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Lou ist in ihrem Job unglücklich. Als sie durch Zufall in der Zeitung liest, dass der kleine Pub in Busby eine neue Kellnerin sucht, packt sie ihre Koffer und fährt in das beschauliche Dorf. Claire und Fergus, die Besitzer des „Old Horseshoe“, schließt Lou sofort in ihr Herz und nimmt das Angebot an, bei ihnen zu wohnen. Eines Tages steht dann Sean, der Sohn der beiden, vor der Tür. Bislang hatte er immer ausgeschlossen, in dem Pub zu arbeiten. Nach dem plötzlichen Ende seiner Beziehung möchte er jedoch eine Zeit lang in Irland bleiben, auch um seine herzkranke Mutter zu entlasten. Mit seiner wankelmütigen Art macht Sean es Lou nicht leicht, aber irgendetwas fasziniert sie an dem launischen Koch. Und dann ist da auch noch Gary, der attraktive Tiertrainer.
Als wäre das nicht genug Durcheinander, tauchen die Schatten der Vergangenheit auch in Lous neuem Leben auf und bringen alles in Gefahr ...
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Seitenzahl: 425
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Lou ist in ihrem Job unglücklich. Als sie durch Zufall in der Zeitung liest, dass der kleine Pub in Busby eine neue Kellnerin sucht, packt sie ihre Koffer und fährt in das beschauliche Dorf. Claire und Fergus, die Besitzer des »Old Horseshoe«, schließt Lou sofort in ihr Herz und nimmt das Angebot an, bei ihnen zu wohnen. Eines Tages steht dann Sean, der Sohn der beiden, vor der Tür. Bislang hatte er immer ausgeschlossen, in dem Pub zu arbeiten. Nach dem plötzlichen Ende seiner Beziehung möchte er jedoch eine Zeit lang in Irland bleiben, auch um seine herzkranke Mutter zu entlasten. Mit seiner wankelmütigen Art macht Sean es Lou nicht leicht, aber irgendetwas fasziniert sie an dem launischen Koch. Und dann ist da auch noch Gary, der attraktive Tiertrainer.
Als wäre das nicht genug Durcheinander, tauchen die Schatten der Vergangenheit auch in Lous neuem Leben auf und bringen alles in Gefahr …
Anne Labus, Jahrgang 1957, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Udo Weinbörner, in der Nähe von Bonn. Nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau arbeitete sie unter anderem als selbständige Fitness- und Pilatestrainerin. Die Leidenschaft für das Reisen hat sie an ihren Sohn vererbt, der auf Hawaii seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Die Autorin entspannt sich beim Kochen, liebt Bergtouren und lange Strandspaziergänge. Inspirationen für ihre Romane findet sie in Irland und Italien oder auch auf Spiekeroog.
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Anne Labus
Der kleine Pub zum neuen Glück
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Kapitel 24
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Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Epilog — Ein Jahr später
Rindfleisch in Guinness (für 4 Personen) — Ein typisches Gericht, das man in irischen Pubs serviert
Liebe Leserinnen und Leser
Impressum
Lust auf more?
Sie kühlte die pochende Schläfe an der Fensterscheibe. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf ihre Atmung. Durch die Nase ein, langsam über den Mund wieder aus. Wenn sie Glück hatte, würde sich der Kopfschmerz nicht zu einer Migräne ausweiten.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Lou zuckte zusammen und blinzelte ihr Gegenüber an. Was geht Sie das an?, lag ihr auf der Zunge. Doch als sie das freundliche Gesicht des alten Mannes sah, lächelte sie gequält. »Der übliche Feierabend-Kopfschmerz nach acht Stunden Computerjob«, antwortete sie leise.
»Sie sollten an der nächsten Haltestelle aussteigen und im Herbert-Park spazieren gehen. Nichts ist heilsamer als eine Runde in der Natur nach einem anstrengenden Tag im Büro.« Er deutete aus dem Fenster. »Seit wann leben Sie in Dublin?«
Lou schüttelte verwundert den Kopf. »Hört man mir denn immer noch an, dass ich nicht von hier bin?«
»Aye. Ich tippe auf Galway.« Ihr Gesprächspartner erhob sich erstaunlich schnell für sein Alter. »Kommen Sie. Leisten Sie einem einsamen alten Kauz Gesellschaft bei seinem Spaziergang.«
Etwas in seiner Stimme weckte eine Erinnerung in ihr. Bilder aus der Kindheit tauchten wie aus dem Nebel vor ihr auf.
»Ich begleite Sie gern«, hörte sie sich sagen und folgte dem freundlichen Mann zum Ausstieg.
Der Bus stoppte, eine Gruppe junger Leute drängelte sich lärmend an ihr vorbei ins Freie und riss sie mit. Unschlüssig blieb sie im Parkeingang stehen, hielt Ausschau nach ihrem netten Sitznachbarn. Dann schlenderte sie einem Impuls folgend Richtung See.
Lou entdeckte den alten Herrn auf einer Parkbank, umgeben von einer Schar schnatternder Enten. Lachend hielt er eine braune Papiertüte hoch. »Ich fürchte, Sie müssen die Runde ohne mich drehen. Meine Freunde gehen vor.« Er winkte ihr zu und vertiefte sich wieder in die Fütterung der gefiederten Wesen.
Jetzt blieb ihr gar nichts anderes übrig, als allein spazieren zu gehen. Unschlüssig schaute sich Lou um. Obwohl sie schon seit drei Jahren in Dublin lebte und täglich mit dem Bus durch Ballsbridge kam, war ihr der Herbert-Park bisher nie aufgefallen. Nach dem stressigen Job im Callcenter, wo sie die Bestellungen für ein großes Versandhaus entgegennahm, schaffte sie es gerade noch, mit ihrer Mitbewohnerin Darcy eine Runde um die Häuser zu drehen. Viel zu oft endete der Abend in einem der unzähligen Pubs in Temple Bar.
Lou riss sich vom Anblick des alten Mannes los, der die Enten mit Brotresten fütterte. »Bis später«, rief sie ihm zu, doch er schien nur noch Augen für seine Tiere zu haben.
»Na, meine Schöne«, lockte er eine rotbraune Wildente an und warf ihr ein paar Krumen zu.
»Dann eben nicht«, knurrte Lou und marschierte mit großen Schritten am Ententeich vorbei Richtung Hauptweg. Je weiter sie in das Grün eintauchte, desto mehr entspannte sie sich. Sie blendete das Kindergeschrei aus, das vom Spielplatz herüberschallte, ignorierte die knutschenden Liebespaare auf der Rasenfläche. Allmählich ließen ihre Kopfschmerzen nach, ihr Blick weitete sich und sie nahm die Schönheit um sich wahr.
Unter einem rosa Blütenhimmel wanderte sie durch eine Kirschbaumallee. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie die freie Bank zwischen den Bäumen entdeckte. Über die gesamte Sitzfläche ausgebreitet lagen Zeitungsseiten. Offenbar hatte sich hier jemand einen Schlafplatz eingerichtet. Lou schob die Seiten achtlos zusammen und setzte sich auf die frei gewordene Fläche.
Mit der Zeitung in der Hand schaute sie sich nach einem Papierkorb um. Doch dann wurde ihr Blick von einer rot umrandeten Annonce angezogen. Es war eine Stellenanzeige. Sie las die wenigen Worte, legte den Kopf in den Nacken, als würde die Antwort auf ihre Frage dort oben zwischen den rosa Blüten stehen.
Fünf Minuten später faltete sie das Anzeigenblatt ordentlich zusammen, verstaute es in ihrem Rucksack und eilte zum Ausgang des Parks. Am Teich hielt sie vergeblich Ausschau nach dem freundlichen alten Herrn. Nichts erinnerte mehr daran, dass er dort auf der Bank gesessen und Enten gefüttert hatte.
»Du willst was?« Darcy flitzte nur mit Slip und BH bekleidet an Lou vorbei ins Bad. »Komm rein. Ich muss mich für die Party zurechtmachen«, rief sie und hielt die Tür auf.
