Die Erben der grauen Erde - Andreas Gloge - E-Book

Die Erben der grauen Erde E-Book

Andreas Gloge

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Beschreibung

Aryon ließ das Kloster des Burgon hinter sich und folgte dem Fremden hinaus in die Nacht. Er floh vor einer Vergangenheit, die ihm nicht gehörte und einem Schicksal entgegen, das er niemals wollte. Als der Junge in Akanum auf die verträumte Deena und den Dieb Toran trifft, glaubt er sich anfangs unter guten Freunden. Zu spät begreift Aryon, dass der Fluch der thaumatari auf ihm lastet und er niemandem vertrauen darf - am wenigsten sich selbst.

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Die Karte
Götter

Tsasia – Wind und Respekt

Burgon – Erde und Zusammenhalt

Haduna – Wasser und Vergänglichkeit

Menosh – Feuer und Leidenschaft

Isirdis – Wissen und Träume

Hüter

Hüter der Finsternis

Hüter der Dämmerung

Hüter des Zwielichts

Hüter der Schatten

Hüter des Lichts

Kalender

(12 Monate à 30 Tage)

Jahresbeginn

1. Monat Tsasia

1. Monat Burgon

1. Monat Haduna

1. Monat Menosh

1. Monat Isirdis

Monat der Sonne

2. Monat Tsasia

2. Monat Burgon

2. Monat Haduna

2. Monat Menosh

2. Monat Isirdis

Monat der Wende

5 Tage der Unruhe

(Tag der Träume, Tag des Feuers, Tag der Dämmerung,

Tag des Zwangs, Tag des Schweigens)

Jahresende

Inhalt

Prolog

Burgons Fluch

Corn Burgon

Der Jäger

Akanum

Spuren der Vergangenheit

Der Gesandte

Baron Kahtran

Ein Kind der Wälder

Chelendrohn

Wo Pfade sich kreuzen

Die Zusammenkunft

Der Fluch der Götter

Al Tordoras letzte Schlacht

Burgons Erbe

Die Ebene von Belegor

Das Vermächtnis

Das Lager

Die Erben Synvors

Ein unerwartetes Wiedersehen

Das Ritual von Triin

Die Rückkehr der Vergessenen

Die Tage der Unruhe

Ein Leben nach dem Tod

Der Berg der Götter

Das Lächeln der Welt

Der Hall alter Zeiten

Epilog

Prolog

Die Schatten waren lang geworden und es versprach eine kühle Nacht zu werden. Ein leiser Wind durchstreifte die weite Ebene des Gebirgstales und verriet sich in den Blättern der Bäume, die hier inmitten der bewucherten Klostermauern standen. Der Herbst war gekommen und mit ihm die Zeit der Vergängnis und des Sterbens.

Ein Kauz lauerte auf dem Ast einer Ulme im Klosterhof und beobachtete wachsam die Umgebung. Seine Augen verharrten schließlich auf zwei Schemen, die dicht unter ihm am Fuße der Ulme standen und sich leise unterhielten. Für eine Weile lauschte der Kauz den unverständlichen Geräuschen, die das Gespräch der beiden Menschen zu ihm empor sandte, dann schwang der Vogel sich wieder in die Luft und verschwand der untergehenden Sonne entgegen in Richtung der Berge.

Unterdessen setzten die beiden Schemen ihre Unterhaltung fort. Hier, in den abendlichen Schatten, waren sie um diese Zeit völlig ungestört, und umso aufmerksamer hörte Yolehg zu, als Akum-Ze mit langsamen Worten zu ihm sprach. Es handelte sich um ein vertrauliches Gespräch, um etwas, wofür ihn der alte Oberpriester aus besonderem Anlass nach draußen bestellt hatte. Nur in die graue Kutte des Burgonordens gehüllt, begann Yolehg, immer mehr, die kühle Abendluft auf seiner Haut zu spüren. Er fröstelte. Akum-Ze jedoch, dessen zerfurchtes Gesicht inmitten der hochgeschlagenen Kapuze halb versunken lag, zeigte keinerlei Anzeichen von Unbehagen. Ihm schien die Kälte nichts auszumachen. Bedächtig neigte der Alte den Kopf und ließ seinen Blick über den Himmel schweifen. Vereinzelt hatten sich am Firmament die ersten Sterne eingefunden, um die aufziehende Nacht zu begrüßen und dem Land Licht und Hoffnung zu spenden. Die Konturen des Gemäuers hinter ihnen wurden indes immer undeutlicher und verblassten zusehends.

Es schien, als wäre eine halbe Ewigkeit seit den letzten Worten des Obersten vergangen, aber Yolehg wusste, dass es ihm nicht zustand, die Stille zu durchbrechen. Ergeben hatte er zuvor jeder Silbe gelauscht. Die Bedeutung der Worte von Akum-Ze, so sonderbar sie auch in Yolehgs Kopf nachklangen, blieb dem Jungen unmissverständlich.

Jetzt löste der Alte seinen Blick wieder vom Himmel und für einen Augenblick glaubte Yolehg, ihn unter der Kapuze lächeln zu sehen, begleitet von einem eigenartigen Schimmern der Augen im letzten Glanz der Abendsonne. Akum-Ze hielt kurz inne, so als wolle er noch etwas sagen. Dann aber wandte er sich ab und schritt den steinernen Weg zurück zum Hauptgebäude. Gleichwohl vernahm Yolehg trotz der zunehmenden Entfernung zum Oberpriester dessen Flüstern in seinem Kopf. Worte, die nicht wirklich ausgesprochen wurden, aber dennoch deutlich zu hören waren:

„Das Schicksal hält uns fest in seinem Griff und selbst die Fünf können nur noch abwarten und zuschauen. Du weißt, was du zu tun hast, mein Sohn...“

Nachdem die Umrisse Akum-Zes gänzlich verschwunden waren, verharrte Yolehg noch lange schweigend und allein unter der Ulme. Zitternd betrachtete er die Äste, die sich zu ihm hinunter zu beugen schienen. Morsche, knorrige Äste, die sich bald kahl und nackt dem Winter entgegenstellen mussten. Die Bäume hatten sich den Regeln der Natur unterworfen und es gab sie seit dem Anbeginn der Zeit. Sie akzeptierten ihr Schicksal. Sie lebten und wuchsen dort, wo der Wind einst ihre Samen hingetragen hatte. Ihre Wurzeln waren tief und stark. Sie vermochten den größten Unwettern und Stürmen zu trotzen. Ihr Wesen war vollkommen und ihre Macht nicht in Frage zu stellen.

Sie lebten dem Schicksal unterworfen, und sie überlebten...

Was aber war mit den Menschen? Was war mit ihm?

Die Abendsonne war nun vollends hinter den schneebedeckten Hängen des Tales verschwunden. Eine eisige Hand schloss sich um Yolehgs Herz. Er wandte sich um und eilte ebenfalls zurück zum Hauptgebäude, während die letzten Lichtstrahlen fluchtartig aus dem verwinkelten Innenhof des Klosters wichen. Die feuchten Blicke des Jungen blieben vor den Augen der Welt unbemerkt. Doch selbst wenn der Kauz noch auf einem der Ulmenzweige gesessen hätte, deren Blätter im plötzlichen Zwielicht ihren goldenen Schimmer nun gänzlich verloren hatten, so wäre der Vogel dieser Beobachtung mit Gleichgültigkeit begegnet. Denn wie alle seiner Art wusste das Tier, dass Hoffnung und Enttäuschung, Trauer und Glück, einzig dem Schicksal gehörten – so wie das Leben und so wie der Tod.

Burgons Fluch

Wahrheiten sind wie Steine; man kann sie nie ganz

aus der Welt schaffen, doch viel aus ihnen bauen...

- Mystor, der Seher -

Corn Burgon

„Ist es noch weit?“

„Nein, wir sind bald da, keine Sorge...“

Ein nervöses Grummeln. Dann wieder Schweigen. Nur das gleichmäßige Ruckeln des Wagens und das Wiehern der Pferde begleiteten seinen unruhigen Dämmerzustand. Obwohl nicht fähig, die Augen zu öffnen, war die Präsenz der zwei Männer neben ihm nur allzu deutlich spürbar. Der Geruch verbrannter Haut ließ den Jungen innerlich zusammenzucken. In der Finsternis seiner ganz eigenen Nacht loderten helle Flammenzungen auf, kreischten Männer und Frauen in weiter Ferne im Todeskampf, hörte er sich einen Namen rufen, stürzten Hütten und Häuser im Flammeninferno in sich zusammen und begruben schließlich das Blutbad unter einer Wolke aus schwarzem Staub und erschlagenen Körpern.

„Schneller, wir sind bald da!“, tönte von irgendwo ein Ruf durch den Rauch und er fühlte wieder die harten Holzplanken unter seinem Rücken. Durch den Stoff des Wagendaches und durch seine halb geschlossenen Augenlieder drang der fahle Schein des zunehmenden Mondes. Und dann...

... war alles fort. Der beißende Geruch. Das Ruckeln des Wagens. Das Schnauben der Tiere. Die Stimmen. Der Mond. Alles.

Ein sanfter Druck auf seinen Schläfen holte das Leben in ihn zurück. Er spürte eine angenehme Kühle auf seiner Haut und fühlte wieder den brennenden Atem in seinen Lungen. Mühsam schlug er die Augen einen Spalt auf.

Ein Zimmer. Ein Bett.

„Wo... bin... ich?“

„In Sicherheit“, kam es beruhigend zur Antwort.

