Die kleine Taschennäherei zum Glück - Anne Labus - E-Book
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Die kleine Taschennäherei zum Glück E-Book

Anne Labus

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Beschreibung

Vom Zauber eines Neubeginns.

In Lenas Leben ist nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes Martin nichts mehr so, wie es einmal war. Nun studiert ihr Sohn in einer anderen Stadt und sie sitzt alleine in ihrer Wohnung und widmet sich dem Nähen. Denn nur an ihrer Nähmaschine vergisst Lena ihren Kummer. Völlig unverhofft erhält sie eine Einladung von Chris, Martins jüngerer Schwester, die zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern eine Schaffarm im irischen Busby betreibt. Kurzentschlossen packt Lena ihren Koffer und reist in das kleine idyllische Dorf. Endlich ein Tapetenwechsel! Von der Dorfgemeinschaft in Busby wird Lena herzlich aufgenommen. Im Handarbeitskreis trifft sie auf die Weberin Kathy, mit der sie sich anfreundet und schon bald eigene Taschen entwirft und näht. Dann begegnet sie auf einer Wanderung Jack, dem Dorfarzt von Busby. Er hat die Enttäuschung über seine gescheiterte Ehe nie ganz überwinden können und bald schon hat Lena beim Gedanken an den kauzigen, verschlossenen Kerl Schmetterlinge im Bauch …

Als Chris und Dan ihr ein unverhofftes Angebot machen, muss Lena eine Entscheidung treffen. Will sie zurück in ihr altes Leben oder wagt sie doch noch einen Neuanfang?

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Über das Buch

Vom Zauber eines Neubeginns

In Lenas Leben ist nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes Martin nichts mehr so, wie es einmal war. Nun studiert ihr Sohn in einer anderen Stadt und sie sitzt alleine in ihrer Wohnung und widmet sich dem Nähen. Denn nur an ihrer Nähmaschine vergisst Lena ihren Kummer.

Völlig unverhofft erhält sie eine Einladung von Chris, Martins jüngerer Schwester, die zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern eine Schaffarm im irischen Busby betreibt. Kurzentschlossen packt Lena ihren Koffer und reist in das kleine idyllische Dorf. Endlich ein Tapetenwechsel!

Von der Dorfgemeinschaft in Busby wird Lena herzlich aufgenommen. Im Handarbeitskreis trifft sie auf die Weberin Cathy, mit der sie sich anfreundet und schon bald eigene Taschen entwirft und näht. Dann begegnet sie auf einer Wanderung Jack, dem Tierarzt von Busby. Er hat die Enttäuschung über seine gescheiterte Ehe nie ganz überwinden können und bald schon hat Lena beim Gedanken an den kauzigen, verschlossenen Kerl Schmetterlinge im Bauch …

Als Chris und Dan ihr ein unverhofftes Angebot machen, muss Lena eine Entscheidung treffen. Will sie zurück in ihr altes Leben oder wagt sie doch noch einen Neuanfang?

Über Anne Labus

Anne Labus, Jahrgang 1957, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Udo Weinbörner, in der Nähe von Bonn. Nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau arbeitete sie unter anderem als selbständige Fitness- und Pilatestrainerin. Die Leidenschaft für das Reisen hat sie an ihren Sohn vererbt, der auf Hawaii seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Die Autorin entspannt sich beim Kochen, liebt Bergtouren und lange Strandspaziergänge. Inspirationen für ihre Romane findet sie in Irland und Italien oder auch auf Spiekeroog.

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Anne Labus

Die kleine Taschennäherei zum Glück

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Claires berühmtes Irish Stew — Irischer Eintopf

Nachwort

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

1

Ihre Hand griff ins Leere. Wie eine Welle breitete sich die Angst in ihr aus, umklammerte das Herz und machte es ihr fast unmöglich, zu atmen. Er lag neben ihr, röchelte und schlug panisch um sich. Doch sie war gefangen in ihrem eigenen Körper, unfähig, sich zu bewegen, und sah hilflos mit an, wie er seinen letzten Atemzug tat.

Schweißgebadet sprang Lena aus dem Bett, stolperte im Dunkeln über ihre Hausschuhe und tastete sich Schritt für Schritt vorwärts. Sie hielt den Kopf aus dem offenen Fenster und saugte gierig die kühle Nachtluft ein. Endlich ließ die Panikattacke nach, ihr Puls verlangsamte sich, und sie konnte wieder durchatmen.

Lena versuchte gar nicht erst, weiterzuschlafen. Die Angst würde zurückkommen, das wusste sie. Mit zitternden Händen griff sie nach Martins altem Skipullover, der auf seiner Betthälfte lag. Sie streifte ihn über ihren Schlafanzug. Noch immer hing der Geruch ihres Mannes in den Wollfasern, vermittelte ihr das Gefühl, ihn in ihrer Nähe zu haben.

Wann würden diese Alpträume endlich aufhören? Wie oft musste sie Martins Todeskampf noch durchleben?

Im Schein der Straßenlaterne schlich sie in ihr kleines Nähzimmer, schaltete nur die Lichtleiste über der Nähmaschine an und griff in den Karton, der neben ihrem Arbeitstisch stand. Sie wühlte durch abgetragene Hosen und Hemden sowie unzählige Stoffreste und zog eine zerschlissene Jeans hervor.

»Du willst mir doch nicht etwa meine absolute Lieblingsjeans wegnehmen«, hatte Martin gesagt und sich nur schweren Herzens von der ausgefransten Arbeitshose getrennt, die ihm so viele Jahre als Feierabenddress gedient hatte. Er hatte es »die Uniform ablegen« genannt, wenn er den Anzug ausgezogen, Oberhemd und Krawatte abgelegt und sich stattdessen Jeans und T-Shirt übergestreift hatte.

Vorbei, aus und vorbei! Fünfundzwanzig gemeinsame Jahre mit einem Schlag beendet! Lena schluckte ihre Tränen hinunter, kämpfte mit dem Kloß, der sich in ihrem Hals breitmachte. Entschlossen griff sie zur Schere, trennte die Hosenbeine von der Jeans, schnitt gleich große Stücke aus Vorder- und Rückseite, nähte, versäuberte. Doch irgendetwas störte sie an dem Gedanken, dass aus seiner Lieblingshose ein simpler Einkaufsbeutel werden sollte, der irgendwann lieblos im Kofferraum eines Wagens herumliegen würde. Spontan griff sie zum oberen Teil der Jeans. Vorsichtig trennte sie die Seitennähte auf, so dass Vorder- und Rückseite erhalten blieben. Aus einem Kunstlederrest schnitt sie einen schmalen Streifen für den Taschenboden zu und befestigte ihn an den Seitenteilen. Aus einem Einkaufsbeutel fertigte sie das Futter und fixierte es in der Jeanstasche. Als Verschluss diente ihr ein großer Druckknopf, den sie auf den Innenseiten des Hosenbundes anbrachte. Martins blauer Ledergürtel wurde kurzerhand zum Schulterriemen umfunktioniert.

