Vom Hören und Staunen - Michael Depner - E-Book

Vom Hören und Staunen E-Book

Michael Depner

4,8

Beschreibung

Wörter bergen mehr, als sie im Gespräch sofort verraten. Antworten findet man auch, indem man Fragen versteht. Diese Hypothesen sind Ausgangspunkte des Buchs "Vom Hören und Stauen". Gehört wird auf die unerkannt im Wort mitschwingenden Bedeutungsfacetten, die man aufdeckt, indem man den Stammbaum der Wörter freilegt. Man erkennt dann staunend, dass für einen geübten Hörer beim alltäglichen Sprechen mehr gesagt wird, als der Sprecher selbst vermutet. Wörter sind nicht nur isolierte Symbole, die man zu beliebigen Aussagen verkettet. Sie bilden ein Netzwerk gewachsener Landmarken des Denkens, das auf verborgenen Pfaden einen regen Austausch wirksamer Bilder betreibt. Als mögliche Antwort auf unlösbare Fragen schlägt das Buch also vor, den Sinn jener Wörter auszuloten, aus denen die Frage besteht. Statt nach der Antwort zu suchen, versucht man zunächst die Frage besser zu verstehen. Die Methode des Autors ist explorativ. Ohne am Anfang der Kapitel zu wissen, wohin die Fahrt führen wird, überlässt er den Wörtern das Ruder und beschränkt seinen Einfluss darauf, ein Segel intuitiver Phantasie in den Wind des Geschehens zu setzen. So lässt er sich zu neuen Ufern treiben, wo der Boden verrät, dass es sich lohnt, nach Schätzen zu graben. Resultat dieser spracharchäologischen Methode, Wörter beim Wort zu nehmen, sind 36 Essays, deren abstrakten Hauptdarstellern der Autor teils analytisch streng, teils spielerisch das Wort erteilt, damit sie von ihren verwandtschaftlichen Beziehungen erzählen, um beim Leser die Lust zu wecken, sich beim Hören einzelner Wörter Zeit zu lassen.

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Inhalt

Einleitung

1.

Meinung

Die Meinung ist das Werkzeug verborgener Wünsche

.

2.

Verstehen

Der Verstand drängt in die Ferne

.

3.

Absicht

Manches Ziel steht für die Flucht vor einem Drachen

.

4.

Lösung

Man ist das Problem, dessen Lösung man sucht

.

5.

Suche

Aufzuwachen ist Etappenziel

.

6.

Bedeutung

Jedes Wort beweist den Sinn der Welt

.

7.

Wesen

Wesen sind, indem sie sich verwandeln

.

8.

Arbeit

Arbeit ist das Schicksal der Waisen

.

9.

Leben

Das Leben sucht die Versammlung des Ganzen

.

10.

Wirklich

Unwirklich bleibt, wovon niemand weiß

.

11.

Staunen

Nichts ist selbstverständlich

.

12.

Wehr

Das Leben überwindet die Wirklichkeit

.

13.

Recht auf Irrtum

Recht hat der Aufrichtige. Wenn er bejaht, dass er sein Ziel nicht kennt, hat er auch Recht, wenn er irrt

.

14.

Urteil

Das Urteil ist die Ohnmacht Gottes

.

15.

Sinn

Man reist, um zu entstehen

.

16.

Zeit

Nach der Zeit kann man sich mit ihr versöhnen

.

17.

Welt

Wer satt ist, hungert nach Freiheit

.

18.

Wahrheit

Wahr ist, womit sich unser Wesen verträgt

.

19.

Wahrnehmen

Teile Dir den Schutz zu, den die Wahrheit in Dir zum Wachsen braucht

.

20.

Objektiv und Subjektiv

Freiheit ist der Sturz in den Himmel des Seins

.

21.

Sein

Das Sein ist mein Gesetz und ich bin seine Freiheit

.

22.

