Der kalte Traum von Thyran Bàr - Andreas Gloge - E-Book

Der kalte Traum von Thyran Bàr E-Book

Andreas Gloge

4,6

Beschreibung

Abgeschottet von den Schrecken eines langen Krieges verleben die Menschen im ewig verschneiten Dorf Thyran Bar ungestört ihren Lebensabend. Ergeben folgen sie den Regeln der undurchschaubaren Mönche. Eines Nachts erwacht das Mädchen Aurora, eine Fremde, auf dem Dorfplatz. Sie beginnt, sonderbare Fragen zu stellen und beschwört damit die verdrängten Geister einer unvorstellbaren Vergangenheit herauf...

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Der weise Mann im Sturm

bittet Gott nicht um die Erlösung aus der Gefahr;

sondern um die Erlösung von der Furcht.

Es ist der Sturm im Inneren, der ihn bedroht,

nicht der Sturm um ihn herum.

- Ralph Waldo Emerson -

Inhaltsverzeichnis

Teil I: THYRAN BÀR

Kapitel EINS

Kapitel ZWEI

Kapitel DREI

Kapitel VIER

Kapitel FÜNF

Kapitel SECHS

Kapitel SIEBEN

Kapitel ACHT

Kapitel NEUN

Kapitel ZEHN

Kapitel ELF

Kapitel ZWÖLF

Kapitel DREIZEHN

Kapitel VIERZEHN

Kapitel FÜNFZEHN

Kapitel SECHZEHN

Kapitel SIEBZEHN

Kapitel ACHTZEHN

Kapitel NEUNZEHN

Kapitel ZWANZIG

Kapitel EINUNDZWANZIG

Kapitel ZWEIUNDZWANZIG

Kapitel DREIUNDZWANZIG

Kapitel VIERUNDZWANZIG

Kapitel FÜNFUNDZWANZIG

Kapitel SECHSUNDZWANZIG

Kapitel SIEBENUNDZWANZIG

Kapitel ACHTUNDZWANZIG

Kapitel NEUNUNDZWANZIG

Kapitel DREISSIG

Kapitel EINUNDDREISSIG

Kapitel ZWEIUNDDREISSIG

Kapitel DREIUNDDREISSIG

Kapitel VIERUNDDREISSIG

Kapitel FÜNFUNDDREISSIG

Teil II: ZEPHRYN KÒR

Kapitel SECHSUNDDREISSIG

Kapitel SIEBENUNDDREISSIG

Kapitel ACHTUNDDREISSIG

Kapitel NEUNUNDDREISSIG

Kapitel VIERZIG

Kapitel EINUNDVIERZIG

Kapitel ZWEIUNDVIERZIG

Kapitel DREIUNDVIERZIG

Kapitel VIERUNDVIERZIG

Kapitel FÜNFUNDVIERZIG

Kapitel SECHSUNDVIERZIG

Kapitel SIEBENUNDVIERZIG

Kapitel ACHTUNDVIERZIG

Kapitel NEUNUNDVIERZIG

Teil III: AURORA

Kapitel FÜNFZIG

Kapitel EINUNDFÜNFZIG

Kapitel ZWEIUNDFÜNFZIG

Kapitel DREIUNDFÜNFZIG

Kapitel VIERUNDFÜNFZIG

I

THYRAN BÀR

EINS

Den Boten des Unheils hatte Gwen bereits ausgemacht, noch bevor an jenem Abend das Klopfzeichen an der Haustür ertönte.

Sie und Rufus saßen in den von Motten angefressenen Ohrensesseln vor dem Kaminfeuer. Spät war es geworden. Rufus nahm keine Notiz von seiner Umwelt. Das schüttere Haar fiel ihm über die Stirn, aber es störte ihn nicht. Er war mit einer neuen Schnitzerei beschäftigt.

Gwen musterte ihn aus den Augenwinkeln, während sie vorgab, ihre Aufmerksamkeit auf das Flicken einer kaputten Hose gerichtet zu haben. Ihre Füße steckten in Wollsocken und waren den wärmenden Flammen entgegengestreckt.

