Winterzauber in der kleinen Teestube zum Glück - Anne Labus - E-Book
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Winterzauber in der kleinen Teestube zum Glück E-Book

Anne Labus

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Beschreibung

Nach dem überraschenden Tod ihrer Tante kündigt Jessie ihren Job und übernimmt die Teestube und die Poststelle von Busby, obwohl sie das eigentlich nie vorhatte. Der ganze Ort, allen voran Claire, die Wirtin des kleinen Pubs, und Edward, der charmante Tierarzt, lassen Jessie mit der neuen Aufgabe nicht allein. Als sich ihre ersten Gäste als undurchsichtige Bauunternehmer herausstellen, die ihre ganz eigenen Pläne mit Busby haben, erwacht Jessies Kampfgeist. Welche Rolle spielt der gut aussehende Trevor, der Sohn des Baulöwen, dabei?

Dann überschlagen sich die Ereignisse. Die Poststelle soll geschlossen werden, und ein Hochwasser richtet große Schäden an. Werden die Dorfbewohner diese Herausforderungen meistern? Und wird auch Jessie so kurz vor Weihnachten ihren Herzensmenschen finden?

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Über das Buch

Nach dem überraschenden Tod ihrer Tante kündigt Jessie ihren Job und übernimmt die Teestube und die Poststelle von Busby, obwohl sie das eigentlich nie vorhatte. Der ganze Ort, allen voran Claire, die Wirtin des kleinen Pubs, und Edward, der charmante Tierarzt, lassen Jessie mit der neuen Aufgabe nicht allein. Als sich ihre ersten Gäste als undurchsichtige Bauunternehmer herausstellen, die ihre ganz eigenen Pläne mit Busby haben, erwacht Jessies Kampfgeist. Welche Rolle spielt der gut aussehende Trevor, der Sohn des Baulöwen, dabei?

Dann überschlagen sich die Ereignisse. Die Poststelle soll geschlossen werden, und ein Hochwasser richtet große Schäden an. Werden die Dorfbewohner diese Herausforderungen meistern? Und wird auch Jessie so kurz vor Weihnachten ihren Herzensmenschen finden?

Über Anne Labus

Anne Labus, Jahrgang 1957, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Udo Weinbörner, in der Nähe von Bonn. Nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau arbeitete sie unter anderem als selbstständige Fitness- und Pilatestrainerin. Die Leidenschaft für das Reisen hat sie an ihren Sohn vererbt, der auf Hawaii seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Die Autorin entspannt sich beim Kochen, liebt Bergtouren und lange Strandspaziergänge. Inspirationen für ihre Romane findet sie in Irland und Italien oder auch auf Spiekeroog.

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Anne Labus

Winterzauber in der kleinen Teestube zum Glück

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog — Ein halbes Jahr später

Rezept

Liebe Leserinnen und Leser,

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Kapitel 1

Die Wachsjacke rutschte ihr aus der Hand. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie öffnete den Mund und brachte doch keinen Ton heraus. Wie gelähmt stand sie im Wohnzimmer und starrte auf ihre Tante. »Bitte nicht«, flehte Jessie stumm und kniete sich vor die alte Frau im Ohrensessel. Der Glanz in Mauras Augen war erloschen. Ihre Lippen waren blutleer und blass.

»Wach auf, Tantchen«, flehte Jessie und schlang die Arme um sie. »Du darfst mich nicht alleinlassen. Wir hatten doch noch so viele Pläne.« Sie schmiegte ihr Gesicht an Mauras Wange, schreckte zurück, als sie die Kälte der Haut spürte.

Endlich löste sie sich aus der Schockstarre, krabbelte auf allen vieren zur Kommode und zog sich daran hoch. »Ein Arzt. Wir brauchen einen Arzt«, stammelte sie und stürzte aus dem Haus. Obwohl die Praxis von Jack, dem Dorfarzt, nur wenige Schritte von der Teestube entfernt lag, schien Jessie dieser Weg unendlich weit. Mit tränenverschleierten Augen überquerte sie die Straße und wich im letzten Moment einem Traktor aus, der von einem Feldweg auf die Hauptstraße von Busby einbog.

»Mensch, Jessie! Kannst du nicht aufpassen?«, wetterte der Farmer Tommy Burke.

Sie schüttelte traurig den Kopf und hetzte über die Auffahrt zum Arzthaus. Trotz des kühlen Novemberwetters stand die Haustür einen Spaltbreit offen. Im Flur, der als Wartebereich diente, saß die alte Mrs Winter und strickte. Als Jessie an ihr vorbei auf das Sprechzimmer zulief, wurde sie von der schwerhörigen Frau angeschnauzt: »Hier wird nicht vorgedrängelt!«

Jessie zuckte nur bedauernd mit den Schultern und hämmerte mit der Faust so lange an die Tür des Untersuchungszimmers, bis Dr. Jack O’Learys Gesicht im Türspalt auftauchte. »Was ist hier los?« Er musterte sie über den Rand seiner Hornbrille.

»Meine Tante«, brachte sie mühsam heraus. »Sie ist …« Dann versagte ihre Stimme, und ihre Knie wurden weich. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, fasste Jack ihr unter die Arme und bugsierte sie auf einen der Stühle im Wartebereich. Er tastete nach ihrem Puls, schaute ihr in die Augen.

»Du bleibst hier sitzen, bis ich zurückkomme. Ich sage Claire Bescheid, die kann dir beistehen.« Er warf Mrs Winter einen strengen Blick zu. »Kümmern Sie sich bitte um Jessie«, bat er energisch und eilte zurück in sein Sprechzimmer.

Keine zwei Minuten später eilte er mit seiner Arzttasche am Arm an ihr vorbei aus dem Haus. Kurz darauf verließ auch sein Patient, ein Farmer aus dem Nachbarort, die Praxis.

Jessie stützte die Ellbogen auf die Knie, verbarg das Gesicht in den Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Mrs Winter redete unaufhörlich auf sie ein. Doch sie hörte nicht, was sie sagte. Erst als ihr jemand über den Rücken strich, hob sie den Kopf. Claire, die beste Freundin ihrer Tante, stand vor ihr und lächelte sie warmherzig an. »Ich bin da, Jessie, Liebes. Fühlst du dich stark genug, mich zu euch nach Hause zu begleiten?«

Jessie schniefte und nickte zaghaft. »Vielleicht habe ich mich getäuscht, und sie hat nur geschlafen«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Jack kann ihr doch eine Kreislaufspritze geben, wie sonst immer. Sicher geht es ihr bald wieder besser.« Sie tapste neben der älteren Frau her, ließ sich bereitwillig von ihr an die Hand nehmen und aus dem Haus führen. Jessie war dreißig, aber momentan kam sie sich vor wie ein kleines Mädchen, unfähig, nur einen Schritt allein zu gehen. Solange sie denken konnte, war Maura, die Schwester ihrer Mom, für sie da gewesen. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte die Tante sie aus Dublin in das beschauliche Busby geholt. Jessie war damals erst vier, konnte kaum verstehen, was mit ihr geschah. Aber Maura hüllte sie mit ihrer Wärme und Liebe ein, half ihr, über den Verlust hinwegzukommen. Schon bald hatte sich Jessie in dem kleinen Dorf an der Westküste eingelebt, und es war ihre Heimat geworden.

»Hörst du, was ich sage?« Claire drückte ihre Hand und stellte sich vor sie, um ihr in die Augen zu sehen. »Du musst deinen Chef im Supermarkt anrufen und um Sonderurlaub bitten.«

Erst jetzt nahm Jessie wahr, dass sie vor der Teestube angelangt waren. Die feuchte Novemberluft drang durch ihren leichten Baumwollpullover. Bibbernd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und blinzelte Claire an. »Sorry«, sagte sie mit dünner Stimme und schüttelte den Kopf. »Ich habe mich daran erinnert, wie ich als Kind zu euch ins Dorf gekommen bin.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, als könnte sie so die Geister der Vergangenheit vertreiben.