Schwindel

Angst ist die Suche nach dem Heil in der Enge

.

23.

Wissen

Humor ist liebender Mangel an Respekt vor sich selbst

.

24.

Himmel und Hölle

Tugend ist das Laster des moralischen Hochmuts

.

25.

Gehören

Der Freie gehorcht der Wahrheit

.

26.

Freiheit

Das Freisein im Frieden ist der König der Ziele

.

27.

Verbrechen

Wer lebt, verbricht den Fortschritt

.

28.

Erziehung

Erziehung ist Missbrauch

.

29.

Nachricht

Wissen formt und richtet aus

.

30.

Schule

Die Schule ist die Zerstreuung, vor der sie uns schützen sollte

.

31.

Gut

Das Gute weist über seine Grenzen hinaus

.

32.

Jenseits

Das Jenseits versteht sich ins Diesseits

.

33.

Schlecht

Das Böse ist ehrlich besser als das Gute, das dahergeschlichen kommt

.

34.

Trauer

Trauer und Hass sind die ungleichen Kinder des Schmerzes

.

35.

Beachtung

Im Vergleich zu sich selbst ist man irreal

.

36.

Lunge

Mit Leichtigkeit tut man sich schwer

.

EINLEITUNG

Die Idee zu diesem Buch entstand vor ein paar Jahren. Damals nahm ich an einer gestalttherapeutischen Ausbildung teil. Zur Ausbildung gehörte, dass jeder ein Referat zu einem selbst gewählten Thema seiner persönlichen Entwicklung halten sollte. Unbeeindruckt von der holprigen Ausdrucksweise wählte ich das Thema "Wie wachse ich in die Wirklichkeit des Hier-und-Jetzt?

Die erste Antwort auf diese Frage hatte ich schon während ihrer Formulierung parat: "Durch Wahrnehmung und Handlung". So war unklar, ob ich nun eigentlich eine Frage beantwortete, oder ob ich sie nur für bereits bekannte Antworten vorgab. Außerdem, hätte mein Referat bloß aus der Überschrift und vier Worten Text bestanden, hätte ich wesentlich dreister sein müssen, als ich war, um dazu zu stehen und wäre dann doch nicht damit durchgekommen. Also musste eine umfangreichere Antwort her. Die Frage war tatsächlich wieder offen.

Auf der Suche nach einer Antwort wusste ich zunächst nicht, wo ich denn überhaupt suchen sollte. Sicherlich hatte sich noch nie jemand darüber Gedanken gemacht, wie ausgerechnet ich in die Wirklichkeit wachsen solle. Also lag es nahe, nach der Antwort in meinem eigenen Kopf zu suchen. Doch halt! Liefe ich damit nicht Gefahr, mir eine Antwort einfach auszudenken, sie mir sogar zurechtzuphantasieren und welche Anhaltspunkte außer meiner Selbstzufriedenheit hätte ich dann dafür, dass es auch die richtige Antwort ist? Lag denn die Antwort wirklich in meinem Bewusstsein, unter der einzigen Laterne, deren Lichtschein ich unmittelbar aufblenden kann oder würde es mir wie dem Betrunkenen gehen, der seinen Schlüssel vermutlich im Dunkeln verlorenen hat, ihn jetzt aber im Hellen sucht, weil er zur Suche das Laternenlicht zu brauchen glaubt?

Mir war bald klar, dass es viele verschiedene Antworten auf eine solche Frage gab. Je nachdem von welchem ersten Einfall ich ausging, führten die weiteren Assoziationen in unterschiedliche Richtungen. Eine der Möglichkeiten willkürlich zu wählen und durch diese Wahl zu behaupten, sie habe mehr Gewicht als die anderen, fand ich unbefriedigend.

