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Kontakt ist die Nahrung des Geistes, Wahrheit die Substanz, aus dem sein Wesen besteht. So wie es für die Ernährung des Körpers von Bedeutung ist, mit Genuss nur das zu essen, was ihm bekommt, so droht sich auch der Geist an der falschen Kost, am verdorbenen Kontakt und der misslungenen Beziehung, zu vergiften. Was man also braucht, ist eine Diätetik der Begegnung, eine Ernährungswissenschaft der dialogischen Erkenntnis, damit es im psychosozialen Prozess öfter gelingt, das Ferkel kross zu braten. Es wäre nun eine winzige Welt, wenn sich die gesunde Art des Dialogs so eindeutig beschreiben ließe, als könne man alle Kochbücher der Menschheit auf den Speiseplan einer redlichen Kantine reduzieren. Dessen eingedenk tobt sich die Begeisterung des Buchs an ihrem Thema aus, ohne am Ende enttäuscht zu sein, dass der wissenschaftliche Ernst nur die groben Muster erfasst, während die Details dem Reich der Lebenskunst entstammen.
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Seitenzahl: 439
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Ebenen des Kontakts
Das Ich und die Welt
Zweifache Verbindung
Die Etymologie der Begriffe
Kontakt
1.1. Die Religion, die Antike, die Renaissance und deren Verbindung
1.2. Contingere
1.3. Neben, bei und mit
1.4. Der volle Kontakt ist eine reine Katastrophe
1.5. Grenzen
1.6. Geometrie und Begegnung
1.7. Zwischen Hochmut und Stolz
1.8. Tasten und taxieren und die ewige Crux mit dem Selbstwert
1.9. Rhythmus, Raum und Psyche
1.10. Integration
Berührung
2.1. Be, bei, beide
2.2. Kochtopf und Zen
2.3. Berührung, Erziehung, Verzerrung
2.4. Quantität, Qualität und Bekömmlichkeit
Verbindung
3.1. „Ver“ führt hinaus
3.2. Ohne Herausforderer bliebe man zurück
3.3. Für, fort und fern
3.4. Fürsten
3.5. Frau
3.6. Früh setzt die Kette der Verwandlungen ein
3.7. Die Suche nach dem Fremden treibt das Leben voran
3.8. Die Angst vor dem Ende hält das Leben zurück
3.9. Bis wohin reicht der Höhenflug?
3.10. Priester
3.11. Die Fahrt nach England und zurück
3.12. Banden
Regeln
Die Struktur des „reinen“ Kontakts
1.1. Der Homunkulus kämpft um die Entscheidung
1.2. Psychopathologie als Kontaktpathologie
1.3. Vom Wort zu den Kriterien des „reinen“ Kontakts
1.3.1. Mit
1.3.2. Neben
1.3.3. Bei
1.3.4. Kontra
1.3.5. Kontingent
1.3.6. Tangieren
1.3.7. Tasten
1.3.8. Taxieren
1.3.9. Intakt
1.3.10. Berühren
1.3.11. Für
1.3.12. Fort in die ferne Fremde
1.3.13. Fürst
1.3.14. Die Gefahr der Erfahrung
1.3.15. Fordern
1.3.16. Fahren
1.3.17. Fördern
1.3.18. Bündnis
1.3.19. Fromm
1.3.20. Vor
Neun Kriterien des gesunden Kontakts
2.1. Ebenbürtigkeit
2.1.1. Kaiser, Bürger und Bettelmann
2.1.2. Narzissmus
2.2. Gegenseitigkeit
2.2.1. Charakter und Auswirkung
2.2.2. Rollenspiel und Begegnung, Stabilität oder Fortschritt
2.2.3. Ein Teufelskreis aus Kontaktvermeidung und Angst
2.3. Begrenzung
2.3.1. Psyche, Ich und Selbst
2.3.2. Träumen und Wachen
2.3.3. Ichgrenze
2.3.4. Anspruch und Fehlsteuerung
2.4. Intensität
2.4.1. Leidenschaft...
2.4.2.... und trocken’ Brot
2.4.3. Vom Pulsschlag des Geistes
2.5. Exploration
2.5.1. Der Löwe und sein Denken
2.5.2. Ich bin beigesehen
2.5.3. Eine individuelle Perspektive bedarf individueller Informationen
2.6. Integration
2.6.1. Gegensätze
2.6.2. Anfang und Ende, Höhepunkt und Untergang
2.7. Solidarität
2.8. Akzeptanz
2.9. Transzendenz
2.9.1. Steine
2.9.2. Pflanzen
2.9.3. Tiere....
2.9.4. ....und unsere Wenigkeit
2.9.5. Egozentrik oder Wahrheit
Die Ursachen der Kontaktstörung
Keine Regeln ohne ein Bekenntnis
Vererbung, Milieu oder beides
Unterschiede
Die notorisch missachtete Ebenbürtigkeit der Kinder
4.* Die freie Plage ist keines Menschen Untertan
Geben und Nehmen beruhen auf Gegenseitigkeit
Begrenzt wird die gesunde Neugier an realen Grenzen
Intensität ist heftig
und
wohltemperiert beharrlich
Es lebe die Neugier!
Angst, Ausschluss und Integration
Das solidarische Ungleichgewicht
Vom Aufgenommen- und vom Draußensein
Transzendenz
Die Position des Ich im Kontext seiner Umwelt
Psyche und Substanz
Psyche und Geist
Das Ich und die Erkenntnis
Das Ich und die Zeit
Das Ich und die Wahrheit
Das Ich, der Kontakt und die Gesellschaft
Das Ich und der Frieden
Innen und außen
Suche nach Innen und Außen
1.1. Substanz, Struktur, System und Subjekt
1.2. Die Spannung im Stoff und die Verstimmung des Hologramms
1.3. Angst, Wut und Adrenalin
1.4. Ethik
1.5. Trauma und Freiheit
Große Plätze und enge Räume
2.1. Spuren der Angst
2.2. Agoraphobie
2.3. Klaustrophobie
2.4. Introversion und Verwirbelung
Die „Technik“ der transparenten Therapie
Sieben Hypothesen
Konturen einer transparenten Kontakttherapie
2.1. Psychotherapie als Profession der Begegnung
2.2. Die zwei Wege der Kommunikation
2.3. Vermittlung kommunikativer Kompetenz
2.4. Der „ganze Mensch“?
2.5. Abstinenz und Transparenz
2.6. Falsche Fragen und echte Antworten
2.7. Nondirektiv?
2.8. Therapiestil
2.9. Eigennutz und Gemeinschaftssinn
2.10. Die primäre Forderung der Ethik
2.11. Ethik, Gewissen, Über-Ich und Moral
2.12. Unbefangen und wahrhaftig
2.13. Der Beginn der Psychopathologie
Die drei Ebenen des Kontakts
3.1. Die Beziehungen des Klienten zum Umfeld
3.1.1. Ängste, Zwänge und Depressionen...
3.1.2. ...und was der Therapeut zum Beispiel fragt
3.1.3. Abwehr
3.1.4. Und noch einmal: Direktiv oder nicht?
3.2. Die Beziehungen des Klienten zu den Bezugspersonen seiner Kindheit
3.2.1. Muster
3.2.2. Biographische Kohärenz und Selbstwertgefühl
3.2.3. Die primäre pathogene Beziehung
3.2.4. Abwertungen
3.2.5. Das leise Gift der Tugend und der Pflichterfüllung
3.3. Die Beziehung zwischen Therapeut und Klient
3.3.1. Begegnung ist mehr als Beziehung
3.3.2. Präsenz statt Technik
3.3.3.„Vollkontakt-Therapie“ und Routine
Schnell stand für mich fest, dass ich ein Buch über den Kontakt zwischen dem Ich und seiner Umwelt schreiben wollte. Dabei sollte der psychosoziale Aspekt dieser oft heiklen Verbindung im Vordergrund stehen. Ich ging davon aus, dass das seelische Wohlbefinden des einzelnen von der Qualität seiner Beziehungen zum Mitmenschen abhängt und besonders von der Qualität der engeren Ich-und-Du-Kontakte. Daher könnte eine gezielte Verbesserung seines seelischen Befindens am besten erreicht werden, wenn man bei der therapeutischen Arbeit konsequent eine Verbesserung der Qualität des Kontakts anstrebt. Ein erster Schritt in diese Richtung lag folglich im Versuch herauszufinden, was die gesunde Qualität des zwischenmenschlichen Kontakts ausmacht.