Nachdenklich kauerte sich Lou auf den Rand der Badewanne und sah ihrer Freundin beim Schminken zu. »Ich bin mir ja selbst noch nicht ganz sicher. Ich weiß nur, dass ich so nicht weitermachen kann. Acht Stunden nervende Kunden am Telefon, acht Stunden stures Starren auf den Bildschirm, das halte ich nicht länger aus«, stöhnte sie.
Darcy tuschte ihre Wimpern. »Einen Job im Pub findest du in Dublin an jeder Ecke. Was willst du in so einem kleinen Kaff?«
»Ich weiß doch noch gar nicht, ob die mich dort überhaupt wollen«, entgegnete Lou, schon weniger überzeugt von ihrem Vorhaben. »Es wäre auch nur für die Sommermonate. Danach komme ich zurück und suche mir hier etwas Neues.«
»Zeig mir mal die Anzeige.« Die Freundin riss ihr die Zeitung aus der Hand und las. »Unterkunft und Verpflegung inklusive. Oje. Wahrscheinlich darfst du bei den Wirtsleuten auf dem Sofa übernachten und bekommst die Reste aus der Küche zu essen.«
Lou versetzte ihrer Freundin einen sanften Stoß in die Rippen. »Du hast gut reden. Deine Eltern haben dir diese noble Bude am Phoenix Park gekauft. Ihnen ist egal, wie lange du für das Jurastudium brauchst. Hauptsache, Daddys Liebling übernimmt irgendwann die Anwaltskanzlei.«
»Erinnere mich nicht daran!«, zischte Darcy. »Die machen ganz schön Druck. Erst gestern hat Mom gedroht, meinen Unterhalt zu kürzen, falls ich mich nicht bald zum Examen anmelde.« Sie schüttelte ihre braune Mähne und lächelte verschmitzt. »Wenigstens versteht Daddy mich. Schließlich hat er sein Studium auch nicht in der Regelzeit absolviert.«
In Lous Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Längst stand ihr Entschluss fest, die Stelle, falls man sie ihr anbot, um jeden Preis anzunehmen. Sie sah sich schon vor der Arbeit am Strand spazieren und an ihren freien Tagen durch die Killarney Mountains wandern. Das bisschen Kellnern im Pub würde die reinste Erholung im Vergleich zu ihrem stressigen Büroalltag sein.
»Hörst du mir überhaupt noch zu?« Darcy tippte mit dem Zeigefinger an Lous Stirn. »Ich habe gefragt, ob du mich auf die Party begleitest. Allerdings …« Die Freundin musterte sie mit schief gelegtem Kopf. »So kannst du nicht mitkommen. Da bedarf es einiger Restaurierungsarbeiten.«
»Vergiss es«, winkte Lou sofort ab. »Ich stehe nicht auf pubertierende Jurastudenten, die mir ständig auf den Busen starren.« Zur Bekräftigung verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Außerdem will ich gleich in Ruhe telefonieren. Vielleicht ist der Job in Busby noch zu haben.«
Darcy zuckte mit den Schultern und grinste. »Also wenn ich ein Kerl wäre, würde ich dir auch auf den Busen starren. Ich würde gern mit dir tauschen.« Sie blickte an ihrem Körper hinunter und stöhnte. »Deine Kurven hätte ich gern.«
Lou klopfte ihr mit der flachen Hand auf den Po. »Ich will aber nicht auf meine Figur reduziert werden. Ein Mann soll sich in meine inneren Werte verlieben.«
»Na, dann kaufst du dir für den Job im Pub besser einen Kaftan«, sagte Darcy lachend und verschwand in ihr Schlafzimmer. Durch die geschlossene Tür rief sie: »So viel steht fest: Nach deiner Auszeit in Busby ziehst du wieder bei mir ein. Ich halte das Zimmer für dich frei.«
»Wo sollte ich auch sonst so billig unterkommen?«, entgegnete Lou leise und ging in die Küche.
Wie üblich fiel die Wohnungstür hinter ihrer Freundin mit einem lauten Knall ins Schloss. Lou setzte sich in die Sitzecke im Wohnzimmer, legte Stift und Block vor sich auf den Glastisch und griff zum Handy. Mit klopfendem Herzen tippte sie die Nummer ein. Nach dem zehnten Freizeichen wollte sie schon enttäuscht auflegen, da erklang eine warme Männerstimme. »›Old Horseshoe‹, Fergus am Apparat. Wer stört?« Im Hintergrund ertönte lautes Gelächter. Lou schluckte.
»Entschuldigung, da muss ich mich wohl verwählt haben«, sagte sie.
»Der Witz war klasse, Angus. Den muss ich mir merken«, hörte sie ihren Gesprächspartner sagen. »Wieso verwählt?« Der Mann schien die reinste Frohnatur zu sein.
»Mein Name ist Lou, Louise Gallagher, ich rufe wegen Ihrer Stellenanzeige an«, spulte sie hastig herunter. »Ist der Job noch zu haben?«
Wieder lachte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Claire, du kannst mir schon mal den Zehner rauslegen. Ich habe die Wette gewonnen.« Dann rauschte es. Offenbar zapfte sich der Witzbold erst mal ein Bier.
»Hier spricht Claire O’Sullivan, ich bin die Wirtin«, hörte sie jetzt eine resolute Frauenstimme. »Wie alt sind Sie?«
Lou stutzte: »Fast dreißig. Wieso ist das wichtig für die Arbeit?«
»Das passt«, war die knappe Antwort. »Und haben Sie Erfahrung in der Gastronomie?«
Endlich mal eine vernünftige Frage. Lou nahm das Handy vor ihr Gesicht und lächelte es an, als stände die Frau vor ihr. »Meine Großeltern hatten einen Pub in Galway. Da habe ich …« Weiter kam sie nicht.
»Großartig«, sagte Claire begeistert. »Wann können Sie anfangen?«
Zwei Stunden später kehrte Darcy von der Party zurück. Lou stand vor dem bodentiefen Fenster und starrte in den dunklen Park.
»Frag mich besser nicht, wie es war«, stöhnte die Freundin mit tränenerstickter Stimme. »Dieser Schuft knutscht vor meinen Augen mit einer anderen.« Sie donnerte ihre hochhackigen Pumps gegen das Sideboard und kauerte sich in die Sofaecke. »Sag jetzt nicht, dass du mich auch verlässt.«
Rasch löste sich Lou vom Fenster und setzte sich neben sie. »Sei froh, dass du den Typ los bist«, versuchte sie, die Freundin zu beruhigen. »Der wollte über dich doch nur an einen Job in der Kanzlei deines Vaters kommen.«
Darcy schnäuzte sich geräuschvoll die Nase. »Wahrscheinlich hast du recht. Derrick dachte sowieso nur an seine Karriere.«
Lou legte ihr einen Arm um die Schulter. »Du weißt, wie viel mir unsere Freundschaft bedeutet. Ohne dich hätte ich nie den Mut gehabt, in Dublin neu anzufangen.«
»Was willst du mir damit sagen?«, unterbrach Darcy sie.
Lou drückte die Freundin kurz an sich, dann schaute sie ihr in die Augen. »Sobald ich aus meinem Arbeitsvertrag raus bin, reise ich nach Busby.« Ihr Herz stolperte.
»Aber du kommst doch wieder?« Darcy schniefte theatralisch.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es noch nicht«, entgegnete Lou.
In der Nacht wurde Lou von Alpträumen geplagt.
»Verdammte Schlampe«, hörte sie ihren Vater toben.
Sie krümmte sich im Bett zusammen und presste sich die Faust vor den Mund.
Der spitze Schrei ihrer Mutter, die rücklings die Treppe hinunterstürzte. Lou wimmerte.
Schweißgebadet schreckte sie auf und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Mit zitternden Fingern tastete sie nach der Nachttischlampe und knipste sie an. Erst allmählich beruhigte sich ihr stolperndes Herz. Sie zwang sich, aufzustehen. Barfuß tapste sie in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Ein Blick auf die Küchenuhr verriet ihr, dass es erst vier Uhr morgens war.