»Du warst wie ein Vogeljunges, das man aus dem Nest geworfen hatte«, murmelte Claire und rieb ihr über die Arme. »Komm ins Warme. Du erkältest dich sonst noch.«

Fürsorglich umfasste sie Jessies Schultern und führte sie um das Haus zum Hintereingang. Wie üblich war die Tür nicht verschlossen. Im Dorf kannte und vertraute man sich. Jessie, die in der Teestube ihrer Tante aufgewachsen war und in der kleinen Poststelle, die sie nebenbei betrieb, beim Briefefrankieren geholfen hatte, konnte sich kaum vorstellen, in der Anonymität einer Großstadt zu leben.

Sie betrat den schmalen Flur und zog fröstelnd die Schultern hoch. »Hier zieht es«, stellte sie erstaunt fest. »Ich bin mir ganz sicher, dass alle Fenster verschlossen waren.« Rasch zog sie die Tür hinter Claire und sich zu und eilte zur Treppe, die in die Wohnung über der Teestube führte. »Ich gehe schnell nachsehen. Meine Tante friert doch so leicht.« Sie hatte schon einen Fuß auf der untersten Stufe, als Jack im oberen Flur auftauchte und zu ihr heruntersah. Er räusperte sich, blieb einen Moment auf dem Treppenabsatz stehen, bevor er ihr entgegenkam. »Es tut mir unendlich leid, Jessie«, sagte er mit rauer Stimme und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Deine Tante ist von uns gegangen.«

»Das kann nicht sein!«, japste sie. »Heute Morgen, bevor ich zur Bushaltestelle ging, hat sie noch auf der Leiter gestanden und laut gesungen. Wie …?« Sie weigerte sich, wahrzuhaben, was sie doch längst wusste. Ihre geliebte Tante lebte nicht mehr. Nie wieder würde sie sich mit ihr über das Fernsehprogramm streiten, untergehakt mit ihr in der Bucht spazieren gehen. Nie wieder würde das Haus nach Mauras Apfelkuchen duften. »Nein!«, schrie sie und raufte sich die Haare. Die Wände schienen sich auf sie zuzubewegen. Vor ihr tat sich ein dunkler Abgrund auf. Stöhnend sackte sie zusammen und kauerte sich auf die Treppe.

Jack beugte sich zu ihr, tastete nach ihrem Puls. »Mach mir nicht schlapp«, sagte er mit besorgter Stimme. »Was du im Moment brauchst, ist ein starker Tee und etwas Süßes für die Nerven.«

»Lass mich nur machen, Doc«, mischte sich Claire ein und hockte sich vor sie. »Du bist nicht allein, mein Mädchen. Ich bin für dich da. Das ganze Dorf ist jetzt deine Familie.« Sanft umfasste sie Jessies Handgelenke und zog sie auf die Beine.

»Ich möchte zu ihr«, hörte sich Jessie sagen. Wie in Trance schlich sie an Jack vorbei die Treppe hinauf ins Wohnzimmer. Sie schreckte zurück, als ihr ein eisiger Wind aus dem offenen Fenster entgegenwehte. Niemals würde sie sich an diese Sitte gewöhnen, der Seele eines Verstorbenen den Weg zum Himmel zu öffnen. »Ich bin da, Tante Maura«, flüsterte sie kaum hörbar und näherte sich dem Sessel mit gesenktem Blick. Sie atmete tief durch, wappnete sich für den Anblick der Toten. Das Erste, was ihr auffiel, war die Wolldecke, in die Jack ihre Tante fürsorglich gewickelt hatte. Er hatte ihr die Augen geschlossen und ihren Kopf an ein Kissen gelehnt. Jessie atmete ein wenig auf, als Claire sich neben sie stellte und beruhigend auf sie einsprach. »Sieh nur, wie friedlich sie lächelt«, raunte die ehemalige Wirtin des Pubs. »Jack meint, sie musste nicht leiden. Ihr Herz war schon lange schwach. Es hat einfach aufgehört zu schlagen.« Sie strich Jessie zart über den Arm. »Willst du dabei sein, wenn Nora und ich sie waschen und ihr das Totenkleid anziehen?«

»Sie hat einmal gesagt, dass sie in ihrem dunkelblauen Lieblingskleid beerdigt werden möchte.« Jessie schluckte. »Sie soll auf keinen Fall frieren. Ich möchte, dass sie ihre dicken Wollstrümpfe trägt und die Strickjacke, die sie so geliebt hat.« Zaghaft strich sie der Toten über die Wange. »Schlaf gut, Tantchen«, sagte sie leise, kniete sich vor sie und faltete die Hände zum Gebet. Claire tat es ihr gleich, und gemeinsam sprachen sie den Segenswunsch:

Möge die Sonne warm auf dein Gesicht scheinen

und der Regen sanft auf deine Felder fallen.

Und bis wir uns wiedersehen,

halte Gott dich im Frieden seiner Hand.

»Amen«, tönte die tiefe Stimme von Pfarrer Donnelly hinter ihnen. Er legte jeder Frau eine Hand auf den Kopf, dann stellte er sich neben die Tote und zeichnete das Kreuzzeichen auf ihrer Stirn. »Sie ist jetzt bei Gott«, wandte er sich an Jessie. »Ich werde alles Nötige für die Beerdigung in die Wege leiten. Maura hat mich letzten Monat im Pfarrhaus besucht. Sie schien zu spüren, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Deshalb hat sie wohl alles geregelt.«

Jessie riss die Augen auf. »Also hat sie mir die ganze Zeit nur etwas vorgespielt und sich für mich stark gemacht. Sie hat sogar vorgeschlagen, dass wir zum Weihnachtsshopping nach Cork fahren.« In ihr zog sich alles zusammen. Sie stöhnte laut auf. »Was soll ich nur ohne sie machen?«

Hilfe suchend schaute sie in das bleiche Gesicht der Toten. Es schien, als lächelte die Tante ihr zu. In Gedanken hörte Jessie sie sagen: »Du weißt, was ich mir am meisten wünsche, Liebes.«

Ja, das wusste sie. »Du sollst stolz auf mich sein, Tantchen«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich das ohne dich schaffen soll, aber ich werde deine Teestube weiterführen.« Sie erhob sich, warf ihrer Tante eine Kusshand zu und straffte den Rücken. »Ich koche uns eine Kanne Tee und hole Kuchen aus der Teestube. Das wird sicher ein langer Abend.«

Wie von einer unsichtbaren Macht geleitet, bewegte sie sich durch das Haus. Sie bereitete einen kleinen Imbiss für die Frauen zu, die gekommen waren, um die Tote auf ihre letzte Reise vorzubereiten. Claire, die Wirtin des Pubs, Nora, die Frau von Tommy Burke, und Kathy, die Inhaberin des Wollmarkts, tranken schweigend Tee, stärkten sich mit Muffins. Dann trugen sie Maura in ihr Schlafzimmer, wuschen und frisierten sie und zogen ihr das dunkelblaue Kleid mit dem weißen Kragen an, wie sie es sich gewünscht hatte. Jessie cremte ihrer Tante ein letztes Mal das Gesicht ein, tupfte ihr einen Hauch Rouge auf die bleichen Wangen, bevor sie auf ihrem Bett aufgebahrt wurde. Pfarrer Donnelly stellte je zwei gesegnete Kerzen an das Kopf- und Fußende und sprach ein Gebet.