Mit dieser Idee im Kopf stürzte ich mich in die Arbeit und schrieb ein erstes Kapitel. Der Rest würde sich beim Schreiben von allein ergeben. Man denkt über etwas nach und aus dem einen Gedanken ergibt sich der nächste und so geht es weiter, bis man das Thema tief genug ausgelotet hat. Schließlich lässt man zufrieden von der Sache ab. Man freut sich daran, dass man beim Nachdenken seinen Spaß hatte und dabei etwas Brauchbares entstanden ist.
So dachte ich mir das. Kaum stand vom ersten Kapitel jedoch der Rohbau und ich wollte als stolzer Bauherr Richtfest feiern, da zeigten sich im Fundament die ersten Risse. Also kam ich vom Dach herunter und schaute mir den Schaden an.
Zwei Schreibstile hatten sich vermischt, ohne dass ein jeder für sich so viel Klarheit besessen hätte, die kräftige Durchmischung mit dem anderen zu vertragen. Die unterschiedlichen Stile entsprachen zwei Blickwinkeln. Beide litten aneinander. Sie rangelten um die Vormacht und standen sich im Wege. Bald war deutlich, dass ich nicht wusste, ob ich ein strenges Sachbuch schreiben wollte oder ob es eher ein intellektuelles Spiel mit Wörtern und Ideen werden würde, mit dem ich mir beim Schreiben und dem Leser bei seiner Lektüre amüsant die Zeit vertrieb. Da waren also die berüchtigten zwei Seelen - ach! - in meiner Brust.
Die eine nannte sich „Psychotherapeut“ und war nach jahrelanger Therapeutenarbeit überzeugt, dass es an der Zeit war, ein wissenschaftliches Buch zu schreiben, das die Aufgabe ihres Berufs, nämlich die Heilung kranker Seelen, konsequent aus einer ungewöhnlichen Perspektive heraus unter die Lupe nimmt. Im Blickfeld der Lupe sollte der Kontakt zwischen dem Therapeuten und dem Klienten stehen. Die psychischen Strukturen, um die es bei der Therapie geht und die heilsamen Haltungen und Handlungsweisen des Therapeuten sollten von dort aus interpretiert werden. Der Psychotherapeut in mir forderte einen nüchternen Stil, der sich ausgiebig des tiefenpsychologischen Begriffsrepertoires bedienen sollte und den Anspruch erhob, die wesentlichen Theorien der Tiefenpsychologie aufzugreifen. Seiner Meinung nach sollte das Buch systematisch sein und sich auf den Leserkreis der eigenen Zunft konzentrieren. Im Geiste sah sich dieser Psychotherapeut mit ernsten Blick vom Buchrücken aus nach potentiellen Käufern Ausschau halten. Fast blickte er dabei so grimmig drein wie der alte Freud beim Disput mit Jung und Adler.
Die zweite Seele hatte keine Lust auf wissenschaftliche Notwendigkeit. Ihr ging es zuerst darum, ihrer Neugier bei der Untersuchung des spannenden Themas freien Lauf zu lassen. Sie wollte mit der Phantasie auf Trebe gehen und nach der Manier eines aufgeweckten Kindes alles Erdenkliche, das ihr im nächsten Augenblick in die Quere kam, ohne störende Vernünftigkeit begreifen. Sie wollte die Dinge entdecken, anfassen, untersuchen und sie sorglos liegen lassen, ohne sich über die konkreten Zwecke ihres Tuns den eigensinnigen Kopf zu zerbrechen. Sie wollte keine weiteren Vorgaben, kein festes Ziel, keinen Zeitplan und vor allem keinen Zwang zu mühsamer Systematik. Sie wollte sich beim Schreiben unbefangen das Vergnügen gönnen, sich ofenfrische Sätze auszudenken, mit denen sie pointiert über die ungewöhnlichen Details ihrer Entdeckungsreise berichten könnte; Sätze, die so vielschichtig sind, wie einst die fetten Doboschtorten ihrer Oma. Sie wollte keine strengen Regeln, wenn es ihr gelungen war, sich am tanzenden Geist zu berauschen. Sie wollte Wissen ohne Maßstab und das Recht, frei zu denken ohne ein begrenztes logisches Gesetz. Ihre Leser sollten all jene sein, denen das Tanzen des Denkens ohne Preisrichter gefiel.
Die beiden Seelen in meiner Brust waren sich im Alltag nicht Feind. Im Grunde mochten sie sich sogar. Zwar durchkreuzten sie einander manche Pläne, doch der ersteren gefiel die Lebendigkeit der zweiten und der zweiten war es gerade recht, dass ihr die erste den vernünftigen Rahmen bot, in dem sie selbst unvernünftig sein konnte. Bei der Arbeit am Fundament des ersten Kapitels hatte aber offensichtlich keine Seite es für nötig gehalten, darauf zu achten, was die andere gerade tat. Das sah man der Mauer an. Große rote Lehmziegel waren mit gelben und rosa verschiedener Größe und Form zu einem Bauwerk verbaut, das der Mann vom Bauamt kaum als tragfähig hätte durchgehen lassen. Allerdings, so meinte er, sei die Sache nicht hoffungslos. An manchen Stellen stimme die Statik. Die linke und die rechte Hand hatten auch ohne zu wissen, was die andere gerade tat, etwas Originelles geschaffen. Nur, dass es manchmal noch zu wenig harmonierte.
Nach der Bestandsaufnahme des Schadens und der Analyse seiner Ursachen beschloss ich, keinen der Blickwinkel bei der geplanten Untersuchung auszuschließen. Es sollte aber auch keiner der beiden für sich allein die Vorherrschaft beanspruchen, denn ich wollte eine Dialektik aus klarer Wissenschaftlichkeit und spielerischer Betrachtung versuchen. So nahm ich leichten Herzens Abschied vom ohnehin vermessenen Anspruch, eine systematische Arbeit zu einer daseinsanalytischen Tiefenpsychologie des Kontakts zu schreiben. Ich begnügte mich mit der Absicht, ein paar Skizzen zu liefern und fand in der bewussten Begrenzung des Anspruchs mehr Spielraum als unter dem Joch des Ideals.
Im Wesentlichen wollte ich nun zwei Ziele erreichen. Die Lektüre sollte in gleichem Maße nützlich sein wie sie dem Leser zweckfrei Spaß macht. Und genauso sollte es mir beim Schreiben ergehen. Wenn es der Stand der Dinge erforderlich machte, sollte der gestrenge Psychotherapeut mit einem nüchternen Blick federführend sein. Sonst wollte ich das Feld der freien Neugier überlassen, damit das Stroh in meinem Kopf an ihrer Fackel Feuer fängt.
Nach dieser Entscheidung ging das Schreiben zunächst viel besser von der Hand. Es entstand eine Reihe von Kapiteln, die sich zu einem Patchwork rund ums Thema gruppierten. Ausgehend von der etymologischen Analyse der Begriffe „Kontakt“, „Berührung“ und „Verbindung“ formulierte ich neun wesentliche Kriterien des „reinen Kontakts“, die ich für besonders wichtig hielt. Dann untersuchte ich die Ursachen der Kontaktstörungen und entwarf erste Skizzen für die geplanten Kapitel Formen der Kontaktstörung und Therapie der Kontaktstörung1.