Über ihn gebeugt verschwammen die Umrisse einer jugendlichen Gestalt. Der Druck auf den Schläfen nahm zu.

„Aber ich... Anara... wo ist...“

„Hier, trink diese Medizin, Aryon. Sie wird Dich wieder zu Kräften kommen lassen“, klangen die warmen Worte zu ihm durch. Eine Hand berührte seinen Hinterkopf und hob ihn leicht aber bestimmt an. Er spürte ein angefeuchtetes Glas an seinen trockenen Lippen. Dann eine plötzliche Hitze in der Kehle. Im Magen. Er sank zurück aufs Kissen.

„So ist es gut.“

„Wer... wo... wer bist... du?“

„Aber Aryon“, sagte die Stimme zitternd, doch Aryon war zu schwach, um die darin verborgene Unruhe zu erkennen. „Ich bin es. Dein Freund Yolehg. Du hattest schweres Fieber. Bist einfach fortgelaufen. Wie von Sinnen. Aber jetzt bist du wieder in Sicherheit. In Corn Burgon. Im Kloster. Bei mir. Bei deinem alten Freund Yolehg. Alles wird gut werden. Vertrau mir einfach...“

Ein weiteres Mal drang die glühende Flüssigkeit in seinen Rachen ein. Ein weiteres Mal rann eine glühende Hitze seine Kehle hinab...

„Schlaf jetzt, Aryon. Ich sehe morgen früh nach dir.“

Sich entfernende Schritte, das leise Knarren einer Tür.

Dunkelheit. Stille.

Tiefer Schlaf.

O

Eine Woche später hatten die Jungen sich in der Großen Halle von Corn Burgon versammelt und lauschten andächtig dem tiefen, mehrstimmigen Choral der anwesenden Priesterschaft. Sie alle hatten ihre Kapuzen über die Köpfe gezogen und das Haupt leicht geneigt.

Aryon hatte gelernt, die Vorzüge der Nachmittagsmesse wertzuschätzen, denn danach blieb den jungen Novizen immer ein wenig freie Zeit, und diese war in Corn Burgon so begehrt wie das tägliche Brot und Wasser. Er wohnte nun schon seit fast zwei Jahren im Kloster, das ziemlich isoliert inmitten des ringförmigen Carmangebirges lag. Die einsame Lage hatte insofern Auswirkungen auf das Kloster und seine Bewohner, als dass diesen kaum eine andere Wahl blieb, als ein recht abgeschottetes Leben zu führen, vertieft in die Lehren des Burgon und konzentriert auf die Instandhaltung der kleinen Gärten. Das Wissen über die Außenwelt blieb begrenzt auf Informationen aus der Klosterbibliothek oder gesammelte Erfahrungen aus der Zeit, bevor man als Neuling in die Gemeinschaft des Burgon aufgenommen worden war. Die meisten der über dreißig jugendlichen Priesteranwärter jedoch waren schon in jungen Jahren nach Corn Burgon gekommen, so dass die Erinnerungen an eine Zeit davor, wie auch bei Aryon, nur noch als fremdartige Bilder eines immer mehr verblassenden Traumes erschienen. Viele hofften, nach der Weihe endlich das triste Einsiedlerleben im Carmangebirge aufgeben zu können und zu den großen und mächtigen Tempeln im fernen Königreich Undor ziehen zu dürfen. Nicht zuletzt, weil die einzelnen Klöster sorgsam die Geschlechter trennten. Mit anderen Worten würde jeder der Jungen erst nach der Weihe wieder mit Mädchen und Frauen in Kontakt kommen. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg des Lernens und der Abschirmung.

Aryon hatte noch immer einige blaue Flecken und Schürfwunden am Körper. Aufgrund seines Zustandes und seiner wiederkehrenden Alpträume wurde ihm erlaubt, die Nächte in einem der unbewohnten Einzelzimmer im Südtrakt zu verbringen, abseits des gemeinschaftlichen Schlafsaales der anderen Jungen. Seltsamerweise war ihm nach den Gesprächen mit Yolehg, der ihn allabendlich zu seinem Raum begleitete und ihm seine Medizin brachte, stets einsam zumute.

Yolehg war Aryons bester Freund im Kloster und zugleich sein einziger. Er konnte es sich auch nicht erklären, aber aus irgendeinem Grund mieden ihn die anderen Jungen. Selten fand er den Zugang zu ihren Gesprächen und zuweilen spürte er ihre heimlichen Blicke in seinem Rücken, lauschte von fern ihrem geheimnisvollen Flüstern, ohne aber den Inhalt des Getuschels zu verstehen. Jedoch wusste er genau, dass sie über ihn sprachen. Yolehg hingegen war immer für eine Plauderei oder einen Spaß zu haben. Er war ein wenig größer als Aryon und hatte im Gegensatz seinen glatten, blonden Haaren, einen pechschwarzen Lockenschopf, unter dem seine hellgrünen Augen stets aufmerksam funkelten. Er war von allen Novizen am längsten in Corn Burgon und genoss infolgedessen mittlerweile einen entsprechenden Ruf. Doch nun würde auch Yolehg bald in den Zweiten Kreis treten. Von diesem Zeitpunkt war es nicht mehr weit bis zur endgültigen Weihe zum Priester des Burgon und möglicherweise würden sich ihre Wege dann trennen.

Der Gesang der Priester, die sich vor dem Altar am ansteigenden Ende der Großen Halle aufgestellt hatten, wurde leiser und verstummte mit einem Mal. Als Akum-Ze, der Oberste des Ordens zu sprechen begann, wiederholten alle Anwesenden einstimmig die uralten Worte des Gebetes. Sie ehrten damit die fünf Götter, die seit dem Anbeginn der Zeit die Lande der Menschen bewachten, von Kahtran bis Undor und bis in den tiefen Süden zu den Küsten am Großen Meer und hinaus in die weiten Wildlande der umliegenden Länder.

Wir ehren die Fünf,

Sie sind der Weg und das Ziel –

Bewahrer der Harmonie der Sphären,

Lenker des Schicksals allen Lebens.

Tsasia sendet die Wolken und den ewigen Wind,

gleichwohl in welches Land und zu welchem Wesens Kind.

Burgon spendet Zusammenhalt und Kraft,

seine feste Erde den Boden unserer Stärke schafft.

Haduna ihre Tränen in Fluss, See und Meer ergießt,

jeder Tropfen im Strom verschwindet, der ewig weiterfließt.

Menosh schenkt sein Feuer unseren sterblichen Seelen,

sodass wir niemals den einsamen Pfad der Feigheit wählen.

Isirdis schickt Wissen und Träume dem suchenden Geist,

ihre Lehre Gefühl und Liebe preist.

Wir ehren die Fünf,

Sie sind der Weg und das Ziel –

Bewahrer der Harmonie der Sphären,

Lenker des Schicksals allen Lebens.

Dann wieder Stille. Akum-Ze war verstummt und der Widerhall der vielen Stimmen mit ihm. Aryon nahm es kaum wahr. Er hatte sich im Rhythmus des Gebets verloren und seine Gedanken waren fortgeschweift. Seit einigen Tagen fühlte er sich unerklärlich müde und wäre auch jetzt beinahe im Stehen eingenickt, hätte ihn Yolehg zwischen den Versen nicht immer wieder leicht angestoßen. Mit dem Ende des Gebets war die Messe zu Ende.

Die Jungen nahmen wortlos die Kapuzen ab, verneigten sich und schritten bedächtig nacheinander aus der Halle. Aryon mochte dieses Gewölbe unter dem Kloster, die mächtigen Säulen, die sich in einer Zweierreihe bis zum Altar zogen, die mit grauen Bildern aus vergangenen Zeiten bemalte Decke und den mit den roten Runen des Burgon übersäten Steinboden. Aus den Säulen heraus traten die gemeißelten Statuen der Fünf, eine Reihe weiblicher und eine Reihe männlicher Bildnisse der Götter, denn wie überall im Land wurden die Fünf ebenbürtig in beiderlei Geschlecht dargestellt.

Kurz vor dem Ausgangsportal verspürte Aryon einen seltsamen Drang, zur Seite zu schauen und so bemerkte er zum ersten Mal, dass die Figuren des Gottes Burgon von leichten Anzeichen des Verfalls gezeichnet waren. Die beiden kräftigen Körper, aus weißem Stein gemeißelt, schienen sich in einem fortschreitenden Prozess der Alterung zu befinden. Die linke Hand zur Faust geballt und in der rechten ein erhobenes Schmiedeeisen, so stellte Burgon die Inkarnation von Festigkeit und Erdverbundenheit dar, doch im Fackelschein der Großen Halle erschien die Statur plötzlich wie der düstere Schatten eines gebrechlichen, alten Mannes. Leichte Risse zogen sich durch den Stein, kleine Stellen an Armen und Beinen waren abgebröckelt und nicht nachgebessert worden.

Er wandte den Kopf, doch der vergleichende Blick auf die anderen Götterbilder wurde ihm versperrt, als er in der Reihe der dreißig Jungen neben Yolehg die Große Halle verließ.

„Aryon, was ist denn nun? Soll ich, oder soll ich nicht?“

„Was? Äh, entschuldige Yolehg, ich war mit meinen Gedanken gerade woanders.“

„Ach, was du nicht sagst.“ Yolehg schmunzelte, während sie die schmalen Treppenstufen nach oben stiegen. Die Große Halle des Burgon lag tief unter der Erde und sie folgten den schiefen Steinstufen einen langen, steilen Weg hinauf.