Es war einer dieser seltenen Momente im Leben, in denen plötzlich etwas geschah, was niemand erwarten konnte. Im Bruchteil eines Augenblicks offenbarte sich Gwen das Geheimnis ihrer eigenen, zerbrechlichen Sterblichkeit. Für diesen einen Moment erstarrte die Welt um Gwen herum, und die Eiskristalle an der dunklen Fensterscheibe zur Nacht hinaus begannen in den Farben des Regenbogens aufzuleuchten. Für diesen einen Moment veränderte sich das Knistern und Knacken der brennenden Holzscheite in einen Choral aus den Stimmen all der Verblichenen und Verlorenen, die ihr niemals ihre Namen genannt hatten. Und in diesem winzigen Bruchteil, aus dem gewaltigen Mosaik der Zeit herausgerissen, begriff Gwen, wie schnell ihre Jahre an Rufus Seite vergangen waren, wie rasch das Alter Besitz von ihnen ergriffen hatte, und dass die letzte große Aufgabe für sie darin bestand, diese besondere Liebe und Nähe zu bewahren.

Sie wurde erfüllt von einer derartigen Dankbarkeit, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Dann war er fort, der Moment. Vergangen, so geschwind, wie er zuvor über die alte Frau gekommen war.

Gwen atmete tief durch. Sie legte die Nähnadel auf ihrem Knie ab, und ihr Blick wanderte von Rufus über den Kamin, entlang am Regal mit all seinen wundersamen Schnitzereien, hin zum Fenster.

Und dort sah sie ihn.

Den Boten des Unheils.

Ein schwarzer Schemen, der draußen auf dem verschneiten Fenstersims kauerte und zu ihnen hinein starrte in die unerreichbare Wärme ihres Wohnzimmers. Gwen hielt die Luft an. Dann, so als ob das Tier gespürt hatte, was die alte Frau in ihrem verstaubten Ohrensessel empfand, huschte die Katze mit einem Satz hinfort in die Nacht.

Dort, an der Scheibe, wo Eiskristalle sich zu einem mannigfaltigen Muster zusammengefunden hatten, blieb eine kaum erkennbare Stelle zurück, an der sich winzige Wassertropfen bilden.

Gwen schloss die Augen und betete...

Wenig später, kaum dass sich Rufus mit einem Ächzen aus seinem Sessel erhoben hatte, um ins Bett zu gehen, ertönte das Klopfzeichen an der Tür. Gwen und er wechselten einen wissenden Blick. Es war klar gewesen, dass dieser Moment irgendwann kommen würde.

Die alte Frau stand auf und ging, statt zur Tür, mit ruhigen Schritten zum Fenster. Draußen war es finstere Nacht. Der Schnee bedeckte wie immer die Dächer der gegenüberliegenden Hütten. Auch die schmale Holzbank in ihrem Vorgarten war unter einem weißen Kleid begraben. Gwen erkannte die feinen Spuren von Tierpfoten.

„Siehst du es auch?“, fragte Rufus. Seine Stimme klang brüchig.

Für eine Weile blieb sie ihm die Antwort schuldig. Das Knistern im Kamin und das Klopfen ihrer Herzen war alles, was den Raum erfüllte. Dann drehte sich Gwen zu ihrem geliebten Mann um, und der sorgenvolle Blick ihrer Augen nahm ihre Antwort vorweg.

„Es hat wieder zu schneien begonnen.“

ZWEI

Es lag ein sanfter Zauber auf ihren geschlossenen Lidern.

Das war das Erste, was das Mädchen spürte, als die Gefühle in ihren Körper zurückkehrten. Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen, aus Angst, den zarten, feuchten Bann zu brechen. Aber dann spürte sie die Kälte auf ihren Armen, ihren Beinen, fühlte, wie sich ihre Kleidung mit kalter Nässe voll sog.

Aurora schlug die Augen auf.

Die eisigen Kristalle auf ihren Wimpern zerschmolzen bei der Bewegung und hinterließen ein wohliges Kribbeln. Aber der dichte Schnee auf ihrem Kleid und auf ihrer Haut war weniger angenehm.

Sie fand sich auf einem einsamen Marktplatz wieder. Fensterläden und Türen der ärmlich wirkenden Hütten ringsum waren geschlossen. Nur hier und dort drang vereinzelt matter Lichtschein durch Spalten und Holzwurmlöcher hinaus in die Nacht.

Sie war allein hier draußen.

Das einzige Geräusch war ihr eigener, schwerer Atem. Und wohin ihr Auge im silbrigen Schimmer eines nicht zu erkennenden Mondes auch blickte, überall war der Schnee. Er bedeckte alles, die Dächer, die Treppen, die Bänke, die abgedeckten Stände, die Erde. Friedlich, sanft und unvorstellbar rein schimmerte das Weiß durch die Dunkelheit der Nacht bis tief hinein in ihren Geist.