Während ich über den Kontakt des Ich zum Du so für mich hinschrieb, kamen mir immer mehr Einfälle, die sich mit der Frage der existenziellen Ortsbestimmung dieses Ichs beschäftigten. Zunächst brachte ich diese Einfälle in Fußnoten unter. Mit der Zeit nahmen die Fußnoten jedoch überhand und im Text entstand erneut Verwirrung. Bald war auch klar, dass der Plan, der Verwirrung Herr zu werden, indem ich der Ortsbestimmung des Ichs im Beziehungsfeld seiner Existenz ein eigenes Kapitel widmete, zu kurz griff. Mein Konzept, eine Theorie des therapeutischen Kontakts allein um den Kontakt zwischen Therapeut und Klient herum zu zentrieren, brach bald unter der Last seiner Widersprüche in sich zusammen.
Mir wurde klar, dass ich die Bedeutung des Ich-und-Du-Kontakts zwischen dem Klienten und seinem Therapeuten als eine Modellbeziehung für Ich-und-Du-Kontakte im Allgemeinen und für das seelische Befinden des Klienten im Besonderen - vermutlich aus eigenen Trennungsängsten, Kontrollbedürfnissen und narzisstischen Ansprüchen heraus - überschätzt hatte. Zu wenig beachtet hatte ich im Gegensatz dazu erstens die Rolle einer konsequenten Analyse des aktuellen Kontaktmusters des Klienten und zweitens, wie unüberschätzbar wichtig es ist, diese aktuellen Muster beharrlich mit jenen zu vergleichen, die ihn von Anfang an, seit seinem Ur-sprung ins Dasein, prägten; denn die Seele wird bei jedem späteren Sprung an jenen Boden denken, auf dem sie als erstes gelandet war. Und drittens: Die Rolle des existenziellen Kontakts des Klienten zu sich selbst - also die Begegnung mit seinem eigenen Selbst - hatte ich durch die Bündelung des Blicks auf die zwischenmenschliche Ebene weitgehend ausgeblendet. Erst durch die vielen Einfälle und Fußnoten war mir die zentrale Bedeutung dieses Kontakts wieder bewusst geworden. Ein gesunder Kontakt zu anderen gelingt nur, wenn ein gesunder Kontakt zu sich selbst besteht. So formulierte ich den Ansatz des Buches neu.
Jetzt stand für mich fest, dass ich ein Buch über diese beiden Ebenen des Kontakts schreiben wollte und dass es galt, die bereits geschriebenen Abschnitte unter Berücksichtigung der veränderten Prämisse neu zu überdenken.
So überlasse ich zunächst das Wort dem Psychotherapeuten. Er hat den Auftrag, um Verständnis zu werben, dass sein Blickwinkel trotz allem eine besondere Rolle spielt und es ihm an vielen Stellen schwerfallen wird, Fachausdrücke zu vermeiden. In der Hoffnung, dass er die Enttäuschung seines ursprünglichen Anspruchs auf besondere Bedeutsamkeit dann besser verschmerzen wird, soll er als allererstes sagen, wie die Dinge aus seiner Perspektive stehen:
Die wichtigste Voraussetzung der psychotherapeutischen Wirksamkeit ist der Kontakt zwischen Therapeut und Klient. Durch den Kontakt und im Kontakt wirkt das therapeutische Handeln. Zwar findet Therapie auch im Gruppenraum, in Amerika, auf der Couch und in der Klinik statt, diese Ortsbestimmungen sind jedoch zweitrangig. Sie beschreiben mehr austauschbare Topographie als den wesentlichen Raum, in dem die therapeutische Dynamik vonstatten geht. Therapie kann ebenso gut im Zoo oder im Dampfbad stattfinden; zumindest sobald Therapeut und Klient bereit sind, sich aus den üblichen Vorgaben zu befreien.
Unabhängig von den wechselnden Bühnen der Ereignisse und unabhängig von den formalen therapeutischen Techniken, die zur Anwendung kommen, bleibt Kontakt aber der eine gemeinsame Nenner, ohne den es nicht geht. Der interpersonelle Kontakt, die Kommunikation zwischen zwei Menschen ist das Feld jeder therapeutischen Begegnung.
Psychotherapie ist eine Sonderform zwischenmenschlichen Kontakts. Gleichzeitig ist sie ein exemplarisches Beispiel, an dem man die allgemeingültigen Gesetze des Kontakts deutlich machen kann. Analysiert man die Grundregeln des therapeutischen Kontakts im Speziellen, lässt sich auch das prinzipielle Muster zwischenmenschlicher Begegnungen im Allgemeinen beschreiben.
Ein gesundes Seelenleben und eine gesunde menschliche Existenz überhaupt sind ohne Begegnung, Kontakt und Kommunikation nicht denkbar. Schwer vorstellbar ist es umgekehrt, dass ein Mensch, dem ein authentischer Kontakt zu seiner Umwelt problemlos gelingt, gleichzeitig psychisch krank sein sollte. So sind neurotische oder gar psychotische Fehlhaltungen immer auch als Kontaktstörungen zwischen der betroffenen Person und ihrer Umwelt zu verstehen. Symptome sind seelische Konstrukte, die den Kontakt entweder aktiv verhindern oder, die ihn in reduzierter, gleichsam verkrüppelter Form ermöglichen. Gleichzeitig sind Symptome aber auch halb erfolgreiche Versuche, tiefergreifende Kontaktstörungen zu überwinden. Das Symptom ist ein menschliches Verhalten, das den Ausdruck der Lebendigkeit nur in verhaltener Form zulässt.
Gemessen an dem was möglich ist, ist die Mehrzahl der normalen Kontakte durch unverstandene Ängste, Vorbehalte und verleugnete Bedürftigkeit in ihrer Qualität gestört. Normalität und pathologische Störung gehen ineinander über. Normal ist oft nur das, was vom eigentlich Möglichen übrigbleibt. Die Phänomenologien der intensiven zwischenmenschlichen Begegnung und des professionell-therapeutischen Kontakts ähneln sich in Teilbereichen dabei um so mehr, je besser sie werden. Der gute Therapeut ist kein distanzierter Experte, der verkorkste Seelenstrukturen mit psychologischem Röntgenblick durchschaut und sie durch mächtige „Techniken“2 wieder in Reihe bringt, sondern er bietet dem Klienten in einer echten Begegnung die Möglichkeit, zunehmend frei zu sprechen und ohne Angst zu hören, wie ihn der Therapeut in seiner Rolle als kompetentes Gegenüber sieht. Der Therapeut sucht mit dem Klienten nach Möglichkeiten verbesserter Kommunikation. Das Ziel ist erreicht, wenn der eine dem anderen ein authentisches Gegenüber ist. Das Ziel ist erreicht, wenn beide unbefangen miteinander reden, wie es gesunde Erwachsene miteinander tun. Das Ziel ist erreicht, wenn jeder sich ausdrückt, ohne den Eindruck, den er dabei macht, vorauszuplanen.
Der Einsatz der tiefenpsychologischen Analyse innerseelischer Dynamiken in der Therapie dient letztlich der besseren Einbindung des Ichs in den Kontext seiner Umgebung. Er dient der besseren Kommunikation des Klienten mit seiner inneren und äußeren Lebenswelt. Die tiefenpsychologische Theorie, die der deutenden Sinngebung als Grundmuster dient, ist ein Produkt unzähliger Kontakte. Sie entstand aus Kontakten und sie dient dem Kontakt. Der Therapeut nimmt mit seiner deutenden Sinngebung Kontakt zum Klienten auf und versucht damit, den Kontakt des Klienten zu sich selbst zu verbessern.