Nebenan lachte Darcy im Traum. Wie leicht ihre Freundin doch das Leben nahm. Eben noch hatte sie bittere Tränen über den untreuen Freund vergossen, und jetzt träumte sie garantiert schon wieder von einem neuen Mann. So war sie, ihre Darcy. Ihr Sandkastenkumpel aus Kindertagen. Der einzige Mensch, der Kontakt zu ihr gesucht hatte, nachdem sie vom vornehmen Vorstadtviertel in die schäbige Arbeitersiedlung gezogen war. Darcy holte sie vor drei Jahren nach Dublin, half ihr bei der Arbeitssuche und bestärkte sie darin, mit ihrer Vergangenheit abzuschließen.
Gähnend schlich Lou zurück in ihr Zimmer und kroch unter die Decke. In zwei Stunden würde sie sich dem Alltag wieder stellen. Ihr graute vor dem Gespräch mit Tom Brouwer. Seit sie den Abteilungsleiter beim Betriebsfest auf der Tanzfläche angeschrien hatte, er solle seine Finger von ihrem Hintern lassen, überhäufte er sie mit Arbeit. Kein Tag verging, an dem er ihr nicht einen Sonderauftrag verpasste. Damit war jetzt endgültig Schluss! Sie würde heute kündigen. Mit diesem Gedanken döste sie ein.
Als der Wecker sie um sechs weckte, tapste sie ins Bad und hörte in der Küche die Espressomaschine brummen. Darcy war tatsächlich vor ihr aufgestanden. Sicher wollte sie noch einmal mit ihr über den gestrigen Abend reden. Doch das unüberhörbare Knallen der Wohnungstür verriet Lou, dass die Freundin wohl andere Pläne hatte.
An ihrer Teetasse klebte ein gelber Zettel. »Bin schon zur Uni. Treffe den neuen Prof. Kuss, Darcy.«
Lou schmunzelte. Garantiert würde die angehende Anwältin nicht nur über ihre Facharbeit reden. Darcy beherrschte die Kunst des Flirtens perfekt. Mit ihrer Art, die dunkle Mähne in den Nacken zu werfen und sich dabei mit der Zunge über die Lippen zu fahren, sendete sie eindeutige Signale. Lou hatte sie nicht, diese Leichtigkeit im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Stets wurden ihre Beziehungen von den Schatten der Vergangenheit belastet. Sobald ein Mann sie bat, mit ihr zusammenzuziehen, trennte sie sich von ihm.
Lou riss sich aus ihren Gedanken und konzentrierte sich auf das bevorstehende Gespräch. In letzter Minute erreichte sie den Bus nach Donnybrook. Sie quetschte sich an Teenagern vorbei, die den Gang mit ihren Schultaschen blockierten, und ergatterte einen Sitzplatz in der letzten Reihe. Eingeklemmt zwischen zwei Studenten, die den Blick kaum von ihren Laptops hoben, kramte sie eine Kladde aus dem Rucksack. Wie angenehm für ihre Augen, einmal nicht auf den Bildschirm zu starren. Blaue Schrift auf blassweißem Papier. Eine liebgewordene Angewohnheit, die sie von ihrem Großvater übernommen hatte. Sie überflog die wenigen Zeilen, die sie am Abend geschrieben hatte, und lächelte versonnen. Schon bald würde sie ein neues Kapitel in ihrem Tagebuch aufschlagen.
An der Haltestelle »Herbert-Park« hielt Lou nach dem alten Mann Ausschau. Die Bank am Ententeich war leer. Sicher würde er am Nachmittag zu seinen gefiederten Freunden zurückkehren. Vielleicht würde sie ihm dann Gesellschaft leisten und ihm von ihren Plänen erzählen.
Mit Bauchgrummeln betrat Lou das alte Fabrikgebäude in der Merrion Street. Im loftartigen Großraumbüro der ehemaligen Fischfabrik herrschte bereits geschäftiges Treiben. Die Kollegen der Nachtschicht hockten mit geröteten Augen vor den Bildschirmen und gaben die telefonischen Bestellungen der Kunden ein.
Lou strich ihre glatten blonden Haare hinter die Ohren und stellte sich vor, sie wäre Darcy. Wie würde ihre Freundin die bevorstehende Situation meistern? Lou drückte die Brust raus und marschierte schnurstracks auf das Büro des Abteilungsleiters zu.
Kelly, die Chefsekretärin, musterte sie über den Rand ihrer Brille. »Hast du einen Termin?«
»Neue Frisur? Steht dir wirklich gut«, sagte Lou.
Der Vorzimmerdrachen, wie Kelly Doolin von allen nur genannt wurde, verzog das Gesicht zu einem hämischen Grinsen. »Netter Versuch, Schätzchen, das zieht bei mir nicht. Außerdem ist der Boss noch nicht da. Der hat einen Außentermin.«
Lou wollte sich schon enttäuscht zu ihrem Arbeitsplatz verkrümeln, da hörte sie Toms derbes Lachen hinter sich. »Louise, meine Liebe. Hast du etwa Sehnsucht nach mir?« Er schob sich so nah an ihr vorbei, dass ihr sein Aftershave in der Nase stach. Aufdringlich, genau wie sein Träger.
Warum sollte sie sich seine Schwäche nicht zunutze machen? Lou öffnete unauffällig einen weiteren Knopf an ihrer Bluse und drückte ihr Kreuz durch. »Darf ich dich unter vier Augen sprechen?«, säuselte sie und klimperte mit den Wimpern.
Sein Blick schien sich förmlich an ihrem Busen festzusaugen. »Schöner kann ein Arbeitstag nicht beginnen«, entgegnete er heiser und hielt ihr die Tür auf.
Als sie an ihm vorbeistolzierte, streifte seine Hand ihren Po. Sie sog scharf die Luft ein, suchte nach den passenden Worten. Doch dann sprudelte es spontan aus ihr heraus. »Es handelt sich um einen familiären Notfall. So schwer es mir fällt, meinen Arbeitsplatz und vor allem die reizenden Kollegen« – Lou schenkte ihm ein bedeutungsvolles Lächeln – »im Stich zu lassen – ich muss meiner Tante und meinem Onkel in Busby eine Weile lang zur Seite stehen. Deshalb würde ich gern vorzeitig aus meinem Arbeitsvertrag aussteigen.«
Tom Brouwers Hand berührte ihren Rücken. »Die Familie geht natürlich vor. Das verstehe ich«, raunte er. »Aber du kommst doch sicher zurück?«
Lou zwang sich zu einem zuckersüßen Lächeln. »Sobald mich meine Familie wieder entbehren kann, melde ich mich bei dir.«
Bevor er sie an sich ziehen konnte, drehte sie sich um und eilte zur Tür. Im Hinausgehen warf sie ihm einen koketten Blick über die Schulter zu. »Du bist ein Schatz«, rief sie so laut, dass es sicher nicht nur seine Sekretärin hörte. »Ich räume jetzt also meinen Arbeitsplatz.« Zu Kelly gewandt, meinte sie lächelnd: »Tom bittet dich, meinen Monatsscheck heute schon auszustellen und meine Entlassungspapiere fertig zu machen«, und stolzierte schnurstracks zu ihrem Computer.
Jenny, die neben ihr arbeitete, nahm das Headset vom Kopf. »Schade, dass du uns verlässt. Unsere gemeinsamen Mittagspausen werden mir fehlen.« Leise fügte sie hinzu: »Mir kannst du es ruhig sagen, du kommst nicht zurück?«
Lou legte den Zeigefinger auf ihre geschlossenen Lippen. Dann umarmte sie ihre Arbeitskollegin. »Du wirst mir auch fehlen, Jenny. Du bist die Einzige in diesem Laden, die ich wirklich vermissen werde. Lass dich nicht unterkriegen.« Zum Abschied verteilte sie ihren Schokoladenvorrat unter den Kollegen. Mit dem festen Vorsatz, nie wieder einen Fuß in diese Tretmühle zu setzen, verließ sie eine halbe Stunde später das Callcenter.