Als vor dem Haus die Müllabfuhr mit den Mülltonnen klapperte, hob sie zum ersten Mal den Kopf von ihrer Arbeit und schaute nach draußen. Weil ihre Augen brannten und sie ihre Füße vor Kälte nicht mehr spürte, kroch sie gegen Morgen ins Bett und fiel in einen kurzen, oberflächlichen Schlaf, die Jeanstasche wie ein Schmusetier im Arm.

»Sorry, Lena, habe ich dich geweckt?«, ertönte wie durch Watte die Stimme ihrer Schwägerin am Telefon. »Es tut mir unendlich leid, dass wir nicht bei Martins Beerdigung waren. Ich hätte so gern von ihm Abschied genommen. Aber ich konnte meinen Mann doch unmöglich mit der Arbeit allein lassen.«

»Das verstehe ich«, murmelte Lena und zog den Pullover enger um ihren Körper. In Wirklichkeit verstand sie überhaupt nichts. Was konnte wichtiger sein, als der Familie bei der Beerdigung des Bruders tröstend zur Seite zu stehen? Eine peinliche Gesprächspause entstand.

»Ist Tobi wieder zurück nach Aachen?«, wollte Christina wissen, und als Lena ihr erzählte, dass ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn eifrig an seiner Masterarbeit schreibe und direkt nach der Beerdigung gefahren sei, lenkte Chris sofort ein: »Wie schrecklich! Dann bist du ja allein in dem großen Haus.«

»Ach, halb so schlimm. Das geht schon. Muss ja«, raunte Lena mit belegter Stimme und hätte das Gespräch am liebsten beendet. Was sollte sie der Schwester ihres Mannes sagen, die seit zehn Jahren in Irland lebte und sich nur alle paar Monate per E-Mail meldete? Diese Entfernung zwischen ihnen ließ sich mit einem Telefonat nicht überbrücken. Der Höflichkeit halber fragte Lena aber nach den Zwillingen und wollte wissen, wie das Wetter in Irland sei.

»It’s nice between two showers, dieses abgedroschene Sprichwort trifft es wahrscheinlich am besten. Für April ist es schon angenehm mild. Aber davon musst du dir selbst ein Bild machen. Deshalb rufe ich an. Komm zu uns nach Busby. Du kannst in unserem kleinen Gästehaus wohnen, solange du willst. Der irische Wind wird dir die Sorgen aus dem Kopf blasen, und du kommst zur Ruhe. Die Zwillinge würden sich freuen, Dan und ich natürlich auch. Ich möchte dir so gern zeigen, wie wir leben, mit dir am Strand spazieren gehen und dich verwöhnen. Bitte sag Ja!«

Lena schwieg und starrte aus dem Fenster. Dieses Jahr würde sie das Beet ohne Martins Hilfe umgraben …

»Lena, bist du noch dran?«

»Ich kann doch das Haus und den Garten nicht allein lassen.« Ihr schwacher Versuch, die Einladung auszuschlagen.

»Doch, das kannst du! Gib deiner Nachbarin den Schlüssel, und dann komm. Martin hätte es so gewollt.« Chris konnte wirklich hartnäckig sein.

»Ich verspreche, dass ich darüber nachdenke«, murmelte Lena und beendete abrupt das Gespräch.

Auf dem Weg ins Bad blieb sie vor Martins Bild stehen. Er lächelte sie an, als wolle er ihr Mut machen. »Nur weil ich für ein paar Tage auf Dienstreise bin, musst du dich nicht hinter deiner Nähmaschine verschanzen«, hatte er gesagt, bevor er wieder einmal nach Brüssel geflogen war. »Geh mit deinen Mädels ins Kino, oder mach einen Einkaufsbummel auf der Friedrichstraße.«

Sie hatte genickt und dennoch lieber im Garten gearbeitet oder Taschen und Schürzen für den Kirchenbasar genäht. Seit sie in Berlin lebten, arbeitete Lena an drei Vormittagen im Empfangsbereich einer Massagepraxis. Mit Feuereifer hatte sie sich um die Renovierung und Neueinrichtung des Hauses im Berliner Stadtteil Frohnau gekümmert und sich im Garten ausgetobt. Martin hatte es genossen, nach einem langen Arbeitstag nach Hause zu kommen und von ihr kulinarisch verwöhnt zu werden. Manchmal hatte er sie nach Brüssel mitgenommen, wo sie durch die Stadt gebummelt war und Museen besucht hatte, während Martin Sitzungen geleitet und auf europäischer Ebene verhandelt hatte.

»Ihr seid doch nicht normal«, hatte ihr Sohn eines Sonntagnachmittags gesagt, als sie wie zwei frisch verliebte Teenager auf der Couch gesessen und sich geküsst hatten. »Die meisten Eltern meiner Kumpels sind geschieden.« Er hatte sie angegrinst und gesagt: »Weitermachen«, bevor er das Haus verlassen hatte.

Lena strich zärtlich über das Bild ihres Mannes und beschloss, die Einladung der Schwägerin mit ihrer Nachbarin und besten Freundin Susanna zu besprechen. Gleich nach dem Frühstück würde sie zu ihr gehen. Während sie lustlos in ihrem Müsli herumstocherte, klingelte es an der Haustür, und kurz darauf wurde die Tür aufgeschlossen. »Ich bin’s!«, ertönte Susannas Stimme. »Deine Wohnzimmerrollos sind immer noch unten, da habe ich mir Sorgen gemacht.«

Seit Martins Tod kümmerten sich Susanna und Klaus rührend um Lena, brachten ihr regelmäßig einen Eintopf vorbei oder baten sie zum Essen zu sich. Die pensionierten Lehrer wohnten im Nachbarhaus und waren seit Lenas und Martins Einzug ihre besten Freunde. Damals waren sie mit Brot und Salz vor der Tür gestanden und hatten die neuen Nachbarn zum Grillen eingeladen. Während Martin und Klaus schon bald ihre gemeinsame Leidenschaft für das Schachspielen entdeckt hatten, hatte Susanna Lena zum Frauentreff in die Kirchengemeinde mitgenommen und ihr das Nähen beigebracht.

»Komm, setz dich, und trink einen Kaffee mit mir«, bat Lena ihre Freundin und rückte ihr einen Stuhl zurecht.