„Nun, ich habe dich gefragt, ob ich vor der Zeremonie noch einmal vorbeischauen soll. Wer weiß, vielleicht haben sie dich auch erwählt.“

„Du machst Witze“, entgegnete Aryon müde.

Sie erreichten das Ende der Treppe und schlenderten gemächlich durch die Flure, während sich die Gruppe der anderen Jungen hinter ihnen in alle Richtungen auflöste. Diese Nacht sollten zwölf von ihnen in den Zweiten Kreis des Burgon treten. Es wurden zwar vor der Zeremonie keine Namen genannt, doch über die wenigsten herrschte Zweifel.

„Du weißt genauso gut wie ich, dass der Zweite Kreis nicht für Novizen bereitsteht, die jünger als achtzehn Jahre sind. Mir fehlt also ein Jahr. Außerdem bin ich allein in dieser Woche zweimal unpünktlich zur Messe erschienen und kann mir die vielen Gebete nach all der Zeit immer noch nicht merken. Sollte auf meinem Bett gleich eine Zeremonienkutte liegen, so hast du wohl etwas falsch gemacht...“

Yolehg zuckte mit den Schultern. „Oder du etwas richtig.“

Sie gingen weiter und Aryon driftete in Gedanken immer wieder zu den zwei Standbildern des Gottes Burgon ab. Um sie herum war es leer geworden und ihre Schritte hallten hohl und dumpf durch die kahlen Gänge Corn Burgons. Das alte Klostergebäude war für die jetzige Priesterschaft und die jungen Anwärter viel zu groß, hatte es doch vor vielen Jahrzehnten einer nahezu dreifachen Anzahl an Gläubigen Unterschlupf geboten. Trotzdem verlangten die Gebote des Burgon für die Novizen aus disziplinarischen Gründen die Unterbringung in Gemeinschaftsräumen und so standen überall im Klosterkomplex verstreut zahlreiche Zimmer leer. Eines dieser Zimmer war nun Aryon zugeteilt worden, der sich dort in Abgeschiedenheit von seinem Fieber und den körperlichen Blessuren erholen sollte.

„Also du Gedächtniswunder, ich schaue nachher noch einmal vorbei. Und du weißt ja, liegt bei dir gleich etwas Unerwartetes auf dem Bett, dann fällt das Abendbrot heute aus.“ Yolehg grinste breit und mit theatralisch erhobenem Zeigefinger. „Dann heißt es, kehre in dich mein Sohn und öffne dich für den Weg der Weisen...“

Aryon musste ebenfalls lachen und klopfte seinem Freund auf die Schultern.

„Yolehg, du wirst heute Nacht in den Zweiten Kreis treten, und da ist es verboten, vor der Zeremonie sein Zimmer zu verlassen. Also lass lieber den Blödsinn. Du verdirbst es dir nur, wenn das herauskommt.“

„Wir werden sehen, mein Freund, wir werden sehen“, antwortete Yolehg und ließ ihn vor der Tür allein zurück. Für einen Moment hätte Aryon schwören können, einen ernsten Schatten über das Antlitz seines einzigen Freundes huschen zu sehen.

Yolehgs Schritte verhallten langsam auf dem steinigen Boden und Aryon stand nun allein im Gang und rührte sich nicht. Sein Herz klopfte schwer. Er fühlte sich schlapp und von einer tiefen Trauer erfüllt, die er sich nicht erklären konnte. Eine Weile stand er einfach so da, im trüben Licht des Flures, dessen Luft wie zu allen Zeiten stickig und warm war. Corn Burgon hatte nur wenige Fenster auf den Gängen und fast alle Flure wurden durch Fackeln und Öllampen an den steinernen Wänden erhellt. Ein Ort der lebenden Schatten, dachte er und besann sich, atmete tief durch und öffnete die Tür zu seinem Zimmer.

Er zündete die kleine Öllampe auf seinem Tisch an, ging zum schmalen Fenster neben seinem Bett und ließ den Blick gedankenverloren durch die Scheiben hinweg über die Klostermauer über die Ebene streifen. Obwohl sich der Nachmittag erst langsam dem Ende neigte, hing die Sonne bereits tief über den Berghängen des wolkenverhangenen Gebirges, denn der Herbst war gekommen.

Aryon wollte sich an sein Leben vor Corn Burgon erinnern, doch dies gelang ihm nicht. Alles schien so fern. So unwirklich. Es war, als ob die mächtigen, dunklen Wände des alten Gemäuers seine Erinnerungen wie der hungrige Schlund eines Drachen verschluckt hatten. Yolehg hatte ihm versichert, das wäre auf das Fieber zurückzuführen und schon bald würde alles besser werden. Und Aryon versuchte, ihm zu glauben - aber gleichzeitig fürchtete er sich auch vor der Vergangenheit. In seinen Träumen suchte ihn immer wieder ein furchterregendes Feuer heim. Menschen in einem Dorf liefen kreischend hin und her. Und in die furchterregenden Schreie mischte sich das leise Murmeln der Novizen des Burgon. Und alle Gedanken zerstoben davon. Ein Nichts trat an die Stelle von Rauch und Tod. Und dieses Nichts überlagerte seine Erinnerungen.

Die pilgernden Priester hatten ihn vor knapp zwei Jahren ohnmächtig in einem Wald jenseits des Gebirges aufgefunden. Anscheinend waren es Trolle gewesen, die das Dorf seiner Familie verwüstet hatten. Niemand hatte überlebt. Vergeblich versuchte Aryon, sich die Züge seiner Mutter oder die Stimme seines Vaters ins Gedächtnis zu rufen. Vergeblich. Die Schatten überlagerten alles. Es war, als hätte er vor Corn Burgon nicht gelebt. Und nun sein Fieber vor einer Woche. Schon bald würde alles besser werden und alle Erinnerungen würden zurückkehren, das hatte Yolehg ihm versichert.

Aber Aryon war insgeheim vom Gegenteil überzeugt.

Traurig wandte er sich vom Fenster ab, als sein Herz einen Sprung machte. Es war der dreizehnte Tag im zweiten Monat des Menosh. Diese Nacht war die Nacht des Zweiten Kreises. Allein in seinem stillen Zimmer starrte Aryon fassungslos auf eine tiefschwarze Kutte mit dem blutroten Segensspruch des allmächtigen Burgon, die nur einen Meter entfernt sorgfältig vor ihm auf dem Bett ausgebreitet lag. Er war erwählt worden! Wie Yolehg es im Spaß prophezeit hatte...

O

Die Dunkelheit war gekommen. Draußen begann es zu regnen und immer wieder blitzte es durch die finstere Scheibe in das kleine Turmzimmer, begleitet von einem tiefen, grimmigen Donner. Aryon lag still auf seinem Bett, die Augen zur Decke gerichtet. Yolehgs Anspielungen hatten sich bewahrheitet und er selbst begegnete dem bevorstehenden Ereignis mit äußerst gemischten Gefühlen. Hatte Yolehg davon gewusst? Nein, unmöglich! Möglicherweise geahnt? Vielleicht. Wie dem auch sei, es war es eine große Ehre, den Zweiten Kreis jetzt schon zu betreten, doch war sich Aryon nicht im Entferntesten darüber im Klaren, womit er sich diese Ehre verdient hatte. Vom Zweiten Kreis an trennte ihn nicht mehr viel von der Weihe zum Priester des Burgon und dann sollte er sein gesamtes Leben in die Dienste des Ordens stellen. Wollte er das wirklich?

„Aber deswegen bin ich doch hier“, raunten ihm Gedanken durch den Kopf. Warum sich fürchten? Was gibt es denn zu verlieren? Dort draußen, jenseits des Gebirges, existierte eine fremde Welt, an die ihm jegliche Erinnerung fehlte. Es gab dort niemanden, der auf ihn wartete. Er hatte nur einen guten Freund, und der würde diese Nacht das gleiche Schicksal mit ihm teilen. Bei den Fünf, sei kein Feigling! Seine Finger ertasteten den schwarzen Stoff neben sich und zuckten unwillkürlich zurück.

Ein Pochen an der Tür riss ihn jäh aus seinen Gedanken.

Er schwang sich verwirrt aus dem Bett, als die Tür auch schon aufging und Yolehg eintrat. Als dessen Blick auf das Gewand fiel, zeigte er sich nur leicht überrascht.

„Aha! Hab’ ja schon immer gewusst, dass in dir etwas Besonderes steckt. Und die Priester scheinen dies ebenfalls zu ahnen“, bemerkte er lächelnd und schloss die Tür hinter sich.

„Du bist verrückt! Jetzt tauchst du hier wirklich auf!“, stöhnte Aryon und ließ sich zurück aufs Bett fallen.

Yolehg setzte sich zu ihm. „Bist du beunruhigt, weil du vorzeitig erwählt worden bist? Du bist mit Sicherheit nicht der erste, dem das widerfährt. Können wir gerne mal in der Bibliothek nachschlagen. Nur, damit sich dein Ego nicht bis zur Decke der Großen Halle aufplustert.“

„Na gut, das mag ja sein, aber... ich verstehe nicht... Warum ich?“ Er nahm das kostbare Gewand in die Hände und hielt es zitternd vor sich in die Luft. Es war aus reiner Seide, einem äußerst kostbaren Stoff. Deshalb durfte es auch nur zu besonderen Anlässen getragen werden. Auf der Brust war in roter Runenschrift der Segensspruch des Burgon eingenäht: Alar ti Burgon ero ka nalio - Gedenkt Burgon, denn seine Kraft wird Euer Schicksal führen.