Sie traf Darcy in »Bewley’s Kaffeesalon« in der Grafton Street. Die Freundin saß an einem der begehrten Tische am Fenster. »Wie hast du ihn dazu gebracht, dich heute schon gehen zu lassen?«, fragte sie zur Begrüßung. »Deinetwegen habe ich extra meine Verabredung mit Richard verschoben.«
Lou deutete auf die Einkaufstüten, die sich neben dem Stuhl der Freundin stapelten. »Dass wir uns hier treffen, hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass du shoppen warst, statt im Hörsaal zu sitzen?«
Achselzuckend klopfte Darcy auf den freien Stuhl neben sich. »Neuer Mann, neue Klamotten. Du kennst mich doch.« Sie lachte. »Aber nun zu dir. Verrätst du mir endlich, welchen Trick du angewandt hast, um den alten Grapscher rumzukriegen?«
Vom Nachbartisch warfen ihnen zwei elegant gekleidete Damen entsetzte Blicke zu. Lou rückte näher an ihre Freundin heran. Hinter vorgehaltener Hand fasste sie das Gespräch mit dem Chef zusammen.
Darcy kicherte. »Das hätte ich dir nicht zugetraut. Wo du doch sonst jedem Kerl auf die Finger haust, der mit seiner Hand nur in die Nähe deiner Kurven kommt.« Mit einer koketten Kopfbewegung winkte sie den Kellner heran und bestellte zwei Gläser Sekt. »Das muss gefeiert werden. Und anschließend kleiden wir dich für dein zukünftiges Landleben ein.«
Wie betäubt lief Lou neben Darcy die Grafton Street entlang. Sie bahnten sich ihren Weg durch Massen von Touristen, kauflustigen Hausfrauen und Horden von Teenagern. An jeder Ecke spielte ein Straßenmusiker. »Lass uns lieber zum Liberty Market gehen. In der Meth Street ist um diese Uhrzeit weniger los«, schlug Lou vor.
Doch Darcy steuerte zielbewusst einen der hippen Designerläden im Shoppingcenter an. »Kommt gar nicht infrage, dass meine beste Freundin in Billigjeans herumläuft.« Es war sinnlos, sich mit ihr auf eine Diskussion einzulassen, wenn sie dieses Funkeln in den Augen hatte.
»Wirklich nur eine Jeans. Mehr kann ich mir bei den Preisen nicht leisten«, sagte Lou.
Darcy winkte ab. »Entspann dich, Süße. Zu irgendwas muss meine goldene Kreditkarte ja gut sein.« Mit sanftem Druck schob sie Lou vor sich her in die Boutique. »Setz dich dort in den Sessel und überlass mir die Auswahl.«
Lou entschied sich dagegen, ein knallrotes Sommerkleid mitzunehmen, das sie nach Drängen der Freundin anprobiert hatte. »Für Busby brauche ich nur Jeans und T-Shirts«, wehrte sie ab. »Ich bin doch nicht auf Männerfang.«
»Unsinn!« Darcy knuffte sie kumpelhaft in die Seite. »So ein kleiner Sommerflirt wird dir guttun. Du musst den Kerl ja nicht gleich heiraten.«
Aus dem Augenwinkel beobachtete Lou, wie die Freundin das Kleid an der Kasse unter die Jeans schob.
»Wenn du mir das sündhaft teure Teil unbedingt schenken willst, bezahle ich den Rest. Keine Widerrede«, knurrte sie und drängelte sich an Darcy vorbei. Schweren Herzens zückte sie die Kreditkarte. Ihre eiserne Reserve würde jetzt erheblich schrumpfen, aber das war ihr egal. Sie wollte Darcys Großzügigkeit auf keinen Fall ausnutzen.
Vor dem Geschäft umarmte Lou die Freundin. »Sag mir, dass ich die richtige Entscheidung treffe! Noch kann ich den Job in Busby absagen und mir hier was Neues suchen.«
Darcy tätschelte ihr den Rücken und schob sie ein Stück von sich. »Werd jetzt bloß nicht rührselig. Sonst heule ich gleich los. Wenn ich heute Abend nicht schon mit Richard verabredet wäre, würde ich mich zu Hause vor Kummer betrinken.« Sie schniefte und lachte im selben Augenblick. »Diese Anzeige hat dich gesucht. Du musst nach Busby.«
»Meinst du das ernst?« Lou schnappte nach Luft. »Und du bist nicht sauer, weil ich dich im Stich lasse?«
Darcy verdrehte die Augen. »Du kannst mich gar nicht verlassen. Schließlich sind wir Blutsschwestern. Die bleiben sich auch über die Entfernung treu.« Verstohlen warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr, dann schnappte sie sich die prall gefüllten Einkaufstaschen. »In einer Stunde holt mich Richard ab. Warum bestellst du dir nicht eine Pizza bei Luigi und machst es dir vor dem Fernseher gemütlich, bis ich zurück bin?«
Lou war mit ihren Gedanken längst auf der Reise nach Busby. »Ja, warum eigentlich nicht?«
Doch statt vor dem riesigen Flachbildschirm zu sitzen, legte sie sich mit ihrem Laptop auf die Couch und schaute sich im Internet ihren neuen Arbeitsplatz an. Leider hatte der »Old Horseshoe« keine eigene Homepage. Aber bei Google Maps konnte sie sich den Pub wenigstens von außen ansehen. Ein gemütliches altes Haus mit Blumenampeln vor den Fenstern und rustikalen Holztischen und -bänken vor der Tür.
Lou stellte sich vor, wie sie von Tisch zu Tisch eilte und Bestellungen entgegennahm. Sie sah sich schon mit den kauzigen alten Dorfbewohnern plaudern und rothaarigen Kindern Limonade bringen. »Träum weiter, Louise Gallagher«, schalt sie sich laut. »Den Ort, den du dir vorstellst, gibt es nur in kitschigen Filmen.«
»Ich will keine Abschiedsparty«, murrte Lou beim Frühstück. »Du kannst den Tisch im ›Sugar Club‹ canceln.« Nachdenklich nippte sie an ihrem Orangensaft.
Darcy stocherte in ihrem Rührei. »Schade. Ich hatte mich schon so darauf gefreut.« Beleidigt zog sie einen Schmollmund.
»Na gut«, lenkte Lou schnell ein. »Aber spätestens um Mitternacht verabschiede ich mich ins Bett. Mein Zug geht morgen um neun. Du weißt, wie mies ich drauf bin, wenn ich nicht wenigstens sechs Stunden geschlafen habe.« Zärtlich wuschelte sie der Freundin durch die braunen Locken. »Und jetzt ab mit dir zur Uni. Seinen Prof lässt man nicht warten.«
Darcys Miene hellte sich wieder auf. Mit verträumten Augen schaute sie aus dem Fenster. »Richard ist so ganz anders als meine bisherigen Freunde. Ein echter Gentleman. Der wollte nicht gleich nach unserem ersten Date mit mir in die Kiste.«
»Kein Wunder.« Lou lachte. »Dein Professor ist ja auch ein richtiger Mann. Der steht mit beiden Beinen mitten im Leben.« Bei dem Gedanken, ihre beste Freundin bald nur noch per Skype zu sehen, zog sich alles in ihr zusammen. »Warum besuchst du mich in den Semesterferien nicht in Busby? So wird uns die Zeit bis zu meiner Rückkehr nicht so lang vorkommen«, schlug sie spontan vor.
Darcy nickte nur und tippte weiter in ihr Smartphone. Dann sprang sie auf und eilte in den Flur. »Darüber reden wir heute Abend«, rief sie und verschwand im Bad.