»Hast du wieder die halbe Nacht im Nähzimmer gehockt?« Susanna strich ihr besorgt über die Wange. »Willst du nicht doch mal eine von meinen Schlaftabletten ausprobieren? Du musst wieder in einen normalen Schlafrhythmus finden, sonst streikt dein Körper irgendwann.«

»Du weißt, dass ich nichts von den Pillen halte. Hab ich schon mal ausprobiert und bin den nächsten Tag wie besoffen herumgerannt. Nee, ich muss das ohne Tabletten schaffen.« Energisch schüttelte Lena den Kopf. »Heute Morgen hat meine Schwägerin angerufen und mich eingeladen, sie in Irland zu besuchen.«

»Und jetzt willst du von mir wissen, ob du fahren sollst?« Susanna lächelte Lena aufmunternd an. »Natürlich fährst du! Klaus und ich kümmern uns um euer Haus und den Garten.«

»Aber nächste Woche ist Ostern. Da wollte Tobias doch kommen.« Nachdenklich runzelte Lena die Stirn.

»Dein Sohn wird sicher Verständnis dafür haben, dass du mal rausmusst. Wenn nicht, rede ich mit ihm. Auf mich hört er. Und jetzt iss endlich dein Müsli auf, und komm mit mir zum Frauentreff. Es wird Zeit, dass du wieder unter Leute kommst.« Susanna klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und stand auf.

Eine halbe Stunde später fuhren die beiden Frauen in Susannas altem Golf zum Gemeindehaus, im Kofferraum einen Wäschekorb voll Taschen und Schürzen, die Lena genäht hatte. Susanna hatte ihre selbst gestrickten Socken dazugelegt und scherzhaft gemeint: »Falls die Sachen sich gut verkaufen, machen wir zwei einen Handel damit auf.«

Im Gruppenraum herrschte emsiges Treiben. Wie jeden Mittwochmorgen trafen sich hier etwa zwanzig ältere Frauen. Lena zählte mit ihren sechsundvierzig Jahren zu den Youngstern. Sie nähten oder bastelten für den Basar, tranken Unmengen an Kaffee und besprachen alle ihre kleinen und großen Sorgen. Mit lautem »Hallo« wurde Lena von ihren Freundinnen begrüßt und in den Arm genommen.

»Wie lang warst du jetzt nicht hier, vier Monate?«, fragte Gerda, eine resolute Siebzigjährige, die so etwas wie die Gruppenleiterin war, zumindest glaubte sie das. »Na, wenigstens warst du in der Zwischenzeit fleißig«, bemerkte sie mit Blick auf den gefüllten Wäschekorb. »Du kannst dich nicht ewig in deinem Haus einschließen, irgendwann musst du dich dem Leben wieder stellen. Das musste ich auch.«

Lena warf Gerda einen traurigen Blick zu und drehte sich um. Auf Ratschläge dieser Art konnte sie verzichten. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht. Doch sie hatte versprochen, den neuen Teilnehmerinnen das Nähen von Einkaufstaschen beizubringen. Also hockte sie sich an die Nähmaschine, bat die zwei Neuen, sich neben sie zu setzen, und erklärte ihnen jeden einzelnen Arbeitsschritt.

»Eigentlich ganz einfach. Ihr müsst nur zwei gleich große Stücke Stoff an drei Seiten zusammennähen, die Kanten versäubern und dann die Trageschlaufen ansetzen. Am besten versucht ihr es selbst einmal«, ermunterte sie ihre Schülerinnen und eilte zu ihrer Freundin, die in der Küche stand und Kaffee kochte. »Lass uns fahren.« Lena zupfte Susanna am Ärmel und zog sie mit sich in den Flur. »In meinem Kopf geht es zu wie in einem Bienenhaus. Ich bin die vielen Menschen nicht mehr gewohnt. Am liebsten möchte ich allein sein.«

»Geh schon mal vor zum Auto. Ich komme gleich nach«, sagte ihre Freundin und verschwand im Gemeinschaftsraum. Als sie zurückkam, grinste sie zufrieden. »Ich habe uns abgemeldet und Gerda nebenbei zu verstehen gegeben, dass ich ihr Verhalten dir gegenüber für unmöglich halte. Was bildet sich diese selbstgerechte Kuh eigentlich ein? Ihr Mann ist mit zweiundachtzig friedlich im Fernsehsessel eingeschlafen. Dein Mann war erst zweiundfünfzig, als er starb. Stand mitten im Leben. Es wird Zeit, dass du den alten Tanten mal den Rücken kehrst und nach vorn schaust. Am besten, du packst gleich deine Koffer und fährst nach Irland.« Susanna hatte sich in Rage geredet. Mit glühenden Wangen stand sie vor Lena, die Hände auf die Schultern der jüngeren Freundin gelegt.

Mit Tränen in den Augen nickte Lena. »Du hast recht. Ich muss hier raus, sonst schaffe ich das nicht.«

Den Rest des Tages griff Lena immer wieder zum Telefon, um es gleich darauf zur Seite zu legen. In Gedanken bastelte sie sich die passenden Worte für ihren Sohn zurecht. Suchte nach Entschuldigungen, warum sie nach Irland fahren wollte. Dann sah sie Tobis traurige Augen vor sich, der so sehr unter dem Tod seines geliebten Dad litt.

Morgen rufe ich ihn an, dachte sie, während sie in der Küche stand und Grießbrei kochte. Der weiche, süße Brei war das Einzige, was sie im Moment mit Appetit essen konnte. Schon als Kind hatte ihre Lieblingsspeise sie über so manche schlechte Note und später über den ersten Liebeskummer hinweggetröstet. Mit der Breischüssel vor der Brust saß sie vor dem Fernseher und schaute sich eine langweilige Tierdoku an, als das Telefon klingelte.

»Hey, Mama, wie geht’s dir?« Der Klang von Tobias’ Stimme hatte sich verändert, war männlicher, wärmer geworden.

»Hallo, mein Großer.« Statt mit ihm über ihre Reisepläne zu reden, fragte sie nach seinen Freunden und der Masterarbeit.

»Deshalb rufe ich an. Wärst du sehr enttäuscht, wenn ich über Ostern in Aachen bliebe? Einer meiner Kumpels feiert seinen Geburtstag nach. Ich komme das nächste Wochenende zu dir, vielleicht bringe ich jemanden mit«, verkündete Tobias.