»Ich wache heute Nacht mit dir«, raunte Claire Jessie zu. »Wenn sich morgen alle Dorfbewohner von Maura verabschiedet haben, wird sie in die Kirche gebracht.« Sie öffnete das Schlafzimmerfenster einen Spaltbreit und holte zwei Stühle aus der Küche, die sie neben das Bett stellte. »Zieh dich bitte warm an. Du weißt, dass das Fenster offen stehen muss.«

Jessie nickte und eilte in ihr Zimmer. Doch selbst ihr dickster Aran-Sweater und der Winterparka vermochten die Kälte nicht zu vertreiben, die ihr auf der Seele lag.

Kapitel 2

Jessie kauerte auf der Bank vor dem Kamin und stocherte in der glimmenden Asche. Nachdenklich sah sie sich im Hinterzimmer des Pubs um. Die plötzliche Stille schmerzte in ihren Ohren. Der letzte Gast hatte auf Drängen der Wirtin die Feier vor wenigen Minuten verlassen. Nach der Beerdigung hatten Freunde und Nachbarn bis spät in die Nacht zusammengesessen. Sie hatten Jessie mit ihren Geschichten und Anekdoten unterhalten und auf ihre Art getröstet. Stets stand dabei die Verstorbene im Mittelpunkt. Fast das ganze Dorf war gekommen, um ihr beizustehen. Gemeinsam hatten sie getrunken, gegessen und auf Maura angestoßen. Sogar der eine oder andere Witz wurde erzählt und hatte Jessie ein Schmunzeln entlockt. Selbst die Tatsache, dass im Laufe des Abends einige der Trauergäste zu tief ins Glas schauten, gehörte für sie zu einer typisch irischen Beerdigung. Sie hatte Rotz und Wasser geheult, als Pfarrer Donnelly mit seiner unverwechselbar warmen Stimme zu Ehren ihrer Tante »Farewell Old Fellow« sang und der Kirchenchor einstimmte. Aber jetzt waren ihre Tränen versiegt, sie fühlte sich leer und ausgebrannt.

Jessie gähnte hinter vorgehaltener Hand. Ihre Augenlider waren schwer. Sie sehnte sich nach Schlaf und Vergessen. Am liebsten hätte sie sich hier auf der Ofenbank wie eine Katze zusammengerollt. Mit dem Wissen, dass eine Etage über ihr das junge Wirtspaar Sean und Lou und ihre kleine Tochter Nelly schliefen und nebenan Claire und ihr Mann Fergus. Zu Hause wartete nur die Einsamkeit. Wenn doch wenigstens ihre beste Freundin Sheila hier wäre. Die junge Weberin, die in Kathys Wollmarkt arbeitete, lag nach einer Blinddarmoperation im Krankenhaus.

Claire stapelte das schmutzige Geschirr auf den Servierwagen. Sie lächelte sie aufmunternd an, band die Schürze ab und setzte sich zu ihr. »Möchtest du heute Nacht bei uns im Gästezimmer schlafen?«

Jessie zögerte. Gern würde sie die Rückkehr in das einsame Haus hinauszögern und morgen in großer Runde frühstücken. Doch je eher sie den Weg in die Normalität einschlug, umso leichter würde es ihr fallen. »Lieb gemeint«, sagte sie schläfrig. »Aber daheim habe ich das Gefühl, Maura nahe zu sein. Alles dort erinnert mich an sie. Danke für deine Einladung. Mach dir keine Sorgen. Ich schaffe das schon.« Das redete sie sich zumindest ein. »Ich werde ein ausgiebiges Bad nehmen und mich mit der Wärmflasche ins Bett kuscheln. Seit Mauras Tod habe ich kaum ein Auge zubekommen. Außerdem …« Sie deutete auf das leere Whiskeyglas neben sich auf der Bank. »… habe ich einiges davon intus. Das dürfte wohl genügen, dass ich wie ein Stein schlafe.«

»Wie du möchtest, meine Liebe. Den Schlaf hast du nach drei Tagen auch bitter nötig.« Stöhnend massierte sich Claire den Nacken. »Ruf an, wenn du mich brauchst. Du weißt, ich bin zu jeder Tages- und Nachtzeit für dich erreichbar.« Sie wies auf die halb vollen Kuchen- und Sandwichplatten. »Soll ich dir die Reste einpacken?«

»Um Himmels willen. Behalte das Essen bloß hier. Deine Familie wird schon damit fertigwerden«, versuchte sie sich an einem Scherz. »Außerdem hat mich die Nachbarschaft mit Eintöpfen und Aufläufen versorgt. Die nächsten vier Tage muss ich garantiert nicht kochen.« Sie rieb sich die müden Augen und löste die schwarze Samtschleife, mit der sie die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte. Seufzend lehnte sie den Kopf an Claires Schulter. »Ohne dich hätte ich die letzten Tage nicht durchgestanden. Danke.« Dann stand sie auf, nahm ihre Winterjacke vom Garderobenhaken neben der Tür und nickte der Freundin ihrer Tante zu. »Gute Nacht, Claire. Gleich morgen früh begleiche ich die Rechnung.«

»Das wirst du schön bleiben lassen«, winkte die Wirtin ab. »Die Ausrichtung dieser Feier war mir eine Herzensangelegenheit. Deine Tante hat so viel für mich und meine Familie getan. Immer war sie zur Stelle, wenn ich Hilfe brauchte. Diesen Liebesdienst musst du mir gestatten.« Trotz des langen Tages wirkte die fast siebzigjährige Frau erstaunlich fit. Mit kerzengerader Haltung marschierte sie zu ihr, drückte sie an sich. »Ab mit dir nach Hause. Morgen Nachmittag gehen wir zusammen zum Friedhof.«

»Du bist so großzügig, Claire. Dann sage ich jetzt in Mauras Namen Danke schön.« Sie runzelte die Stirn. »Musst du deine Enkelin nachmittags nicht von der Kita abholen?«, fragte Jessie überrascht.

»Nelly kommt natürlich mit. Sie war ganz enttäuscht, dass sie heute nicht zur Beerdigung durfte. Für eine Vierjährige ist sie sehr aufgeweckt«, schwärmte Claire. Sie verließ mit Jessie das Hinterzimmer, knipste das Licht aus und begleitete sie zur Haustür.

Die Hauptstraße von Busby war menschenleer. Nebel waberte über den Feldern hinter der Kirche. Jessie schob ihre kalten Finger in die Jackentaschen. Die eisige Nachtluft streichelte ihre Wangen und vertrieb die Müdigkeit. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute in den wolkenverhangenen Himmel. Nachdenklich ließ sie den Blick über die Häuser schweifen.

Das hier war ihr Dorf. Dort am Ende der Straße hatte sie den Kindergarten besucht und zwei Jahre später die Dorfschule, die nur einige Schritte entfernt lag. Im Lebensmittelladen der Melonys hatte sie sich von ihrem ersten Taschengeld Lollis gekauft.

Sie überquerte die Straße, blieb einen Moment vor dem Wollmarkt stehen und linste in das Schaufenster. Im Schein der Laterne erkannte sie Wollpullover, Schals, Socken und Mützen. In ihr zog sich alles zusammen, als sie den wollweißen Aran-Sweater mit dem aufwendigen Zopfmuster sah. Erst letzte Woche hatte Maura ihn fertiggestellt und in den Wollmarkt gebracht. Keine beherrschte die Fertigkeit des Strickens so perfekt wie sie. Gemeinsam mit den Frauen des Handarbeitskreises hatte sie jede Woche in der Webstube des Geschäfts für Nachschub in den Regalen gesorgt. Wer würde Mauras Platz jetzt einnehmen? Jessie war noch lange nicht so weit, dass sie in ihre Fußstapfen treten konnte. Ihre Strickkünste reichten gerade mal für Schals. Sie würde noch viel lernen müssen! Traurig wandte sie sich ab.