Kopfschüttelnd räumte Lou die Spülmaschine ein und trank den Rest Tee aus ihrer Tasse. Nachdem sich Darcy in eine Duftwolke gehüllt von ihr verabschiedet hatte, prüfte Lou zum wiederholten Mal den Inhalt ihres Koffers. Nur nach längerem Zureden der Freundin hatte sie am Vorabend das neue Kleid eingepackt und dazu die hochhackigen Sandaletten. Für ihre Arbeit im Pub hatte sie vorsorglich zwei Paar Sneakers dabei. Die wetterfeste Wanderjacke und ihre Wanderstiefel plante sie, bei der Fahrt anzuziehen. Ihren Laptop würde sie zum Reiseproviant in den Rucksack stecken.
Alles war bereit für ihren Start in die Auszeit. Lous Nacken kribbelte bei der Vorstellung, schon bald in einem fremden Bett zu schlafen, ohne die Freundin im Zimmer neben sich. Bevor sich Panik in ihr breitmachte, schnappte sie sich ihre leichte Sommerjacke und das Handy und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Ein letztes Mal wollte sie zu ihren Lieblingsplätzen spazieren, den Tag verbummeln.
Sie ließ sich durch die Gassen in Temple Bar treiben, vorbei an den unzähligen Pubs und Szenelokalen.
»Nice Day«, rief sie Sam, dem rotgesichtigen Inhaber vom Murphy’s, zu.
Fluchend fegte er die Kippen vor dem Pub zusammen. »War ’ne verdammt lange Nacht«, knurrte er.
Im Hinterzimmer seines Lokals hatte Lou so manchen Abend Darts gespielt. Ob der »Old Horseshoe« in Busby wohl auch eine Dartscheibe hatte? Warum eigentlich nicht? Ein irischer Pub ohne Darts war wie ein ordentliches Stew ohne Lammfleisch, dachte sie schmunzelnd und flanierte zum River Liffey, an dessen Ufer sich heimelige Parks mit farbenfrohen Blumen schmiegten.
Sie erinnerte sich an eine Bootsfahrt mit Tim, einem Kollegen vom Callcenter. Dummerweise hatte er überhaupt kein Verständnis dafür, dass sie nicht schon nach dem ersten Date Sex wollte. Deshalb blieb es auch bei dieser einen Verabredung.
Lou folgte einer Touristengruppe zur gusseisernen Ha’penny Bridge. »Soll ich Sie vor der Brücke fotografieren?«, bot sie zwei alten Damen an. Offensichtlich standen die beiden auf Kriegsfuß mit der Technik ihres Smartphones.
»Das hat mir meine Tochter geschenkt. Ich hätte wohl besser meinen alten Fotoapparat mitgebracht«, erklärte eine von ihnen lachend. Die alten Damen posierten in wechselnden Posen auf der Brücke. Nach der zehnten Aufnahme verlor Lou die Geduld.
»Sorry, jetzt muss ich zur Uni«, verabschiedete sie sich rasch, denn sie hatte keine Lust, länger die Fotografin zu spielen.
Im Laufschritt machte sie sich auf den Weg zum Trinity College und hielt Ausschau nach Darcy und Richard. Doch dann fiel ihr ein, dass die Freundin sich in der Bibliothek verabredet hatte.
Beim Anblick zweier picknickender Studenten auf dem Campus meldete sich ihr Magen lautstark. Sie bekam Heißhunger auf etwas Süßes. Zielstrebig schlug sie den Weg zum kleinen Café in der Wicklow Street ein.
»Wenn du einen Moment wartest, wird der Tisch vor dem Schaufenster frei«, rief ihr Betty, die Inhaberin, zu. Nachdem Lou den Schokoladenladen mit angrenzendem Café vor drei Monaten das erste Mal betreten hatte, hatten sich die beiden gleichaltrigen Frauen angefreundet. Sie teilten nicht nur die Leidenschaft für hochwertige Schokolade. So oft es ihre freie Zeit zuließ, verabredeten sie sich zu Wandertouren. Ihr Lieblingsziel waren die nur eine knappe Zugstunde entfernten Wicklow Mountains.
Lou deutete mit dem Kopf Richtung Toilette, und Betty nickte ihr zu. »Der Schlüssel hängt neben dem Telefon. Kannst du mir aus dem Lager ein Paket Arabica-Bohnen mitbringen?«
Als sie in den Laden zurückkam, hatte Betty ihr bereits einen Schokomokka und eine kleine Auswahl ihrer neuesten Pralinenkreationen auf den Tisch gestellt. »Du bist die Erste, die sie probieren darf. Bitte sag mir ehrlich, ob sie gelungen sind.«
Lou schob sich einen dunklen Trüffel in den Mund. »Mmh«, schwärmte sie. »Zartbitter mit Cassis und …?« Sie schmeckte einen Moment nach. »Ist das Chili im Abgang?«
Begeistert klatschte Betty in die Hände.
Die Gäste an den Nachbartischen schielten auf Lous Teller. »Die hat es gut«, murmelte ein alter Herr, der sich mit seiner Frau ein Stück Kuchen teilte.
Sofort eilte Betty zur Vitrine und füllte drei Probierteller mit ihrer Auswahl, die sie zu den Tischen brachte. Nachdem alle Gäste mit Pralinen versorgt waren, setzte sie sich zu Lou. »Hast du endlich deinen Job geschmissen?«, fragte sie.
»Sieht man mir das etwa an?« Lou wischte sich den Sahnebart von der Oberlippe und grinste. »Es ist, als hätte man einen Sack Kartoffeln von meinen Schultern genommen. Ich fühle mich plötzlich so befreit.« Sie rutschte ein Stück näher an Betty heran und erzählte ihr von ihrem Abgang im Callcenter und dem neuen Job.
Die Freundin lehnte den Kopf an Lous Schulter und seufzte laut. »Mit wem soll ich jetzt wandern? Und wer probiert meine neuen Kreationen, wenn du weg bist?«
»Wir stellen uns gern für die Pralinenverkostung zur Verfügung«, bot sofort der Herr vom Nachbartisch an.
Aus der Ecke meldete sich ein junger Mann im Anzug: »Ich wandere auch gern. Vielleicht könnten wir …« Sein Gesicht wurde puterrot. »Entschuldigung, ich möchte nicht aufdringlich wirken.«
Betty schaute ihn mit großen Augen an. Ihre Wangen glühten. »Vielen Dank für das Angebot«, stammelte sie, und Lou ergänzte rasch: »Warum lassen Sie meiner Freundin nicht einfach ihre Handynummer da?«
Betty trat ihr nicht gerade sanft gegen das Schienbein. »Ich lass mich nicht von dir verkuppeln«, zischte sie.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sich Lou das Bein. »Kommst du heute Abend in den ›Sugar Club‹? Wir feiern meinen Abschied.« Zufrieden registrierte sie, dass der gut aussehende junge Mann eine Visitenkarte neben den Zehneuroschein legte und dann ihren Tisch ansteuerte.
»Sorry noch mal. Ich bin sonst nicht so aufdringlich«, murmelte er mit gesenktem Blick. »Ich würde wirklich gern mit Ihnen wandern.«
Dieses Mal trat Lou ihrer Freundin unsanft gegen das Schienbein, woraufhin Betty nach Luft schnappte. »Vielleicht komme ich wirklich auf Ihr Angebot zurück«, japste sie und lächelte sogar.
»Wundervoll«, sagte er, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Café.
Eine halbe Stunde später verabschiedete sich Lou von der Freundin. Betty schob ihr eine Tafel Zartbitterschokolade über die Theke. »Verpflegung für die Reise und Seelennahrung, falls die Sehnsucht zu groß wird«, erklärte sie und weigerte sich, von Lou Geld anzunehmen. »Dafür spendierst du mir heute Abend den teuersten Cocktail im Club. Wann soll ich da sein?«
Lou überlegte einen Moment. »Komm doch einfach zu uns, wenn du den Laden abgeschlossen hast. Ich schiebe uns einen Lachs in den Ofen.«
Dass sich die Sonne inzwischen hinter den Wolken versteckte, trübte Lous Hochstimmung keinesfalls. Pfeifend schlenderte sie zur Markthalle. Sie liebte die vielen kleinen Stände in der George’s Street Arcade. In dem viktorianischen Gebäude hatte sie schon einige verregnete Sonntage verbummelt. Erst letzte Woche hatte sie dort beim Trödler eine versilberte Haarspange entdeckt, die jetzt ihre langen Haare im Nacken zusammenhielt.