»Das tut mir leid, mein Schatz. Die nächsten Wochen bin ich nicht zu Hause. Christina hat mich nach Irland eingeladen.« Jetzt war es raus. Lena atmete erleichtert auf. Warum sollte sie nicht nach Irland fahren, wenn ihr Sohn sich schon wieder ins studentische Nachtleben stürzen konnte? Statt eines zustimmenden »Find ich klasse, Mama, dass du das machst« murrte Tobias am anderen Ende der Leitung nur: »Okay, dann lernst du meine neue Freundin eben später kennen. Ich kann dir aber nicht sagen, wann ich wieder Zeit finde, nach Berlin zu kommen.«

2

Drei Tage vor ihrer Abreise stellte Lena den gepackten Rollkoffer in den Hausflur. Christina schien zu ahnen, wie schwer es ihr fiel, sich auf diese Reise einzulassen. Wie einem Kind, das auf seine erste Klassenfahrt geht, hatte die ehemalige Lehrerin genau aufgelistet, was Lena mitnehmen sollte: »Am besten nur T-Shirts und Jeans, einen dicken Pullover (falls du leicht frierst) und vor allem eine wetterfeste Jacke und derbe Schuhe (Wanderschuhe und ein paar normale). Für den Ostertanz kannst du ein Kleid einpacken (muss aber nicht sein).«

Außerdem hatte ihr die Schwägerin Flugdaten und Bahnverbindungen herausgesucht: »Du fliegst nach Cork und nimmst von dort den Zug nach Killarney. Dort holen wir dich dann ab.« Unter dem beigefügten Familienfoto stand: »Damit du uns erkennst.«

Lena ärgerte sich über die Bevormundung. Besonders der Hinweis auf den Ostertanz machte sie wütend. Glaubte die Schwägerin tatsächlich, sie würde vier Monate nach Martins Tod wieder ausgelassen feiern, sich womöglich mit fremden Männern im Walzertakt wiegen? Lena war kurz davor, die Reise wieder abzublasen. Als ihr Blick aber auf das Foto der irischen Familie fiel, stellte sie sich vor, wie enttäuscht die Zwillinge sein würden, die sich so auf sie freuten. Also schluckte sie ihren Ärger hinunter, schnappte sich die Liste und arbeitete sie Punkt für Punkt ab. Zuerst wollte sie kein Kleid mitnehmen, aber dann landete doch das dunkelbraune Wollkleid zusammen mit der dicken Strumpfhose im Koffer. Die schweren Wanderstiefel würde sie auf dem Flug tragen – das sparte Gewicht –, dazu die wetterfeste Wanderjacke und einen Rucksack als Handgepäck. Lena kletterte auf einen Küchenstuhl, den sie vor den Einbauschrank im Flur geschoben hatte. Im obersten Fach wühlte sie zwischen Einkaufskörben und alten Aktentaschen und angelte den Rucksack aus der hintersten Ecke. Seit ihrem letzten Wanderurlaub im Harz vor zwei Jahren war er nicht mehr zum Einsatz gekommen. Die Erinnerung an ein verregnetes Wochenende in Braunlage, eine zweistündige Wanderung mit triefend nassen Klamotten und ausgiebige Kuscheleinheiten im Hotelzimmer raubte ihr für einen Moment den Atem. Ihr wurde schwindlig, und sie suchte Halt an der Flurgarderobe. Als sie vom Stuhl stieg, verfing sich ihre Hand an der Jeanstasche, die dort an einem Haken baumelte. Während sie über den Jeansstoff strich, hatte sie eine Idee. Ein Teil von Martin würde sie auf ihrer Reise begleiten. Kurz entschlossen quetschte sie den Rucksack wieder in den Wandschrank und schob den Stuhl zurück in die Küche. Probeweise hängte sie sich die selbst genähte Tasche über die Schulter und begutachtete sich im Spiegel. Wenn auch dieses für sie viel zu große Jeansungetüm nicht der neuesten Mode entsprach, war es doch etwas Besonderes! Es war ein Stück Zuhause. Obwohl ihr der Gedanke an die bevorstehende Reise immer noch Bauchschmerzen bereitete, freute sie sich doch tief in ihrem Innern darauf, Martins Schwester nach all den Jahren wiederzusehen.

»Was hältst du von kleinen, selbst genähten Umhängetaschen für die Zwillinge, groß genug, dass eine Tüte Gummibärchen hineinpasst?«, fragte sie am Nachmittag ihre Freundin Susanna. In ihrem Restekarton hatte sie ein großes Stück Baumwollstoff mit aufgedruckten Teddybären gefunden.

Susanna hielt den Stoff gegen das Licht und zog daran. »Wenn du die Taschen fütterst, müsste es gehen. So halten sie auch dem Temperament neunjähriger Mädchen stand. Soll ich dir beim Zuschneiden zur Hand gehen?«

Gemeinsam hockten sie am Arbeitstisch vor dem Fenster. Während Lena die erste kleine Tasche nähte, schnitt Susanna schon die zweite zu und suchte im Karton nach passendem Futterstoff. »Was nimmst du deiner Schwägerin und ihrem Mann mit?«, fragte sie.

»Wenn ich das nur wüsste. Bevor Christina nach Irland zog, war sie eine richtige Leseratte. Deshalb habe ich schon an ein Buch gedacht. Aber ob sie bei ihrer ganzen Arbeit auf der Farm überhaupt zum Lesen kommt?« Lena rieb sich nachdenklich die Nase. »Ich hab’s! Ich fülle einen von meinen selbst genähten Einkaufsbeuteln mit Kosmetikartikeln und lege einen Gutschein für ein Abendessen im Lokal ihrer Wahl mit der ganzen Familie dazu. So kann ich mich wenigstens für ihre Einladung revanchieren.«

»Super Idee. Dann pack doch für ihren Mann eine Flasche Spreewälder Whiskey ein. Den von den jungen, flippigen Whiskeybrennern«, regte Susanna an.

»Das ist ja, als wollte ich Eulen nach Athen tragen. Ein echter Ire trinkt doch garantiert nur original irischen Single Malt«, gab Lena zu bedenken.

»Genau das ist ja der Gag. Mit dem Geschenk hast du die Lacher auf deiner Seite, und das Eis zwischen euch ist sofort gebrochen.« Susanna kicherte über ihren Einfall und bot an, den Whiskey zu besorgen. »Morgen früh muss ich in die Stadt, ich brauche dringend neue Sockenwolle. Hast du Lust, mich zu begleiten?«

Lena winkte ab. »Auf keinen Fall. Morgen putze ich noch mal durch. Ich hasse es, zu Hause Chaos zu hinterlassen, wenn ich verreise.«

»Du und Chaos! Aber wenn die Putzerei deine Geheimwaffe gegen Reisefieber ist, dann kannst du gern bei mir weitermachen«, versuchte Susanna, sie aufzuziehen.