Bisher hatte ihr die Arbeit im Supermarkt in Sneem keine Zeit gelassen, an den Handarbeitstreffen teilzunehmen. Doch das würde sich ab sofort ändern. Gestern hatte sie gekündigt und ihren Resturlaub genommen. Es war ihr erstaunlich leichtgefallen, den Platz an der Kasse zu räumen. Das Einzige, was sie vermissen würde, waren ihre Kolleginnen. Die verquatschten Pausen in der Cafeteria und die gemeinsamen Abende im Pub. Pam und Sue hatten versprochen, sie regelmäßig an ihrer neuen Wirkungsstätte zu besuchen und ab sofort ihre Geburtstagsrunden in der Teestube stattfinden zu lassen. Die Einnahmen könnte sie wirklich gut gebrauchen.

Bei dem Gedanken an ihre Finanzen wurde ihr flau im Magen. Kuchenbacken und Gästebewirten, das war eine Sache. Aber würde es ihr auch gelingen, eine gute Geschäftsfrau zu sein? Sie atmete tief durch, sprach sich selbst Mut zu. »Ich kann das, und ich will das«, murmelte sie wie ein Mantra.

Ihre ganze Kraft und Energie würde sie in die kleine Teestube stecken. Ein Berg an Aufgaben türmte sich vor ihr auf. Sie atmete durch und schrieb in Gedanken eine Aufgabenliste. Obenauf stand der Anruf bei der Hauptpost in Killarney. Sie hoffte inständig, dass man ihr erlauben würde, die winzige Poststelle weiterzuführen. Die monatliche Aufwandsentschädigung von dreihundert Euro war ein wichtiges Zubrot, denn in den Wintermonaten riss der Touristenstrom in dieser Gegend ab. Nur wenige Hartgesottene besuchten dann noch den Ring of Kerry oder wanderten im Killarney Lakeland. Bisher hatte Jessie monatlich dreihundert Euro ihres Gehalts zur Haushaltskasse beigesteuert. Das würde jetzt flachfallen. »Ach, was soll’s«, dachte sie laut nach. »Ich brauche nicht viel zum Leben. Für mich allein werden die Einnahmen der Teestube sicher ausreichen.« Von Maura hatte sie gelernt, wie wichtig es war, Rücklagen zu bilden. Wenn alle Stricke rissen, würde sie auf ihr Sparbuch zurückgreifen. Achttausend Euro waren schließlich eine Menge Geld!

»Hör auf zu grübeln«, mahnte sie sich und marschierte entschlossen zur Teestube. »Morgen entwerfe ich einen Schlachtplan.« Inzwischen war die Müdigkeit zurückgekehrt, legte sich bleischwer auf ihre Schultern. Sie musste dringend ins Bett.

Jessie tapste zur Hintertür und stutzte, als sie den Strauß weißer Lilien auf der Türschwelle erblickte. Sie nahm die Blumen an sich, betrat den Flur und grübelte, wer der Spender war. Alle Freunde und Bekannten, sogar die Kolleginnen aus dem Supermarkt und ihr Chef waren auf der Beerdigung erschienen. Als sie die Blumen auf das kleine Tischchen neben der Garderobe legte, um die Jacke auszuziehen, bemerkte sie den Brief. Er steckte zwischen den Stielen. Auf dem Umschlag stand ihr Name. Das übergroße J, der verrutschte i-Punkt. Sie kannte nur einen, der so schrieb.

»Na typisch!«, schnaubte sie. »Morton, du verdammter Mistkerl. Noch nicht mal Zeit für die Beerdigung konntest du dir nehmen.« In ihr sträubte sich alles dagegen, den Brief zu öffnen. Doch dann siegte ihre Neugier. Sie riss den Umschlag auf und zog eine vorgedruckte Beileidskarte heraus, auf der »Aufrichtiges Beileid« stand. In Erwartung einiger persönlicher Sätze drehte sie die Karte um und ballte beim Lesen die Faust.

Sorry, dass ich nicht auf der Beerdigung war, Babe. Ich würde dich gern wieder treffen. Freitagabend hätte ich Zeit. Morton

»Vergiss es!«, zischte sie und zerknüllte das Papier, bevor sie es im hohen Bogen hinter den Schirmständer pfefferte. Nicht ein tröstendes Wort hatte er ihr gegönnt. Den Weg nach Busby hätte sich ihr Ex-Freund sparen können. Was sollte sie mit einem Mann, dem sein Motorrad und die Clique wichtiger waren als Zweisamkeit? Anfangs hatte es ihr gefallen, wenn er sie mit der Harley von der Arbeit abholte und mit ihr durch die Gegend fuhr. Aber schon bald stellte sie fest, dass sie kaum gemeinsame Interessen hatten. Jede freie Minute schraubte er an seiner Maschine oder kurvte mit den Jungs durch die Berge. Nie begleitete er sie auf ihre Wanderungen oder besuchte mit ihr die Tanzveranstaltungen im Saal. Nein, Morton war nicht der Mann, mit dem sie sich eine Zukunft vorstellen konnte. Gerade jetzt brauchte sie einen Partner an ihrer Seite, auf den sie sich verlassen konnte. Einer, der sie unterstützte, ihr zuhörte, wenn sie Probleme hatte, und ihre Hobbys teilte. Keinen Gelegenheitslover.

Einen Moment lang überlegte sie, die Blumen in die Mülltonne zu werfen. Doch was konnten diese duftenden Lilien für den Stoffel? Sie würde den Strauß einfach zum Grab bringen.

Eilig betrat sie die kleine Küche hinter der Teestube, füllte Wasser in eine Glasvase und stellte die Blumen hinein. Ihr Blick fiel auf die alte Kladde, die aufgeschlagen auf der Arbeitsplatte neben der Spüle lag. Mit großen schwungvollen Buchstaben hatte ihre Tante dort alle Backrezepte notiert. Jessie blätterte durch die Seiten. Ein dicker Kloß machte sich in ihrem Hals breit, als sie zwischen Apfelkuchen und Blaubeermuffins einen Zettel entdeckte. Er war an den Rändern eingerissen und vergilbt. Sie erinnerte sich noch genau daran, zu welchem Anlass Maura ihn geschrieben hatte. Das musste so etwa vor sechs Jahren gewesen sein. Als sie abends von der Arbeit nach Hause kam, fand sie die Notiz auf dem Küchentisch. Obwohl sie den Inhalt kannte, las sie ihn mit Tränen in den Augen noch einmal.

Liebste Jessie,

ich helfe Claire heute Abend in der Küche. Der Armen geht es momentan nicht so gut. Ihr Sohn Sean bleibt auf der Bohrinsel, obwohl er als Koch im Pub doch so dringend gebraucht wird. Wärst du so lieb, zwei Bleche Muffins zu backen? Für morgen Nachmittag hat sich eine Wandergruppe angemeldet.

Kopf hoch, mein Schatz. Du schaffst das! Backen ist kein Hexenwerk. Halte dich nur genau an mein Rezept. Ich habe dich lieb!

Küsschen von deiner Tante Maura

»Ich hab dich auch lieb«, flüsterte Jessie heiser und drückte den Zettel an ihr Herz.

So viel war inzwischen passiert. Sean und seine Frau Lou hatten den Pub übernommen. Ihre kleine Tochter war Claires und Fergus ganzes Glück, und sie freuten sich, dass der Sohn in ihre Fußstapfen getreten war.

Diese Freude blieb ihrer Tante verwehrt. Sicher hätte sie gern miterlebt, wie Jessie ihr Lebenswerk fortführte. »Warum nur habe ich nicht auf dich gehört?«, schniefte Jessie. Mehr als einmal hatte Maura sie gebeten, ihr beim Backen zur Hand zu gehen.

»Eines Tages setze ich mich zur Ruhe, dann wirst du meine Teestube übernehmen. Deshalb solltest du das Backen draufhaben«, hörte sie die Tante sagen.