Sie steuerte den Fischstand an, erstand einen prachtvollen Wildlachs, dazu junge Kartoffeln und Salat. Ohne mit der Wimper zu zucken, zahlte sie achtzehn Euro für eine Flasche Weißwein. Heute Abend würde sie ihre Freundinnen verwöhnen, sich für all die Wärme bedanken, die die beiden ihr geschenkt hatten.
»Was riecht denn hier so gut?« Darcy schüttelte ihren regennassen Blazer im Flur aus, hängte ihn an die Garderobe und stürmte an Lou vorbei in die Küche. »Ist das Lachs?« Sie öffnete die Backofentür einen Spalt weit.
Doch Lou klopfte ihr mit dem Kochlöffel auf die Finger. »Zulassen. Der Fisch muss noch zehn Minuten garen. Du darfst gern den Weißwein für mich öffnen.«
»Das ist eine meiner leichtesten Aufgaben.« Darcy lachte und schielte zum festlich gedeckten Esstisch. »Drei Gedecke. Erwarten wir Besuch?«
Lou mixte Olivenöl und Zitronensaft zu einer cremigen Salatsoße. »Ich habe unsere Schokoladen-Freundin eingeladen. Zu dritt wird es sicher lustiger heute Abend. Weißt du noch unsere legendäre Pyjamaparty letzten Monat?«
Darcy kicherte. »Du meinst unseren Schoko-Wellnessabend? Wenn ich an die Schokoladenmaske in meinem Gesicht denke, juckt es mich gleich wieder.« Genießerisch schnalzte sie mit der Zunge. »Betty bringt sicher den Nachtisch mit. Oder hast du Bread-and-Butter-Pudding vorbereitet?«
In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür. »Machst du bitte auf? Ich muss den Fisch aus dem Ofen holen«, erklärte Lou und griff zu den Topflappen. »Perfektes Timing. Wir können direkt essen.«
»Es regnet mal wieder cats and dogs«, sagte Betty. »Nimm mir bitte die Champagnertrüffel ab. Die schmecken besser, wenn du sie noch einen Moment in den Kühlschrank stellst.« In ihren roten Locken glitzerten unzählige Regentropfen, und ihre Wangen glühten. »Ratet mal, wer gerade bei mir im Laden war und eine Wanderkarte von den Wicklows abgegeben hat?«
»Doch nicht etwa …?« Lou wischte sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Der schüchterne gut aussehende Mann von heute Mittag?«
»Darf ich vielleicht auch erfahren, um wen es sich handelt?«, maulte Darcy und verteilte den Salat in drei Schälchen.
Lou und Betty sahen sich an und lachten wie auf Kommando los. »Alles der Reihe nach«, sagte Lou. »Zuerst der Lachs, anschließend der Mann.«
Nach dem Essen zogen die Frauen auf die Couch um. Betty kuschelte sich entspannt in die Sofaecke. »Deine Wohnung ist so gemütlich, Darcy. Kann ich nicht hier einziehen, bis Lou zurückkommt? Wär auch nur vorübergehend, bis ich was Neues gefunden habe. Meine kleine Dachwohnung ist saukalt im Winter und brüllend heiß im Sommer. Außerdem noch unverschämt teuer für so ein zugiges Loch.«
Darcy legte den Kopf schief, drehte die Espressotasse in ihrer Hand. Sie warf Lou einen fragenden Blick zu. »Wär es dir recht, wenn Betty in deinem Zimmer wohnen würde? Natürlich nur, bis du wieder zurückkommst.«
Wie aus der Pistole geschossen, antwortete Lou: »Warum nicht? Falls ich den Job in Busby eher hinschmeiße, schlafe ich halt hier auf der Couch.«
»Wie gut, dass Richard eine sturmfreie Bude hat«, erwiderte Darcy. »Wenn Betty dann auch noch ihren neuen Wanderfreund mitbringt, wird es nämlich ganz schön eng in meiner Wohnung.«
Betty winkte energisch ab. »Nur wandern, von mehr war nicht die Rede. Cedric ist Banker. Warum sollte er sich mit der Inhaberin eines kleinen Cafés in der Öffentlichkeit zeigen wollen? Noch dazu mit einer molligen Rothaarigen.«
Darcy klopfte ihr auf die Schulter. »Entspann dich. Ob mit oder ohne Banker, du kannst Lous Zimmer gern haben. Sind zweihundert Euro im Monat okay?«
»So wenig?« Übermütig fiel Betty ihr um den Hals. Sie umarmte Lou und hüpfte mit ihr im Zimmer herum. »Dafür bekommt Darcy jede Woche eine Gratislieferung Trüffel frei Haus«, verkündete sie lachend. »Und dir schicke ich ab und zu ein Päckchen nach Busby. So vergisst du deine Schoko-Betty wenigstens nicht in der Fremde.«
Es war weit nach Mitternacht, als Lou leicht beschwipst neben Darcy den »Sugar Club« verließ. »Danke für diesen wundervollen Abend«, sagte Lou gähnend. »Unsere Salsa-Abende im Club werden mir fehlen. Schade nur, dass Betty schon so früh gehen musste.« Ein dicker Kloß machte sich in Lous Hals breit. Automatisch griff sie nach der Hand der Freundin und drückte sie. »Ist ja nur eine kleine Auszeit. Im Oktober bin ich wieder zurück«, versuchte sie, sich selbst Mut zu machen.
Lou hasste lange Abschiedsszenen. »Was macht das denn für einen Eindruck, wenn ich mit verheulten Augen in Busby aufschlage? Die denken sicher, ich wäre auf der Flucht«, sagte sie und nahm Darcy zum Abschied in den Arm. Trotzdem konnte sie ihre Tränen kaum zurückhalten.
Auch die Freundin schniefte. »Heute Abend rufst du mich an. Ich platze vor Neugier. Warte …« Sie wühlte in ihrer Handtasche, die an der Garderobe hing.
Lou trat unruhig von einem Bein auf das andere. »Was denn noch? Ich muss los.«
»Da ist es«, sagte Darcy triumphierend und drückte ihr ein kleines Päckchen in die Hand. »Pack es aus, wenn du im Zug sitzt.«
»Aber ich habe gar kein Geschenk für dich«, jammerte Lou.
Darcy lachte. »Nun hau schon ab, bevor ich sentimental werde.« Sie hielt die Wohnungstür auf und schob Lous Koffer in den Hausflur. »Soll ich dich nicht doch mit dem Auto zur Heuston Station fahren? Bestimmt regnet es gleich wieder.«
»Wozu habe ich meine Wanderjacke an?«, winkte Lou ab.
Entgegen Darcys Prognose zeigte sich das Dubliner Wetter an diesem Morgen von seiner sonnigsten Seite. Es war so warm, dass Lou auf dem Weg zum Bahnhof ihre Jacke auszog und in den Rucksack stopfte. Im Stechschritt erreichte sie den Bahnsteig, auf dem sich bereits eine Wandergruppe vor dem wartenden Zug drängelte.
Na, das kann ja heiter werden. Lauter gut gelaunte ältere Herren und ich mittendrin, dachte Lou, als sie feststellte, dass sich ihr reservierter Sitzplatz im Abteil der Reisegruppe befand. Kaum hatte sie sich ihren Weg zwischen Trekkingrucksäcken und Proviantbeuteln zum Fensterplatz gebahnt, wurde ihr der Rucksack von den Schultern genommen und der Koffer von zwei hilfsbereiten Herren auf die Ablage gehievt.