„Nimm es als ein Geschenk der Götter, als ein Zeichen“, sagte Yolehg. „Wer an einer Weggabelung steht und sich immer nur fragt, wieso es diesen oder jenen Weg gibt, oder wer die Straßen wohl aus welchen Gründen auch immer geschaffen hat, der wird vor lauter Grübeln keinen Pfad beschreiten, sondern ewig an der Gabelung verharren. Die Antworten auf deine Fragen findest du nun einmal auf den Pfaden, nicht an der Gabelung.“

Aryon zuckte seufzend mit den Schultern. „Du hast wohl recht, Yolehg. Welche Wahl bleibt mir auch? Und vielleicht finde ich so meinen Platz in der Welt.“

Sein Freund sagte nichts, doch als sich ihre Blicke trafen drehte er rasch den Kopf zur Seite und erhob sich vom Bett. Mit einigen raschen Schritten war er bei der Tür, öffnete sie einen Spalt und lugte hindurch. Anscheinend war niemand zu sehen. Corn Burgons Gänge waren still und leer. Yolehg schenkte Aryon ein letztes Lächeln, dann glitt die Tür lautlos hinter ihm zu.

Als Aryon sich wenige Stunden später die Kutte des Burgon überzog und zu beten begann, jagten draußen in der Ferne immer noch dumpfe Donner leuchtenden Blitzen hinterher. Irgendwann klopfte es erneut an seine Tür und dieses Mal war es nicht Yolehg. Er verließ die Kammer und folgte dem stummen Priester, dessen Name ihm plötzlich nicht mehr einfallen wollte, durch die schummrigen Flure des schweigenden Klosters, nicht ahnend, dass er diese Gänge zum allerletzten Mal in seinem Leben durchschreiten sollte.

O

Corn Burgon lag eingeschlossen von Bergen im kalten und unbewohnten Carmantal. Einzig eine schmale Schlucht im Osten des Gebirges ermöglichte die Verbindung zu den Wildlanden und der Baronie Kahtran. In dieser Schlucht war vor langer Zeit das Dorf Eiswasser erbaut worden. Seinen Namen hatte die Siedlung von dem eisigen Strom erhaltend, der es in der Mitte teilte. Die Bewohner Eiswassers waren einfache Menschen, die mit Pilgern und Jägern Handel trieben und ansonsten damit zufrieden waren, in der kargen Umgebung ein hartes aber ruhiges Leben führen zu können. Außerdem versorgten die Menschen aus Eiswasser die Bewohner von Corn Burgon mit Nahrungsmitteln und Neuigkeiten aus den umliegenden Landen. Einmal im Monat strömten die drei Ältesten des Dorfes zum Kloster und wohnten einer Zeremonie für den Gott Burgon bei, der das Dorf vor Krankheiten und anderem Unheil schützen sollte. In regelmäßigen Abständen zog es auch immer wieder Pilger oder fahrende Händler in das Carmantal, um Corn Burgon aufzusuchen und die Weisheit der Priesterschaft in Anspruch zu nehmen. Aus diesem Grund war auf Befehl des Barons Kahtran an der steinernen Brücke, die über den schmalen Fluss führte, ein Häuschen errichtet worden, an dem Durchreisende ein Kupferstück als Wegzoll entrichten mussten. Hier wohnten die beiden alten Brüder Saem und Val. Sie hatten ihr ganzes Leben in Eiswasser verbracht und nie hatte es einen der beiden in die Baronie Kahtran gezogen, oder gar nach Palsus, geschweige denn nach Undor. Sie fühlten sich glücklich, das harte Leben am Rande der Wildlande erfolgreich zu meistern und fanden ihre Belohnung in den abenteuerlichen Geschichten von Wanderern, sowie in den vertrauten Gesichtern ihrer Freunde.

Es war ein stürmischer Abend, als die beiden mal wieder mit ihren Knobelbechern ein Spiel spielten und Saem durch das Fenster einen großgewachsenen Mann in einem langen Kapuzenmantel auf die Brücke zueilen sah. Murrend erhob er sich, schlug den Kragen hoch und stapfte nach draußen.

„He, das kostet aber ein Ku-“

Saem brachte den Satz nicht zu Ende, denn schon im nächsten Augenblick war die Gestalt in Windeseile an ihm vorbei in die Schatten der Nacht eingetaucht - und verschwunden.

Saem starrte der geisterhaften Erscheinung mit offenem Mund hinterher, während der Wind an seinen Haaren riss, so als wolle er sie mit sich empor in die Gipfel der Berge ziehen. Vor ihm auf dem Boden lag ein Lederbeutel.

„He, was ist denn?“, Sein Bruder Val erschien in der Tür, sich den Schaum seines Bieres aus dem langen filzigen Bart wischend. Saem bückte sich nach dem Beutel und leerte den Inhalt in seine Hand.

„Aber das sind ja Silbermünzen!“, keuchte Val und glotzte seinen Bruder mit weit aufgerissenen Augen an.

„Ja. Silbermünzen“, hauchte Saem. „Doch was noch viel seltsamer ist...“ Er deutete in die Richtung, in die der Fremde verschwunden war.

Val folgte seinem Blick. Der sandige Weg hinter der Brücke, der vom Dorf weiter in das Tal hineinführte, war durch die vielen Regenfälle der letzten Tage vollkommen aufgeweicht. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte in der Dunkelheit nirgends Fußspuren entdecken.

O

Aryon traf die anderen an der Treppe zur Großen Halle. Sie alle trugen das Gewand des Burgon und hatten sich bereits in Zweierreihen hintereinander aufgestellt. Vor der Gruppe standen zwei Priester mit brennenden Fackeln in den Händen. Die Luft war stickig und vom Rauch der Fackeln erfüllt. Schweigend stellte er sich neben Yolehg, der ihn aus den Augenwinkeln kurz musterte. Yolehg schien ebenfalls recht angespannt zu sein. Kaum war die letzte Reihe geschlossen, begann die Prozession sich in Gang zu setzen und summend die Stufen zur Großen Halle hinab zu steigen. Keiner der Jungen wusste, was dort auf sie wartete, denn nur bereits Geweihte durften bei den Übergangszeremonien von einem Kreis in den folgenden anwesend sein.

Die unterirdischen Katakomben des alten Klosters waren vom tiefen Gesang der anwesenden Priester erfüllt. Einige wenige Fackeln loderten an den Wänden der Großen Halle und tauchten die Säulen der Fünf in unruhiges Licht.

Die Priesterschaft von Corn Burgon stand, die Kapuzen weit über die gebeugten Gesichter gezogen, innerhalb der Säulenreihen und bildete eine schmale Gasse, durch welche die Jungen nun hindurchgeführt wurden. Am Ende der Gasse befand sich der Altar des Burgon und vor ihm die knochige Gestalt des Obersten Priesters Akum-Ze. Hinter Akum-Ze gähnte im Boden ein dunkles Loch, groß genug, um hinunter zu steigen.

Hinunter? fragte sich Aryon, als er an den Rücken der anderen Jungen vorbei das Loch erblickte. Wohin hinunter? Wie tief reichten die Gewölbe unter dem Kloster? Ihm war diese Stelle nie zuvor aufgefallen...

Doch schon im nächsten Augenblick nahm die Intensität des priesterlichen Gesanges ruckartig zu und seine grübelnden Gedanken waren wie fortgeblasen. Die Jungen wurden angewiesen, einen Halbkreis zu bilden, in dessen Mitte jetzt Akum-Ze trat, die Arme verschränkt unter seiner Kutte verborgen. Als einziger der Priester war die Kapuze des Obersten zurückgeschlagen und offenbarte sein runzliges Gesicht, den grauen, kahlen Schädel und die tiefen Augenhöhlen, in welchen sich der tanzende Schein der Fackeln in einem leicht grünen Schimmer verfing. Die beiden fackeltragenden Priester verneigten sich kurz und zogen sich in zum Säulengang zurück.

Als der Älteste die Arme in die Höhe riss, verstummte der Gesang auf einen Schlag. Kein Echo hallte von den hohen Wänden der riesigen Halle wieder. Die Stille war augenblicklich und absolut.

„Tro met doron!“, rief er in den Worten der alten Sprache der Gebote. Zeigt Treue im Antlitz Eures Herrn! Dann wanderte sein starrer Blick von einem Jungen zum anderen, umspielt von den Schatten der wenigen Feuer. Als seine Augen Aryon fanden, zuckte dieser schmerzerfüllt zusammen. Plötzliche Erinnerungsfetzen suchten ihn heim, die Schreie der Sterbenden aus seinem Dorf, der Geruch verbrannten Fleisches. Ein Anflug von Übelkeit wallte in ihm auf und eine Stimme, die wie seine eigene klang, rief verzweifelt einen Namen, aber die Sprache blieb ihm unverständlich. Dann, so unerwartet wie sie gekommen war, wich die Vision. Aryons Herz schlug bis zum Hals, aber niemand schien etwas bemerkt zu haben. Alle Jungen standen still und stumm da, die Blicke teils erwartungsvoll, teils ängstlich.

Akum-Ze trat einen Schritt auf die Gruppe zu und ein anderer Priester trat neben ihn, eine silberne Schale in beiden Händen haltend. Bedächtig wurden die Gesichter der Jungen nacheinander mit einer farblosen Paste eingesalbt und wie durch ein unsichtbares Zeichen erweckt, begann der Chor der Priesterschaft den Gesang wieder aufleben zu lassen, doch waren es dieses Mal Worte, die Aryon nie zuvor gehört hatte, ruckartiger, fremdartig, und ohne Sinn. Die Zeremonie des Zweiten Kreises hatte begonnen und ihm war eiskalt.