»Kommt nicht infrage. Am Nachmittag gehe ich zum Friseur und lasse mir einen neuen Haarschnitt verpassen. Irgendetwas Praktisches, was keine Arbeit macht.«

»Du hast aber nicht vor, dir einen Igel schneiden zu lassen, nur damit du windschnittig bist«, neckte Susanna sie und strahlte, als Lena zum ersten Mal seit Martins Tod wieder lachte.

Nachdem Susanna gegangen war, räumte Lena ihr Nähzimmer so gründlich auf, dass es aussah wie in einem »Schöner Wohnen«-Heft. Kein Stäubchen in den Ecken, alle Scheren und Nadeln an ihrem Platz. Wenn schon in ihrem Kopf das totale Chaos herrschte, musste wenigstens um sie herum alles ordentlich sein.

Vor ihrem Friseurbesuch marschierte Lena am nächsten Tag schnurstracks in den Supermarkt, um Gummibärchen für die Zwillinge sowie Körperlotion, Handcreme und Duschgel für Christina zu kaufen. Als ihr am Bäckerstand der verlockende Duft frisch gebackener Brötchen in die Nase stieg, knurrte prompt ihr Magen, und ihr blieb nichts anderes übrig, als eine »Schrippe« zu kaufen und direkt aus der Tüte zu essen. So heißhungrig war sie schon lang nicht mehr gewesen. Die Aufregung vor der Reise wirkte sich derart auf ihren Appetit aus, dass sie für das Abendessen doch tatsächlich eingelegte Bratheringe in ihren Einkaufskorb legte. Man könnte meinen, ich wäre schwanger, dachte sie und widerstand der Versuchung, Schokolade und Chips mitzunehmen. Mit der vollen Einkaufstasche eilte sie die Straße hinunter zum Friseur.

Frau Paschke, ihre Stammfriseuse, hielt ihr freudestrahlend die Tür auf. »Hallo, Frau Kasper, schön, Sie wiederzusehen. Spitzen schneiden, wie immer?«

»Nein, diesmal hätte ich gern eine neue Frisur. Es muss praktisch und pflegeleicht sein«, erklärte Lena, die ihr rotblondes Haar seit ihrem siebzehnten Lebensjahr schulterlang trug und meistens zu einem strengen Zopf zusammenband.

»Wie viel darf ich denn abschneiden?« Frau Paschke schaute Lena mit weit aufgerissenen Augen an.

Lena zuckte mit den Schultern. »Machen Sie mal. Mir ist alles recht. Mit sechsundvierzig wird es Zeit, dass ich mich von dem ollen Zopf trenne.«

»Sie wissen schon, was man über Frauen sagt, die sich nach so vielen Jahren eine neue Frisur zulegen? Dass sie bereit für Veränderungen sind«, merkte die Friseuse an.

Doch Lena ging nicht darauf ein.

Frau Paschke runzelte die Stirn. »Ich schlage einen durchgestuften Bob vor, Kinnlänge. Der ist pflegeleicht und sieht auch ohne aufwendiges Styling gut aus.«

Lena nickte und folgte ihrer Friseuse zum Waschbecken. Sie genoss die sanfte Kopfmassage, schloss die Augen und ging in Gedanken den Inhalt ihres Koffers durch. Vielleicht sollte sie doch lieber den warmen Winterschlafanzug einpacken. Auch wenn die Gegend um Killarney vom warmen Golfstrom begünstigt wurde, sorgten die Südwestwinde doch für eine stetige Brise. Das hatte sie erst gestern Abend im Reiseführer gelesen. Deshalb konnte es im April noch lausig kalt werden. Niedrigste Temperatur zehn Grad! Ihr lief ein Schauder über den Rücken, und sie beschloss, einen zusätzlichen Pullover mitzunehmen.

Lena vertiefte sich in ein Promimagazin und vermied es, dabei zuzuschauen, wie Frau Paschke Strähne für Strähne ihres Haares kürzte.

»Fertig ist die Verwandlung«, frohlockte die Friseurin und nahm ihr den Frisierumhang ab. »Was sagen Sie?«

Lena hielt die Augen einen Moment geschlossen, bevor sie in den Spiegel schaute. Sie drehte und wendete erstaunt den Kopf und sah sich einer vollkommen neuen Frau gegenüber. Frau Paschke hatte recht gehabt, der kinnlange Bob umschmeichelte ihr schmales Gesicht und gab ihr ein jüngeres, modischeres Aussehen.

»Die Frisur ist wirklich pflegeleicht? Oder muss ich stundenlang rumstylen?«, hakte sie nach.

»Wenn ich es Ihnen doch sage! Trocknen lassen, durchschütteln, und schon ist der Look fertig«, bestätigte die Friseurin.

»Aber was ist, wenn mir der Seewind alles durcheinanderwirbelt? Ich fliege nämlich morgen nach Irland.« Lena schüttelte probeweise den Kopf.

»Umso besser, mit dieser Frisur sehen Sie selbst bei Windstärke sieben klasse aus.«

Ihr Kopf fühlte sich merkwürdig leicht an, als sie den Friseurladen verließ. Gerade so, als hätte sie vorher einen schweren Helm getragen. Lena blieb vor jedem Schaufenster stehen und musterte ihr Spiegelbild. Was hatte Frau Paschke gesagt? Neue Frisur, neues Lebensgefühl und bereit für Veränderungen. Nein, bereit für Veränderungen war sie noch lange nicht, aber bereit, das Abenteuer »Irlandreise« anzutreten.

3

Die Hände in den Taschen ihrer Wanderjacke vergraben, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, marschierte Lena gegen den Wind gebeugt die Straße hinunter zur Bucht. Der Strand war menschenleer so früh am Morgen. Nur draußen auf dem Meer holte ein Fischer seine Netze ins Boot. Über ihr schrie eine Möwe. Lena beobachtete fasziniert, wie der Vogel pfeilartig ins Meer stürzte, um kurz darauf mit einem Fisch im Schnabel an Land zu fliegen. Mit weit ausholenden Schritten stapfte sie durch den feuchten Sand auf einen Felsblock zu, lehnte sich an und hielt ihr Gesicht in die Morgensonne. Allmählich wurde ihr Körper wieder warm. Die Kälte in dem kleinen Gästehaus hatte sie früh aus dem Schlaf gerissen und nach draußen getrieben. Während sie dem Fischer zusah, der sein Boot an Land zog und mit einem Seil an einem Pflock festband, liefen Lena die ersten Regentropfen über das Gesicht. Der Himmel verfinsterte sich, und eine dicke, schwarze Wolke schob sich vor die Sonne. Nur ungern verließ Lena ihren Aussichtsplatz. Sie lief mit schweren Schritten zurück zur Straße, die den Hügel hinauf zur Farm und weiter zum Ort Busby führte, vorbei an den Schafweiden und an hohen Rhododendronhecken, die die Einfahrt zum Farmhaus säumten. Als sie das Gästehaus erreichte, wurde das Küchenfenster im Haupthaus aufgerissen, und Christina winkte ihr zu.