Die letzten Schneeflocken sanken in einem trichterförmigen Strudel auf sie hinab. Aurora öffnete vorsichtig ihre Hand, und die Flocken vergingen lautlos auf ihren geröteten Fingerkuppen.

Sie klopfte sich den Schnee von Umhang und Kleid, als zwei Schatten aus einer schmalen Gasse traten. Ein Mann an einem Stock, und eine Frau. Das Mädchen schüttelte sich die letzten Schneeflocken aus dem Haar und sah, dass die beiden geradewegs auf sie zuhielten. Sie waren alt und ihre Kleidung auch.

„Da bist du ja. Komm, wir bringen dich nach Hause“, sagte die Frau mit leiser aber fester Stimme.

Josua, dachte Aurora.

„Josua“, hauchte sie.

Aber sie wusste nicht, was dieses Wort zu bedeuten hatte.

Die alte Frau wischte sich eine feuchte, graue Strähne ihres ansonsten weißen Haares von der Stirn. Der Mann trat einen Schritt auf Aurora zu. Sich auf seinen Stock stützend, bot er ihr den anderen Arm zum Einhaken an. „Komm.“

Als die drei in die schmale Gasse einbogen und Aurora sich ein letztes Mal umschaute, da fiel ihr Blick auf die hohe, mächtige Statue im Zentrum des Platzes. Sie hätte schwören können, just in diesem Augenblick, von irgendwo aus der Dunkelheit, den fernen Schrei einer Katze zu vernehmen. Wie eine Warnung...

DREI

Gwen machte ihr das Bett zurecht und goss warmes Wasser in eine Schale aus zartbraunem Holz.

„Für deine eisigen Füße“, sagte die alte Frau und schob die dampfende Schale näher an das Bett heran.

Aurora saß in einem Nachthemd auf der Bettkante. Als sie ihre Füße in das erhitzte Wasser tauchte, ergriff ein starkes Gefühl der Dankbarkeit von ihr Besitz.

Gwen hatte sich eine Wolldecke über die Schultern geschlagen und nahm auf einem Schaukelstuhl, an der Wand gegenüber, Platz. Auf einer Kommode neben ihr brannte die Flamme einer Wachskerze. Die alte Frau sagte kein Wort, doch als Aurora wenig später ihre Füße aus dem Wasser zog, sie an einem Tuch aus Leinen trocknete und dann unter die Bettecke huschte, wanderte Gwens Blick stets mit.

Dann erschien Rufus im Türrahmen des kleinen Zimmers. Nach kurzem Zögern trat er ein und ging zum Fenster. Wortlos öffnete er es einen Spalt, zog die äußeren Holzläden zu und schloss das Fenster wieder.

Mit einem unsicheren Nicken sagte er Aurora Gute-Nacht, strich Gwen über ihr weißes Haar und verließ die Kammer. Knarrend schnappte die Tür ins Schloss.

„Ich gehöre nicht hierher“, sagte Aurora.

„Doch. Das tust du.“

Dann erlosch das Licht der Kerze, und Aurora fiel in einen unruhigen Schlaf aus seltsamen Träumen.

VIER

Dies ist nicht ihr Körper. Dies ist nicht ihre Stimme. Dies sind nicht ihre Augen. Aber es ist ihr Traum.

Sie eilt durch einen hohen Saal voller verzierter Säulen und wisperndem Staub. Die büchergefüllten Regale schrauben sich empor und verschwinden in den Schatten des riesigen Gewölbes über ihr.

Studiertische, übersät mit Kerzen und Schreibutensilien, stehen in symmetrischen Mustern angeordnet. Es riecht nach Tinte und der Last vieler Jahre.

Sie verlässt die Halle, steigt geschwungene Treppen hinauf, durchquert mächtige Portale und enge, geheime Pforten. Ein tänzelndes Licht vor ihrer Stirn schenkt ihr die Richtung, dort, wo die Kraft der Augen versagt hätte.

Durch eine Tür noch. Dann den Riegel vorgeschoben. Sie ist am Ziel.

Sie hat viel zu tun, denn es sind unvorhergesehene Dinge geschehen, die nach drastischen Reaktionen verlangen. Sie schlägt die Schärpe ihres weiten Umhangs zur Seite und setzt sich. Vor ihr auf dem Tisch stehen viele kleine Flaschen, Ampullen, Töpfe. Alle verschlossen.

Sie will danach greifen, überlegt es sich aber anders.