Er und Yolehg waren die letzten im Halbkreis. Kurz bevor Akum-Ze zu ihnen trat, glaubte Aryon zu spüren, wie Yolehgs Körper sich kaum merklich zu ihm hinwandte, fort vom Obersten. Obwohl er sich nicht zu rühren wagte, fühlte Aryon deutlich den versteckten Blick seines einzigen Freundes auf sich ruhen. Aber er konnte ihn aus den Augenwinkeln nicht deuten.

„Aryon, tro al...“

Akum-Zes gehauchte Worte drangen wie durch einen dichten Nebelschleier zu ihm. Der Oberpriester hatte die Hände zur Salbung ausgebreitet und starrte ihn an. Aryon hielt den Blick, sein Herz raste wie wild. Ein emeraldes Feuer schien plötzlich in den Augenhöhlen des Alten aufzuglühen, vermischt mit etwas, das Aryon in seiner aufsteigenden Panik nicht deuten konnte.

„Aryon, tro al!“, drang es erneut an sein Ohr, dieses Mal eindringlicher.

Und kurz bevor die klammen Hände des Oberpriesters sein Gesicht berührten, erkannte der Junge was es war. In den faltigen Augenhöhlen Akum-Zes erblickte er eine Art Beklemmung, ein Zaudern, einen auflodernden Schrecken. Aryon konnte es nicht glauben, aber fast war ihm, als würde der Alte ihn fürchten.

Dann berührten Akum-Zes Fingerspitzen seine Wange.

Und alles verblasste.

Ein süßlicher Duft stieg ihm in die Nase und der fremdartige Gesang der Priester drang in sein Herz. Die Welt verlor alle Form.

O

„Erwache, junger Freund. Erwache jetzt.“

Eine leise Stimme weckte ihn. Hatte er geschlafen? Die Steine waren kalt und feucht. Als Aryon die Augen aufschlug, formte sich aus den verschwommenen Schatten die Gestalt eines großgewachsenen, hageren Mannes, der sich über ihn beugte. Aryon war sich sicher, dieses Gesicht nie zuvor erblickt zu haben. Der Mann hielt einen kleinen Stein in der linken Hand, aus dem ein warmes Licht schimmerte. Der Schein kam aus dem Innersten des Steines.

Ich liege auf dem Boden, dachte er verstört. Der harte Untergrund war kalt und feucht. Der Fremde war in einen dunklen Mantel gehüllt. Sein Gesicht war jung, aber eine Aura des Alters umgab die kristallenen Augen des Mannes. Wie durchsichtige Juwelen blitzten sie im Schein des verzauberten Steines auf. Aryon hatte das Gefühl, dass diese Augen ihm ins Innerste seiner Seele blicken konnten und für einen Augenblick kam ihm der sonderbare Blick des Fremden unglaublich vertraut vor.

Was ging hier vor sich? Wo war er?

„Scheint die Gefahr auch vorerst gebannt zu sein, so ist die Zeit für Ruhe noch nicht gekommen. Wir müssen uns beeilen. Komm.“

Der Mann nahm seine Hand und zog ihn auf die Beine. Aryon fühlte sich matt und benommen, so als hätte er viele Stunden geschlafen.

„Wer in aller Götter Namen bist du? Was ist geschehen? Was ist mit Yolehg? Und den anderen? Ich habe Schreie in meinem Ko-” Dann unterbrach ihn ein leichter Hustenanfall. Seine Kehle war wie ausgetrocknet.

„Keine Zeit dafür“, flüsterte der Fremde. Ein Schweißfilm lag auf seiner Stirn. Immer wieder legte er den Kopf zur Seite, so als würde er in die finsteren Stollen lauschen.

Und es waren Stollen. Überall um sie herum verzweigten sich finstere Gänge.

Ein unterirdisches Labyrinth...

Befanden sie sich unter der Erde? Im Loch vor dem Altar? War dies womöglich eine göttliche Prüfung? Die Prüfung für den Zweiten Kreis? Es konnte nicht anders sein...

„Du warst nur kurz bewusstlos. Nicht viel kann ich dir jetzt erklären, denn noch immer bist du in sehr großer Gefahr, Aryon. Die anderen Jungen jedoch sind verlorene Seelen. Sie gehören nun dem Hüter.“

Und wenn es keine Prüfung war?

„Nein, ich glaube kein Wort davon“, stöhnte Aryon schwach. „Yolehg, was ist mit ihm? Wo sind die anderen? Ich muss zurück.“

„Ist es wahrhaftig das, was du willst?“, zischte der Mann mit den Kristallaugen bedrohlich, fasste ihn mit einem Mal an die Schläfen und Aryon musste hilflos mitansehen, wie ihm der Boden unter den Füssen entglitt...

... wie aus weiter Ferne hörte er jemanden seinen Namen rufen. Um ihn herum huschten Schemen und Schatten wie gesichtslose Geister, die im Takt des Chorals einen unheimlichen Tanz wagten. Wieder dieser Ruf, doch jetzt klang es viel näher...

„Aryon, tro al!“

Er stand in der Großen Halle. Und ließ sich mitreißen. Willenlos schritt er auf das finstere Loch im Boden zu und ein Lächeln huschte über das runzelige Gesicht des Greises neben ihm. In der Tiefe des Lochs zeichneten sich die Umrisse von steinernen Treppenstufen ab. Ob er es wollte oder nicht, seine Füße berührten die ersten Stufen, und unter ihm öffnete sich der lauernde Schlund aus Finsternis.

Mit einem Mal war ihm klar, dass er diesen Ort verlassen musste, dass er nicht hierhergehörte. Das Rauschen des Windes in den Blättern. Das sanfte Plätschern eines Baches. Das Zwitschern der Vögel in der warmen Morgendämmerung. Und da, ein vertrautes Gesicht, ein Name, der ihm nicht einfallen wollte... War es...? Unmöglich... Aber doch, es war...

„Im Namen der Fünf!“, ertönte eine befehlende Stimme in seinem Kopf. Die Bilder erloschen in seinem Geist wie ungeschützte Kerzen in einem Sturmwind.

Er wollte sich umdrehen, aber stattdessen führten seine Beine ihn weiter in die Tiefe, hinab, immer weiter in die Dunkelheit hinein. Panik wallte in ihm auf. Er wollte schreien, doch kein Laut entfuhr seinem Mund. Er wollte fortlaufen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht länger. Stumm und zielstrebig schritt weiter, bis ihm irgendwann klar wurde, dass er sich mittlerweile auf ebenem Untergrund bewegte.

Es war stockfinster und doch konnte er jetzt sehen. Die Dunkelheit selbst schien hier unten zu leuchten. Schwarzes Licht strahlte von den Wänden des Stollens und der Gang weitete sich in eine Höhle. Aus weiter Ferne drang der Gesang der Priester bruchstückhaft zu ihm durch:

Wir ehren die Fünf

Sie... Weg und... Ziel

... der Harmonie... Sphären

Lenker des Schicksals... Lebens

... des Lichtes regiert...

... offenbart...

... Ängstlichen... jeden Lebens...

... erklärt...

... ihren... widerspiegelnd

... Hüter der Schatten...

... die Suchenden mit...

... bestimmt...

... den Hoffenden ihre Wünsche...

Wir... die Fünf

Sie sind...

Verächter der Harmonie...

Lenker... allen Lebens

Dann verließen ihn die Stimmen des Chors. Die Welt begann sich zu drehen. Von einem übermächtigen Drang getrieben, stolperte er hilflos nach vorn in die Höhle. Ein unwirkliches, mattes Licht, dass unmöglich von Fackeln oder einer Öllampe stammen konnte, ließ die felsigen Wände in einem gespenstischem Rot aufblitzen.

Und da sah er sie! In der Mitte der Höhle lagen die anderen Jungen. Sie wälzten sich auf dem kahlen Boden und ihre Gesichter veränderten sich mit jeder Bewegung zu grotesken Formen. Es waren noch dieselben bekannten Gesichter, doch ihnen wuchsen dämonische Hörner, glühende Augen sprühten giftiges Feuer und spitze Zähne bohrten sich hasserfüllt in den kalten Stein.

Und dann geschah es...

Eine unsichtbare Schwelle durchbrechend, brach das grässliche Wehklagen über ihn herein wie ein Orkan. Schreie und unmenschliche Rufe hallten tausendfach von den blutblitzenden Wänden wieder und Aryon wurde von der grausamen Macht der Höhle zu Boden geworfen. Seine Arme und Beine begannen, wie an unsichtbaren Fäden gezogen, wild und unbeherrscht zu zucken. Schmerz durchdrang jede Pore seines Körpers, sein Verstand kreischte auf, heiße Tränen rannen ihm über die Wangen und verbrannten sein Fleisch, er schrie, schrie, schrie...

Dann übermannte ihn die Finsternis.

Im nächsten Augenblick schaute er in das angespannte Antlitz des Fremden.

„Bei den Geistern der Wälder, Aryon, was haben sie mit dir gemacht?“, hauchte der Mann und die kristallenen Augen funkelten in der Dunkelheit. „Bei den Blättern von Est-En-Kor, das kann nicht sein!“

Aryon verstand kein Wort. Nur langsam beruhigte sich sein Puls. Kalter Schweiß rann ihm über der Stirn und ein Frösteln durchlief seine Glieder. Was war hier geschehen? Woher kannte der Fremde seinen Namen? Das konnte unmöglich eine Prüfung sein! Und wenn doch, so wollte er nicht länger Priester eines Gottes werden, der solche Prüfungen verlangte. Wie erst würde dann die endgültige Schwelle zum Dritten Kreis aussehen?

