zwei Fotografen eingetroffen – einer, den Roddy organisiert hatte, und ein anderer von einer Illustrierten. Cordover kehrte angesichts der neuen Lage augenblicklich an seinen Platz am Tisch zurück und gab sich redlich Mühe, die diversen Mitglieder des Grieve-Clans möglichst überzeugend anzulächeln.

Nach Roddy Grieves Planung war ein Spaziergang entlang der gesamten Royal Mile eigentlich nicht vorgesehen. Ja, er hatte sogar extra ein paar Taxis organisiert, die vor dem Holiday Inn warteten. Doch seine Mutter hatte ihren eigenen Kopf.

»Wenn wir schon spazieren gehen, dann um Himmels willen den ganzen Weg.« Und dann setzte sie sich in Marsch. Dabei stützte sie sich auf ihren Handstock, den sie zu rund siebzig Prozent aus Geltungssucht und vielleicht zu dreißig Prozent aus schmerzlicher Notwendigkeit mit sich führte. Als Roddy gerade die Fahrer bezahlte, flüsterte ihm Cammo ins Ohr: »Warum musst du nur immer so übertreiben?« Dann lachte er.

»Hau ab, Cammo.«

»Würde ich ja gerne, Bruder. Aber der nächste Zug zurück in die Zivilisation geht erst in ein paar Stunden.« Er schaute umständlich auf die Uhr. »Außerdem hat Mutter heute Geburtstag, wie du vielleicht weißt. Ich fürchte, sie wäre außerordentlich bestürzt, wenn ich plötzlich wieder abreise.«

Und so war es wohl auch. Das konnte selbst Roddy nicht leugnen.