»Gehen Sie allein auf Reisen?«, fragte ihr Sitznachbar, ein wohlbeleibter Senior im karierten Wanderhemd. Er holte eine Aluminiumdose aus seinem Rucksack und bot Lou ein Sandwich an. »Nehmen Sie nur. Die habe ich heute Morgen frisch geschmiert. Cheddar mit Salat und Gurke.«
Ein anderer Mann reichte ihr einen Thermobecher mit Tee. »Sie erinnern mich an meine Tochter«, meinte dieser mit Blick auf ihre Wanderstiefel. »Susan wandert auch am liebsten allein. Meine alten Schulkameraden und ich« – er deutete auf seine Gruppe – »treffen uns jedes Jahr Ende Mai zu einem gemeinsamen Wanderurlaub.«
»Das stelle ich mir sehr nett vor.« Lou biss herzhaft in das angebotene Sandwich. »Fahren Sie denn auch bis Killarney?«
Inzwischen hatten sich zwei weitere Männer der Gruppe zu ihnen gesellt. Sie plauderten zwanglos über ihre letzten gemeinsamen Reisen und brachten Lou mit lustigen Anekdoten zum Lachen. Die dreistündige Fahrt verging wie im Flug. »Ich bin auf dem Weg nach Busby, um dort einen Sommerjob im Pub anzutreten«, gab Lou bereitwillig Auskunft. Sofort suchte ihr Sitznachbar Ed den Ort auf seiner Wanderkarte. »Da kommen wir in den nächsten Tagen auch vorbei. Im ›Old Horseshoe‹ haben wir uns für das Mittagessen angemeldet.«
»Wie schön«, sagte Lou. »Ich freue mich schon darauf, Sie wiederzusehen.« Ihr Herz klopfte ein paar Takte schneller, als sie in der Ferne die Berge von Killarney ausmachte. »Schauen Sie nur«, rief sie begeistert aus. »Das muss der McGillycuddy sein. Irgendwann möchte ich dort hinaufwandern.«
»Na, da haben Sie sich aber was vorgenommen«, staunte ihr Sitznachbar. »Uns reicht die leichtere Tour zum Torc Mountain und den Wasserfällen. In unserem Alter ist die anschließende Einkehr wichtiger als die Höhe der bestiegenen Berge.«
Eine halbe Stunde später lief der Zug in den Bahnhof von Killarney ein.
Ihre Reisebegleiter ließen es sich nicht nehmen, ihr den Koffer aus dem Zug zu tragen. »Bis bald, Lou«, verabschiedeten sie sich und winkten ihr nach, als der Bus abfuhr.
»Wann werden wir in Busby eintreffen?«, fragte sie den Fahrer. »Ich möchte zum ›Old Horseshoe‹.«
Der Mann, Lou schätzte ihn mit seinen grauen Schläfen und dem kleinen Bauchansatz auf mindestens fünfzig, zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Ich sage dir rechtzeitig Bescheid, wenn wir da sind. Du kannst während der Fahrt ruhig ein Nickerchen machen.« Er deutete auf den freien Sitzplatz direkt hinter sich.
Zwei Reihen weiter winkte ihr eine alte Dame zu. »Ich steige auch am Pub aus. Setz dich zu mir.« Ihr verschmitztes Lächeln wirkte so vertraut. Lou hatte das Gefühl, die grauhaarige Frau mit den roten Wangen schon ewig zu kennen.
»Sie sind also aus Busby?«, fragte Lou und stemmte ihren Koffer in das Gepäcknetz. Den Rucksack klemmte sie zwischen ihre Beine.
Die Sitznachbarin reichte ihr die Hand. »Ich bin Maura. Mir gehört die kleine Teestube. Du musst die Aushilfe sein, auf die Fergus bereits sehnsüchtig wartet.«
»So?«, fragte Lou. »Das klang am Telefon aber ganz anders.«
Maura wischte sich mit einem Stofftaschentuch über die verschwitzte Stirn. »Um ein Haar hätte Claire dir wieder abgesagt. Obwohl sie letzte Woche in der Küche zusammengebrochen ist, sieht sie einfach nicht ein, dass sie Hilfe braucht.«
»Woher dann ihr Sinneswandel?«, fragte Lou. Sie bot Maura etwas von ihrer Schokolade an und schob sich ein Stück in den Mund. Ihr Nachmittagstief meldete sich. Da half nur etwas Süßes.
Genießerisch schnalzte Maura mit der Zunge. »Das ist ganz was Feines. Keine billige Sorte aus dem Supermarkt.«
Lou schaute sie fragend an. »Was war nun mit Claire?«
Statt zu antworten, legte Maura ihr eine Hand auf den Unterarm und deutete mit der anderen aus dem Fenster. »Von hier aus kann man den Kirchturm von Busby sehen. Schau nur. Dort drüben auf der Weide grasen unsere neuen Dorfbewohner, die Alpakas.« Sie runzelte ihre Stirn, schien zu überlegen. »Claire kann manchmal ein richtiger Dickschädel sein. Aber unter ihrer rauen Schale versteckt sich ein weiches Herz. Auf Fergus und mich hat sie nicht gehört. Erst als ihr Sohn Sean ihr am Telefon ins Gewissen geredet hat, ist sie eingeknickt.«
»Mit Dickschädeln komme ich klar«, sagte Lou grinsend. »Hört sich an, als wäre Claire die Zwillingsschwester meines Großvaters.«
»Nächster Halt: ›Old Horseshoe‹«, verkündete der Busfahrer zehn Minuten später und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »So eine adrette Bedienung hatte der Pub schon lange nicht mehr. Ich werde Freitagabend nachschauen, ob du dich gut eingelebt hast.«
Rasch erhob sich Lou und warf den Rucksack über ihre Schulter. Im letzten Moment konnte sie sich noch am Haltegriff festhalten, als der Bus abrupt stoppte.
»Lass mich das mal machen.« Der Busfahrer schob sie zur Seite und hob ihren Koffer aus dem Gepäcknetz.
Grölender Applaus von der Rückbank. Drei halbwüchsige Jungs hoben anerkennend ihre Daumen. »Klasse Aktion, Dick«, krähte der eine mit heiserer Stimme.
»Das sind Noras Söhne«, erklärte Maura lachend und folgte Lou aus dem Bus.
Unschlüssig blieb Lou an der Bushaltestelle stehen. »Da sind ja gar keine Gäste vor dem Pub.« Sie wunderte sich über die verwaisten Holzbänke. »Ist doch warm genug, um draußen zu sitzen.«
»Geh um das Haus und nimm den Hintereingang«, riet Maura. »Heute ist Ruhetag.«
Lou kam gar nicht erst dazu, sich von ihr zu verabschieden, schon eilte ihre neue Bekannte über die Straße. »Besuch mich bald mal in der Teestube«, rief sie und verschwand in einem gelb gestrichenen Haus. »Mauras Teestube und Postamt« las Lou über dem Eingang. Sie schaute die Straße hinauf, entdeckte einen Wollmarkt und gegenüber einen Lebensmittelladen.
In der offenen Tür stand eine kleine Frau im weißen Kittel und winkte ihr zu. »Willkommen in Busby.«
In diesem Moment wurde das Fenster über dem Eingang des Pubs geöffnet. »Komm hoch. Der Tee ist gerade fertig«, rief eine Frau und deutete nach links. Das konnte nur Claire, die resolute Wirtin sein, mutmaßte Lou und zog ihren Koffer um das Haus. Im Flur stapelten sich die Wasserkästen, und es roch nach Bohnerwachs und Bier. Vorsorglich zog Lou ihre Wanderstiefel aus und stellte sie neben die Treppe in ein Schuhregal. Ihren Koffer lehnte sie an eine Colakiste. Auf Socken tapste sie die auf Hochglanz polierte Holztreppe hinauf. Sie zögerte einen Moment, atmete tief durch, dann klopfte sie an die Tür, hinter der sie das Wohnzimmer vermutete.
»Nur herein in die gute Stube«, ertönte eine müde Männerstimme von drinnen.
Lou straffte die Schultern, schenkte sich selbst im Flurspiegel ein Lächeln und betrat das Wohnzimmer. »Hallo Mrs und Mr O’Sullivan. Ich bin Lou, Louise Gallagher, Ihre neue Aushilfe«, begrüßte sie ihre Arbeitgeber.