Stattdessen zieht sie an einer geflochtenen Kordel, die von der Decke hängt. Das Warten füllt ihre Nase mit dem unverwechselbaren Geruch des kreisrunden Raumes und seiner zahllosen, dampfenden Gefäße und Behälter.

Es klopft, ein Riegel hebt sich wie an unsichtbaren Fäden gezogen, und die Tür schwingt auf.

Sie hört sich zwei Namen rufen.

Sie sollen kommen und ihr zu Diensten sein.

Sofort.

Und zu niemandem sonst ein Wort.

Die Zeit drängt.

Die Tür schließt sich wieder, der Riegel fällt zurück.

Ihre Hand gleitet zu einem silbernen Gegenstand auf der von Hitze und Säuren verformten Tischplatte. Sie fühlt das kalte Metall auf der Haut ihrer Finger und führt den Gegenstand langsam vor ihr Gesicht. Zögernd richten sich ihre Augen auf die Reflexion im Handspiegel. Das fremde Gesicht lächelt eisig...

FÜNF

Aurora erwachte. Die Luft war kalt und rein.

Das Licht des frühen Tages leuchtete durch das offene Fenster und tauchte die Schlafkammer in ein Meer aus orangegoldenen Farben. Der Schaukelstuhl stand verlassen in der Ecke, die Tür zum Flur war nur angelehnt.

Das Mädchen schlüpfte in ihr Kleid und begab sich in die Wohnstube. Es duftete bereits nach frischem Tee und warmem Brot.

„Gut geschlafen?“, begrüßte sie Rufus. Er saß an dem für drei Personen gedeckten Frühstückstisch und schnitzte an einer Figur.

„Wo bin ich hier?“, fragte Aurora unsicher.

Der alte Mann zog überrascht eine Augenbraue hoch. Dann widmete er sich wieder seiner Schnitzkunst. Als Gwen mit einem Tablett in der Hand herein kam, saß Aurora schon am Tisch.

„Hier, du musst essen. Es wartet ein anstrengender und aufregender Tag auf dich“, sagte die alte Frau und reichte ihr einen Korb mit geschnittenem Brot.

„Haben Sie das eben gebacken? Es riecht noch so frisch.“

„Aber nein“, sagte Gwen und strich sich die graue Strähne aus dem Gesicht. „Wir backen doch nicht selber. Niemand tut das. Außerdem brauchst du mich nicht zu siezen. Hier im Dorf sagen wir alle du. Außer zu den Mönchen.“

Das Mädchen nahm dankend eine Scheibe Brot und legte sich ein Stück Käse darauf. Sie merkte, dass der Hunger nur darauf gelauert hatte, sich bemerkbar zu machen. Schon der erste Bissen weckte ihre Lebensgeister.

Gwen nickte freudig und setzte sich. Nach einem mahnenden Seitenblick auf Rufus, legte dieser grummelnd seine Holzfigur beiseite und schloss sich ihrem ersten gemeinsamen Frühstück an.

Nach einer Weile traute sich Aurora, ihre Frage ein zweites Mal zu stellen. „Wo bin ich? Und... wie bin ich hier hergekommen?“

Gwen schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Ach Kind, du bist ein Flüchtling des Krieges gegen die Keruben. So wie wir alle hier, in Thyran Bàr. Die Mönche haben dich gerettet und hergebracht, und wir zwei wurden ausgewählt, uns fortan um dich zu kümmern.“

„Die Keruben?“

„Es sind geflügelte Ungeheuer, die jenseits des Flusses hausen. Aber die Mönche sorgen dafür, dass diese furchtbaren Kreaturen den Fluss nicht überqueren können“, erklärte Gwen, und Rufus nickte stumm.

„Ich kann mich nicht erinnern, jemals von Keruben oder den Mönchen gehört zu haben“, murmelte Aurora. „Ich kann mich aber auch nicht daran erinnern, wo ich herkomme. Wie ist das möglich?“

Gwen und Rufus tauschten kurz die Blicke. Dann sprach der alte Mann: „Das wird dir nur Cryptus beantworten können, der Dorfoberste.“

Gwen winkte ab. „Wenn du mit dem Frühstück fertig bist, führen wir dich durch Thyran Bàr, damit du alles kennen lernst.“

Als Gwen und Rufus nach dem Essen den Tisch wieder abdeckten, widmete sich das Mädchen dem Holzregal an der Wand. Dutzende von geschnitzten Holzfiguren standen dort, ausschließlich Menschen. Kein Tier, kein geflügeltes Wesen, und nichts, was Ähnlichkeit mit einem Mönch, so wie Aurora ihn sich vorstellte, besaß. Es waren ausnahmslos gewöhnliche Menschen mit gewöhnlichen Gesichtern. Auch wenn sie diese Erkenntnis ein wenig enttäuschte, musste Aurora zugeben, dass die Figuren trotzdem wundervoll gearbeitet waren.