Um eine größere Gewähr für die Qualität der Antwort zu erreichen, war es sinnvoll, nicht nur außerhalb der Frage, nämlich im subjektiven Lichtschein meines Denkens, sondern auch innerhalb der Frage selbst nach ihrer Antwort zu suchen. Die Idee war, dass eine Frage schon in der Struktur ihrer selbst, in der Komposition der Begriffe, aus der sie besteht, wesentliche Elemente zu ihrer Beantwortung bereithält. In der Annahme, dass in jedem Wort, das man zur Formulierung einer Frage benutzt ein ganzes Orchester sinnreicher Obertöne von Bedeutung mitschwingt - Bedeutungen, die zum eigentlichen Verständnis der Frage und so zu ihrer Beantwortung wichtig sind - galt es also, sich mit der Sichtweise eines Etymologen an die Arbeit zu machen. Es galt, die horizontale Suche nach der Antwort im Horizont des eigenen Denkens, durch spracharchäologische Grabungen vertikal in die Tiefe der Entwicklungsgeschichte der Wörter abzusichern.

Ich kaufte mir also das Herkunftswörterbuch des Dudenverlages und untersuchte die bedeutungsvollen Querverbindungen der Begriffe "wie", "wachsen", "Wirklichkeit" und so weiter zu den Mitgliedern ihrer Sinnfamilien. Je mehr ich den Sinn einzelner Wörter aus ihrer Entstehungsgeschichte, wenn möglich bis in die Schicht der indogermanischen Sprachendämmerung, ausgrub, desto deutlicher wurde mir, dass Wörter keine zufälligen Klanghülsen sind, die chaotisch und ohne Bezug zueinander von der menschlichen Willkür geschaffen, benutzt und wieder verworfen würden. Wörter wachsen vielmehr aus miteinander verwandten Familien, Sippen, Schwestern- und Vetternschaften heraus. Sie sind auch über große Entfernungen durch sinnhafte Schleichwege in eine Ganzheit verstehbarer Vorstellungen gebunden. Dieses Ganze ist keine leblose Abstraktion platonischer Ideen, die losgelöst von dem der an sie dächte in einem virtuellen Raume schwebt, sondern Organ und Werkzeug eines lebenden Geistes. Da ins Sinngeflecht des "Ganzen" auch der "Mensch", die "Seele", "du" und "ich" verwoben sind, ist dieser abstrakte Geist so handfest und konkret wie Erdreich, Saft und Blut.

Wie dem auch immer sei, durch die beschriebene Methode kam ich an genügend Stoff, um mir daraus ein Referat zurechtzustricken. Die Arbeit am Referat machte mir soviel Spaß, dass ich für später plante, nach dem selben Muster ein ganzes Buch zu schreiben. Vor drei Jahren habe ich damit begonnen. Bis dahin, wo ich es nun belasse wie es ist, habe ich es mehrfach überarbeitet. Es ist anders geworden, als ich anfangs dachte.

Vor drei Jahren glaubte ich, mit Hilfe der Wortarchäologie könne man eine weitgehend objektive Denkgenauigkeit erreichen, so dass es ein paar hundert Jahre nach Descartes doch noch gelänge, aus dem eigenen Denken eine quasi halbmathematische Wissenschaft zu machen. Dieses Ziel war unmöglich zu erreichen, selbst wenn ich michgenau ans Belegbare hielt und meine Phantasie in Fesseln legte. Es ergab bloß hölzerne Stereotypien, die für ein kurzes Referat wohl noch angingen, in einem längeren Text aber unerträglich klangen. Also gab ich den wissenschaftlichen Anspruch auf, befreite die mit den Hufen scharrende Phantasie nonchalant aus ihrer Koppel und ließ mich im Denken gehen. Das hat mir gut getan. Die Impulse, die mir die Etymologie gab, das Verständnis von uralten Wurzeln und erdfeuchter Schwerkraft gaben mir Halt und Sicherheit. Als deren Kontrapunkt genoss ich nun die Freiheit, mich manchmal von meiner altklugen Alltagsvernunft loszumachen und ein paar Dinge neu zu formulieren.