»Nicht so förmlich, Mädchen. In Busby reden wir uns nur beim Vornamen an.« Claires Händedruck war so kräftig wie der eines Mannes. Nur ihre müden Augen mit den kleinen Fältchen und die grauen Strähnen in den rotbraunen Locken verrieten, dass die drahtige Frau die sechzig hinter sich gelassen hatte. Sie hielt Lou ein Stück auf Abstand, musterte sie von oben bis unten. »Seltsame Schuhe.« Sie grinste und deutete mit dem Kopf auf Lous geringelte Socken.
»Meine Wanderstiefel stehen unten im Flur. In dem Regal. Ist doch okay?« Beim Blick auf ihre Füße konnte Lou sich das Lachen nicht verkneifen. Sie trug einen rot-weiß-geringelten und einen grün-gelb-gestreiften Strumpf. »Nicht dass ihr denkt, ich wäre farbenblind«, sagte sie. »Das ist der neueste Schrei in Dublin.«
Vom Sofa ertönte ein herzhaftes Gähnen. »Komm her. Das will ich auch sehen«, rief Fergus und wuschelte sich durch die grauen Haare.
Lou schlurfte zur Couch und hob zuerst den linken, dann den rechten Fuß hoch. »Stellt euch vor, ich habe noch so ein Paar in meinem Koffer.«
Schmunzelnd setzte Fergus sich auf, um ihr die Hand zu schütteln. »Schade, dass unser Sean nicht hier ist. Ihr würdet euch prächtig verstehen.«
»Kein Wort mehr über Sean, sonst werde ich wütend«, schnaubte Claire. Der freundliche Ton in ihrer Stimme war verschwunden.
»Nur damit du es weißt«, erklärte sie beim Teetrinken. »Es war nicht meine Idee, dich herzuholen. Wäre es nach mir gegangen, würde unser Sohn jetzt in der Küche stehen und den Laden schmeißen. Aber der zieht es ja vor, sich demnächst in einem noblen Restaurant in Glasgow vom Chef rumkommandieren zu lassen.« Ihr Gesicht rötete sich, sie schnaufte.
Fergus blickte Lou flehend an. Sag was, lenk sie von dem Thema ab, schienen seine Augen zu bitten.
»Was für ein merkwürdiger Zufall«, sagte sie schnell. »Wenn ich den alten Herrn an diesem einen Nachmittag nicht im Bus getroffen hätte, wäre ich nie am Herbert-Park ausgestiegen, und dann hätte ich die Zeitung mit eurer Anzeige auch nicht auf der Bank entdeckt.«
Das Ablenkungsmanöver klappte. Claire lehnte sich zurück und legte die Kuchengabel aus der Hand. »Erzähl mal der Reihe nach. Ich liebe solche Geschichten.«
Lou trank einen Schluck Tee und lächelte die beiden an. »Wie so oft hatte ich auch an diesem Nachmittag schreckliche Kopfschmerzen …«, begann sie und berichtete von dem besagten Tag.
Fergus zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Keine zehn Pferde würden mich in so ein Callcenter bringen. Den ganzen Tag auf den Bildschirm starren und dazu noch Stöpsel in den Ohren. Da schrubbe ich lieber Fußböden.«
»Ach ja? Das sind ja ganz neue Töne.« Claire lachte. »Wenn das so ist, kannst du ab morgen den Pub putzen. Ich verzichte gerne auf die Plackerei.«
»Mir macht es nichts aus, jeden Abend einmal durchzuwischen«, wandte Lou sofort ein. »Das habe ich bei meinem Großvater im Pub auch immer getan.«
Fergus strahlte, aber Claires Gesicht verfinsterte sich wieder. »Das sehen wir noch«, murmelte sie und erhob sich. »Ich zeige dir jetzt dein Zimmer. Du willst doch sicher auspacken. Wir essen um sieben zu Abend.« Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie mit den Gedanken längst wieder bei ihrem Sohn war.
Lou folgte ihrem Blick zu einem Foto auf dem Kaminsims. Ein rothaariger junger Mann grinste in die Kamera. Er hatte die grünen Augen seines Vaters und das gleiche verschmitzte Lächeln. Sicher konnte man eine Menge Spaß mit ihm haben. Lou war froh, dass dieser gut aussehende Typ in Glasgow bei seinen Kochtöpfen blieb. Mit ihm zusammenzuarbeiten und unter einem Dach zu wohnen, das würde nur Komplikationen geben. Da war sie sich sicher. Wie sollte sie ihm aus dem Weg gehen, wenn er sie anmachen würde, sie aber nicht die geringste Lust auf einen Flirt hätte?
»Kommst du?«, riss Claire sie aus ihren Gedanken. »Ich habe nicht ewig Zeit.« Wie ein Feldwebel marschierte sie vor Lou den Flur entlang. »Hier schlafen wir. Dort ist das Bad. Daneben ist Seans Zimmer, und das nächste ist deins. Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte sie und hielt Lou die Tür auf. »Fergus bringt dir deinen Koffer gleich hoch.« Dann eilte sie zurück ins Wohnzimmer.
Es war nicht die Hochzeitssuite im Grandhotel, dennoch verliebte sich Lou sofort in das Zimmer. Die geblümten Übergardinen erinnerten sie an ihr Mädchenzimmer. Das Bett war weich und gemütlich. Sie hockte sich in den Ohrensessel und schaute verträumt durchs Fenster in den Garten. An der Wäscheleine flatterten Bettlaken im Wind. Im Beet entdeckte sie Küchenkräuter und Wildblumen. Ein Strauß davon stand auf ihrem Schreibsekretär und verströmte einen süßlichen Duft.
Sie schreckte auf, als es an der Tür klopfte.
»Darf ich?«, fragte Fergus und stellte ihren Koffer vor den Kleiderschrank. »Sie leidet wie ein Hund, weil unser Junge nun doch in Glasgow bleibt. Aber was sollen wir machen? Er liebt seine Sandra. Und sie will partout nicht nach Busby ziehen.« Unschlüssig blieb er mitten im Raum stehen. »Deine Familie ist sicher auch traurig, dass du nicht in ihrer Nähe lebst?«
»Ich habe keine Familie mehr«, entgegnete Lou barsch und klappte ihren Koffer auf.
Fergus räusperte sich und schlich mit hängenden Schultern zur Tür. »Das tut mir leid.«
»Nein«, beeilte sich Lou zu sagen. »Mir tut es leid, dass ich so kurz angebunden war. Aber ich rede nicht gern über die Vergangenheit. Das ist zu schmerzlich für mich.« Sie erwiderte sein warmherziges Lächeln und fuhr fort, ihren Koffer auszuräumen, nachdem er gegangen war.
Dann fiel ihr das kleine Geschenk ein, dass Darcy ihr zum Abschied gegeben hatte. Auf dem Boden sitzend, kramte sie das Päckchen aus ihrem Rucksack, zog die Schleife auf und riss ungeduldig das Geschenkpapier auseinander. Eingebettet in rotem Seidenpapier fand sie eine silberne Kette mit einem Anhänger in Form eines vierblättrigen Kleeblattes. »Ich wünsche dir Glück, meine Süße. Genieß die Zeit«, hatte Darcy auf ein kleines Post-it gekritzelt und ein Herzchen darunter gemalt.
Die Freundin kannte ihr Geheimnis. Sicher ahnte sie auch den wahren Grund für Lous Flucht nach Busby.
Unter dem Fenster krähte ein Hahn. In der Ferne blökten Schafe. Lou stellte erstaunt fest, dass sie acht Stunden am Stück geschlafen hatte. Sie erinnerte sich beim besten Willen nicht daran, irgendetwas geträumt zu haben.
»Wir frühstücken um acht«, hatte Claire ihr am Abend mitgeteilt. »Wenn dir das zu früh ist, kannst du dir selbst Frühstück machen. Hauptsache, du erscheinst um elf im Pub.«