„Gefallen sie dir?“, hörte sie Rufus hinter sich.

„Ja, sehr“, sagte Aurora. „Aber schnitzt du nur Menschen? Keine Tiere oder sonstwas?“

Erneut zuckte eine Augenbraue des Alten in die Höhe. Dann verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum.

Wenig später traten Gwen, Rufus und Aurora auf den schneebedeckten Weg vor ihrer Hütte. Es war ein kalter, windstiller Morgen, und ein eisblauer Himmel lag über den Häuserdächern. Aurora zog sich ihren Umhang fester um die Schultern. „Huuu, ganz schön kalt hier im Winter, was?“

Das Gesicht der alten Gwen legte sich in Falten. „Was meinst du damit, Kind? Es ist doch immer Winter.“

SECHS

Alles im Dorf Thyran Bàr lag unter einer samtweichen Schneedecke begraben. Soweit das Auge reichte erstreckte sich das Tuch aus glitzernden Kristallen, bis hin zum dichten Kiefernwald, der sich jenseits der letzten Hütten ringförmig um die Siedlung schloss. Jetzt, bei Tageslicht, begegneten sie auch weiteren Menschen, vielen alten, kaum jungen. Nur einmal, vor einer baufälligen Hütte, sah Aurora zwei junge Männern stehen, die annährend in ihrem Alter zu sein schienen. Der eine blickte sofort verschämt zu Boden, als Aurora seine Augen suchte. Der andere, drahtig von Statur und mit blondem Lockenschopf, musterte das Mädchen abschätzend. Dann senkte auch er seinen Blick, und beide wandten sich ab.

„Wie viele Leute wohnen hier?“, fragte Aurora die alte Frau an ihrer Seite.

„Das ändert sich stetig, mein Kind. Von Zeit zu Zeit bringen uns die Mönche neue Flüchtlinge, so wie dich. Aber es gibt auch Tage, da kommen sie zu uns und nehmen...“

„Gwen, wir sind da“, fiel ihr Rufus ins Wort und deutete auf den weitläufigen Platz, der sich vor ihnen auftat.

„Diesen Ort kenne ich“, sagte Aurora. „Hier bin ich letzte Nacht aufgewacht.“

Gwen nickte.

„Warum nur kann ich mich an nichts davor erinnern“, dachte Aurora, und eine dunkle Schwere legte sich auf ihre Brust.

Der Marktplatz von Thyran Bàr war anders, als das Mädchen erwartet hatte. Zwar gab es Stände, Menschen, Stimmengewirr und die verschiedensten Gerüche, aber Aurora spürte, dass sie etwas an dem Anblick störte. Ihr wollte nur nicht auf Anhieb einfallen, was es war.

In der Mitte des Platzes erhob sich, hoch und mächtig, eine steinerne Statue, deren grauer Fels nicht von einer einzigen Schneeflocke bedeckt war. Es war ein nahezu fünf Meter großes Abbild eines älteren Mannes in einer wallenden Kutte, deren Kapuze nach hinten geschlagen war. Der Mann trug einen geflochtenen Bart und streng nach hinten gekämmtes Haar. Die Arme hielt er unter dem grauen Gewand verborgen. Das Gesicht blickte hart und zielgerichtet zum Horizont. Obwohl es sich bei der Statue um eine Figur aus totem Stein handelte, streckte eine kalte Unsicherheit die Klaue nach Aurora aus, drohte sie zu packen, zu schütteln, zu unterwerfen.

In diesem Moment spürte sie warme Finger auf ihrer Haut, fühlte, wie sich eine Hand um die ihrige schloss.

Es war Gwen.

„Das ist Thyran Bàr, der Gründer dieses Dorfes. In seinen Schatten bringen die Mönche im Schutze der Nacht die Flüchtlinge. Hier legen sie auch Nahrung für uns nieder. Aus seiner Stärke gewinnen wir die Kraft für den ewigen Winter und grenzenlose Hoffnung für den andauernden Kampf gegen die Keruben.“

„Kommt jetzt, ihr zwei. Sie warten bereits auf uns“, grummelte Rufus, und auf seinen Stock gestützt humpelte der Alte vornweg auf eine Menschentraube zu, die sich vor einem Stand mit Tonkrügen versammelt hatte.

