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London, 1926. Während einer festlichen Zusammenkunft in den Räumlichkeiten von Lady Eleonora ereignet sich ein tragischer Vorfall, als ein Gast plötzlich und unerwartet am Klavier verstirbt. Im Rahmen eines Gedenkdinners für den Verstorbenen geschieht ein weiterer Mord, der die Gemüter zusätzlich in Aufruhr versetzt. Inspector Duncan, ein erfahrener Ermittler von Scotland Yard, hegt den Verdacht, dass der Täter unter den Anwesenden zu finden ist. Besteht womöglich eine Verbindung zwischen diesen beiden außergewöhnlich ins-zenierten Tötungsdelikten? Dem Inspector wird bei der Durch-führung seiner Ermittlungen ein hohes Maß an Einsatz und Können abverlangt. Besonderheiten: In dem Roman werden systematisch nach psychologischem Verständnis die verschiedenen Charaktere der Figuren herausgearbeitet. Fundiert medizinisch- naturwissenschaftliche Fakten tragen zur Untermauerung der Ereignisse und Aufklärung der Verbrechen bei.
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Seitenzahl: 306
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Viviane von Launer
Der Klaviermörder
Ein Fall für Inspector Duncan
Viviane von Launer
Der Klaviermörder
Ein Fall für Inspector Duncan
Kriminalroman
2. überarbeitete Auflage
12/2018, 1. Auflage, ISBN: 978-3-96200-141-4
Verlagshaus Schlosser, 85551 Kirchheim
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Vivian Gap
Umschlag:© 2023 Copyright by Vivian Gap
Verantwortlich
für den Inhalt:Vivian Gap
Bismarckallee 17
79098 Freiburg
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Für Verena und Walter
und meine Eltern, von Herzen
Es war ein frühlingshafter Tag des Jahres 1926, als einige auserwählte Personen ein von einem stattlichen Kurier persönlich überbrachtes Schreiben erhielten. Es handelte sich um eine Einladung zu einer der begehrtesten Veranstaltungen, die in der gehobenen Londoner Gesellschaft bekannt waren:
Lady Eleonora Whiteshuttle gibt sich die Ehre, am Sonntag, dem 16.Tag im Mai um 6.oo p.m. zu einem privaten Konzert der Meisterklasse in ihr Haus einzuladen.
Abendgarderobe erbeten
Auch Henry O´Brien erhielt diese Einladung - aber nicht, weil sein gesellschaftlicher Rang von besonderer Bedeutung gewesen wäre. Nein, es war eher seine Profession, die ihn zum gern gesehenen Gast dieser Veranstaltung machte. Sein Beruf als Journalist hatte es ihm schon mehrfach ermöglicht, diesem und ähnlichen Empfängen beizuwohnen. Mittlerweile war er bei Lady Eleonora Whiteshuttle eine Art »Freund des Hauses« geworden und verfasste in regelmäßigen Abständen Zeitungsartikel über die musikalischen Nachwuchskünstler der Meisterklassen für die lokale Presse.
O´Brien hatte während seines Studiums am College das Glück gehabt, den Neffen von Lady Eleonora Whiteshuttle kennenzulernen. Beide hatten sich das Studentenzimmer geteilt, woraus sich eine gute Freundschaft entwickelte, die immer noch anhielt.
Während Lady Eleonoras Neffe, Richard Yorkshire, nach dem College eher den vergnüglichen Seiten des Lebens folgte, versuchte Henry O´Brien sich mit Schreiben den Lebensunterhalt zu verdienen. Er kam aus bescheidenen Verhältnissen und musste sich alles hart erarbeiten. Er war stolz darauf, den Sprung zu einer der angesehensten Zeitungen Londons geschafft zu haben. Bei der Times war er im Wesentlichen für die Kulturkolumne zuständig. Eine persönliche Empfehlung seines Freundes Richard Yorkshire hatte ihm einen Zugang zum Haus von Lady Eleonora ermöglicht.
Die Gastgeberin, Lady Eleonora Whiteshuttle, war in der Londoner Gesellschaft sehr angesehen. Mit ihren 65 Jahren hatte sie immer noch eine außergewöhnliche Ausstrahlung. Ihre liebenswürdige Art und die Begeisterung für Musik hatten im Laufe ihres Lebens zu vielen Kontakten mit namenhaften Künstlern und Prominenten geführt. Nachdem sie ihre eigene Musikkarriere wegen einer rheumatischen Erkrankung beenden musste, hatte sie es sich zum Ziel gesetzt, die hochbegabten, musikalischen Nachwuchstalente zu fördern. Zu diesem Zweck rief sie die »Meisterklasse der Musikschüler« ins Leben. Hier wurden die angehenden Nachwuchskünstler individuell auf höchstem Niveau gefördert. Lady Eleonora Whiteshuttle kümmerte sich hingebungsvoll um ihre Schützlinge - ganz wie eine behütende Mutter.
Henry O´Brien bewunderte ihre Haltung, da sie sich nicht einfach ihrem eigenen Schicksal fügte, sondern durch ihr soziales Engagement voll und ganz für andere da war. Dadurch konnte sie wenigstens einen Teil ihrer Träume umsetzten. Es war für alle spürbar, dass sie die Meisterklasse mit ganzem Herzen leitete.
Am kommenden Samstag sollte es wieder soweit sein. Mit einem Lächeln im Gesicht machte sich O´Brien sofort daran, die Einladung schriftlich zu bestätigen. Wer aus Prominenz und Adel würde diesmal zugegen sein? Er holte seinen Frack aus dem Schrank und vergewisserte sich, dass alles in einem ordnungsgemäßen Zustand war. Seine Vorfreude nahm stündlich zu, und er begann in Gedanken bereits seinen nächsten Artikel zu formulieren.
Doch er sollte noch erfahren, dass diesmal alles ganz anders verlaufen sollte.