Der Fremde ließ seinen Arm los. Sein kristallener Blick war so intensiv, dass Aryon sich abwenden musste. „Uns bleibt nicht viel Zeit! Noch ist die Zeremonie nicht beendet und der Feind ist nicht weit entfernt. Wir müssen diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Es darf hier nicht enden, doch erkennst du deinen wahren Freund nicht mehr, wenn er vor dir steht, so ist alles verloren.“

Aryon glotzte ihn verständnislos an. Noch immer hatte er das Echo der klagenden Schreie in seinen Ohren und betastete seine Wangen, nur um sicherzugehen, dass seine Haut unversehrt geblieben war. Es hatte sich so wirklich angefühlt.

„Ich lasse dir die Wahl, Aryon. Aber entscheiden musst du dich.“

Was sollte er tun? Aryon blickte sich um, doch der Stein leuchtete nicht mehr so hell wie zuvor und die Finsternis verschluckte alles um sie herum. Er befand sich irgendwo in den Katakomben unter Corn Burgon mit einem seltsamen Unbekannten, der ihn aufforderte, mit ihm zu kommen. Wohin überhaupt? Aryon war zu verwirrt, um einen klaren Gedanken zu fassen, aber eine unheimliche Aura der Nähe und des Vertrauens strömte von dem Fremden zu ihm und er erschauerte widerwillig, denn eigentlich gehörte er doch nach Corn Burgon. Dies war keine Prüfung, dessen war er sicher. Etwas Unerklärliches war in sein Leben getreten. Hatte der Fremde ihn gerettet? Oder hatte er ihn verhext? Er hatte seine Vergangenheit verloren, die Gegenwart war aus dem Gleichgewicht geraten und die Gedanken an die Zukunft erschienen ihm düsterer denn je. Aryon wusste nicht, was er tun sollte.

Um sie herum herrschte eine beklemmende Stille.

Der Fremde musterte ihn. Nur das schwere Atmen zweier regungsloser Schemen erfüllte die Düsternis, als unerwartet ein Geräusch Aryons Überlegungen zerriss. Ein Geräusch, dass er in seinem Leben nie mehr vergessen sollte. Es hallte durch das unterirdische Labyrinth unter dem Kloster, sprang von Fels zu Fels, und obwohl alle Menschlichkeit aus der Stimme gewichen war, erkannte Aryon sie auf der Stelle wieder; der Schrei, so unmenschlich verzerrt und so voller Qual, war der Schrei seines besten und einzigen Freundes: Yolehg!

O

Hastig durchquerten sie die Große Halle, während die Priesterschaft wie in Trance den gewaltigen Säulensaal mit ihrem Gesang erfüllte. Niemand reagierte auf ihre Flucht.

Wir ehren die Fünf,

Sie sind der Weg und das Ziel –

Verächter der Harmonie der Sphären,

Lenker des Schicksals allen Lebens.

Der Fremde hatte ihm neue Kleider gegeben, die er in einem Sack bei sich geführt hatte. Verblüfft musste Aryon feststellen, dass sie wie maßgeschneidert passten. So trug er jetzt eine dicke wetterfeste Leinenhose, ein warmes Hemd und einen grauen gefütterten Umhang. Sein Gewand des Burgon hatten sie unten in den Katakomben zurückgelassen.

Nun gab es kein Zurück mehr. Die Umgebung nahm er nur noch schemenhaft wahr. Alle Gedanken und Zweifel hatte er beiseitegeschoben, der Widerhall von Yolehgs Schrei erfüllte alles in seinem Kopf. Seine Welt war gefangen in einem einzigen schrecklichen Laut. Die Panik regierte alles, war unbeirrter Herrscher all seiner Gefühle und Gedanken.

Nur noch das Laufen zählte.

Schließlich erreichten sie die Eingangshalle des Klosters. Die Pforte war so gut wie nie verschlossen, doch schob der alte Pförtner auch zu später Stunde noch seinen Dienst. Aufgeschreckt sprang er ihnen entgegen.

„Halt! Um diese Zeit darf niemand das Kloster verlass...?“

Er kam nicht weiter, denn in diesem Augenblick blies ihm der Fremde einen glitzernden Staub ins Gesicht. Der alte Pförtner sank augenblicklich zu Boden und blieb regungslos auf dem nackten Stein liegen.

Draußen strömte ihnen die angenehm kühle Nachtluft entgegen. Der Regen hatte aufgehört und das Unwetter war vorbeigezogen. Sie eilten durch den nassen Innenhof und öffneten das Tor. Ein letztes Mal schaute sich Aryon zum Klostergebäude um. Über ihm ragten die hohen Klostermauern wie ein stummer Riese in den Nachthimmel empor. Sein Kopf wurde von der frischen Luft langsam wieder klar. Schwer atmend drehte er sich ab und folgte dem Mann mit den seltsamen Augen in die stille Nacht hinaus, hoffend, die richtige Entscheidung getroffen zu haben und gleichzeitig seine eigene Feigheit verfluchend, denn noch immer hörte er Yolehgs schrecklichen Schrei in seinem Kopf.

Statt seinem Freund zu helfen, floh er...

O

Irgendwann brach der Mond durch die Wolkendecke und erhellte das Tal mit seinem bleichen Schein. Aryon wusste nicht mehr, wie lange sie schon gelaufen waren, aber er war sich sicher, dass er entweder hier rasten oder vor Erschöpfung sterben würde. Stöhnend ließ er sich zu Boden sinken.

„Also gut, das reicht. Ich kann nicht mehr... laufe keinen... Schritt weiter... erst gerettet und dann... zu Tode gehetzt.“

Der Fremde wandte sich auf der Stelle um und kniete sich neben ihn auf den feuchten Untergrund. Aryon fühlte, wie der Mann ihm widersprechen wollte, doch dann unerwartet nach kurzem Innehalten nur zustimmend nickte.

„Wer in aller Götter Namen bist du überhaupt?“, keuchte Aryon

„Bei den Geistern der Wälder! Du erkennst mich wirklich nicht mehr!“ Die kristallenen Augen des Mannes funkelten für einen Augenblick im Schein des Mondes wie die einer Katze. „Wenn seine Macht über dich schon so stark ist, dann scheint der Feind dem Ziel näher als befürchtet.“ Zischend sog der Fremde die kalte Nachtluft ein.

Aryon verstand kein Wort.

„Myros lautet mein Name.“ Er holte unter seinen Mantel eine Feldflasche hervor. „Hier, Aryon, trink ein wenig vom heilenden Saft des Mooses. Es wird dir guttun. Aber nicht zu viel.“

Mit maskengleicher Miene reichte Myros ihm die Flasche. Nach kurzem Zögern setzte Aryon sie an seine trockenen Lippen. Vorsichtig nahm er wirklich nur einen winzigen Schluck, doch sofort spürte er eine wohlige Wärme in seinem erschöpften Körper. Die Schmerzen ließen augenblicklich nach und eine starke Müdigkeit ergriff von ihm Besitz. Myros nahm die Feldflasche wieder an sich und ließ sie unter seinem Mantel verschwinden. Schon im nächsten Moment fühlte Aryon, wie seine Augenlieder zunehmend schwerer wurden. Myros schlug seinen Mantel um ihn. Die Kälte der Nacht verschwand und die Schwelle zum Schlaf überschreitend, blickte Aryon ein letztes Mal in die seltsamen Augen, die im Schimmer des Mondlichts so unendlich beruhigend auf ihn wirkten.

„Natürlich...“, flüsterte er schwach, ehe er sanft in einen traumlosen Schlaf glitt. „Du bist ein Elf...“

O

Im Morgengrauen erwachte Aryon, noch immer in Myros Mantel gehüllt. Trotz der herbstlichen Frische des Morgens nah den schneebedeckten Gipfeln der Berge war sein Körper warm. Er verspürte keinerlei Schmerzen vom Schlaf auf dem harten Untergrund. Nur seine Ohren fühlten sich ein wenig taub an. Zuerst glaubte Aryon, aus einem bösen Traum erwacht zu sein, doch dann holten ihn die Ereignisse des letzten Tages schlagartig wieder ein.

Beunruhigt setzte er sich auf und bemerkte, dass er in einer kleinen Bodensenke gelegen hatte. Soweit das Auge reichte, erstreckten sich zu allen Seiten die gewaltigen Umrisse des Carmangebirges, doch irgendetwas an der friedlichen Umgebung störte ihn. Irgendetwas entsprach nicht seinen Erwartungen. Aber was? Er konnte es nicht sagen.

Myros saß einige Meter entfernt am Rand der kleinen Anhöhe und schaute konzentriert nach Westen. Erst jetzt im Morgenlicht erkannte Aryon die leicht grünliche Haut und die spitzen Ohren seines fremden Begleiters. Doch hieß es nicht, dass Elfen am Tage ihre Gestalt veränderten und als kleine pulsierende Lichter umhergeisterten? Wie kam es, dass dieser Mann, obwohl wie ein Elf aussehend, sich nicht wie einer verhielt? Oder wusste Aryon zu wenig über das Volk der Wälder? Doch schon im nächsten Augenblick erinnerte er sich plötzlich ganz genau: nur die Elfenkinder in ihren jungen Jahren verwandelten sich im Licht der Sonne. Nur die Kinder. Aber woher wusste er...?