»Komm schnell herein, bevor du pitschnass wirst. Setz dich zu mir in die Küche an den Herd. Wir frühstücken gleich.«

Lena hängte ihre tropfnasse Jacke an einen Haken in der Diele, stellte die Wanderstiefel auf eine zerschlissene Fußmatte neben die Gummistiefel der Familie und schaute sich um. Gestern Abend bei ihrer Ankunft war sie zu erschöpft gewesen, um ihre neue Umgebung richtig wahrzunehmen. Sie zählte vier Türen, jede in einer anderen Farbe gestrichen. Die rote Tür führte ins Wohnzimmer, die gelbe zur Küche, das wusste sie schon. Den Rest würde sie später erkunden. Als sie, nur mit Socken an den Füßen, über die knarrenden Holzdielen schlurfte und die Küche betrat, umfing sie ein Schwall warmer Luft. Neben dem modernen Gasherd befand sich ein alter Eisenofen, den Chris mit Torfstücken fütterte und der eine behagliche Wärme verbreitete. Auf dem langen Holztisch standen Müslischalen und Teebecher, und der Duft des frisch getoasteten Weißbrotes ließ Lena das Wasser im Mund zusammenlaufen. Chris wischte ihre Hände an einer Schürze ab, kam auf sie zu, legte beide Arme um sie und drückte sie an sich. »Ich bin so froh, dass du da bist. Hast du gut geschlafen?« Sie hatte die gleichen dunklen Haare wie Martin, seine grünen Augen und den großen, kräftigen Körperbau.

Für einen Moment genoss Lena diese Geste der Vertrautheit, dann löste sie sich aus der Umarmung und stellte sich ans Küchenfenster. »Ach, weißt du, seit Martins Tod schlafe ich nicht mehr viel. Und wenn ich ehrlich bin, war es mir heute Nacht auch zu kalt unter der dünnen Decke, trotz Wollsocken und Strickjacke über dem Schlafanzug.«

»Das tut mir leid. Gleich nach dem Frühstück bringe ich dir eine zusätzliche Wolldecke und eine Wärmflasche.« Christina deutete nach draußen. »Als ich vor zehn Jahren das erste Mal aus diesem Fenster schaute, war es um mich geschehen. Ich habe mich nicht nur in Dan verliebt. Die grünen Weiden, dahinter die Anne’s Bay mit ihren schroffen Felsen und den kleinen versteckten Sandbuchten, dann der irische Wind, der rau und manchmal so sanft sein kann, fast zärtlich. Das alles hat mein Herz berührt, und ich wollte nie mehr fort.«

»Ich verstehe, was du meinst. Heute Morgen am Strand überkam mich ein Gefühl von Vertrautheit, so als wäre ich in einem früheren Leben schon einmal hier gewesen. Obwohl ich allein war, fühlte ich mich nicht einsam.« Ein Lächeln huschte über Lenas Gesicht. Sie griff nach Christinas Hand und drückte sie.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und die Zwillinge Sarah und Anne stürzten herein. Sie trugen blaue Faltenröcke und weiße Polohemden, dazu Kniestrümpfe. Beide hatten ihre roten Locken mit Haarreifen gebändigt. »Tante Lena, schau mal!«, riefen sie fast gleichzeitig und hielten ihre neuen Umhängetaschen vor Lenas Nase. Während aus Annes Tasche ein kleiner Teddybär hervorschaute, steckte in Sarahs ein Portemonnaie. »Dürfen wir die mit zur Schule nehmen?«, bettelte Sarah.

»Wenn eure Mutter nichts dagegen hat.« Lena strich jedem Mädchen zärtlich über den Kopf und zwinkerte ihnen verschmitzt zu.

»Ausnahmsweise, aber morgen bleiben die Taschen zu Hause. Wir wollen doch die anderen nicht neidisch machen.« Chris dirigierte ihre Töchter zum Tisch, füllte zwei Müslischalen mit Porridge und die Porzellanbecher mit Kakao. »Jetzt aber zackig, Mädels! In einer halben Stunde fahre ich euch zur Schule.«

»Kommt Tante Lena mit?«, wollte Sarah wissen, und Anne brummte mit vollem Mund ein undeutliches »Bestimmt«, was ihr einen tadelnden Blick der Mutter bescherte.

»Wir brauchen mit dem Frühstück nicht auf Dan zu warten, der ist schon auf dem Feld. Bitte greif zu, Lena. Fühl dich wie zu Hause«, bat Chris und füllte Lenas Becher mit Tee.

Heißhungrig nahm Lena von dem Weißbrot, bestrich es dick mit Butter und bediente sich an Christinas selbst gekochter Orangenmarmelade. »Hast du das Brot gebacken?«, fragte sie und griff nach der zweiten Scheibe. »So etwas Leckeres habe ich noch nie gegessen.«

Kichernd sahen die Zwillinge dabei zu, wie sich Lena das marmeladenbeschmierte Gesicht mit einem Tempotuch abwischte.

Chris freute sich sichtlich. »Die gute irische Luft hat noch jeden hungrig gemacht. Möchtest du vielleicht auch eine Portion Porridge oder lieber Spiegeleier mit Speck?«

Lena winkte ab. »Wenn ich jetzt nicht aufhöre, zu essen, platze ich, und dann haben wir die ganze Sauerei in der Küche.« Ihr Hosenbund drückte auf den Bauch, und sie öffnete den obersten Knopf. Sofort prusteten Sarah und Anne los, schüttelten ihre roten Locken vor Vergnügen und hörten erst auf, zu lachen, als Chris sie streng anblickte.

Eine Viertelstunde später fuhren die vier im alten Ford Kombi vom Hof. Für Lena war es ungewohnt, als Beifahrerin auf der linken Seite zu sitzen. Sie krallte die Hände jedes Mal in den Sitz, wenn Chris eine Kurve nahm und fast an den hohen Steinwällen vorbeischrammte, die die schmale Landstraße säumten.

»Hoffentlich kommt uns hier keiner entgegen«, stöhnte Lena.

Chris, die sie schmunzelnd von der Seite beobachtete, legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf den Arm. »Entspann dich. An die Linksfahrerei musste ich mich auch erst gewöhnen. Solange ich denken kann, ist hier noch nie ein Unfall passiert.«

»Doch!«, rief Sarah von der Rückbank und steckte den Kopf zwischen den Sitzen nach vorn. »Erst letzte Woche ist Tommy Clarke mit seinem Traktor in den Graben gefahren.«

»Aber nur, weil er besoffen war!«, ergänzte Anne. »Tommy ist ein Trinker, Tommy ist ein Trinker!«, tönte es im Chor von hinten.