Die Villa Mayflower
Die Villa, am südlichen Rand von London gelegen und im modernen Stil der zwanziger Jahre gehalten, eignete sich für diese Veranstaltungen hervorragend. Eine kleine, kurvige Straße führte durch einen Wald hindurch direkt zum Anwesen. Von der Straße aus war nur das schmiedeeiserne Einfahrtsportal mit dem Wappen der Familie erkennbar. Nachdem der Besucher das alte Tor passiert hatte, führte ihn ein großzügiger Kiesweg geradewegs auf das Haus zu. Diese herrschaftliche Atmosphäre wirkte auf jeden Besucher beeindruckend und führte unweigerlich zu einer inneren Ruhe. Alte Lindenbäume mit üppigen Baumkronen begrenzten rechts und links die Auffahrt. Am Ende der Allee erreichte man die Villa, die den Namen »Mayflower« ganz zu Recht erhalten hatte. Ein buntes Blumenmeer umrankte das stattliche Gebäude, welches ganz im Jugendstil erbaut war. Durch die weiße Fassade wirkten die bunten Blüten und stattlichen Bäume besonders elegant und einladend.
Lady Eleonora und ihr damaliger Ehemann hatten sich einst gemeinsam diesen Traum erfüllt und rund um die Villa eine großzügige Parkanlage angelegt. Die nächstgelegene Nachbarschaft war kilometerweit entfernt.
Lady Eleonoras Ex-Mann, Lord Victor W. Timothy, war der Mäzen ihres Projektes und einer der wichtigsten Zuhörer bei den Empfängen im Hause Whiteshuttle. Sein Votum war häufig ausschlaggebend für die weitere Karriere der jungen Musiker.
Die Ehe hatte nicht lange gehalten und es kam schon nach kurzem zu einer Trennung. Die Liebesbeziehung hatte unter keinem guten Stern gestanden, lediglich auf beruflicher Ebene waren sie sich immer einig gewesen. Nach der Trennung verband sie daher weiterhin die Förderung der Meisterklassen.
Die Villa erstreckte sich über drei Etagen und verfügte neben dem üblichen Wohnbereich über insgesamt elf Gästezimmer. Sobald sich die große, weiße Eichentür dem Besucher öffnete, betrat man einen Vorraum, in welchem der Fußboden eine mosaikförmige Anordnung von weißen und schwarzen Kacheln hatte. Eine weiß eingefasste Glastür sorgte zuverlässig dafür, dass der Wind keine Gelegenheit hatte, in das Innere des Hauses einzudringen. Gleiches galt allerdings auch für Licht. Denn hinter der Glastür dominierte ein dunkles Braun. Das gesamte Treppenhaus war komplett holzvertäfelt. Nur ein kunstvoll gestaltetes, buntes Glasdach, welches sich wie ein Innenhof an der Decke des Treppenhauses befand, ließ ein paar gefilterte Sonnenstrahlen in das Gebäude herein.
Im Erdgeschoss des Hauses lagen vor allem die Zimmer, in denen das gesellschaftliche Leben stattfand. Der Salon gehörte zu den wohnlichsten Bereichen. Hier stand ein wunderschöner, schwarz lackierter Konzertflügel. Nebenan lag die Bibliothek mit dem Arbeitszimmer. Auf der anderen Seite des Salons befanden sich das Esszimmer sowie ein Empfangsraum. Von hier aus hatte man einen Blick in den großzügigen Park. Alle Räume waren durch weiße Schiebetüren miteinander verbunden.
In den oberen Etagen waren die Gästezimmer und der Privatbereich von Lady Eleonora untergebracht. Das Personal des Hauses hielt sich überwiegend im Untergeschoss des Gebäudes auf. Hier befanden sich die große Küche und der Aufenthaltsraum der Bediensteten. Die Speisen und Getränke konnten von hier aus über einen handbetriebenen Lastenaufzug in die einzelnen Etagen transportiert werden. Dies war eine überaus nützliche und sehr komfortable Einrichtung.
Am Tag der Einladung herrschte in der Villa ein hektisches Treiben. Die letzten Handgriffe mussten erfolgt sein, bevor die ersten Gäste eintrafen. Lady Eleonora, die mittlerweile genug Routine haben sollte, lief mit einer Liste umher und wirkte ein wenig nervös. Mit leicht angespannter Stimme rief sie nach der Köchin: »Agatha, wollten Sie nicht zum Kaffee Ihren berühmten Apfelkuchen mit Calvados präsentieren?«
Doch sie bekam keine Antwort. Das Haus war einfach zu groß, um von der Bibliothek aus in der Küche jemanden zu erreichen. Schließlich ging sie zum Speisenaufzug und öffnete die Türklappen. Leicht nach vorne gebeugt lauschte sie, ob sie Geräusche aus der Küche hören konnte. Nachdem klar war, dass dort jemand sein musste, rief sie durch den Schacht nach unten: »Agatha, könnten Sie bitte einmal zu mir heraufkommen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss sie die Türklappen des Aufzugs und begab sich in das nächste Zimmer. Hier traf sie auf das Hausmädchen Luise, das gerade dabei war, mit einem Spezialtuch mögliche Staubpartikel vom Flügelkorpus zu beseitigen.
»Luise, mein Kind, seien Sie so gut und achten Sie bitte darauf, dass Sie den Flügel in seinem schönsten Licht erscheinen lassen. Denken Sie immer daran, dass die jungen Pianistinnen die Heroen von morgen sind, und so sollten wir sie auch behandeln!«
»Jawohl, Mylady!«, erwiderte Luise, in deren Augen zu viel Wirbel um die Nachwuchstalente gemacht wurde.
In diesem Moment betrat Agatha das Zimmer. Sie hatte die Kochschürze noch umgebunden und fühlte sich sichtlich in ihrer Arbeit unterbrochen. Mit ihren fünfzig Jahren hatte sie schon in vielen Häusern der feinen Gesellschaft gekocht. Gutes Essen war für sie wichtiger, als alles andere auf der Welt, was man an ihrer Figur unschwer erkennen konnte. »Sie haben gerufen, Mylady?«
»Ja, Agatha, ich dachte, dass Sie uns heute Abend Ihren berühmten Apfelkuchen mit Calvados zum Dessert reichen wollten. Stattdessen lese ich auf Ihrem Menüplan, dass es nun einen Schokoladenkuchen geben soll?«
»Vorgestern haben Sie noch zu mir gesagt, dass ich meinen ganz speziellen Schokoladenkuchen mit den gerösteten Kakaobohnen backen soll!«
»Ach, habe ich das? Was isst Major Timothy nochmal besonders gerne?«
»Schokoladenkuchen mit einer kleinen Priese Chili, Mylady! Sie wissen doch, das erinnert ihn immer an seine Regimentszeit in Indien!«
»Stimmt, ja, seine Zeit in Indien«, erwiderte Lady Eleonora gedankenversunken.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Agatha.