»Aber Tantchen«, hatte sie leichthin geantwortet. »Bis dahin habe ich noch so viel Zeit. Du bist doch noch so fit.« Sie könnte sich ohrfeigen für ihre Naivität. Jetzt war es zu spät, die verlorene gemeinsame Zeit in der Backstube nachzuholen. Wie gern würde sie die Uhr zurückdrehen, um wenigstens einmal noch neben Maura in der Küche zu stehen. Ihr fielen auf Anhieb mindestens zehn Fragen ein, die sie ihr stellen würde: Wie lange genau muss der Hefeteig gehen? Woran erkennst du, wann der Apfelkuchen fertig gebacken ist? Und, und, und. Sie schluchzte hemmungslos und stolperte mit der Kladde in der Hand die Treppe hinauf. Angezogen warf sie sich auf ihr Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen.

Deck dich zu, meine Große, hörte sie die Stimme ihrer Tante und meinte, ihre Hand an der Wange zu spüren. Doch da war nur die Kladde mit ihren Rezepten.

Kapitel 3

»Ihr hattet eure Chance!«, fluchte Jessie. Enttäuscht legte sie auf. Zehn Minuten lang hatte sie sich »Oh Happy Day« in der Endlosschleife angehört. Ihre Geduld war zu Ende. Heute würde sie nicht mehr bei der Hauptpost anrufen. Das hatte auch bis Montag Zeit. Wenn der Freitag so weiterlief, könnte sie gleich wieder ins Bett kriechen und sich die Decke über den Kopf ziehen. Dabei hatte sie sich doch so viel vorgenommen. Für Samstag hatte sich eine sechsköpfige Wandergruppe zum Nachmittagstee angekündigt. Jessie wunderte sich, dass sich in dieser trüben Jahreszeit überhaupt ein Urlauber in die Region verirrte. Umso mehr freute sie sich darauf, die Teestube wieder zu öffnen.

Jetzt hieß es also backen! Da ihre Tante sich stets geweigert hatte, auf Vorrat zu produzieren und einzufrieren, herrschte gähnende Leere in der Kuchenvitrine. Nachschub musste her! Die Teestube hatte schließlich ein Renommee zu verlieren. Mauras Schokotorte und ihr Apfelkuchen waren weit über Busbys Grenzen berühmt. Ihre Blaubeermuffins und die weihnachtlichen Mince Pies liebte jeder im Dorf. Dieser Herausforderung musste sich Jessie stellen.

»Sorry, Tantchen«, sagte sie zu Mauras Konterfei, das seit gestern gerahmt in der Teestube über der Kuchenvitrine hing. »Wenn ich dein Werk fortführen soll, musst du mir schon einige Neuerungen zugestehen.« Gleich nächste Woche würde sie einen Gefrierschrank und eine moderne Küchenmaschine kaufen. Ab sofort würde sie Vorräte anlegen. Entschlossen, heute mindestens zwei Apfelkuchen und ein Blech Muffins zu backen, marschierte sie in die Speisekammer, inspizierte die Regale und den Inhalt des Kühlschranks. Erleichtert stellte sie fest, dass ausreichend Mehl, Zucker, Butter und Eier vorhanden waren, um bis nächste Woche über die Runden zu kommen. Doch beim Blick in die Holzkiste stöhnte sie laut auf. Nie und nimmer reichten diese vier schrumpeligen Äpfel für zwei Kuchen. Nachschub musste her, und zwar sofort!

Jessie ärgerte sich über die nötige, aber zeitraubende Planänderung. Wenn sie heute noch einen Blick in die Buchführung werfen wollte, musste sie sich sputen. Schließlich stand auch noch die Grundreinigung von Teestube und Kundentoilette an. Wie sollte sie das nur alles an einem Tag bewerkstelligen? Genervt schnappte sie sich den Einkaufskorb, warf ihr Portemonnaie und das Handy hinein und hastete aus dem Haus. Im Laufschritt eilte sie über die Straße, am Pub vorbei und riss die Tür zum Lebensmittelladen auf. »Ich brauche dringend zehn Pfund Äpfel«, rief sie Mrs Melony, die an der Kasse saß, zu.

Die kleine, untersetzte Frau zog eine Augenbraue hoch und musterte sie streng. »Moment«, brummte sie, zählte Kleingeld in die Registrierkasse und deutete mit dem Kopf auf das Obstregal. »Nimm dir, was du brauchst.«

»Aber da sind ja nur noch fünf Äpfel«, stellte Jessie entsetzt fest. Sie fuhr herum, als ihr jemand auf die Schulter tippte. »Sean, hast du mich erschreckt«, begrüßte sie den Inhaber des Pubs.

Der rothaarige, groß gewachsene Mann grinste sie breit an. »Sorry. Das war nicht meine Absicht. Hast du einen Moment für mich?« Er führte sie aus dem vollgestopften Laden. »Ich komme später wieder«, teilte er Mrs Melony beim Hinausgehen mit. »Meine Worcestersoße kann warten. Das ist jetzt wichtiger«, murmelte er. »Ähm.« Er kratzte sich das stoppelbärtige Kinn. »Also Folgendes.«

Jessie trat von einem Bein auf das andere. Die Zeit lief ihr davon. »Bitte, Sean. Komm zur Sache. Ich muss zurück in die Backstube.«

»Okay.« Er nickte ihr zu. »Ich hätte dir einen Vorschlag zu machen.« Mit Schulterblick vergewisserte er sich, dass die Ladentür hinter ihnen geschlossen war. »Deine Tante hat ihre Einkäufe für die Teestube immer hier getätigt.«

»Wo auch sonst?«, warf Jessie ein. »Da wir kein Auto besitzen, ist das doch wohl die naheliegendste Lösung. Hin und wieder habe ich auch einiges aus dem Supermarkt mitgebracht. Aber Maura war es wichtig, die Melonys zu unterstützen. Unser Dorf braucht einen Nahversorger, hat sie immer gesagt. Womit sie natürlich recht hatte.«

»Das sehe ich genauso. Deshalb kaufen wir für unseren Privatverbrauch auch hier ein. Aber als Geschäftsmann muss ich da anders kalkulieren. Lebensmittel für den Pub beziehe ich im Großmarkt in Killarney oder direkt beim Erzeuger in der Nachbarschaft. Es gibt genügend Farmer, die ihr Fleisch oder das Obst und Gemüse lieber direkt vermarkten, statt sich vom Zwischenhandel die Preise diktieren zu lassen«, sagte Sean.

»Aha.« Allmählich verstand Jessie, worauf er hinauswollte. »Klingt vernünftig. Aber ohne fahrbaren Untersatz ist das leider für mich nicht machbar. Mit dem Bus verplempere ich zu viel Zeit, die ich dringend zum Backen brauche.«

Lachend hob er die Hand. »Entschuldige. Ich stelle mir nur gerade vor, wie du mit einem vollgepackten Trekkingrucksack die Dorfstraße entlangschleichst.«

Jessie knuffte ihn empört in die Seite. »Haha. Wirklich lustig. Kennst du eine bessere Lösung?«

»Genau darauf wollte ich hinaus«, sagte er und schmunzelte. »Lou und ich fahren jeden zweiten Montag um acht in den Großmarkt. Wir nehmen dich gern mit. Oder, falls dir das lieber ist, kaufen wir für dich ein und bringen dir die Waren vorbei.«

»Wirklich? Das würdet ihr tun?« Jessie freute sich über dieses großzügige Angebot. »Ich beteilige mich selbstverständlich an den Spritkosten«, schlug sie sofort vor. Sie senkte die Stimme, als Mr Melony aus dem Laden trat und zu ihnen herüberschaute. »Ist wohl besser, wir besprechen das bei euch. Ich wollte deine Mutter sowieso noch um etwas bitten.«

»Dann geh schon mal vor«, entgegnete Sean und klopfte ihr zum Abschied auf die Schulter. »Mom kann dir sicher auch mit Äpfeln aushelfen. Erst letzte Woche haben wir von Farmer Barton eine Stiege voll bekommen.« Mit einem breiten Lächeln wandte er sich dem Inhaber des Lebensmittelladens zu. »Mr Melony, gut, dass ich Sie sehe. Ich brauche dringend vier Flaschen von Ihrer besten Worcestersoße.« Er hielt dem hageren Mann die Ladentür auf und folgte ihm ins Geschäft.