Die Wahl der untersuchten Wörter ist unsystematisch und folgt meiner persönlichen Neugier. Die Schreibweise der erschlossenen indogermanischen Stämme orientiert sich an der des Dudenverlages. Thematisch behandelt jedes Kapitel einen Begriff und einige seiner Sinnverwandtschaften. Kaum auszudenken ist die Vielfalt der Sinnbezüge, die sich zwischen den einzelnen Kapiteln ergäbe. Es gibt dort so viele Schattierungen wie zwischen den zerfließenden Grundfarben eines Aquarells im Flimmerlicht der Mittagssonne.

Die Interpretationen, die sich jeweils ergeben sind situativ, subjektiv und poetisch. Sie sind um den analysierten Begriff zentriert. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass hinter dem Vielen etwas Einheitliches erscheint.

1. MEINUNG

Die Meinung ist das Werkzeug verborgener Wünsche.

Das deutsche Verb "meinen" kann im Stammbaum der indogermanischen Sprachen stolz auf zwei Ahnen verweisen, die viel über das ursprüngliche Wesen des Meinens verraten. Gemeint sind die Wörter "mïan" und "meniti", deren begriffliches Erbe neben anderen Einflüssen noch heute den Sinn des Meinens bereichert. "Mïan" hieß altirisch "der Wunsch, das Verlangen", "meniti" ist das altslawische Wort für "wähnen". Beide Wurzeln geben Auskunft darüber, welche Kräfte in der Tiefe eines Geistes wirken, der scheinbar eifrig wie ein bescheidener Diener der Weisheit arglos schreibt, was er über die Bedeutung des Meinens meint.

Der eigene Geist hantiert bereits, bevor er richtig denkt und wirklich etwas wissen will, geschickt mit einem ganzen Bündel stets parater Meinungen. Mehr bequem als weise übernimmt er sie von Freunden, Vorgesetzten und Experten, von Menschen also mit denen er verbündet ist und deren Unterstützung er sich wünscht oder, ohne dass er viel davon bemerkt, bilden sich die Meinungen im Schattenreich des Unbewussten ganz von selbst. Dann sind sie plötzlich einfach da, wenn das Stichwort fällt, zu dem sie passen.

Egal woher nun eine Meinung auch stammen mag, sobald man sie einmal bei sich hat, lässt man sie nur ungern wieder los, denn ohne Meinungen wäre man nackt, ausgesetzt und irgendwie zerbrechlich. Ist man nämlich mit Meinungen gewappnet, kann man, im Falle eines Falles, sofort damit Kontra geben. Beim Wortgefecht trägt man sie wie Schild und Lanze, als das Wappen einer respektablen Persönlichkeit mit selbstbewusster Stimme vor sich her. Mit wehrhaften Meinungen versucht man sich so in einer achtlosen Welt Respekt zu verschaffen und hat man einem unverschämten Widersacher laut und deutlich "einmal die Meinung gesagt", fühlt man sich doch gleich viel besser. Durch die Hebelkraft der Meinungen trachtet man die Welt von sich zu überzeugen und man verteidigt seine Hebel mit listenreicher Leidenschaft, als sei man seine Meinung selbst; denn erst wenn man eine Meinung hat, fühlt man sich berufen, sich als ihr berechtigter Vertreter gebührend Platz zu schaffen.