Wer ungehindert im Kontakt zu seiner Umwelt steht und im lebendigen Austausch darin aufgeht, wird keinen Psychotherapeuten brauchen. Ihm ist das Gespräch mit einem Freund oder Partner „Therapie“ genug, um jene Impulse zu finden, die er zur Überwindung seelischer Konflikte braucht; zur Überwindung von Konflikten, in denen er sich - allein auf sich gestellt - verfangen würde.
Das losgelöste Individuum ist eigentlich nur der vordergründige Teil seiner selbst. Es ist ein besonderer Pol seines ganzen Wesens. Denn ohne sinnvolle Kommunikation wird sich der Mensch zur eigenen Sackgasse, in deren narzisstischer Hassliebe er stecken bleibt. Das Individuum ist nicht nur in sich unteilbar, sondern es ist auch vom Kontext unabtrennbar. Das Individuum und seine Umwelt lassen sich nicht ohne Schaden auseinanderdividieren, denn Kontakt ist eine wesentliche Grundbedingung der Individualität. Auf Dauer wäre kein Mensch sich selbst Thema genug.
Wer nicht als verschrobener Asket in der Wüste lebt, hängt wesentlich von der Qualität seiner Kontakte ab. Und selbst der Asket sucht in der Wüste letztendlich keine Einsamkeit, sondern er sucht nach einer ganz besonderen Begegnung - zu seinem Gott, wie er die höchste Nähe nennt, nach der er sich in seiner Einsamkeit sehnen kann.
Wenn hier von Gott die Rede ist, dann als Symbol, das für jene Dimension steht, die sich als absolut erahnen lässt und auf die sich jedes Ich bewusst zu beziehen versucht, sobald es von der Präsenz des Absoluten - in der Welt oder jenseits davon - überzeugt ist. Besser als der Begriff „Gott“ scheinen die Begriffe „Existenz“, „Wahrheit“ oder „Selbst“ dazu geeignet, den Bezugspunkt dieser Ebene des Kontakts zwischen dem Ich und der Welt zu benennen, weil dem klassischen Gottesbegriff etwas Altväterliches anhaftet, dem man heutzutage nicht mehr unbefangen vertrauen mag. Ganz gleich zu welcher Wortwahl man sich aber entscheidet, eine Psychotherapie, die tatsächlich die tiefsten Ebenen der Person erreichen will, kommt nicht daran vorbei, sich mit dem zu beschäftigen, dem gegenüber der Mensch mehr verantwortlich ist als der Menschenwelt.
Zum besseren Verständnis der grundlegenden Kräfte und Strukturen, die das Wesen des Kontakts bestimmen, soll im zweiten Kapitel des Buchs zunächst der Sinn des Begriffs und einiger seiner Teilsynonyme erhellt werden.
Dann wird im dritten Kapitel versucht, aus den Ergebnissen, die bei der etymologischen Analyse der Begriffe gewonnenen wurden, die Strukturkriterien des „reinen Kontakts“ als intensive Sonderform zu beschreiben. Die etymologische Analyse gilt hier als die objektivste Methode, um Hinweise auf das Wesen des reinen Phänomens zu erhalten, denn beim Muster der Sinnverweise, die man so entdeckt, handelt es sich um ein tausendfach ausgesiebtes Resultat des menschlichen Denkens. Man findet so den kleinsten gemeinsamen Nenner der indogermanischen Sprachfamilie. Man kann deshalb davon ausgehen, dass subjektive Aspekte, wie sie ein Rolle spielten, wenn man sich auf einzelne Autoren berufen würde, zum großen Teil herausgefiltert sind; abgesehen von der Subjektivität des spezifischen Standpunkts „indogermanischer Mensch“.
Das vierte Kapitel befasst sich mit den Ursachen der Kontaktstörung in psychologischer und soziologischer Hinsicht. Man kommt so zur Erkenntnis, dass unser kulturelles Klima, dass die Erziehung, der das Neugeborene nur allzu oft nach dem ersten Schrei anheim fällt, gesunde Kontakte recht häufig im Frühling schon erfrieren lässt.
Im fünften Kapitel wird eine Art existenzieller „Ortbestimmung“ des Ich versucht, um dessen Wohlbefinden es dem Buch letztendlich geht. Will man dem Ich etwas Gutes tun, muss man schließlich wissen, wo es sich im Kontext der übrigen Phänomene des Kosmos ungefähr befindet. Es liegt dabei an der Komplexität der Angelegenheit, dass dieser Versuch trotz seiner scheinbar analytischen Sprache eher kreativ-poetisch bleibt und dass man wie beim Pointillismus nur verschwommene Konturen sieht.
Das sechste Kapitel untersucht die Formen der Kontaktstörung und das siebte die Heilung der erkrankten Kontaktfähigkeit. Es geht dort darum, näher zu betrachten, worauf der Psychotherapeut in seiner Rolle als Kontaktexperte achten muss, damit der kurze therapeutische Kontakt auf das weitere Schicksal des Klienten einen nachhaltigen und heilsamen Einfluss nimmt. Dabei ist es austauschbar, ob man die Ergebnisse der Untersuchung in seiner Arbeit als Therapeut oder in seinem Leben als Mensch zur Anwendung bringt. Denn Therapie ist eine Schule des Menschseins.
1 ...die ich später umbenannt habe.
2 Die einzig wahre „Technik“ der Therapie ist die qualifizierte Kommunikation über die faktische, kognitive und emotionale Lebensart der Klienten. Qualifizierte Kommunikation zeichnet sich durch Wahrnehmung, Reflexion und Authentizität des Ausdrucks aus. Sie ist eine Kommunikation, der außer der Fokussierung des Klienten jede „Technik“ im Grunde fehlt. Konkrete Techniken sind für die Kommunikation nur förderlich, wenn ihr Einsatz transparent gemacht wird.
Mit der Machtübernahme des Christentums wurde der Beginn des Mittelalters eingeläutet. Gleichzeitig brach der unmittelbare Kontakt des abendländischen Denkens zu seinen antiken Ursprüngen ab. Leitidee des Christentums war der Kontakt zum idealen Einen und die Einbindung in die Gemeinschaft, die sich in seinem Namen zusammenschloss; denn es hieß: ‘Ich bin das Wort’ und ‘Wo zwei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen’.
Mit dem Auftrag ‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’ wurde vom christlichen Heilsgedanken der Ich-und-Du-Kontakt als jener wesentliche Bereich der menschlichen Existenz benannt, in dem die Präsenz der Wahrheit aufleuchtet, sofern man sich an die göttlichen Gesetze dieser Wahrheit und des Kontakts hält, der von ihrem Licht durchdrungen ist.
Zum selbstverständlichen Repertoire antiker Gesellschaftsordnungen hatte bis dahin die fraglose Ausbeutung der Schwachen durch die Mächtigen gehört. Da die Versklavten und Benachteiligten diesen Missbrauch zwischenmenschlicher Kontakte am härtesten zu spüren bekamen, wundert es nicht, dass die christliche Religion3 bei den Armen und Beladenen auf einen fruchtbaren Nährboden fiel. Der christlichen Hinwendung zum „Guten“, der Suche zum absolut Wahren, entsprach der Abbruch aller Verbindungen zu der als sündig empfundenen antiken Geisteswelt, da sich diese in den Augen der Christen nicht klar genug gegen die Rohheiten ihrer Zeit abgegrenzt hatte. Im rigorosen Eifer des Gefechts schnitt man jedoch nicht nur die Verbindung zu den Verfehlungen, sondern auch die zu den gesunden Wurzeln der Antike ab.