»Doch, doch, ich werde mich nur für einen kleinen Moment zurückziehen. Ich brauche etwas Ruhe.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging langsam die dunkle Holztreppe hinauf.
»Wieso ist es ihr denn so wichtig, was Major Timothy gerne isst?«, fragte Luise, die vom Nebenraum aus die Unterhaltung mitbekommen hatte. »Major Timothy ist ein ganz besonderer Freund von Lady Eleonora. Soweit ich mitbekommen habe, war sie in ihrer Jugend in den Major sehr verliebt. Die beiden hätten sicher gut zusammengepasst. Leider gab es eine zu große Konkurrenz zu ihrer Person - das Vaterland. Das Militär versetzte ihn mit seiner Truppe nach Indien.«
Luise sah Agatha mit großen Augen an und rief: »Das ist ja furchtbar! Aber ich habe es immer gewusst, auch der Adel kann sich für Geld nicht alles kaufen!«
»Geh an deine Arbeit, du dummes Ding! Was hast du schon für eine Ahnung vom Leben! Jetzt steh nicht herum!«, antwortete Agatha mit einem strengen Unterton und begab sich unverzüglich in die Küche. Fest entschlossen, endlich ihren unübertrefflichen Schokoladenkuchen zu backen.
Die Gäste treffen ein
Es war noch deutlich vor 6.00 p.m., als es bereits an der Tür läutete. Luise, die sich mittlerweile standesgemäß mit weißer Haube und kleiner Schürze herausgeputzt hatte, öffnete die Tür. Herein trat Major Harald Adward Timothy. Seine engsten Freunde nannten ihn »Major Hatti«. Schon sein äußeres Erscheinungsbild war über die Maßen beeindruckend. Er hatte eine stattliche Größe und eine gute Figur. Sein unwiderstehlicher Charme kam bei dem weiblichen Geschlecht stets sehr gut an. Für seine siebenundsechzig Jahre war er in der Tat immer noch ein äußerst attraktiver Mann. Die schwarzen Haare waren nur im Schläfenbereich leicht ergraut. Er trug - wie immer - einen schmalen und korrekt geformten Oberlippenbart.
Seine dunkelbraunen Augen musterten das Hausmädchen aufmerksam. »Ich weiß, dass ich zu früh bin, aber ist Lady Eleonora schon für einen ihrer Gäste bereit?«, fragte er Luise, welche leicht irritiert und verlegen antwortete:
»Ja, Sir, Lady Eleonora erwartet mit Freuden die Ankunft ihrer Gäste. Ich werde Herrn Major unverzüglich ihrer Ladyschaft melden. Wenn Sie solange im Salon warten wollen?« Mit diesen Worten begleitete sie den Major quer durch die Halle in den Salon hinein und bat ihn, dort zu warten.
Kurze Zeit später betrat Lady Eleonora den Salon. »Mein lieber Harald, was für eine große Freude, dich zu sehen! Du bist - wie immer - ein wenig zu früh da! Übrigens, Agatha, die gute Seele, hat extra für dich eine Überraschung zum Dessert vorbereitet! Es wird dir gefallen!«
»Eleonora, meine Liebe, du bist und bleibst unverwechselbar! Du wirst mit jedem Tag schöner! Ich bin extra ein wenig früher erschienen, weil ich unbedingt ein paar Minuten ganz alleine mit dir verbringen wollte.« Mit diesen Worten gab er ihr einen galanten Handkuss, den sie mit Freuden entgegennahm.
»Wen, meine Liebste, hast du am heutigen Abend zu deinem Konzert der Meisterklasse eingeladen?«
»Es soll heute ein ganz besonderer Abend werden! Die diesjährigen Absolventinnen sind so außergewöhnlich talentiert, wie ich es noch selten erlebt habe. Aus diesem Grund habe ich eine exquisite Gesellschaft von Musikfreunden eingeladen. Es kommen Dr. Robert Johnson und seine Frau Marry, meine alte Freundin Lady Ludmilla Durbinshort zusammen mit ihrer reizenden Tochter Veronicaund mein Lieblingsneffe Richard, der einzige Neffe, den ich habe. Ach ja, und damit wir auch diesmal wieder ein bisschen Werbung in der Zeitung machen können, habe ich noch seinen Studienfreund, diesen Mr. Henry O´Brieneingeladen. Du weißt doch, das ist der junge, aufmerksame Journalist, der schon mehrfach für mich eine Kolumne im Kulturbeitrag der Times geschrieben hat.«
»Ausgezeichnet. Kommt Victor heute Abend nicht?«, fragte der Major mit einem leicht bissigen Unterton. Insgeheim hoffte er, ihm an diesem Abend nicht über den Weg laufen zu müssen.
»Aber natürlich, Harald, Victor ist doch immer dabei! Hast du es jemals erlebt, dass ich ihn nicht eingeladen hätte?«
Der Major stöhnte leise vor sich hin. »Dabei hatte ich gehofft, dass du mir heute Abend ganz alleine gehörst, nur du und ich!«, erwiderte er mit einer sanften, sonoren Stimme.
»Harald, du bist charmant, wie immer! Du beabsichtigst doch etwa nicht nach so vielen Jahren deine Gewohnheiten zu ändern und versuchst, ein treuer Partner zu werden?«, konterte Lady Eleonora prompt und sah ihn kokett an. »Ich wusste gar nicht, dass es dir so wichtig ist, mit mir allein zu sein! Da hast du heute leider Pech, mein Lieber. Das müssen wir wohl auf einen anderen Tag verschieben!«
»Das Leben kann so grausam sein!«, erwiderte der Major.