Aurora und Gwen folgten ihm quer über den Marktplatz. Hier sah Aurora zum ersten Mal auch kleine Kinder. Doch es gab keine prüfenden Blicke, keine Fragen, kein spürbares Interesse an ihrer Herkunft, an ihrem Schicksal. Es kam ihr vor, als hätten die Bewohner von Thyran Bàr in einem unausgesprochenen Pakt beschlossen, sie ohne Zögern als eine der ihren anzunehmen, noch bevor sie das Mädchen überhaupt kennen gelernt hatten.

Aurora wunderte sich an diesem Morgen noch viele Male und ermahnte sich zu größerer Wachsamkeit. Sie verspürte ein seltsames Misstrauen gegenüber allem Freundlichen in Thyran Bàr.

Während jedoch die Zeit verrann, und die drei Seite an Seite sämtliche Gassen und noch so entrückten Winkel des kleinen Dorfes abschritten, stets den knirschenden Schnee unter ihren Sohlen, empfand Aurora, wenn auch anfangs widerwillig, immer mehr ein Gefühl des inneren Friedens und der Gleichmut. Es nistete sich mit jeder neuen, schneebedeckten Biegung tiefer in ihr Herz, es glitzerte hinter ihren Augen wie die Eiszapfen an den Fensterläden, es legte sich auf ihren Verstand wie die letzten Flocken eines wilden Schneetreibens auf eine ihr einst vertraute Welt.

SIEBEN

Es war Abend geworden. Die Dunkelheit schlich sich vorsichtig doch unaufhaltsam unter der Türschwelle hindurch, kroch durch Ritzen, Holz und Mauerwerk. Aurora saß mit angezogenen Knien und in eine mollige Decke gehüllt in einem der verstaubten Ohrensessel. Einen dampfenden Krug Tee hielt sie mit beiden Händen fest umschlossen und so dicht vor ihr Gesicht, dass der heiße Dunst Tautropfen auf ihre Augenlider zauberte. Aber sie spürte es kaum. Ihr Blick verfing sich irgendwo im Kaminfeuer, zwischen knisternden Holzscheiten und lodernder Glut.

Mit der Zeit verloren sich Auroras Gedanken in der Stille des Zimmers.

Wo war sie hier? Wer hatte sie nach Thyran Bàr gebracht? Warum gab es im und um das Dorf herum keine Beete, keine Felder, keinen Ackerbau? Nur einen Brunnen, aus dem alle ihr Trinkwasser schöpften. Obst, Brot, Gemüse, Fleisch, alles bekamen die Menschen scheinbar von den Mönchen. Aber wer waren diese Mönche? Und wo waren sie? Aurora hatte im Laufe des Tages nicht einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Angeblich brachten diese rätselhaften Beschützer von Thyran Bàr ihre Gaben kurz vor Einbruch jeder Morgendämmerung zum Marktplatz und stellten dort alles zu Füßen der steinernen Statue ab. Dann verschwanden sie wieder. Einfach so.

Einer der Holzscheite knackte im Feuer, und zerbrach. Auroras Blick begleiteten ihn auf seinem Pfad von Holz zu Feuer, zu Glut, zu Asche...

Einfach so, dachte sie. Wie Geister.

Aus diesem Grund gab es auch kein Feilschen auf dem Marktplatz, keine Bezahlung, keine klimpernden Münzen, die ihre Besitzer wechselten. Der Marktplatz von Thyran Bàr war nur zum gerechten Verteilen sämtlicher Waren gedacht. Auch gab es keine Berufe im eigentlichen Sinne. Es bestand kein Bedarf dafür. Die Menschen gingen einzig ihren Neigungen nach. Die Einen verteilten freiwillig Essen an den Ständen, die Anderen besserten Hütten und Häuser aus; wiederum andere stellten Kerzen aus Wachs her, dessen Ursprung vermutlich auch bei den Mönchen zu finden war. Ein jeder Dörfler beschäftigte sich auf seine Art. Fast erschien es Aurora, als würden die Einwohner von Thyran Bàr insgeheim auf etwas warten. Als ginge es ihnen in den Tiefen ihrer Herzen vor allem darum, die Zeit vergehen zu lassen, bis ..., ja bis...

„Da bist du ja, mein Kind.“

Aurora blickte auf.

Gwen stand in der offenen Tür. Wie lange die Frau sie von dort beobachtet haben mochte, wusste das Mädchen nicht zu sagen. Aurora führte den Tee an ihre Lippen und trank.