Erst als sich die Hoffnung, die Macht einer Kirche sei der hinreichende Wegbereiter einer menschlichen Gesellschaft, die diesen Namen ohne Einschränkung verdient, im Dunkel der Jahrhunderte als Trugschluss erwiesen hatte, und erst als die Macht dieser Kirche nicht mehr groß genug war, die Kritik an ihrem Treiben gewaltsam zu unterbinden, konnten die Kritiker laut sagen, was sich so mancher schon seit langem dachte: dass die Kirchen zwar angetreten waren, den Kontakt zwischen Mensch und Gott zu vermitteln, dass die vom Klerus kontrollierte Form der Kontaktsuche, von entleerten Ritualen abgelenkt und von Unfehlbarkeitsansprüchen zur Götzendienerei verführt, ihr eigentliches Ziel verfehlte. Die beginnende Entmachtung der Kirchen im Ausklang des Mittelalters war daher ein Etappensieg der wahren Religion.
Nachdem sich Humanismus und Aufklärung als tüchtige Konkurrenten der Kirche etablieren konnten und man wieder über den Tellerrand der Dogmen hinweg nach den Regeln der Menschlichkeit Ausschau halten durfte ohne auf dem Scheiterhaufen zu landen, nahm das abendländische Denken in der Renaissance wieder direkten Kontakt zu seinen antiken Ursprüngen auf und die alten Gedanken wurden in neue Sprachen übersetzt. So wurde auch das Wort „Kontakt“ im 17. Jahrhundert vom lateinischen Begriff „contactus“ abgeleitet und ins Deutsche übernommen.
Die menschliche Neigung, sich nicht von Gleich zu Gleich zu begegnen, sondern sich entweder für etwas Besseres oder für etwas Schlechteres als die Nachbarn zu halten, ist eine Maßnahme zur Kontaktvermeidung. Der Adelige, der etwas auf seinen Titel und die ausgewählte Farbe seines Blutes hält und der seinen Selbstwert aus der deklamierten Besonderheit seiner Abstammung bezieht, sieht im einfachen Bürger einen Menschen niederen Rangs, weil er einen Vorwand dazu braucht, den potentiellen Neider auf Abstand zu halten und eine Erklärung, warum es legitim ist, auf dessen Kosten gut zu leben5.
Der loyale Untertan seiner Obrigkeit macht mit vertauschter Rolle im Grunde etwas ähnliches. Um zu verhindern, dass er durch den Kontakt zu seinen hochmütigen Zeitgenossen mit denselben in Konflikt gerät, glaubt er brav, sich vor den irdischen Fürsten zu ducken sei gottgewollt und gehöre zum natürlichen Verhalten eines jeden Durchschnittsbürgers, der sich von dieser Pflicht nicht durch Reichtum freikaufen kann; was auch stimmt, falls man jene Natur meint, die auf dem Pavianfelsen zu Hause ist.
Daher spiegelt sich in der zwiespältigen Aussage des Begriffs „neben“ eine wesentliche Bruchlinie zwischenmenschlicher Beziehungen wider. Obwohl sich im „neben“ das Wort „eben“ zur Sprache bringt und die Gleichrangigkeit derer ankündigt, die auf gleicher Ebene nebeneinander zusammen und so miteinander in Kontakt sind, drückt das Wort „neben“ oft ein Verhältnis der Unterordnung aus. Das ist beim „Nebenbuhler“ der Fall, der aus seiner zweitrangigen Position heraus darum buhlt, zur Hauptsache der umworbenen Buhlin zu werden, bei der „Nebenfrau“, die womöglich erst aufrückt, wenn die Herrin wegstirbt und erst recht bei der „Nebensache“, die sich ihrem minderen Schicksal fraglos überlässt. Jeder Kontakt zwischen zwei Menschen birgt die Gefahr, dass der eine für den anderen darin nebensächlich ist.
Wird jemand jedoch durch die Struktur eines Kontakts zur Nebensache erklärt, ohne dass dies durch eine bewusst akzeptierte soziale Rolle als ein bloß flüchtiges Rollenspiel verstehbar wird und nimmt er diese Abwertung zur Nebensache ohne Murren hin, wird er dadurch psychisch krank.6 Je nackter sich Menschen begegnen, desto ebenbürtiger müssen sie sein, um durch die Begegnung keinen Schaden zu erleiden. Um kein Vernichter zu sein, muss der Geist, was ihm begegnet, beachten, als sei es er selbst.
Auch im Adverb „bei“ taucht die mögliche Ambivalenz (= Zweiwertigkeit, Doppeldeutigkeit) der Kontakte auf. „Bei“ geht auf die indogermanische Wurzel „bhi“ bzw. „ambhi“ zurück und heißt heute „in der Nähe von“. Ursprünglich meinte es „um...herum“ oder auch „von beiden Seiten“, worin die Nähe, die es heute unverblümt benennt, bereits beiläufig angesprochen wird. Verwandt mit dem „bei“ ist das deutsche Wort „beide“, ebenso wie das griechische „ampho“, das uns bei der besagten „Ambivalenz“, vor der das „bei“ uns warnt, noch heute in leicht verwandelter Form begegnet. Beim Kontakt stellt sich somit die Frage, ob er wirklich den beiden, die er zusammenbringt, jenen Platz einräumt, der eine schädliche Ambivalenz7 verhindert und ob es tatsächlich Nähe ist, was durch den Kontakt entsteht.
Die Kernbedeutung der Vorsilbe „Kon“ liegt jedoch im Adverb „mit“. Urverwandt mit dem deutschen „mit“ ist das griechische „meta“, das den dynamischen Charakter des „mit“ bestens beleuchtet. „Meta“ heißt „nach, hinter, später“ und weist auf einen Zustand hin, der erst durch eine Umwandlung, einen Wechsel oder ein Hinübergehen-von-da-nach-dort erreicht wird.
Das Wort „mit“ bezeichnet eher ein Projekt, eher ein ungewisses Unterfangen als ein statisches Beieinandersein. Es ist eher ein Ich-gehe-mit, als ein Ich-bin-mit; und schon gar kein Ich-liege-bei9. Wer folglich mit jemandem in Kontakt tritt, tritt nicht auf der Stelle, sondern geht durch dieses Treten mit ihm fort. Weder bleibt er nur da und lässt den anderen kommen noch verschiebt er sich, bis er den anderen mit einem dumpfen „Buff“ touchiert. Mitgift der Kontaktbereitschaft ist daher, dass man sich durch sie mitfortgibt. Und... dass man von sich ablässt, denn was man fortgibt, kann man nicht im gleichen Zuge halten. Wer das nicht will, kann sich auf keine wirklichen Kontakte10 einlassen.
Oben haben wir gesehen, dass das griechische „katá“ und das „kon“ aus derselben sprachlichen Wiege stammt. „Katá“ bedeutet „von...herab“, „abwärts“ oder „völlig“ - ganz so wie es sich in den Begriffen „Katabolismus“, „Katastrophe“ und „Katarakt“ verlautbar macht.
Der Katabolismus ist jene Teilstrecke des Stoffwechsels lebender Organismen, auf der die organischen Substanzen ihrer Körper wieder abgebaut und somit in ihre ursprünglichen Bestandteile zerlegt werden. In Analogie dazu ist auch der Kontakt ein dynamischer Umbauvorgang. Er wird nicht nur aufgebaut, sondern, solange er andauert, baut er Bestehendes ab. Er ist ein psychosozialer Prozess, also mehr als nur ein Zustand statischer Verknüpfung. Im „reinen“ Kontakt werden bestehende psychische Strukturen katabolisiert; das heißt, es werden verfestigte seelische Muster, die zu charakteristischen Verhaltensschablonen geronnen sind, in wiederverwendbare Energien aufgelöst, sodass sich der Prozess der psychosozialen Umwandlung munter weiterdreht, so wie es das „meta“ im „mit“ schon verheißt. „Reiner“ Kontakt ist vergleichbar mit der chemischen Reaktion zweier Substanzen, die im Reagenzglas unausweichlich aufeinandertreffen. In beiden Fällen entsteht durch die Begegnung des Unterschiedlichen etwas tatsächlich Neues.