Jessie eilte zum Hintereingang des Pubs. Im Flur streifte sie die Schuhe von den Füßen und tapste auf Socken die Treppe hinauf. »Claire? Bist du da?«, rief sie und klopfte an die Küchentür.

»Lust auf ein zweites Frühstück? Immer herein in die gute Stube«, ertönte Fergus’ tiefe Stimme. Er hielt ihr die Tür auf und lächelte sie an. Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf eine Platte voller duftender Pancakes, die auf dem gedeckten Esstisch stand.

Beim Anblick der goldgelben Leckerei knurrte ihr Magen. Jessie fiel ein, dass sie außer einer Tasse Tee und einem Zwieback noch nichts zu sich genommen hatte. Ihr fehlte die Gesellschaft der Tante beim Frühstück, der liebevoll gedeckte Tisch, die kleinen Streitgespräche am Morgen.

»Mensch, Mädchen. Täusche ich mich, oder hast du heute noch nichts Anständiges gegessen?« Fergus schien ihre Gedanken zu lesen. Mit besorgter Miene drängte er sie an den Esstisch, schob ihr einen Stuhl zurecht und drückte ihr eine Tasse Tee in die Hand. »Pass bloß auf dich auf. Du brauchst jetzt deine Kräfte.«

»Wo sind Claire und Lou?« Jessie pustete in den dampfenden Tee, trank vorsichtig einige Schlucke.

»Mein holdes Weib bringt gerade die Kleine in den Kindergarten. Lou hat einen Termin bei ihrer Ärztin in Sneem.«

»Hoffentlich nichts Ernstes?«, fragte Jessie besorgt nach. Als Fergus ihr die Platte mit den Pancakes zuschob, griff sie beherzt zu.

Er reichte ihr den Ahornsirup und lächelte sie aufmunternd an. »Das fragst du sie lieber selbst. Irgendeine Frauensache. Mir sagt ja keiner was.«

In diesem Moment schwang die Küchentür auf. Mit großen Schritten marschierte Claire auf Jessie zu. »Habe ich doch richtig gesehen. Die Schuhe unten im Flur, das sind deine.« Sie strich ihr über die Wange und setzte sich neben sie an den Esstisch. »Sean kommt auch gleich. Ich habe ihn vor dem Haus getroffen. Er holt dir einen Beutel Äpfel aus der Speisekammer.« Claire legte den Kopf schief und schaute Jessie in die Augen. »Jetzt stärkst du dich erst mal, und dann begleite ich dich in die Teestube. Wie ich hörte, haben sich für morgen die ersten Gäste bei dir angemeldet.«

Jessie schluckte eilig den Bissen hinunter, an dem sie gekaut hatte. »Wie kommst du denn darauf?« Verwundert legte sie die Gabel aus der Hand. »Bisher habe ich doch mit keinem darüber gesprochen.«

Claire winkte lachend ab. »Hellsehen kann ich natürlich nicht. Aber als Sean mir sagte, dass du zehn Pfund Äpfel brauchst, habe ich eins und eins zusammengezählt.« Sie schenkte sich eine Tasse Tee ein, trank einen Schluck und lehnte sich entspannt zurück.

Pfeifend hantierte Fergus am Herd mit der Pfanne. Er goss etwas Öl hinein und verquirlte Eier in einer Schüssel. »Ich möchte zu gern wissen, warum ich heute das Frühstück zubereiten darf. Sean lässt doch sonst keinen an den Herd. Irgendwas scheint im Busch zu sein«, mutmaßte er.

»Ach, was du gleich wieder denkst.« Seine Frau beugte sich mit vorgehaltener Hand zu Jessie und raunte ihr verschwörerisch zu: »Gleich gibt es hoffentlich was zu feiern.«

»Aha«, murmelte sie und verstand nicht im Geringsten, was sie damit sagen wollte. In Gedanken war sie längst wieder in der heimischen Küche. Jessie seufzte hörbar, als sie an die komplizierte Zubereitung von Mauras Apfelkuchen dachte. »Wenn ich doch nur öfter mit meiner Tante gebacken hätte«, jammerte sie und warf Claire einen flehenden Blick zu. »Würdest du …? Äh. Kannst du …?«

Weiter kam sie nicht, denn im Hausflur erklang Lous glockenhelle Stimme. »Holt den Sekt aus der Kühlung. Gleich lassen wir die Korken fliegen.« Sie schien die Treppe hinaufzufliegen. Keine Minute später wirbelte sie durch die Küche, umarmte Fergus stürmisch und herzte Claire, ihre Schwiegermutter. Zu guter Letzt bekam Jessie einen Schmatzer auf die Wange. »Oh! Ich könnte die ganze Welt umarmen«, jubelte Lou. Als ihr Mann mit einer prall gefüllten Leinentasche die Küche betrat und sie fragend ansah, fiel sie ihm ebenfalls um den Hals. »Mein Schatz!«, jauchzte sie. »Unsere Nelly bekommt in sechs Monaten ein Geschwisterchen.«

Sean drückte seinem Vater den Beutel in die Arme, hob seine um einen Kopf kleinere Frau hoch und tanzte mit ihr um den Esstisch. »Du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt, mein Galway Girl. Ich liebe dich über alles.« Behutsam setzte er sie auf der Couch ab und schob ihr ein Kissen in den Rücken. »Du musst dich jetzt schonen. Keine schweren Tabletts mehr schleppen.«

Lachend küsste sie ihn auf die Nase. »Übertreib bitte nicht, mein Schatz. Ich bin nicht krank, nur schwanger. Bei der ersten Schwangerschaft habe ich bis kurz vor der Geburt hinter dem Tresen gestanden und Bier gezapft. Und genau das beabsichtige ich auch diesmal zu tun.«

»Wir passen auf, dass sie sich nicht übernimmt«, sagten Claire und Fergus fast gleichzeitig und strahlten. »Ist das nicht wundervoll, wir werden wieder Großeltern«, freuten sie sich.

Jessie rang sich ein Lächeln ab und nickte. »Wie schön für euch«, murmelte sie. Vier glückliche Menschen, und sie saß wie ein Trauerkloß dazwischen. Sicher, die Sullivans waren ihre Freunde. Sie wurde stets mit offenen Armen von ihnen empfangen. Aber Ersatz für eine eigene Familie waren sie nicht. Zu Hause hockte die Einsamkeit in allen Winkeln. Dort war niemand, der sich auf sie freute. Sie sehnte sich nach einem Mann, und tief in ihrem Inneren wuchs der Wunsch nach einem Kind. Noch vor einem Monat hatte sie Maura gegenüber behauptet, dass sie ihr Singledasein in vollen Zügen genieße, die langen Mädelsabende, die durchtanzten Nächte in der Disco. Aber das alles schien ihr auf einmal oberflächlich und belanglos. Gedankenverloren schaute sie aus dem Fenster. Am liebsten hätte sich Jessie klammheimlich aus der Stube geschlichen. Tapfer schluckte sie ihre Tränen hinunter, sagte mit rauer Stimme: »Herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich für euch.« Möglichst geräuschlos, als wollte sie die Idylle nicht stören, legte sie das Besteck auf den Teller und erhob sich. »Seid mir nicht böse, wenn ich jetzt gehe. Aber auf mich wartet noch so viel Arbeit.« Entschuldigend sah sie in die Runde.