Chris bremste so abrupt, dass die Mädchen mit ihren Köpfen zusammenstießen und jammerten. Direkt hinter der Kurve schaute ihnen streitlustig ein ausgewachsener Schafbock entgegen. »Nicht schon wieder«, stöhnte Chris. »Das ist unser Chief, der Leithammel. Ab und zu springt er über den Wall und wandert die Straße hinunter zur Bucht. Oft steht er stundenlang am Wasser und blökt. Wir müssen ihn zurück zur Herde treiben. Alle aussteigen und mithelfen!«, kommandierte sie.

Der Schafbock schien zu wittern, dass Lena Angst vor ihm hatte, denn er senkte den Kopf und lief direkt auf sie zu. Wie auf Kommando riefen Chris und die Mädchen: »Stopp, Chief!«, und fuchtelten wild mit den Armen vor der schwarzen Nase des Tiers. Während Lena sich mit zitternden Knien und schweißnassen Händen ins Auto flüchtete, trieben die anderen den Bock vor sich her auf die Weide.

»Du darfst sie nie spüren lassen, dass du Angst hast. Das nutzen sie sofort aus«, erklärte ihr Christina beim Weiterfahren. »Das Gleiche gilt für unsere Hütehunde. Wenn du auf einen triffst, ruf ihm laut und deutlich ›Sit!‹ zu, dann lässt er dich in Ruhe.«

»Na, das kann ja heiter werden! Wo ich doch schon vor einem Zwergpinscher Angst habe«, meinte Lena und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Bemerkung: »Jetzt weiß ich endlich, warum ihr bei diesen kühlen Temperaturen nicht friert. Ihr rennt einem Schaf hinterher, und schon ist euch warm«, löste einen erneuten Lachanfall der Mädchen aus, der die Frauen ansteckte. Noch als sie auf den Parkplatz der Schule einbogen, ertönte aus dem alten Auto ein vierstimmiges Lachkonzert.

»Beeilt euch! Die Glocke hat schon geläutet«, mahnte Christina und reichte den Zwillingen ihre Schultaschen aus dem Kofferraum. »Heute Nachmittag holt euch Dad ab. Ich bin mit Lena unterwegs.«

Erst als Sarah und Anne im Schulgebäude, einem alten, grauen Backsteinbau mit Schieferdach, verschwunden waren, wendete Chris den Wagen und fuhr zurück auf die Landstraße.

»Danke, dass du mich überredet hast, euch zu besuchen. Erst jetzt merke ich, wie wichtig es war, von zu Hause wegzukommen. Seit ich hier bin, habe ich wieder Augen für die Natur und die Menschen um mich herum. Dabei dachte ich nach Martins Tod, der größte Teil von mir sei mit ihm gestorben. Ich habe mich in meiner Trauer vergraben, weigerte mich, am Leben teilzunehmen. Wie lange habe ich nicht mehr so herzhaft gelacht, dass mir die Tränen die Wange herunterliefen!«, wandte sich Lena an Chris, und ihre Schwägerin lächelte.

»Ich bin so froh, dass du das sagst. Vielleicht verstehst du jetzt besser, warum ich damals Hals über Kopf meinen Lehrerjob hingeschmissen habe und nach Irland gezogen bin. Mein Bruder konnte es nämlich nicht. Noch vor vier Jahren hat er mir auf der Beerdigung unserer Mutter bittere Vorwürfe gemacht, vollkommen leichtsinnig meinen gesicherten Beamtenstatus gegen das einfache Leben auf einer irischen Farm eingetauscht zu haben. Er rechnete mir vor, wie viel Geld unsere Eltern in mein Studium investiert hätten. Und als ich ihn anflehte, mich in Irland zu besuchen, um sich selbst ein Bild zu machen, wiegelte er ab und weigerte sich, Dan kennenzulernen. Was diesen sehr verletzt hat.«

Lena hockte wie erstarrt in ihrem Autositz, unfähig, etwas zu sagen. Der Martin, den sie gekannt hatte, war anders gewesen. Liebenswürdig und verständnisvoll. Wie war es möglich, dass sie nie etwas von dem geschwisterlichen Zerwürfnis mitbekommen hatte? Sie hätte doch versucht, die beiden wieder zu versöhnen.

»Das habe ich nicht gewusst. Mir hat Martin immer erklärt, dass er seinen Urlaub lieber im Süden verbringen wolle als im regnerischen Irland. Er behauptete, du hättest Verständnis dafür. Wenn er gesehen hätte, wie glücklich du hier bist, wäre er sicher anderer Meinung gewesen.« Lena runzelte nachdenklich die Stirn. »Können wir zwei irgendwo ungestört einen Kaffee trinken und uns in Ruhe unterhalten? Und dann erzählst du mir, wie du Dan kennengelernt hast.«

Chris nickte. »In Mauras kleiner Teestube ist um diese Zeit nichts los. Dort bekommst du zwar keinen Kaffee, aber den besten Tee der Gegend.«

Die Teestube entpuppte sich als Hinterzimmer der örtlichen Post von Busby und war mehr als gemütlich. Während die zweiundsechzigjährige Inhaberin im Postamt Briefe und Pakete entgegennahm, saßen Lena und Chris im hinteren Tearoom. Vor dem Fenster zum Garten hingen altmodische Häkelgardinen und auf jedem Holzstuhl – es gab nur zehn – lagen selbst gestrickte Sitzauflagen. Begeistert begutachtete Lena den gestreiften Webteppich, der fast den gesamten Fußboden bedeckte. Sie strich mit den Händen über den weichen Flor, wendete eine Ecke des Teppichs und befand: »Saubere Arbeit. Wird das hier im Dorf gewebt?«

»Endlich mal eine, die Ahnung hat!«, bemerkte Maura, die mit einem Tablett beladen an ihren Tisch trat und ihnen den Tee servierte. Ungefragt stellte sie zwei Teller mit Apfelkuchen und Sahne hin. »Der kommt direkt aus dem Ofen. Ihr habt Glück, dass ihr so früh seid. Wenn erst mal die alten Ladys zum Tee erscheinen, bleibt davon nichts mehr übrig.« So schnell, wie sie gekommen war, verschwand sie wieder im Postamt.