Wer sich aus Kontakten also nicht heraushält, unterliegt dem Gesetz, dass das „meta“ des „mit“ auch für ihn gilt, zumindest soweit er den Kontakt tatsächlich wagt. Und er unterliegt dem Gesetz, dass er sich dem Wandel, den der Kontakt erzwingt, letztendlich überlassen muss.
„Katá“ heißt aber nicht nur „abwärts“, sondern auch „völlig“. Bei der berühmten Katastrophe ging die Titanic, wie man sich mit Grauen erinnert, dröhnend, knarrend und vollständig im schwarzen Schweigen des Eismeeres unter. Wörtlich übersetzt heißt „Katastrophe“ „die völlige Wendung“. Statt dass das Schiff als unsinkbare Herrin der Meere den Triumph des Menschen über die Natur bezeugte, so wie man es bei seiner Abfahrt im Hafen Southhampton´s kühn voraussah, wendete sich das Blatt in einer Weise, die den erhofften Triumph im Desaster vollständig scheitern ließ. Diese überraschende Vollständigkeit ist das eigentliche Wesen der Katastrophe.
Ein übereiltes Von-sich-Ablassen im Kontakt, die leichtsinnige Hingabe an das andere, so phantasiert an dieser Stelle das Unbewusste weiter, könnte in letzter Konsequenz zum völligen Untergang der individuellen Selbstbehauptung führen. Vielleicht wird es dem Ich, wenn es ganz einem Du begegnet, im Sog der Ereignisse, die dieser Begegnung folgen, vollkommen gleichgültig, ob es die Begegnung überhaupt als jenes Ich übersteht, das sich selbst vor der Begegnung so wichtig war. Der „reine Kontakt“ erscheint als eine Katastrophe für jede partielle Identität.
Ein Indiz dafür, dass der Kontakt sich wie ein Fluss ohne Wiederkehr verhält, ergibt sich auch aus der semantischen Verwandtschaft des Begriffs mit dem Wort „Katarakt“. Katarakte sind Stromschnellen. Fließt das Leben schon außerhalb enger Kontakte beharrlich dahin, so wird die Fahrt erheblich beschleunigt und durch die Macht der Strömung unumkehrbar, je mehr sich das Boot dem „reinen Kontakt“ annähert. So war die Fahrt der ‘African Queen’ ein Gleichnis dafür, dass sich die Lebensbahnen von Bogart und Hepburn im Sog der Stromschnellen so miteinander verwoben, dass daraus die Unumkehrbarkeit von zwei gemeinsamen Schicksalen entstand, deren Ausgang keiner von beiden vorausgesehen hätte.
Ist nicht der Tod erst die größte Hochzeit des Lebens, so fragt das Unbewusste sich bang’, wenn sein Bewusstsein unbekümmerten Kontakt zum Bewusstsein eines anderen sucht, und sollten wir mit der Ankunft beim letzten der großen Ziele nicht besser warten, bis es dazu an der Zeit ist oder bis im Bewusstsein der Übermut dazu bereit steht, sich von der Illusion der Einzigartigkeit des eigenen Ichs tatsächlich ganz zu trennen?
Den Kräften, die nach Kontakt suchen, stehen Kräfte entgegen, die Kontakt aktiv vermeiden. Sinnvoll ist dieses Widerstreben sicher soweit, als dass das Ziel noch nicht erreicht ist, das Individuum mit der Einsamkeit der Existenz vertraut zu machen. Sinnvoll ist es darüber hinaus, weil Kontakt und Individuation in einer dialektischen Wechselbeziehung stehen und das eine das andere zum eigenen Werden braucht. Jeder gesunde Kontakt bekennt sich daher nicht nur zu den Werten, die man miteinander teilt und in denen man sich einig ist, sondern gibt ausdrücklich Raum für das, was vorerst nicht vereinbar ist und trennend bleibt. Kontakt setzt die Trennung derer voraus, die sich im Kontakt begegnen und je gelassener man die Trennung ertragen kann, desto näher kommt man der Stelle, an der sich Kontakt und Trennung in etwas Neues übersteigen11.
Vom Verb „tangere“ bzw. dem gleichbedeutenden „contingere“ wurde das „Kontingent“ abgeleitet. Ein Kontingent ist ein wohldefinierter, also begrenzter Beitrag; zum Beispiel ein Truppenkontingent bei einer Friedensmission. Oder der Begriff meint eine zugeteilte Warenmenge, also etwas ähnliches wie eine Ration. Wegen der Verwandtschaft der Begriffe ist es zum besseren Verständnis des „Kontakts“ sinnvoll, sich das Wesen des „Kontingents“ näher vor Augen zu führen.
So sagt man: ‘Samstag Nachmittag fahren wir zur Oma.’
Durch die wartende Oma wird das Ziel definiert und das glückliche Erreichen des Ziels durch einen selbstgebackenen Kuchen belohnt.
„Definiert“ heißt also „auf-eine-Grenze-zu-und-bis-an-sie-heran“. Man fährt zur Oma, aber man fährt nicht an ihr vorbei, denn dann würde der Kuchen seinem wahren Schicksal, dem Verzehr, entgehen und die Vorfreude der Oma auf die Ankunft ihrer Nachkommen müsste einen verschwiegenen Tod erleiden. Und noch weniger als an der Oma vorbei fährt man über sie hinweg. Denn dann wäre nicht nur die Freude der Oma, sondern sie selbst dem Tode geweiht. Bei einem wohldefinierten Kontingent ist von vornherein klar, dass man seine Grenzen nicht überschreiten sollte. Das Kontingent soll den Raum innerhalb seiner Grenzen füllen. Und mehr soll es nicht. Führt man sich vor Augen, dass eine Friedensmission aus verschiedenen Kontingenten besteht, versteht man den Sinn dieser Begrenzung und warum es gilt, sie geflissentlich zu respektieren. Indem sich die Kontingente an den Grenzen, die sie einhalten, gegenseitig berühren, ergänzen sie sich erst zum übergeordneten Ganzen der Friedensmission.
Berührung und Komplexität setzen den Respekt vor jenen Grenzen voraus, deren Existenz sie erst ermöglicht. Zwar kämen die Kontingente auch dann miteinander in „Berührung“, wenn sie ihre Grenzen nicht einhielten. Doch das wäre eher ein Aneinandergeraten als eine Berührung und es gäbe keine Friedensmission, sondern ein Schlachtfeld neuer Konflikte, auf dem die Kontingente um die Vorherrschaft miteinander konkurrierten. Aus den ursprünglichen Kontingenten wären neue Konfliktparteien geworden und die komplexe Mission würde von den entgrenzten Parteien zerschlagen. Die Bruchstücke, die daraus entstünden, wären nicht friedlich zu etwas Ganzem verzahnt, sondern im Streit ineinander verbissen.
Untersucht man weitere Abkömmlinge des Verbs „tangere“, verspricht dies neue Facetten des zentralen Phänomens „Kontakt“ zu erhellen. Leicht zu erkennen sind die Wörter „Tangente“, „tangieren“, „Takt“, „intakt“ und „Tango“. Etwas mehr Phantasie braucht man bei „integer“, „taxieren“ und „tasten“.
Eine Tangente, so erinnert man sich an den Geometrieunterricht, ist eine Gerade, die einen Kreis berührt. Der Tangens ist eine Winkelfunktion. Er bezeichnet den Abstand zwischen dem Berührungspunkt von Kreis und Tangente und der Schnittstelle dieser Tangente mit einer Geraden, die durch den Mittelpunkt des Kreises verläuft.