Meinungen sind aber nicht nur Waffen im wilden Wortgefecht. Wo es friedlicher zugeht sind sie gängige Handelsware zum sozialen Austausch. Beim Meinungsaustausch entsteht ein vorsichtiger Kontakt, indem man gibt und nimmt. Man nimmt sich den Platz und das Recht sich durch Meinung zu äußern. Als Dank dafür verleiht man ein offenes Ohr und wendet sich den Argumenten der anderen zu. So entsteht eine Gemeinsamkeit zu der man sich zum Austausch der Meinungen zusammentut. Hätte man keine eigene Meinung zum Sachverhalt, über den gesprochen wird, stünde man beim Austausch mit leeren Händen da und stünde daher ziemlich abseits, denn wer nichts zu geben hat, ist auf dem Marktplatz nicht mehr als ein Zuschauer, den das Getriebe in seinem emsigen Treiben übersieht. Gefragt könnte er ja auch nur mit den Schultern zucken. Wer nichts meint, ist in mancher Gemeinschaft als wäre er nicht da. Wer nicht nur abseits stehen und tatenlos dem Lauf der Dinge zusehen will, braucht daher eine Meinung, damit er mit ihr, im Auftrag tieferer Motive, herausrücken kann.

Hinter dem Verlangen nach Zustimmung zur eigenen Meinung stecken also, ebenso wie hinter den Wünschen der "Minne" mittelalterlicher Lautenspieler Bedürfnisse, die sich nach Erfüllung sehnen. Diese Bedürfnisse verzerren die Sicht dessen, der, ohne das Bedürfnis in seiner Meinung zu entdecken, insgeheim auf seine Erfüllung hofft. So sind Meinungen das Produkt selektiver Wahrnehmung. Sie sprechen über die gemeinten Sachverhalte und bergen im gleichen Zuge die verborgenen Wünsche dessen, der sie meint. Meinungen sind die Sichtweisen und heimlichen Werkzeuge des Hungers. Sie sind schamhafte Verkleidungen der Sehnsucht. Wer meint, der braucht.

Wer etwas meint, könnte also, wenn es denn wirklichen Erfolg verspräche, auch offen seine Wünsche äußern. Mal tut er es nicht aus Feigheit, mal unterlässt er es aus Klugheit; denn sich derart selbst zu offenbaren ist das eine Mal ein ängstlich vermiedenes Wagnis, so dass der Feige nichts gewinnt, das andere Mal aber raubte die nackte Offenbarung des Wunsches ihm den ganzen Charme und damit die Hoffnung, dass das Wagnis etwas nützt. Dann ist es besser weise zu meinen; solange man trotzdem weiß, was man sich wünscht.

Daraus, dass Meinungen maskierte Wünsche sind, erwächst die Leidenschaft, mit der man sie verficht. Gäbe man seine Meinungen auf, verzichtete man auf die Erfüllung seiner Wünsche und dagegen leistet man zähen Widerstand. Wenn Wünsche schon unausgedrückt im Dunkeln bleiben, so will man sie wenigstens als Meinung gut verkleiden und man hofft darauf, dass man auf dem Maskenball jemanden findet, dessen Kostüm zum eigenen passt.

Die Leidenschaft im Meinungsstreit schürt sich durch die Hoffnung, darbende Wünsche würden doch eines guten Tages beim Happyend der Welt erfüllt, könnte man diese Welt doch nur von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugen. Dann sähe die Welt ihre Fehler ein, hörte auf so widerspenstig zu sein und könnte all ihre Schuld mit Zins und Zinseszins begleichen. Wer sich selbst seine Wünsche nicht eingesteht, erwartet, dass die Welt ihm mütterlich ihre Erfüllung zugesteht. Er wartet meist vergebens und verkriecht sich vor der vermeintlich gemeinen Welt in die sichere Burg seiner Meinungen. Seine Bitterkeit versteckt er hinter dem hageren Stolz, zwar dürr aber recht klug zu sein.

Je mehr Meinungen jemand also hat, desto unklarer sind ihm seine Wünsche. Übermäßiges Meinen ist eine schlechte Angewohnheit, die entsteht, weil man die Freilegung seiner Wünsche fürchtet oder den zielstrebigen Griff nach dem Gewünschten vermeidet; man könnte beim Zugreifen nämlich schmerzhaft eins auf die Pfoten bekommen. Statt sich Meinungen zu bilden, sollte man sich besser davon befreien. Dann beginnt man zu ahnen, was man wirklich will. Wer nichts mehr meint, weiß was er sich wünscht.