»Bitte bleib noch einen Moment.« Fergus legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Claire nickte ihr zu. »Stoß mit uns an. Der Sekt wird dir guttun. Wir frühstücken gemütlich zusammen, und dann komme ich mit und helfe dir backen.« Ihre Augen glänzten feucht. »Mein Apfelkuchen ist zwar nicht so legendär wie der von Maura, aber wenn wir uns strikt an ihr Rezept halten, dürfte uns der auch gelingen.« Sie stutzte, legte einen Arm um Jessies Schultern und drückte sie an sich. »Ich vermisse Maura doch auch. Erst vorletzten Sonntag haben wir abends hier zusammengesessen und Tee getrunken.« Sie schluckte hörbar. »Sie schwärmte von dir, wie so oft.«

»Ja?« Ungläubig riss Jessie die Augen auf. »Erinnerst du dich vielleicht noch daran, was sie gesagt hat? Das wäre mir wirklich wichtig.« Zögerlich erklärte sie: »Wir hatten einen fürchterlichen Streit. Tante Maura kam morgens zu mir ins Zimmer und bat mich, ihr beim Backen zur Hand zu gehen. ›Doch nicht so früh‹, habe ich ihr an den Kopf geworfen. ›Lass mich ausschlafen.‹« Stöhnend raufte sie sich die Haare. »Ich war so verdammt egoistisch.« Sie nahm das Glas Sekt, das Sean ihr reichte, und nippte nachdenklich daran. »Erst heute wird mir klar, wie schwer ihr die Arbeit fiel. Als ich mittags aufstand, lag sie mit bemehlter Schürze auf ihrem Bett und schlief.«

Lou erhob sich von der Couch, stellte sich hinter sie und strich ihr über den Rücken. »Deine Tante sagte, du seist das Beste, was ihr passiert ist, ihr Sonnenschein. Ich habe es selbst gehört.«

»Das erzählst du mir doch nur, um mich zu trösten.« Obwohl die Worte sie wärmten, wehrte Jessie sie vehement ab. Sie zögerte einen Moment, richtete sich auf und griff erneut zum Sektglas. »Genug gejammert«, sagte sie mit fester Stimme. »Trinken wir auf das neue Leben, das in Lou heranwächst. Und …« Sie traute sich nicht, weiterzusprechen.

Da beugte sich die junge Wirtin vor und raunte ihr zu: »Sean und ich hätten dich gern als Patin für unser zweites Kind. Was denkst du?«

Jessie nickte überwältigt, lehnte den Kopf an Lous Bauch und blinzelte eine einzelne Träne weg. »Ja, das würde ich sehr gern.« Sie räusperte sich, holte tief Luft und sagte mit fester Stimme: »Ich möchte versuchen, dem Kleinen eine genauso gute Tante zu sein, wie Maura es für mich war. Es wird Zeit, dass ich endlich Verantwortung übernehme.«

Kapitel 4

Das Haus duftete nach Äpfeln und Zimt. In der Teestube lagen weiße Deckchen auf den Tischen, und das Kunden-WC blitzte vor Sauberkeit.

»So, das hätten wir«, sagte Claire und faltete ihre Schürze zusammen. »Die ersten Gäste können kommen. Deine Teestube ist bereit.«

Jessie gähnte verstohlen hinter vorgehaltener Hand. »Wie kann ich das nur wiedergutmachen? Ohne dich hätte ich das nie geschafft.« Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht beim Blick in die gut bestückte Kuchenvitrine. »Zwei Apfelkuchen, eine Brombeerpie und zwanzig Blaubeermuffins«, zählte sie auf. »Ich hätte sicher drei Tage gebraucht, um das alles zu backen. Ob die Kuchen dann auch noch so perfekt aussehen würden, bezweifle ich.« Ihr Herz war voller Dankbarkeit für diese resolute Frau, die mit ihrer Tatkraft und Energie wahre Wunder vollbracht hatte. Jessie umarmte Claire und küsste sie rechts und links auf die Wange. »Du wirkst kein bisschen müde. Ich bin total erledigt. Dabei habe ich die meiste Zeit nur neben dir gestanden und zugeschaut, wie du backst. Allein die Putzerei hat mich völlig geschafft.«

»Ach, Kindchen.« Die ältere Freundin schmunzelte. »Das ist doch völlig normal. Für mich sind das routinierte Handgriffe. Dir fehlt die jahrelange Übung. Noch ein, zwei Wochen, dann hast du dich an die Arbeit gewöhnt, und dir geht alles leichter von der Hand.« Sie nahm ihren Wollmantel vom Garderobenhaken und streifte ihn über. »Heute holt Fergus unsere kleine Nelly vom Kindergarten ab. Sean hat sicher Eintopf für uns gekocht und Lou geputzt. Du siehst, ich kann mich den Rest des Tages ganz entspannt in den Sessel setzen.«

Ungläubig schüttelte Jessie den Kopf und hielt ihr die Tür auf. »Das möchte ich gern sehen. Wie ich dich kenne, tollst du gleich mit deiner Enkelin durch das Haus. Wo nimmst du nur die ganze Energie her?«

Claire trat aus der Tür, blieb auf der obersten Treppenstufe stehen und schaute zum Pub hinüber. »Meine Familie gibt mir Kraft. Wenn es mir mal nicht so gut geht, fängt sie mich auf. Auch wenn ab und zu die Fetzen bei uns fliegen, können wir uns kaum vorstellen, ohne einander auszukommen.« Sie strich Jessie eine Haarsträhne aus der Stirn und lächelte sie warmherzig an. »Ich bin mir sicher, dass du das eines Tages auch haben wirst: einen liebevollen Mann, ein Kind.«

»Sicher. Aber Männer wie Fergus oder Sean sind heutzutage Mangelware.« Jessie schob seufzend ihre Finger in die Hosentaschen und schaute die Hauptstraße hinauf. »Die Typen, die mir bisher über den Weg gelaufen sind, waren alle Flops. Mein erster Freund hat mich schon nach drei Wochen mit seiner Ex betrogen. Als ich dahinterkam, schlug er doch tatsächlich eine Beziehung zu dritt vor.« Sie schüttelte sich bei dem Gedanken. »Und der letzte Mann, mit dem ich zusammen war, verbrachte mehr Zeit mit seinem Motorrad als mit mir.«

»So was kann man nicht erzwingen«, entgegnete Claire nachdenklich. »Bei Fergus und mir war das keineswegs Liebe auf den ersten Blick. Seine Eltern hatten mich als Küchenhilfe eingestellt. Sobald er in die Küche kam, flogen zwischen uns die Fetzen. Mit seiner gemütlichen Art brachte er mich ständig zur Weißglut. Schließlich hat seine Mutter Fergus und mich in die Speisekammer geschickt und kurzerhand die Tür hinter uns verschlossen. Tja, und da sind wir uns sprichwörtlich nähergekommen.« Sie nestelte an ihrem Mantel, lief die Treppe hinunter und winkte. »Viel Glück für den Neustart«, rief sie gut gelaunt und schlenderte Richtung Pub.

Jessie lehnte in der offenen Tür, sog die würzige Novemberluft ein. Vom Atlantik wehte eine frische Brise herüber. Möwen zogen kreischend ihre Bahnen über der Bucht. Sie schloss die Augen, träumte von langen Spaziergängen am Strand, einer Männerhand, die ihre fest umschloss. In der Ferne heulte ein Motor auf. Als das Geräusch näher kam, war sie mit einem Schlag hellwach. Wenn das nicht der satte Sound einer Harley war.

»Oh nein! Der hat mir gerade noch gefehlt!«, jammerte sie. Warum nur hatte sie nicht auf Mortons Trauerkarte reagiert? Sie ärgerte sich maßlos, ihm keine eindeutige Absage per WhatsApp geschickt zu haben. War ja klar, dass er ihr Schweigen als Zustimmung deuten würde. Jetzt freute er sich garantiert schon auf den Versöhnungssex. »Das kannst du dir abschminken!«, fluchte sie und schloss die Tür hinter sich. Sie würde ihm erst gar nicht die Gelegenheit geben, ihr auf die Pelle zu rücken.