Bei der Untersuchung der Psyche und ihres Schicksals im Kontakt sollte man sich nun von perfektionistischen Ansprüchen an Eindeutigkeit und zwingende mathematische Präzision der Aussagen freimachen. Vielleicht ist die Psyche zwar eine Funktion und Erfindung der Mathematik12, um das Nichts durch eine Schar origineller Insassen zu bevölkern, unser Horizont ist aber zu eng, als dass wir sichere Erkenntnisse darüber haben könnten. Wie die Erfahrung mit der Analyse psychischer Phänomene nämlich zeigt, greift alles, was der Verstand von der Psyche begreifen kann, zu kurz. Immer hat man den Eindruck, dass man zwar berührt, vermutet und erahnt, dass man Modelle erfindet, die manches gut beschreiben, aber man hat auch das Gefühl, dass der Verstand hoffnungslos hinterherhinkt, sobald man sieht, wie sich die Komplexität der Psyche jenseits des gerade eben abgesteckten Verstandeshorizonts schier endlos in neue Verästelungen erstreckt. Daher braucht man nicht vor hinkenden Vergleichen zurückzuschrecken und kann aus der Tangensfunktion der Geometrie auf die Gesetze des Kontakts schließen.
13Je nachdem in welchem Winkel die zweite Gerade den Mittelpunkt des Kreises kreuzt, schwankt der Tangens periodisch zwischen Null und Unendlich. Diese Schwankung entspricht gleichzeitig dem Winkel und der Ausrichtung, mit der die zwei Linien aufeinandertreffen. Laufen sie parallel, geht der Tangens gegen Unendlich. Treffen sie senkrecht aufeinander, ist er gleich Null. In der Mathematik beschreibt der Tangens die Nähe des Schnittpunkts vom Ursprung. Ist der Tangens Null, ist diese Nähe maximal. Es gibt also zwei Ausrichtungen, bei denen die Nähe maximal ist und bei zwei anderen kommt keine Berührung zustande. Diesen geometrischen Bildern entspricht eine Regel des Kontakts.
Bei der Begegnung entsteht maximaler Kontakt, also größte Nähe, wenn der eine unverstellt sagt, was er wahrnimmt und der andere ihm dabei zuhört, ohne durch übereilte Urteile voreilig Stellung zu beziehen; wenn der Zuhörer das Gehörte also ohne Angst und Abwehr in sich gelten lässt. Die Nähe ist allerdings nur maximal, wenn der, der spricht, den anderen durch seine Aussagen nicht beherrschen will und wenn der, der hört, nichts zu hören versucht, was er gezielt dazu verwenden könnte, sich des Sprechers zu bedienen. Maximal ist also ein Kontakt, wenn man den anderen wie eine Tangente berührt, ohne in ihn einzudringen.
Kein Kontakt entsteht, wenn der eine dem anderen immer zustimmt, oder ihm stereotyp widerspricht. In diesen Fällen wird wirklicher Kontakt vermieden, obwohl er scheinbar stattfindet.
Wer immer zustimmt, ist dem anderen nicht gegenwärtig, sondern schlüpft in ihn hinein, weil er die Entfernung zu ihm fürchtet und weil er sein Gegenüber als Handschuh gegen die Unbilden des Lebens zu benutzen gedenkt. Er macht sich durch sein stellungsloses Ja so unangreifbar wie ein Torero, hinter dessen Tuch selbst die Wut eines Stiers immer nur ins Leere geht; und wer unangreifbar ist, ist auch unberührbar. Die Nähe des steten Ja ist eine versteckte Distanz, die die Verweigerung echter Präsenz verleugnet.
Wer andererseits stets widerspricht, dessen kritiklose Distanz ist keine Selbständigkeit. Sie ist Folge davon, dass ihm die Nähe nicht geheuer ist und er die Gefährlichkeit des anderen aus der Ferne besser zu kontrollieren hofft. Seine scheinbare Autonomie ist kein wirklicher Hafen der Sicherheit. Sie ist eine Folge der Angst, dass er sich aus lauter Sehnsucht kopfüber in eine Nähe stürzen könnte, die ihn schamlos missbraucht.
Mühsame Annäherungen durch handschriftliche Berechnungen mögen heutigen Mathematikschülern bei der Ermittlung der Länge des Tangens durch die simple Bedienung ihrer Rechnertastatur erspart bleiben. Wer nach echten Berührungspunkten beim Kontakt mit einem Partner sucht, muss sich die Mühe der schrittweisen Annäherung und der Überwindung seiner Ängste aber oftmals machen. Schrittweise ist die Annäherung deshalb, weil man bei der Begegnung nicht nur den anderen berührt, sondern weil man sich zum Berühren des anderen zuerst selbst finden muss. So springt man im Kontakt zwischen sich und ihm. Der „reine“ Kontakt tanzt zwischen freiem Ausdruck und abgeschiedener Innerlichkeit hin und her.
Zwar kann man mit einer Portion geschulter Eloquenz und etwas Übung bei gesellschaftlichen Anlässen leicht Themen finden, über die es sich smalltalken lässt, doch verhindert diese Art der Flexibilität allzu schnell, dass man sich tatsächlich etwas sagt. Nur dem geübten Sprecher gelingt es ohne merkwürdige assoziative Sprünge, die sein Gegenüber irritieren könnten, vom Vorteil des Breitreifens bei scharfer Kurvenfahrt und dem unmöglichen Verhalten der Frau Kostermann beim letzten Betriebsausflug ins Sauerland auf wesentlichere Themen überzuleiten. Bleibt es im Gespräch bei jenen Themen, die der Zufall den schwatzenden Partygästen auf die Lippen legt, umgehen sie damit geschickt die Fallstricke des näheren Kontakts und das Gesagte tangiert sie in aller Regel nicht. Am Tag danach sind die Inhalte vergessen und es ist, als wäre nichts geschehen - was notabene gar nicht zu verachten ist, denn intensiver Kontakt wäre auf Dauer unerträglich.
Verlassen wir nun das Feld der Winkelfunktionen und wenden wir uns dem Verb „tangieren“ zu! Das Verb verrät beim üblichen Gebrauch einen gewissen Hochmut des Sprechers, der, wenn er sagt ‘Das tangiert mich nicht’, sich glauben machen will, er schwebe königlich erhaben über jener Sache, die ihn doch tangieren könnte, wäre der Sprecher nicht aus einer verleugneten Furcht heraus auf der Flucht vor ihr. Wäre Kontakt, in dem jedes Tangieren erst wirklich wird, nicht ein Feld, auf dem auch um Erhabenheit, Ausgeliefertsein und persönliche Autonomie gefochten würde, hätte der Sprachgebrauch dem Wort „tangieren“ nicht diese illusionäre Note unantastbarer Unberührbarkeit gegeben, in der sich der, der sich für untangierbar hält, in einer trügerischen Sicherheit geborgen wähnt.
Tangiert, und zwar in einer Art und Weise, die durch feste Regeln vor Schamlosigkeit schützt, wird auch beim argentinischen Tango. Mehr noch als die erhitzten Körper berühren sich bei diesem Tanz zwei stolze Krieger der Erotik. Da es beim Tango mehr um die wachsam tastende Berührung des einen ungebrochenen Willens mit dem anderen geht, empfände man es als taktlos, wenn die Hände der Tänzer den heiligen Bann der erotischen Spannung durch nachlässiges Tasten am Körper des Partners durchbrechen würden und die Erotik14 der Begegnung im billigen Abgrund libidinöser Verbrüderung unterginge.
Auch bei dem Kontakt, der nicht wie der Tango im Takt der Gitarren schwingt, geht das wahre Wesen der Begegnung unter, wenn man sich zu schnell erlaubt, in die Schwerkraft der Gemeinsamkeit zu kollabieren. Sehr oft geschieht das in der Psychotherapie, wenn es der Therapeut nicht schafft, trotz der Begegnung, mit sich selbst allein zu sein und er sich in eine konventionelle Freundlichkeit zu seinem Klienten flüchtet. Die therapeutische Wirksamkeit profitiert von einer differenzierten Distanz, aus der heraus der Therapeut sagen kann, was er für richtig hält, ohne sich in den Fallstricken persönlicher Beziehungsinteressen zu verheddern.