Gerade, als er seine Rede fortsetzten wollte, ging die Salontür auf und eine etwas korpulente Frau in Begleitung einer jungen Dame betrat das Zimmer. Es war Lady Ludmilla Durbinshort mit ihrer Tochter Veronica. Lady Eleonora stürmte sogleich hastig auf ihre Freundin zu und umarmte sie herzlich. Beide kannten sich bereits seit ihrer frühesten Jugend und waren wie Schwestern füreinander. Mrs. Veronica hatte sich dagegen zur Begrüßung sogleich in Richtung Major Timothy aufgemacht.
»Schön, dass Ihr da seid!«, sagte Lady Eleonora zu ihren neuen Gästen. »Luise, bringen Sie uns bitte den Aperitif! Wir wollen auf einen schönen Abend anstoßen!«
Das Hausmädchen hatte alle Hände voll zu tun, denn schon im nächsten Moment klingelte es erneut an der Tür. Doktor Johnson und seine Frau betraten den Hauseingang. Mrs. Marry Johnson wirkte nicht besonders glücklich. Sie war kein großer Freund der adeligen Gesellschaft, da es ihr beliebte, frei heraus zu sagen, was sie dachte. Ihr waren die einfachen Patienten aus der Praxis ihres Mannes lieber. Sie hatte immer den Eindruck, dass diese ehrlicher seien, weil sie stets mit der Realität des Lebens konfrontiert waren. Auf ihren Ehemann, Dr. Robert Johnson, war sie allerdings sehr stolz. Er kam aus einfachen Verhältnissen und hatte sich erfolgreich einen guten Namen als Arzt in London gemacht. Durch ihn war sie »Frau Doktor« geworden, was ihr gelegentlich beim Einkaufen in der Stadt hilfreich war.
»Kannst du nicht ein wenig freundlicher dreinblicken?«, fragte Dr. Johnson seine Frau.
Diese reagierte mit einer unüberhörbar gereizten Stimme: »Ich bin nur deinetwegen mitgekommen! Du weißt genau, dass mich diese Abende langweilen. Außerdem sehe ich es nicht gerne, wie du die jungen Mädchen ansiehst! Schämen solltest du dich, in deinem Alter den jungen Dingern nachzustellen!«
Gerade wollte er antworten, als Lady Eleonora schon in der Eingangshalle auftauchte, um beide zu begrüßen. »Schön, dass Ihr gekommen seid! Wir haben euch schon erwartet! Habt Ihr zufällig Richard und Mr. O´Brien gesehen? Sie wollten doch mit euch zusammen herkommen?
»Nein, tut mir leid«, sagte Dr. Johnson »Es gab eine kleine Änderung. Marry und ich kommen direkt von einem Hausbesuch. Ursprünglich wollten wir die beiden im Auto mitnehmen, was aber nicht zu Stande kam. Die beiden werden aber sicher in Kürze hier eintreffen. Ach, Eleonora, kann ich meinen Arztkoffer bei dir in der Bibliothek abstellen? Ich möchte ungern die wertvolle Tasche draußen im Wagen liegen lassen.«
Sie winkte ab. »Kein Problem, Robert, in der Bibliothek ist dein Arztkoffer gut und sicher aufgehoben! Wir wollen uns heute Abend ohnehin lieber mit der Musik als mit Krankheiten beschäftigen, oder? Und sollte eines der jungen Talente einen Schwächeanfall erleiden, kannst du so viel schneller medizinische Hilfe leisten!«
Marry Johnson konnte dieser Art von Unterhaltung nichts abgewinnen und sah deutlich verärgert zu ihrem Mann, als ob sie sagen wollte: Untersteh dich!
Jede weitere Konversation wurde plötzlich unterbrochen, als ein Auto äußerst sportlich auf dem Kiesweg vorfuhr und gleichzeitig mit der Vollbremsung lautstark die Hupe betätigt wurde. Es konnte sich nur um Richard Yorkshire handeln, den Neffen der Gastgeberin.Er hatte stets den Drang, sich in den Mittelpunkt zu spielen. Er kam in Begleitung seines Studienfreundes, Henry O´Brien. Ungestüm und dynamisch sprangen die jungen Männer aus ihrem sportlichen Auto. Mit Mitte zwanzig sah vieles im Leben noch leicht und unbeschwert aus.
»Meine liebste Tante, da sind wir! Voilà, das Beste kommt, zum Schluss!« Voller Freude strahlte Richard seine Tante an.
Mit dem Charakter ihrer verstorbenen Schwester, seiner Mutter, hatte Richard überhaupt nichts gemein. Dennoch war er ein Teil ihrer Familie, und Lady Eleonora freute sich immer, wenn er zu ihr kam. Seinen Narzissmus hatte sie im Laufe der Jahre akzeptiert. Nur wenn er sich zu sehr mit den jungen Pianistinnen beschäftigte, wurde er von ihr in die Schranken gewiesen. Die jungen Musikerinnen waren für sie, wie ihre eigenen Kinder, und ein verantwortungsloses Treiben konnte sie nicht akzeptieren.
Mittlerweile war es deutlich nach 6.00 p.m., und es fehlte immer noch ein wichtiger Gast: Lord Victor Timothy.Er kam grundsätzlich zu spät zu den Empfängen. Schon während seiner Ehe mit Lady Eleonora hatte er diese schreckliche Angewohnheit. Diese Unpünktlichkeit war einer der Gründe gewesen, die zur Trennung der beiden geführt hatten. Sein Äußeres und das dominante Auftreten waren seinem Bruder, dem Major, sehr ähnlich. Ansonsten waren die beiden jedoch sehr unterschiedlich. Als jüngerer Bruder des Majors war Victor eher ein stiller Typ, der nur wenig von sich preisgeben wollte. Am Anfang ihrer Beziehung hatte Lady Eleonora noch geglaubt, mit ihm einen Menschen gefunden zu haben, der sie liebte und mit dem sie gemeinsam durch das Leben würde gehen können. Doch schon bald erkannte sie, dass er komplett andere Ansichten vom Leben hatte. Er war leider ein Mensch, für den der Begriff »Treue« etwas Relatives war.
Als gerade festgestellt worden war, dass Lord Victor Timothy noch fehlte, klingelte es bereits an der Tür. Luise öffnete, und ein sehr elegant gekleideter Mann betrat das Foyer.