Ein plötzlicher Bilderschwall schoss durch seinen Geist. Zahllose Gedankenfetzen drohten seinen Kopf zu zersprengen. Wie ein stechender Schmerz durchzuckte es seinen Körper...

Dann war alles vorbei. Leere. Es wollte ihm nichts mehr einfallen.

Er zog den Mantel fester sich und trat an die Seite seines mysteriösen Retters. Das Tal um sie herum war wie ausgestorben. Der Elf begrüßte ihn nicht, die moosfarbigen Hände spielten mit einer langen Vogelfeder, die im Schein der Morgensonne in den verschiedensten Farben schimmerte.

„Araquyn!“, flüsterte Myros geheimnisvoll vor sich hin, die Feder weiterhin zwischen seinen feingliedrigen Fingern hin und her wandern lassend. „Und so nah! Araquyn...“, wiederholte er ein zweites Mal mit einem schweren Seufzer.

„Was ist araquyn?“, fragte Aryon und ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder.

„Der Fluch der Vorzeit. Diener der Hüter.“ Die Feder zwischen Myros Fingern kam zu einem Halt. Der Elf spannte seine Finger kurz an, die Feder zerbrach und wortlos warf er die zwei Hälften davon.

Aryon spürte, dass er nicht mehr aus ihm herausbekommen würde und wechselte das Thema. „Du bist doch ein Elf, nicht wahr?“

„Ja, ich bin ein Elf“, sagte Myros, ohne sich zu ihm umzudrehen. Ein seltsamer Unterton schwang in seiner Antwort mit.

Eine Weile schwiegen sie und starrten beide nach Westen.

Dann wurde Aryon unruhig. „Ich denke, ich hätte einige Antworten verdient.“

Myros atmete tief durch. Dann wandte er sich Aryon zu und ein mattes Lächeln umspielte seine feinen, grünlichen Züge. „Bei den Geistern der Wälder, sicherlich hast du Antworten verdient. Schon vor langer Zeit. Aber erst wir müssen dieses Tal verlassen haben, bevor ich die Vergangenheit zu neuem Leben erwecken darf. Sie kann zu einer schweren Last werden, die wir auf dem Weg nicht mittragen sollten. Wir werden Eiswasser noch diese Nacht erreichen. Dann weiter nach Akanum. Und dort wirst du Antworten auf deine Fragen erhalten. Das verspreche ich dir.“ Aryons zweifelnden Blick begegnend ergänzte er: „Bitte vertraue mir bis dahin.“

„Bis nach Akanum? Das ist völlig unmöglich. Vielleicht schaffst du es so schnell, aber ich bin nur ein gewöhnlicher Mensch. Ich brauche zu Fuß mindestens noch zwei Tage allein bis nach Eiswasser und von dort -“

„Natürlich schaffen wir es!“ Der Elf ernst und deutete auf die nahen Ausläufer der Berge.

Aryon blickte sich zum ersten Male richtig um. Er verstand mit einem Mal, was ihm beim Erwachen aufgefallen war. Die Bergfront im Osten. Hoch und mächtig türmte sich das massige Bergmassiv unerwartet dicht vor ihnen auf. Wie weit waren sie in der Nacht gelaufen?

„Das ist nicht möglich! Ich meine, das ist einfach nicht...“

Myros packte ihn fest an den Schultern, doch sein Blick entspannte sich zu einer verständnisvollen Miene: „Du weißt nicht mehr, wer du bist, Aryon. Dir bleibt nichts außer dem Moment hier mit mir, und nackt stehst du den kalten Wahrheiten deines Lebens gegenüber, die sich mit dem Fallen der Blätter offenbaren werden. Doch eines bleibt gewiss, es wird immer einen Mantel geben müssen, mit dem du dich gegen die Kälte der Erinnerungen zu schützen versuchen wirst. Ein Mantel, der dich wohlig wärmt, wenn die Schauer der Furcht über dich kommen und so sei nun einfach froh, dass dir ein solcher Mantel vorübergehend geliehen wurde, wenn auch vom Feind und wahrhaft aus anderem Grund.“

„Bei Burgon! Ich verstehe kein Wort.“

„Du wirst auf deiner Reise noch vielen Dingen begegnen, die du nicht auf Anhieb verstehen wirst. Bis du die Welt, deine Welt, wiedererkennst, werden noch einige Tage vergehen. Und lass Burgon aus dem Spiel, seine Gegenwart wünsche ich mir nicht. Die Götter haben bereits zu viel Unheil angerichtet.“

„Und was ist mit Yolehg? Er ist mein Freund.“

„Vielleicht war er das wirklich. Aber seine Entscheidung ist gefallen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Glaube mir.“

Aryon blickte Myros lange in die Augen, spürend, dass er ihm vertrauen sollte. Aber was war in Corn Burgon geschehen? Und weshalb hatte ihn der Elf gerettet?

Und vor allem wovor?

„Nun gut, Myros, ich vertraue dir. Welche Wahl bleibt mir auch? Doch sag mir noch, woher kennst du meinen Namen? Sind wir uns schon mal begegnet?“

Der Elf lächelte. „Du musst dir Zeit nehmen, alles zu verstehen. Und ich muss dir die Zeit geben. Wichtig ist allein, dass wir einander jetzt vertrauen. Im Zirkel der Natur ist die Vergangenheit ohne Macht über diejenigen, die in der Gegenwart leben, denn stets wird ein neuer Winter kommen, und dann ein neuer Frühling. Und nun los, wir müssen das Tal verlassen. So schnell wie möglich.“

Aryon fügte sich und die beiden machten sich wieder auf den Weg, allerdings nicht ohne, dass Aryon heimlich noch die zerbrochene Feder des araquyn aufgehoben und unter sein Hemd gestopft hatte.

Der Tag verstrich wie im Flug. Es nieselte leicht, doch gegen späten Nachmittag löste sich die graue Wolkenmasse auf und herbstliche Sonnenstrahlen durchfluteten das Tal zu Füßen der hohen Berge. Aryon war aufgefallen, dass er trotz der ungewohnten Strapazen kaum Erschöpfung verspürte. Und das verwunderte ihn sehr. Zum anderen bemerkte er, dass Myros hingegen immer blasser wurde, je weiter sie vorankamen. Außerdem hatte der Elf in den ersten Stunden ihres Weges auf zauberhafte Weise keine Fußabdrücke auf dem feuchten Boden hinterlassen, so als wäre er über die Landschaft geschwebt. Nun aber zeichneten sich seine Spuren ebenso deutlich auf dem Untergrund ab, wie die Aryons. Auf gewisse Weise befriedigte diese Erkenntnis den Jungen. Und es spornte ihn weiter an, keine Zeichen der Ermüdung zu zeigen.

Ansonsten verlief der Tag ereignislos. Von eventuellen Verfolgern war nichts zu erkennen. Hatte Myros womöglich vollkommen falsch gelegen mit seiner Befürchtung, sie könnten noch weiteres Unheil zu erwarten haben? Nachdem, was im Kloster geschehen war, traute Aryon sich nicht, länger über eine Antwort auf diese Frage nachzugrübeln. Er verdrängte alle düsteren Gedanken so gut es ging und versuchte, sich ausschließlich auf das Laufen zu konzentrieren. Es schien ihm so natürlich, bei Myros zu sein, an dessen Seite zu wandern und zu rasten, und kaum noch vermisste er die Flure und Räume von Corn Burgon. Bald würde er alles erfahren, dessen war er sich absolut sicher. Er fühlte eine unheimliche Nähe zwischen sich und dem Elfen und obwohl er Myros nicht kannte, vertraute er ihm.

War vielleicht doch elfische Magie im Spiel? Hatte er in den Katakomben des Klosters wahrhaft frei entschieden oder hatte ihn der Elf mit seiner Zauberkraft behext und beeinflusst? Doch wenn dem so wäre, wie konnte er sich dann insgeheim ebensolche Fragen stellen? Aryon stolperte über eine Wurzel am Bode und geriet ins Straucheln.

„Alles in Ordnung?“, rief der Elf, der schon vorausgeeilt war.

Aryon nickte. Schon bald würde er Antworten erhalten, seine Vergangenheit aufdecken, seine Zukunft wieder selber bestimmen können. In Corn Burgon hatten ihm die Priester immer wieder gesagt, sein Gedächtnisschwund wäre auf das starke Fieber zurückzuführen und nicht mehr von langer Dauer. Myros allerdings schien eine andere Meinung zu vertreten, die er jedoch noch nicht preiszugeben gedachte. Alles was von Aryon nun verlangt wurde, war, sich in Geduld zu üben. Und irgendwie gelang es ihm sogar, sein schlechtes Gewissen Yolehg gegenüber weitestgehend zu verdrängen. Doch tief in ihm schlummerte die Schuld lauernd vor sich hin, um ihn eines Morgens irgendwann zur Rede zu stellen.

Die langen Schatten der Berge streckten bereits ihre Arme in das Tal, als die beiden eine weitere kurze Rast einlegten. Sie tranken wenige Schlucke aus der Flasche des Elfen und Aryon bemerkte, dass wieder etwas Farbe in Myros Gesicht zurückkehrte. Die Flüssigkeit aus der Flasche wirkte wahre Wunder und schien sich wie von Zauberhand stets wieder aufzufüllen. Dank diesem Trunk hatten sie in kürzester Zeit eine unglaubliche Entfernung zurückgelegt. Dieses Tempo konnte kein Verfolger durchhalten.

Aryon genoss die angenehme Wärme des Saftes, der durch seine Kehle rann und schloss für einige Augenblicke seine Augen. Wie bereits einige Male zuvor entging ihm dabei erneut, wie Myros leise ein paar fremdartige Worte murmelte und sich heimlich nach Westen wandte. Der kristallene Blick war von Sorgenfalten gezeichnet.