Im Beziehungsleben der privaten Art gilt für das Überleben der Erotik die gleiche Grundbedingung; dass man sie nicht in einem Übermaß gemütlichen Beisammenseins ertrinken lassen darf. Denn Erotik lebt davon, dass sie Grenzen überwinden will und sie stirbt, wenn man Grenzen ein für alle Mal beseitigt hat.
Wenn ein Pianist im Rausch seiner begnadeten Sinne wie ein Trunkener in die Tasten greift, entlockt er dem Klavier die musikalisch verschlüsselte Sprache leidenschaftlicher Gefühle. Durch das Berühren der Tasten werden Klänge erzeugt, die die Emotionen des Komponisten noch Jahrhunderte nach seinem Tod bis in die gerührten Seelen der Zuhörer trägt, so als sei die Seele des Toten in direktem Kontakt mit der der Lebenden. Mit offenen Ohren und erweiterter Seele ertasten die Hörer, was den Komponisten in seiner verzückten Verzweiflung bewegte: die Tragik der Sehnsucht, das Leid der Liebe und der Zorn der Entehrten. Sie entdecken, dass es dasselbe war, was heute den Pianisten und sie selbst bewegt. Von vibrierender Erkenntnis berauscht stellt der Hörer fest, dass er nicht wirklich Meyer, Schulze oder Henkensiefken heißt und Mozart weder Mozart noch Beethoven Beethoven, sondern dass er dieselbe Tragik, dieselbe Liebe und derselbe Zorn ist, die heute wie vor zweihundert Jahren um die Luft zum Atmen ringt. Wie bei diesem akustisch vermittelten, ertastet man bei jedem Kontakt ein Stück der Wirklichkeit, indem man den anderen als ein wahrhaftiges Gegenüber erfühlt.
Jedes Tasten ist im gleichen Zuge ein Taxieren. Schon die frühesten Tastorgane, die ein erstes Stückchen Welt erfassten, zarte Zilien an den Leibern ozeanischer Mikroben, taxierten, was sie im Urmeer zu ertasten bekamen. Taxieren meint „im Wert abschätzen“ und die Wertskala, an der die Mikroben ihre Umwelt maßen, war die Verwertbarkeit der ertasteten Strukturen für den Aufbau körpereigener Substanz. Ginge es nicht um Verwertbarkeit, würde nicht alles, was ertastet wird, auch abgeschätzt, wäre das Tasten überflüssig. Dabei ist das Tasten nach möglichen Gefahren und Hindernissen nur eine spezielle Variante des Taxierens der Verwertbarkeit.
Im Kontakt zwischen zwei Menschen gibt es daher nicht nur jene Kräfte, die ein Miteinander schaffen, dessen Strudel jeden mit sich reißt, sondern diesen Kräften teilweise widerstrebend, taxiert ein jeder, was er vom anderen zu Betasten bekommt. Er prüft, was der andere für ihn wert sein kann, und er prüft, wie hoch sein eigener Wert für den anderen ist. Die Frage nach dem Eigenwert, die die Menschen schon immer heftig plagt, ist nicht erst ein psychologisches, sondern bereits ein biologisches Problem und wie man später sehen wird, ragt die Biologie als eingefleischte Hypothese der Wahrheit aus dem ontischen Abgrund in ihre Existenz hinaus. So entsteht die Thematik des Selbstwerts in der Psyche weder als Folge einer normalen Entwicklung, noch als Folge frühkindlicher Störungen. Sie wird vielmehr in der Psyche sichtbar, obwohl es sie unsichtbar bereits vorher gab. Sie kann daher auch nicht mit Mitteln aufgelöst werden, die irgendwem zur Verfügung stünden und es gibt keine menschlichen Manöver und keine seelischen Prozesse, die das Problem endgültig lösen könnten; weder durch den Erwerb so großer Kompetenzen, dass die Frage nach dem Eigenwert endgültig mit „Ja“ beantwortet wird, ohne dass es dem so „geheilten“ Narzissten jemals wieder drohen würde, an seinem Wert zu zweifeln, noch durch das „Durcharbeiten“ früher Traumata, das die Frage als bloß pathologisches Konstrukt auflösen könnte. Der Narzissmus ist nicht zu beseitigen, sondern nur zu verstehen; und am besten schüttelt man lästige Größenphantasien und Minderwertigkeitsgefühle ab, indem man sie gelassen zur Vorläufigkeit des Daseins zählt. Ein tragfähiges Selbstwertgefühl wird, nachdem man die biographischen Wurzeln der ängstlichen Zweifel daran versteht, erst dadurch erworben, dass man sich im gewagten Kontakt authentisch bewährt; denn die Realität kann durch reine Simulation nicht verwirklicht werden.15
Vielschichtig sind die Hinweise auf das Wesen des Kontakts, die sich aus der Analyse der beiden Wörter „Takt“ ergeben. „Takt“ ist einmal Rhythmus, Muster und Zeitmaß, zum anderen ein Benehmen feinfühliger Zurückhaltung und schicklichen Anstands. Und obwohl das zunächst ganz unterschiedlich klingt, sind beide Varianten in etymologischer Hinsicht eineiige Zwillinge.
Oberflächlich betrachtet liegt die Verknüpfung des Takts, dem ein Musikstück folgt und dem Verb „tangere“ in der Berührung, mit der der Musiker den Rhythmus mit seinem Taktstock auf den Rand des Notenständers schlägt. Blickte man nicht tiefer in den Sinn und das Gefüge der weltlichen Bezüge, könnte man meinen, es sei nur der Zufall eines physikalischen Gesetzes - dass das Klopfen nämlich ein Geräusch erzeugt - der den Rhythmus der Musik mit dem Wesen des Kontakts verbindet. Musik und besonders der Rhythmus löst im Menschen jedoch Veränderungen aus, die man als ein besseres In-Berührung-kommen-mit-sich-selbst bezeichnen könnte. Musik erleichtert es, durch das Empfinden schwingender Zeiten und Räume, uns selbst als eine bebende Ganzheit zu erleben und so mit jenem Grund in unserer Tiefe in Kontakt zu sein, der durch das Einssein mit dem Klang der Rhythmen begriffen wird und gleichzeitig unantastbar für den Zugriff bleibt. Wäre man ganz für den Kontakt mit dem wahren Wesen der Welt bereit, könnte man sich in die Musik hinein und aus der irdischen Gefangenschaft hinweg entbinden und wenn es richtig wäre, ließe man so, was hässlich an der eigenen Enge ist, als belangloses Beiwerk zurück. Derwische, die sich stundenlang dem Takt gleichförmiger Tänze überlassen, hoffen auf diesen Effekt. Sie suchen im endlosen Takt des Tanzens nach der mystischen Verbindung mit dem, was sie aus der geizigen Einsamkeit ihrer irdischen Identität befreit. Würde sich ein Derwisch in eine pulsierende Transparenz verwandeln, die sich dem Rhythmus überlässt, der sie selbst ist, hätte er sein Ziel erreicht. Doch dem Menschen im Derwisch fehlt dazu der Mut.
Wäre alles oder irgend etwas Beliebiges wahr, wären Menschen autistische Inseln in der Einsamkeit und sie verlören sich in den Simulationen ihrer Phantasie. Menschen können sich aber tatsächlich begegnen. Das liegt daran, dass es eine Wahrheit16 gibt, auf deren Boden man mit sich selbst und mit dem anderen in Kontakt sein kann. Und nur auf dem Boden dieser Wahrheit kann man sich tatsächlich begegnen. Die musikalischen Aspekte der Wahrheit, mit denen man selbst je nach Stimmung in Resonanzschwingung kommt, sind kein Stakkato beliebiger Geräusche, sondern bestimmte Rhythmen, die offensichtlich sowohl mit mathematischen Symmetrien als auch mit dem Erlebnis bewussten Empfindens in Übereinstimmung sind.