Lady Eleonora kam aus dem Salon und begrüßte ihn mit einem leicht gereizten Unterton: »Da bist du ja endlich, Victor! Ich werde mich nie an deine Unpünktlichkeit gewöhnen können!« Doch, als hätte sie plötzlich ihre Fassung wiedergewonnen, setzte sie ihre Rede in einem sanfteren Ton fort: »Schön, dass du doch noch kommen konntest! Es sind schon alle anderen Gäste im Salon versammelt. Wir warten jetzt nur noch auf das Eintreffen der Musikabsolventinnen. Das sollte nicht mehr allzu lange dauern. Ich habe James mit dem Wagen nach London geschickt, um sie direkt von den Proben aus dem Theater abzuholen und hierher zu bringen.«
Lord Victor war nicht gerade gesprächig. Er reagierte auf Vorwurfshaltungen für gewöhnlich sehr empfindlich. Mit einem kurzen und nicht besonders freundlichen Unterton antwortete er: »Na, dann habe ich ja noch nichts verpasst. Es gibt also keinen Grund, sich unnötig aufzuregen!«
»Nein, gewiss nicht. Entschuldige, Victor, ich bin eben ein wenig nervös. Du weißt, was mir diese Abende bedeuten«, erwiderte sie mit einem zurückhaltenden Ton.
Lord Victor streifte in aller Ruhe seine Handschuhe ab, nahm den Umhang von seinen Schultern und gab beides Luise, die es ordnungsgemäß versorgte. Dann begab er sich vor den großen Spiegel im Foyer und überprüfte den akkuraten Sitz seiner Frackfliege und der Manschetten. Nach einer kleinen Korrektur seiner Kleidung, folgte er schließlich Lady Eleonora in den Salon zu den anderen Gästen. Er genoss sichtlich den Moment seines Auftretens, denn auch er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen.
Der Autounfall
Fast zur selben Zeit, exakt um 6.20 p.m., ereignete sich auf der Landstraße in Richtung der Villa Mayflower ein Autounfall. James Frederick, der langjährige Chauffeur von Lady Eleonora, war an diesem Tag kurzfristig gebeten worden, die jungen Musiktalente aus dem Londoner Theater abzuholen und direkt zum Anwesen zu fahren.
Erst in der Woche zuvor hatte James den Jaguar zur Inspektion in die Werkstatt gebracht, und es wurde ihm ein hervorragender Zustand bescheinigt. Die Funktion der Bremsen war tadellos und keine Leitung undicht gewesen. James war überaus glücklich, dass durch seine liebevolle Pflege der Jaguar bislang nicht einen einzigen Tropfen Öl verloren hatte.
Doch plötzlich geschah etwas Unerwartetes. So sehr James auch das Bremspedal betätigte, es hatte keinerlei Auswirkung auf die Geschwindigkeit des Wagens. Im Gegenteil, der Jaguar wurde zusehends schneller und schoss bergab die Straße entlang. James wusste genau, dass er unverzüglich handeln musste, denn in wenigen Metern würde die Landstraße in eine sehr enge Kurve münden, bei der es keinerlei Fahrbahnbegrenzung zum felsigen Abgrund gab. James sah nur einen einzigen Ausweg. Er steuerte - ohne zu zögern - den Wagen in voller Fahrt gegen einen ansteigenden Hang und wurde schließlich durch einen massiven Felsbrocken abgebremst. Er handelte so instinktiv, dass er nicht einmal das panische Aufschreien seiner Begleitung mitbekam. Erst als der Wagen mit eingedrückter Motorhaube zischend vor dem Felsen stand, wurde ihm selbst die Situation langsam bewusst.
Noch unter Schock stehend, drehte er sich zum Rücksitz um und vergewisserte sich, dass die anderen Insassen unverletzt waren: »Geht es Ihnen gut, Ladies? Ist jemand verletzt?«, fragte er mit einer väterlich besorgten Stimme.
»Um Himmels willen, Mr. Frederick, was ist geschehen? Ich glaubte schon, wir stürzen gleich den Abgrund hinab!«, erwiderte eine der jungen Damen.
»Beruhigen Sie sich bitte, Mrs. Olimbrava!«, sagte der Chauffeur, »Ich würde es nie zulassen, dass Ihnen und den anderen jungen Damen etwas zustößt! Lady Eleonora hat mir aufgetragen, mich um Sie zu kümmern, und genau das werde ich auch tun, versprochen! Bitte steigen Sie jetzt aus dem Wagen aus, denn ich muss erst überprüfen, ob die Benzinleitung beschädigt ist. Im Kofferraum befinden sich ein paar Decken, mit denen Sie sich etwas wärmen können. In der Zwischenzeit werde ich das Ausmaß des Schadens inspizieren. Ich befürchte allerdings, dass wir den Wagen nicht mehr fahrtüchtig bekommen.«
Nachdem alle den Gefährt verlassen hatten, ging James bedrückt um das Automobil herum. Nach einer kurzen Überprüfung wurde ihm klar, dass es keinerlei Aussicht auf Erfolg gab, diesen Wagen überhaupt jemals wieder benutzen zu können.
»Meine Damen, ich habe es befürchtet. Der Motorraum ist bei dem Aufprall massiv beschädigt worden. Es gibt nur eine Möglichkeit, ich werde versuchen, ein vorbeifahrendes Auto anzuhalten, damit wir Hilfe bekommen! Bleiben Sie der Straße fern und setzten Sie sich neben den Felsen, dann wird Ihnen nichts geschehen«, sagte er und ging unverzüglich mit einer kleinen Taschenlampe direkt auf die Straße.
Der dicht bewölkte Abendhimmel war extrem dunkel und schluckte jedes bisschen Licht. An diesem Abend schien kein Mensch unterwegs zu sein. Minutenlang blickte James in die totale Dunkelheit und hoffte auf Lichter eines herankommenden Wagens. Dann endlich flackerten in der Ferne zwei kleine Lichtkegel auf, die stetig näher zu kommen schienen. Sie folgten dem kurvigen Verlauf der Straße. Es dauerte nicht lange, und die ersten Motorgeräusche waren wahrnehmbar. James wusste, dass nun endlich Hilfe nahte. Er hob beide Arme und winkte mit seiner Taschenlampe, in der Hoffnung, dass der Fahrer ihn rechtzeitig erkennen und anhalten würde. Und tatsächlich, das herannahende Auto wurde langsamer und bremste genau vor ihm ab.