Mit Einbruch der Nacht erreichten sie das Dorf Eiswasser. Es war eine kalte, sternenklare Nacht und der Mond schien hell über den Gipfeln der Berge. Von den dunklen Gebäuden drang nur noch vereinzelt Licht durch die geschlossenen Läden der Fenster.

„Wenn wir erst das Dorf durchquert haben, suchen wir uns eine gute Stelle zum Rasten“, flüsterte Myros und deutete nach Osten.

„Warum übernachten wir nicht im Dorf? Meine Füße sind wund und ein richtiges Bett wäre auch nicht zu verachten. Die Menschen hier sind äußerst gastfreundlich, so heißt es. Von ihnen haben wir bestimmt nichts zu befürchten“, erwiderte Aryon müde.

Myros musterte die dunklen Umrisse des Dorfes. „Es bleiben dennoch Menschen“, sagte er und die Bitterkeit in seiner Stimme ließ Aryon zusammenzucken. „Es ist ungewiss, wie sie auf meine Anwesenheit reagieren würden.“ Myros Augen schweiften zu der Steinbrücke, die sich über den schmalen Fluss streckte und in deren Mitte ein kleines Häuschen stand.

„Aber wieso denn das? Ich denke, die Elfen sind freundliche Wesen und überall gerne geseh-“

„Bei den Geistern der Wälder!“, fuhr ihm Myros dazwischen und nur mühsam gelang es dem Elfen, seine erregte Stimme wieder zu einem vorsichtigen Flüstern werden zu lassen. „Aryon, erinnere dich doch! Nach dem Wahn war es nie wieder so wie vorher!“

Aryon hatte keine Ahnung, wovon sein Gegenüber sprach. Was für ein Wahn? Fragend blickte er Myros an, doch der Elf hatte seinen Blick zum mondbeschienen Himmel emporgerichtet.

Für einen kurzen Augenblick huschte eine Sternschnuppe über die silbernen Wipfel des Gebirges und mit ihr trug eine sanfte Brise gedämpft die traurige Stimme des Elfen zu Aryon: „Dein Vater war ein guter Mann, Aryon, und er konnte nicht ahnen, welcher Fluch nach dem Krieg auf den Schultern der Welt lasten würde.”

Nur wer das Unmögliche versucht,

wird sein Möglichstes erreichen!

- aus den Schriften von Menosh -

Der Jäger

Gespannt ruhten beide Augenpaare auf dem kleinen Knobelbecher, der zwischen den Brüdern auf dem Holztisch ruhte. Saem hielt den Becher mit seinen groben Händen fest umschlossen, seine fauligen Zähne schimmerten dunkel zwischen rauen Lippen, breit und herausfordernd.

Val grinste nur stumpfsinnig.

Er schob die Kerzen beiseite, die neben dem Becher auf dem Tisch standen, holte drei Silbermünzen aus seinem Beutel hervor, und im nächsten Moment sprang er mit lautem Gepolter auf, ein siegesgewisser Ausdruck auf seinen alkoholgeröteten Zügen. Der Schemel fiel zu Boden, doch das kümmerte Val nicht. Mit der Faust schlug er krachend auf den Tisch, um dann sehr langsam die drei Münzen aus der geschlossenen Hand über die Tischoberfläche kullern zu lassen. Grunzend griff er mit der anderen Hand nach seinem Bierhumpen und nahm einen kräftigen Schluck.

„Nuun guut“, lallte Val, während er erfolglos versuchte, sich den Schaum vom Bart zu wischen. „Ich wedde diese drei Silbberstügge, dass duu keine zwei Türmä gewüffellt hast. Hasste verstann? Drei Silbberstügge! Keine zwei! Keine zweiii! Türmää! He?“

Saems fauliges Grinsen war mit einem Mal verschwunden. Gebannt starrte er auf den Becher, den er mit zitternden Fingern fest umschlossen hielt. „Alsooschön, reichäss Brudderherz, die drei Sillerstükke zähllnn. Sovill Glügg hat keinaa“, keuchte er. Schweißperlen rannen ihm über das Gesicht. Noch nie hatte einer von ihnen so viel Geld besessen, geschweige denn, um so viel Geld gespielt.

Und ihr Blut kochte bereits unter der Wirkung des Alkohols.

Zögernd hob Saem den Knobelbecher an...

... und sah wie in Trance auf die geschnitzten Holzstückchen, die sich jetzt offenbarten...

Es waren zwei Türme!

Saem sprang auf und hüpfte mit lautem Gejohle durch die kleine Kammer.

„Jawoll! Siehstä! Zwei Türmää, Türmää, Türmäää! Daajajajaaa!“ jubelte er.

Plötzlich wurde die Tür zur Hütte aufgerissen! Die Kerzen auf dem Tisch erloschen im Windzug und ein schwarzer Schatten glitt in das verdunkelte Zimmer.

In der Finsternis sah Saem nur noch das Feuer grün lodernder Augenschlitze. Sein Angstschrei wurde in einem Schwall von warmen Blut erstickt, der sich im nächsten Atemzug aus seiner Kehle ergoss. Wie ein nasser Sack fiel er zu Boden und noch im Sterben vernahm er das verzweifelte Stammeln seines Bruders neben sich: „Biddä nicht... Biddä niiiiicht...“

O

Myros eilte vor und befand sich bereits auf der Steinbrücke, die über den Fluss Eiswasser gebaut worden war. Das Dorf lag still und schläfrig vor ihnen. Selbst in dem kleinen Zollhäuschen brannte kein Licht mehr.

„Mein Vater?“, rief Aryon ihm hinterher, doch zur Antwort hob der Elf nur warnend die Hand.

Aryon sah, wie Myros zwei lange Holzstöcker unter seinem Gewand hervorzog. Ein eigenartiges Pulsieren des Holzes war im fahlen Mondlicht auszumachen, so als ob die Stäbe ein unnatürliches Eigenleben führen würden.

Alarmiert wich er einen Schritt vor dem Elfen zurück.

„Was ist mit dir? Was ist denn los?“

„Sei still jetzt!“, kam flüsternd die Antwort. “Ich spüre etwas...”

Suchend ließ Myros seinen Blick umherstreifen, dann wandte er sich mit weit aufgerissenen Augen Aryon zu. Seine kristallenen Pupillen pulsierten im gleichen Takt und Licht, wie die Stöcker in seinen Händen.

Der Anblick war angsteinflößend. Und seine Stimme klang wie Baumrinden, die man aufeinander rieb: „Allein wirst du das Tal verlassen und nach Akanum fliehen.“ Aryon starrte ihn entsetzt an, aber Myros hob warnend die Hand. „Lausche meinen Worten genau, Aryon! In Akanum suchst du nach Kunath aus Krynth. Er wird dir alles erklären. Die Zeit wird dann reif sein für die Wahrheit. Hast du mich verstanden?“

Aryons Kehle war wie zugeschnürt.

„Hast du mich verstanden? Versprich mir, Kunath zu suchen!“ Fast klang es wie ein Befehl.

Aryon schreckte zurück. Der Gedanke, völlig auf sich gestellt durch ein fremdes Land zu reisen, erschien nicht wie das erhoffte Ende, sondern eher wie der Anfang eines bösen Alptraums. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass es für eine Umkehr bereits zu spät war. Ihm blieb keine Wahl.

Myros pulsierende Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, die Hände zuckten im Takt der Stöcker.

„Also gut, ich verspreche es. Aber ich weiß doch nicht einmal, wo diese Stadt genau liegt. Was ist denn überhaupt los?“

„Akanum liegt in südöstlicher Richtung der Carmanberge. Du wirst nicht mehr als drei Tagesmärsche brauchen.“

Ohne ein weiteres Wort eilte Myros über die steinerne Furt. Seine Bewegungen ähnelten jetzt denen eines Raubtieres, das sich an seine Beute anpirschte. Aryon folgte ihm mit zitternden Beinen. Alles schien ruhig und friedlich zu sein. Was hatte den Elfen so verstört? Er ahnte, dass auf ihn mehr Antworten warteten, als er augenblicklich Fragen dafür im Sinn hatte. Wer im Namen der Fünf war Kunath aus Krynth?

Myros wurde zusehends unruhiger, je näher sie dem Zollhäuschen am Ende der Brücke kamen.

„Fürwahr, bei den Geistern der Wälder! Lauf Aryon, lauf!“, schrie Myros plötzlich hell auf. „Renne um dein Leben!“

Die Worte waren kaum verhallt, da wurde die hölzerne Tür des Zollhäuschens mit einem mächtigen Ruck aufgestoßen und eine große Gestalt schwebte auf die Brücke. Das Wesen war wie ein Schatten aus Rauch, der sich aus der dunklen Nacht gelöst hatte und lebendig geworden war. Eisige Kälte breitete sich auf der Brücke aus. Der Kopf der Kreatur schien wie von dunklem Nebel verhüllt.

Myros stöhnte auf, während Aryon nur mit offenem Mund dastand, unfähig, sich zu rühren. Erinnerungsfetzen drangen auf ihn ein und für einen Augenblick, wusste er genau, was ihm dort gegenübergetreten war.

Er kannte dieses Wesen...

Die Schattenkreatur hob den Kopf...

... und die Dunkelheit um sie herum schien zu wachsen. Inmitten der eisigen Finsternis brannten geschwungene Augenschlitze in einem furchtbaren, grünen Feuer.