»Typisch Maura«, merkte Chris an. »Die einzige Frau im Ort, die nicht vor Neugierde über deinen Besuch platzt und dir gleich Löcher in den Bauch fragt. Sie ist die gute Seele unserer Gemeinde. Wenn jemand krank ist, versorgt sie ihn mit Tee und Suppe. Und nebenbei strickt sie Unmengen an Schals und Socken für unseren Wollmarkt.« Chris schenkte Lena Tee ein und reichte ihr Sahne und Zucker. Dann trank sie einen großen Schluck, lehnte sich zurück und erzählte, wie sie vor mehr als zehn Jahren in diesem Ort gestrandet war: »Ich hatte damals eine Gruppenreise gebucht – zwei Wochen Wanderurlaub im Killarney Lakeland – und stellte zu meinem Entsetzen schnell fest, dass beinahe alle Teilnehmer Lehrer waren. Die endlosen Diskussionen über nervige Kollegen und missratene Schüler gingen mir bald so auf die Nerven, dass ich mich spontan von der Gruppe abmeldete und auf eigene Faust weiterwanderte. Am dritten Tag bin ich abends hier in Busby gelandet. Die Füße blutig von zu engen Wanderschuhen, ohne Quartier für die Nacht und total frustriert, marschierte ich schnurstracks in den Pub. Dort stand Dan mit ein paar Burschen aus dem Dorf am Tresen und feierte seinen Geburtstag. Ich verzog mich in die Ladies Lounge und bestellte Fish and Chips. Irgendwann bemerkte ich, dass Dan mich beobachtete. Ein kurzer Augenkontakt reichte, und es war um mich geschehen. Dieser rothaarige, wortkarge Ire hatte es mir angetan. Nach dem zweiten Guinness fragte ich den Wirt nach einer Übernachtungsmöglichkeit, und er deutete auf Dan. Auf dessen Farm gebe es ein Bed-and-Breakfast-Zimmer, das sei sicher frei. Den Rest kannst du dir denken. Schon drei Tage später waren wir zwei ein Paar, und ich blieb den Rest meines Urlaubs auf seiner Farm. Er wollte mich gar nicht mehr gehen lassen, doch ich musste nach Hause, zurück an meine Schule. Wir blieben in Kontakt. Stundenlange Telefonate und heiße Liebesbriefe jede Woche. Als ich zwei Monate später feststellte, dass ich schwanger war, hielt mich nichts mehr in Deutschland. Bis heute habe ich nicht einen Tag bereut, mich für dieses Leben entschieden zu haben. Alles, was ich brauche, habe ich hier: meine Familie, die Farm, unsere Freunde.« Chris breitete die Arme aus, als wolle sie das ganze Dorf umarmen, und lachte. »Wie ist es bei dir? Hast du dich schon ein wenig in diese Gegend verliebt? Warte ab, bis du unseren Ort und seine Bewohner näher kennengelernt hast, dann möchtest du nicht mehr weg.«

Lena schüttelte energisch den Kopf. »Bei mir ist das doch etwas ganz anderes. Ich bin keine dreißig mehr wie du damals. Mein Zuhause ist dort, wo ich mit Martin glücklich war, wo meine Freundin Susanna lebt und ich Tobias in der Nähe habe.«

Chris blieb unbeirrt. »Ich verstehe dich. Aber gib Busby und seinen liebenswerten Bewohnern eine Chance, dir zu zeigen, warum es sich lohnt, über einen Neuanfang nachzudenken.«

4

Arm in Arm verließen die beiden Frauen gegen Mittag Mauras Teestube. »Jetzt zeige ich dir die Attraktionen von Busby«, verkündete Chris gut gelaunt und deutete mit ausgestrecktem Arm die kleine Hauptstraße hinunter. Fast alle Häuser waren in Pastelltönen gestrichen und hatten ein Schieferdach. An den Laternenpfählen baumelten Blumenampeln, die »Hanging Baskets« genannt wurden.

»Jedes Jahr veranstalten wir einen Wettbewerb. Wer den schönsten Blumenschmuck hat, gewinnt eine Flasche des besten Single Malt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie selbst die Männer sich ins Zeug legen, um den Preis zu gewinnen«, erzählte Chris, als Lena auf eine Blumenampel mit dunkelroten Fuchsien zusteuerte.

»So prächtige Exemplare hätte ich gern in meinen Blumenkästen. Die gedeihen bei mir nicht.«

»Na, wenn du die schon für prächtig hältst, solltest du mal die Fuchsienhecke in Doktor O’Learys Garten sehen.« Chris zeigte auf das einzige weiß gestrichene Haus, das etwas zurückgesetzt in einem Garten lag.

Während sie die Straßenseite wechselten, fuhr hupend ein schlammbespritzter Geländewagen an ihnen vorbei. Aus dem offenen Wagenfenster rief ein grauhaariger Mann: »Nice day, girls!«, und winkte.

»Das ist Walter, ein österreichischer Aussteiger. Er lebt im alten Miller-Cottage auf dem Hügel. Den musst du unbedingt kennenlernen«, meinte Chris.

Lena murmelte nur: »Lieber nicht«, denn sie ahnte, worauf diese Bekanntschaft hinauslaufen könnte. Sicher war der Aussteiger versessen darauf, den Witwentröster zu spielen. »Hast du nicht etwas von einem Wollmarkt erzählt?«, lenkte sie geschickt vom Thema ab und zupfte die Schwägerin am Ärmel.

»Nicht so ungeduldig, Lena. Zuerst mache ich dich mit Fergus bekannt. Ihm verdanken Dan und ich, dass wir zusammen sind.« Zielstrebig steuerte sie den Pub »Old Horseshoe« an. Auf dem Platz davor scheuerte ein kleiner, untersetzter Mann die Holztische und Bänke mit einer Wurzelbürste. Obwohl es recht kühl war, trug er ein T-Shirt, und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er ließ die Bürste in den Wassereimer fallen, dass das Wasser herausspritzte und seine Hosenbeine nass wurden, als er die Frauen entdeckte. Die feuchte Jeans schien ihn nicht weiter zu stören. »Hallo, Ladys«, rief er und deutete eine Verbeugung an. »Lust auf einen Drink? Claire brennt schon darauf, den Besuch aus Deutschland kennenzulernen.«

»Ein anderes Mal, Fergus. Wir sehen uns Donnerstag. Wollte meiner Schwägerin nur den Mann vorstellen, der schuld dran ist, dass ich jetzt auf der O’Connor-Farm hocke und Schafe zähle«, alberte Chris herum.

Fergus lachte so laut, dass eine Wandergruppe, die auf der anderen Straßenseite vorbeimarschierte, irritiert herübersah. »Chris übertreibt maßlos«, meinte er und reichte Lena die Hand. »Ich hab nur zusammengebracht, was zusammengehört. Du hättest mal die Blicke sehen sollen, die die beiden sich damals zuwarfen. Und weil ich wusste, wie schüchtern Dan war, habe ich etwas nachgeholfen.«