Die Autoscheibe der Fahrerseite wurde ein Stück heruntergekurbelt. »Kann ich Ihnen helfen, Sir? Haben Sie eine Autopanne?«, fragte ihn der ältere Herr, der hinter dem Steuer saß.
Erleichtert antwortete James: »Ja, Sir, wir hatten einen Autounfall und benötigen dringend Ihre Hilfe. Unser Wagen ist nicht mehr fahrtüchtig. Der Motor hat einen Totalschaden. Und das alles, weil die Bremsen versagt haben. Ich bin immer noch fassungslos. Bis zum Anschlag habe ich das Pedal durchgetreten, aber der Jaguar wollte einfach nicht langsamer werden. Der Fels war meine letzte Rettung, anderenfalls wären wir über die Straße hinausgeschossen und den Abhang hinunterstürzt. Das hätten wir alle nicht überlebt!«, berichtete James in heller Aufregung.
Der ältere Herr erkannte, dass der Chauffeur unter Schock stand. Er schaltete den Motor aus und stieg aus, um sich persönlich davon überzeugen, dass niemand zu Schaden gekommen war. Als er nähertrat, erkannte er in der Dunkelheit die drei jungen Frauen, die zusammengekauert und in Decken gehüllt am Fuße des Hanges saßen. »Guten Abend, meine Damen, geht es Ihnen gut? Ist jemand von Ihnen verletzt?«, fragte er besorgt.
»Danke, Sir, es geht uns den Umständen entsprechend gut. Uns ist zum Glück nichts geschehen. Aber kalt ist es!«, entgegnete Mrs. Olimbrava, die scheinbar am besten mit der Situation klarkam.
Der ältere Herr dachte kurz nach und unterbreitete sodann einen Vorschlag: »Ich würde in dieser Situation empfehlen, dass ich Sie am besten direkt zur Polizei nach London fahre, damit Sie dort den Unfall melden können. Die Beamten können Ihnen dann entsprechend weiterhelfen.«
»Ich danke Ihnen außerordentlich für Ihre Bemühungen, Sir. Wir nehmen Ihr Angebot sehr gerne an«, sagte James unverzüglich.
»Wissen Sie, woran mich defekte Bremsen erinnern? Ich denke dabei immer sofort an Kriminalgeschichten! Haben Sie vielleicht Feinde, Sir?«, scherzte der ältere Herr, ohne zu bemerken, dass James dieses überhaupt nicht amüsant fand.
»Sir, wir sind Ihnen für Ihre Hilfe außerordentlich dankbar, aber Ihre Vermutungen gehen ein bisschen zu weit. Ich bin seit vielen Jahren der Chauffeur von Lady Eleonora Whiteshuttle und es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, dass jemand meiner Herrschaft oder mir schaden möchte! Es kann sich nur um ein Versagen der Autowerkstatt handeln«, antwortete der aufgebrachte Chauffeur.
»Oh, verzeihen Sie, Sir, ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahetreten. Kommen Sie, ich fahre Sie und die jungen Damen jetzt zu Scotland Yard. Von dort können Sie Ihre Herrschaft telefonisch über den Unfall unterrichten, bevor sich alle große Sorgen machen.«
Auf dem Polizeirevier von Scotland Yard
Ein Samstagabend war stets ein Erlebnis auf dem Polizeirevier von Scotland Yard. Öfter, als an den anderen Wochentagen, kam es zu Rangeleien in den Pubs. Schnell hatte der ein oder andere ein Ale zu viel getrunken und sich mit seinem Gegenüber angelegt. Auch die illegalen Boxkämpfe nahmen in den Hafenkneipen stetig zu. Es wurden grundsätzlich Wetten auf die einzelnen Teilnehmer abgeschlossen, und immer hatte irgendjemand das Gefühl, übervorteilt worden zu sein. Daraus ergab sich ein allgemeines Streitpotential, welches schließlich in einer größeren Rauferei endete.
Gegen 7.00 p.m. Uhr öffnete sich die Tür der Polizeizentrale von Scotland Yard und James Frederick betrat mit den drei jungen Damen den Raum. Die Erschöpfung war ihnen unschwer anzusehen. Während sich die jungen Damen sofort einen Sitzplatz suchten, ging der Chauffeur direkt zu einem der Constable und begann, die Situation ausführlich zu schildern. Der Officer machte sich entsprechende Notizen. Im Gegensatz zu Mr. Frederic, hatte er es überhaupt nicht eilig.
»Sie sind also mit dem Automobil von Lady Eleonora Whiteshuttle vom Londoner Theater in Richtung Villa Mayflower unterwegs gewesen, als plötzlich die Bremsen des Wagens versagten?«
»Ja, aber das habe ich doch nun schon mehrfach gesagt, Officer!«, antwortete Mr. Frederic gereizt.
»Immer schön der Reihe nach, Sir. Ich mache hier nur meine Arbeit. So ein Unfallprotokoll erfordert absolute Genauigkeit. Vielleicht werden Sie mir noch einmal dankbar dafür sein! Also, Sie haben, nachdem Sie den Wagen nicht stoppen konnten, ihn schließlich absichtlich - ich wiederhole - absichtlich gegen einen Felsen gefahren, damit der Wagen zum Stehen kommen konnte, ist das richtig?«
»Ja, Officer, und dann …«
»Sind Sie sich ganz sicher, dass Sie nicht ein wenig durch die hübschen, jungen Damen abgelenkt waren und es dadurch zu diesem Unfall kam?«, fragte ihn der Polizist, während er zu den drei jungen Frauen hinübersah, um dann Mr. Frederick direkt ins Gesicht zu schauen.