Die Fäuste in die Hüften gestemmt, baute sie sich auf der Treppe auf und beobachtete die heranbrausende Harley. Sie traute ihren Augen kaum, als der Fahrer vor der Ortseinfahrt abbremste. Gemächlich fuhr er an ihr vorbei und bog dann in die alte Dorfstraße ein. Das konnte unmöglich Morton sein. Der hätte den Motor aufheulen lassen, um die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu ziehen. Erleichtert atmete Jessie auf und beeilte sich, wieder in die warme Teestube zu kommen.

Sie bummelte zufrieden von Tisch zu Tisch und begutachtete ihr Werk. Gelbe Herbstastern leuchteten wie kleine Sonnen in den Tischvasen. Sie hatte vom wilden Wein, der die Gartenmauer emporrankte, dunkelrote Blätter abgeknipst. Die dienten jetzt als Untersetzer für die Zuckerstreuer. Mini-Kürbisse auf der Fensterbank komplettierten die herbstliche Deko. Nebenan in der Teeküche warteten Stövchen und bauchige Teekannen auf ihren Einsatz. Gedankenverloren nahm sie eine Emailledose aus dem Regal, öffnete den Deckel und schnupperte. Mauras Lieblingstee verströmte einen intensiven Duft von Bergamotte.

Denk dran, hörte sie die Tante mahnen. Der darf maximal drei Minuten ziehen, sonst wird er zu bitter.

Jessie prüfte den Inhalt der anderen Dosen. Darjeeling, Earl Grey und der bei Kindern besonders beliebte Apfelminztee. Selbst so ausgefallene Sorten wie Jasmin und Sencha gehörten zum Sortiment. Diese Auswahl konnte locker mit jeder Teestube in Dublin mithalten. Jessie ging in Gedanken noch einmal die unterschiedlichen Arten der Zubereitung durch, da ertönte die kleine Glocke über dem Eingang.

Jemand räusperte sich, dann bellte ein Hund. »Pst, Milli«, hörte sie einen Mann sagen. Rasch stopfte sie ihre Bluse wieder in die Jeans und fuhr sich durch die Haare. Mit einem Kunden hatte sie heute gar nicht gerechnet. »Hallo, Edward«, sagte sie überrascht, als sie den Tierarzt erkannte. »Möchtest du einen Brief aufgeben, oder hat dich der Kuchenduft angelockt? Darf ich dir eine Tasse Tee servieren?« Mit einer einladenden Geste deutete sie in die Teestube.

Er drehte seinen Lederhut in den Händen, fuhr sich durch die braunen Locken, zwischen die sich vereinzelte graue Haare verirrt hatten. »Äh.« Er schien zu überlegen. »Ja, sehr gern. Aber nur, falls es für dich okay ist, dass ich den Hund mitnehme. Ich möchte ihn ungern allein im Auto lassen.«

»Das ist kein Problem. Tante Maura hat für vierbeinige Gäste extra Leckerlis und einen Wassernapf angeschafft«, beeilte sie sich zu sagen. Sie kannte den stämmigen Mann vom Pub. Aber mehr als ein paar belanglose Sätze über das Wetter hatte sie bisher nicht mit ihm gewechselt. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, hockte sie sich vor den Rauhaardackel. Der schaute sie mit schief gelegtem Kopf an. »Du bist ja ein ganz braver«, sagte sie und kraulte ihn zaghaft hinter den Ohren. »Ist das nicht Mr Miller, der Dackel aus der Töpferei?« Sie blinzelte Edward an. Dann erhob sie sich, strich ihre langen blonden Haare zurück und hielt dem Tierarzt und seinem haarigen Begleiter die Tür zur Teestube auf. »Bitte nimm doch Platz. Tee kommt sofort. Möchtest du auch ein Stück Kuchen?«

»Mr Miller ist mein Wochenendgast. Moya und Robin, die Glücklichen, sind auf Hochzeitstrip in Paris.« Edward linste zur Vitrine und schnalzte genießerisch mit der Zunge. »Ich nehme gern einen Blaubeermuffin und für Mr Miller einen Napf Wasser. Gegen ein Leckerli hat er sicher nichts einzuwenden.« Sein Blick fiel auf Mauras Foto. Er stellte sich davor, nickte ihr zu und faltete die Hände. Es schien, als spräche er ein stummes Gebet.

Jessie wagte nicht, seine Andacht zu stören, und blieb reglos im Türrahmen stehen. Verstohlen musterte sie ihn von der Seite. Edward hatte etwa ihre Größe. Wie alt mochte er sein? Mit seinen grauen Schläfen und den Augenfältchen schätzte sie ihn auf vierzig. Doch sein kräftiger, durchtrainierter Körper schien ihr keinen Tag älter als fünfunddreißig. Ertappt senkte sie den Blick, als er sich ihr zuwandte.

»Ich war schon auf dem Weg zur Beerdigung, da wurde ich zu einem Notfall auf die Watson-Farm gerufen«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Eine komplizierte Geburt bei einer Zuchtkuh.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Deshalb bin ich heute gekommen, um dir mein Beileid auszusprechen. Es tut mir sehr leid, dass du deine Tante so früh verloren hast. Sie war sicher wie eine Mutter für dich.« Bedächtig trat er auf sie zu und reichte ihr die Hand. Sein Griff war fest und warm. In seinen braunen Augen schimmerte ehrliches Mitgefühl. »Deine Tante ist mit meiner Mutter zur Schule gegangen. Wusstest du das?«

Sie schielte auf ihre Hand, die er noch immer in seiner hielt. Zaghaft zog sie sie zurück und nickte. »Maura hat oft von ihrer besten Freundin geredet. Es ging ihr damals sehr nahe, dass deine Mutter so früh an Krebs gestorben ist.« Sie rückte einen Stuhl am Fenster zurecht. »Setz dich doch. Ich koche rasch Tee.«

»Du trinkst doch eine Tasse mit mir?« Statt Platz zu nehmen, folgte Edward ihr in die angrenzende Teeküche, lehnte sich an die Tür zur Vorratskammer und schaute ihr bei der Teezubereitung zu.

Jessie war froh, dass sie wenigstens diese Handgriffe aus dem Effeff beherrschte. Als sie eine Kanne Darjeeling, Milch und zwei Gedecke auf ein Tablett stellte, nahm Edward es ihr ab und trug es an den Tisch.

»Du bist mir vielleicht einer«, beschwerte sie sich halbherzig. »Nimmst mir einfach die Arbeit ab. Dabei bin ich doch diejenige, die dich bewirten sollte.« Seine zupackende Art gefiel ihr. Sie begann, sich in seiner Nähe zu entspannen. Wie zwei alte Bekannte saßen sie bei Tee und Muffins zusammen und plauderten. Zu ihren Füßen kaute Milli zufrieden an einem Leckerli.

»Deinen Alltag als Tierarzt stelle ich mir sehr spannend vor.« Jessie goss Tee nach und beugte sich vor, um Edward aufmerksam zu lauschen. »Erzähl doch mal.«

»Ach.« Er winkte ab. »Ganz so aufregend, wie du denkst, ist das wirklich nicht. Die meiste Zeit habe ich mit kranken Schafen oder Rindern zu tun.« Ein schelmisches Grinsen huschte über sein Gesicht. »Nur äußerst selten verirren sich Exoten in meine Praxis. So wie letzte Woche. Da brachte ein Mann aus Killarney seine Vogelspinne zur Behandlung. Die fraß nicht mehr.«

Jessie schüttelte sich. »Oje. Das wäre nichts für mich. Allein bei dem Gedanken an diese haarigen Biester bekomme ich Gänsehaut.«