»Was unterstellen Sie mir? Das ist eine bodenlose Unverschämtheit!«
Der Polizist versuchte, den aufgebrachten Mr. Frederic mit einer Handgeste wieder zu besänftigen. Dann setzte er seine Rede fort: »Wir werden einen Polizeiwagen an den Unfallort schicken und das Auto abschleppen lassen. Unsere Spurensicherung wird dann überprüfen, ob es einen technischen Grund für den Unfall gegeben hat. Das ist alles reine Polizeiroutine, Mr. Frederick. Ihre Herrschaft wird in den nächsten Tagen über das Ergebnis schriftlich informiert. Wir werden Ihnen das Abschleppen natürlich in Rechnung stellen müssen.«
James hatte sich wieder etwas beruhigt und sagte: »Natürlich, Danke, Sir! Wäre es vielleicht möglich, dass wir Lady Eleonora telefonisch Bescheid geben könnten, wo wir uns augenblicklich befinden, denn die jungen Damen werden zu einem Konzert auf einem Empfang in der Villa Mayflower erwartet.«
»Konzert? Ach so ist das! Jetzt wird mir einiges klar! Ist nicht Lady Eleonora Whiteshuttle die Gründerin der berühmten Londoner Musikakademie?«, fragte der Officer, der erst jetzt begriff, mit wem er es zu tun hatte.
»So ist es, Officer. Daher werden Sie verstehen, dass wir möglichst schnell dort erscheinen sollten. Zumindest wäre eine telefonische Benachrichtigung dringend vonnöten!«
»Ja, das hätten Sie doch gleich sagen können! Wir wollen doch nicht, dass sich jemand ernsthaft Sorgen macht! Die junge Dame da vorne kann im Nachbarraum telefonieren. Mein Kollege wird sie zur Telefonkabine begleiten.«
Kurze Zeit später kam ein junger Konstabler und ging direkt auf Mrs. Olimbrava zu, um sie in den Nebenraum zum Fernsprecher zu führen.
Im Salon der Villa
In der Zwischenzeit waren alle geladenen Gäste im Salon versammelt. Luise versorgte die Anwesenden mit einem Aperitif. Die Zeit des Wartens musste angenehm verkürzt werden. Keiner kannte bisher den tatsächlichen Grund der Verspätung. Normalerweise hätte James bereits eine halbe Stunde zuvor mit den jungen Damen erscheinen müssen.
Lady Eleonora gab sich - wie gewohnt - als galante Gastgeberin und begrüßte nochmals ganz offiziell ihre Gäste:
»Ich möchte mich bei Ihnen allen bedanken, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Wir erwarten in wenigen Augenblicken unsere erste Pianistin. Sie heißt Mrs. Janina Olimbrava und studiert seit sechs Jahren in London am hiesigen Konservatorium. Mit ihren siebzehn Jahren ist sie ein wirkliches Ausnahmetalent. Danach werden zwei weitere Teilnehmerinnen folgen.«
Die Gäste bekundeten mit Beifall ihre Zustimmung. Die Erwartungen waren bei allen entsprechend hoch.
Gerade als Lady Eleonora weitersprechen wollte, wurde sie durch ein aufgeregt hereinstürmendes Hausmädchen unterbrochen: »Mylady, Mrs. Olimbrava hat soeben angerufen. Sie und die anderen befinden sich gerade auf dem Polizeirevier von Scotland Yard! Sie hatten einen furchtbaren Autounfall!«
»Was sagen Sie da, Luise, auf dem Polizeirevier? Ein Autounfall? Grund gütiger, was für ein Unglück!«, rief Lady Eleonora aus und drohte in Ohnmacht zu fallen.
Spontan mischte sich Richard Yorkshire ein und bot an, dass er gemeinsam mit Mr. O´Brien die jungen Damen mit seinem Auto abholen könne. Doch er erhielt keine gescheite Antwort, da alle durcheinanderredeten.
»Das ist ja entsetzlich!«, stammelte Lady Durbinshort. »Wie konnte das nur geschehen? James ist doch ein so erfahrener Chauffeur!«
Dann mischte sich Dr. Johnson übereifrig ein: »Mr. Yorkshire, soll ich nicht mitkommen? Vielleicht ist jemand verletzt worden und benötigt dringend ärztliche Hilfe?«
Das allgemeine Durcheinander der aufgebrachten Gäste steigerte sich, bis Lady Eleonora, die ihre Fassung verhältnismäßig schnell wiedergewonnen hatte, alle Beteiligten eindringlich bat, etwas mehr Ordnung walten zu lassen. »Wenn ich um Ruhe bitten dürfte! Wir können froh und dankbar sein, dass alles so glimpflich ausgegangen ist. Jetzt gilt es in erster Linie, darüber nachzudenken, wie wir die jungen Damen schnellstmöglich von der Polizeiwache hierher bekommen, bevor sie ein zu großes Trauma erleiden! Sie werden sicher verstehen, dass ich mir erst ein persönliches Bild von der Verfassung der Pianistinnen machen möchte, bevor ich entscheide, ob wir den Abend in geplanter Weise fortsetzten können.«
Keiner der Gäste wollte der Gastgeberin in dieser Entscheidung vorgreifen, obwohl alle insgeheim auf eine Fortsetzung des Abends hofften.
»Lord Victor, Sie wirken so, als wollten Sie auch etwas dazu anmerken?«, bemerkte Mrs. Veronica, die bisher überwiegend als Beobachterin dem Geschehen beigewohnt hatte.
»Nun, wenn ich meine Meinung dazu sagen darf, so würde ich anraten, hierzubleiben und nicht auf dem Polizeirevier vorstellig zu werden. Falls das Konzert ausfallen sollte, hätten wir immer noch ein exzellentes Abendessen. Agatha hat sich bestimmt sehr viel Mühe gegeben, uns alle kulinarisch zu verwöhnen. Ich werde jedenfalls niemanden abholen, und bislang hat uns auch keiner dazu aufgefordert. Nachher müssten wir der Polizei womöglich noch unliebsame Fragen beantworten. Wer kann schon wissen, wie lange sich die Ermittlungen hinziehen. Ich möchte vor allen Dingen vermeiden, dass mein Name in der morgigen Zeitung steht. Mit einer solchen Geschichte in Verbindung gebracht zu werden, wäre mir extrem unangenehm. Diese Zeitungsschreiber sind nur allzu oft auf eine Sensation aus!«
Plötzlich herrschte eine absolute Stille im Raum. Lord Victors Blicke suchten in der Gesellschaft nach Zustimmung und trafen dabei unweigerlich auf den empörten Blick von Mr. O´Brien.
»Oh, Verzeihung, Mr. O´Brien! Anwesende sind natürlich davon ausgenommen!«, ergänzte er seine Rede mit einem gönnerhaften Nachsatz. Jeder im Raum konnte spüren, dass diese Entschuldigung nicht aus Überzeugung kam.
Mr. O´Brien fühlte sich persönlich angegriffen. Natürlich war ihm bewusst, dass es in seiner Berufsgruppe einige nicht seriöse Kollegen gab, die lediglich eine Sensation verkaufen wollten. Dennoch kratzte die Rede Lord Victor an seiner Berufsehre, und es fiel ihm extrem schwer, nicht ungebührlich zu antworten. Aber diese Aussage erforderte einen Kommentar. Eine derartige Form von Arroganz war für ihn unerträglich: »Aber, wenn es um Werbung und Publicity für Sie geht, dann sind wir Journalisten wieder gut zu gebrauchen! Das ist selektiver Journalismus, Lord Victor! Sie sollten sorgfältiger darauf achten, wen Sie verurteilen!«
»Aber, meine Herren, ich bitte Sie, so bleiben Sie doch vernünftig!«, schaltete sich nun der Major ein. »Ich bin davon überzeugt, dass Sie beide es nicht so meinen.«
Lady Eleonora bemühte sich ebenfalls, mit entsprechenden Worten die Situation zu beruhigen, und schlug vor, sich lieber bei einem Gläschen Champagner die Zeit im Salon zu vertreiben, bis der Abend in seiner ursprünglichen Form fortgesetzt werden könne.
Lord Victor empfand es als angebracht, sich für einige Minuten mit einer guten Zigarre in die Bibliothek zurückzuziehen. Er benötigte jetzt dringend einen Moment für sich. Im selben Augenblick betrat das Hausmädchen mit einem Silbertablett und gut gefüllten Champagnergläsern den Raum.
Dr. Johnson war sofort bei ihr und entnahm dem Tablett gleich zwei Gläser. Dann gesellte er sich unverzüglich zu Mrs. Veronica und übergab ihr eines. Mit charmanten Worten versuchte er sogleich, mit ihr ins Gespräch zu kommen: »Mrs. Veronica,ich freue mich, dass Sie auch wieder dabei sind. Sie wirken immer so frisch und jugendlich! Reizend! Was machen eigentlich Ihre Klavierkünste?«
»Nun, Dr. Johnson, ich bin eifrig dabei, meine musikalischen Fähigkeiten zu verbessern. Natürlich kann ich mich nicht mit den Künsten der Meisterschülerinnen vergleichen, aber ich denke, dass ich durchaus talentiert bin. Möchten Sie vielleicht eine kleine Kostprobe meines Könnens hören? Was ist mit Ihnen, lieber Major? Es wäre mir eine besondere Freude, wenn ich Ihnen den Abend damit etwas verkürzen dürfte.«
Bevor der Major das Wort ergreifen konnte, antwortete bereits Dr. Johnson: »Es wäre, und ich spreche sicher im Namen aller hier versammelten Gäste, eine wahre Freude, wenn Sie uns die Zeit ein wenig musisch versüßen würden! Ich bin davon überzeugt, dass es ein Genuss ist, Sie zu hören!«
Mrs. Johnson stand in der Ecke des Raumes und platze fast vor Wut. Ohne ein Wort zu verlieren, drehte sie sich um und entschwand mit einem hochroten Kopf ebenfalls in die Bibliothek nach nebenan.
Mr. O´Brien mischte sich seinerseits in die Situation ein und ermutigte Mrs. Veronica, sich an den Flügel zu setzten. Bevor sie jedoch mit ihrem Klavierspiel beginnen konnte, wurde sie bereits von einer sichtlich gestressten Lady Eleonora daran gehindert.
»Oh nein, meine Liebe, ich weiß nicht, ob das jetzt eine gute Idee ist. Der Flügel ist gerade für die Pianistinnen gestimmt worden, und ich möchte nicht, dass irgendetwas verändert wird. Noch ein unerwartetes Ereignis könnten meine Nerven jetzt nicht verkraften! Ich bitte Sie inständig, dies zu respektieren.«
»Aber, liebe Tante,«, tönte der junge Mr. Yorkshire zu ihr herüber, »vielleicht möchte die liebreizende Veronica unserem Major doch heute besonders gut gefallen?« Er hatte zuvor die weibliche Gestik von Mrs. Veronica genauestens studiert und es war ihm nicht entgangen, dass diese ein Auge auf den Major geworfen hatte.
Schließlich war der Major unverheiratet, vermögend, äußerst gutaussehnend und von angesehenem gesellschaftlichem Rang. Kurzum, eine rundum gute Partie.
»Richard, du bist unverschämt anmaßend! Es gehört sich nicht, solche Äußerungen gegenüber einer Dame zu tätigen!«, maßregelte Lady Eleonora ihren Neffen.
Bevor dieser darauf reagieren konnte, mischte sich auch schon Lady Durbinshort ein: »Mr. Yorkshire, was erlauben Sie sich, in diesem Ton über meine Tochter zu sprechen? Wollen Sie damit andeuten, dass meine Tochter konkrete Absichten verfolgen würde?« Die vorgegebene Empörung wirkte nicht besonders überzeugend. Lady Durbinshort selbst hätte insgeheim nichts gegen eine Verbindung zwischen ihrer Tochter und dem Major einzuwenden gehabt.
Der Major fühlte sich sichtlich geschmeichelt und versuchte, die Damen mit seinem Charme zu beschwichtigen. Er ging direkt auf den wunderschönen Flügel zu und öffnete ihn. Mit einer ruhigen und angenehm tiefen Stimme richtete er seine Worte direkt an Lady Eleonora: »Elli, meine Liebe, das kann nicht dein Ernst sein. Seit wann sollte sich ein Klavier innerhalb so kurzer Zeit verstimmen oder klanglich verändern können. Gerade du, die du so viel Erfahrung mit diesem Instrument hast, solltest es besser wissen. Schau, ich werde dir beweisen, dass gar nichts geschehen kann!«