"Meiner Meinung nach sollte….", sondern…

"Ginge es nach meinem Wahn…"

Eine derart eindeutige Rede würde manchen ohne Zweifel rasch aus seinem Meinungswahn erwecken. Das Meinen entpuppte sich als blindes Erraten einer rätselhaften Wirklichkeit und kaum noch jemand wagte es, sich auf eine Meinung allzu lange zu versteifen.

Nur noch in der geschlossenen Anstalt würde so ganz spontan gemeint, ohne dass der, der da arglos zu meinen wähnt, darüber stutzig würde. Andernorts wäre man eingedenk der Widersprüchlichkeit der Welt der Meinung, dass weiteres Meinen nur mit Vorsicht zu genießen sei, so als könne man davon, wie durch eine Überdosis Rauschgift, einem üblen Wahn verfallen. Man ahnte ohne zu verstehen, dass hinter dem Schleier der gewähnten Meinung die Welt bereits unbegreifbar ihren Wünschen gegenwärtig und dass die Wirklichkeit mehr wahre Form als Hindernis der Wünsche ist. Besser ist man aber ratlos als wunschblind von der eigenen Meinung überzeugt. Eine eigene Meinung, von der er nicht schon Abstand nimmt, enteignet ihren Eigner nämlich der Gegenwart seiner Wünsche.

Das Thema "Meinung" führt zum Begriff der "Überzeugung", denn eine Meinung, von der man nicht mehr überzeugt ist, ist schon keine richtige Meinung mehr. Sie ist bestenfalls noch ein Denkmodell. Der von seiner Meinung freie Mensch kann Denkmodelle handhaben, so wie es seinen Zielen nützlich ist. Hier verfügt der Mensch über das Denken. Anders bei dem, der in seiner Meinung gefangen ist. Da verfügt das Modell über den Menschen. Es lohnt sich also, ein Denkmodell davon zu entwerfen, wie das Überzeugtsein zur Sklaverei des Meinungsjochs beiträgt. Im Ansatz dazu greifen wir die Silbe "zeug" heraus.

Die Silbe "zeug" beim Überzeugtsein geht auf "Zeuge" und der geht auf das Stammwort "ziehen" zurück. Es ist daher nicht ganz abwegig, jegliches Überzeugtsein überhaupt für überzogen zu halten. Wer überzeugt ist, hat die Zeugen über sich. Was macht er denn da unten? Er sollte zusehen, dass er mit den Zeugen auf gleiche Höhe kommt, sonst verspannt er sich im Nacken!

Verwandt mit dem Begriff der "Überzeugung" sind die Wörter "Zaumzeug", "Zögling", "Zucht", "Zügel" und "zögern". Der Überzeugte ist der gezüchtigte Zögling, der sich vom Zaumzeug und den Zügeln seiner Meinungen gängeln lässt. Er zögert, das "über" abzuschütteln und nur noch Zeuge seiner selbst zu sein.

Wer durch diese Polemik von der Fragwürdigkeit des Überzeugtseins noch nicht überzeugt ist, und es auch dann nicht wird, wenn er sich angehört hat, mit welcher anrüchigen Wortfamilie das Überzeugtsein im gemeinen Gleichklang steht, nämlich mit Wörtern wie: "überfordert", "übergeben", "übergangen", "überlebt", "übermannt", "übernächtigt", "überrumpelt" und "überspannt", der erkenne daran, dass das Wesen der Überzeugung auch ganz anders ist, als es die bedürftige Meinung des Autors zunächst wähnen will.

2. VERSTEHEN

Der Verstand drängt fort in die Ferne.

Die Verständigung miteinander und das Verständnis der Wirklichkeit sind die Ziele des Verstandes. Ohne ihn blieben die menschlichen Reaktionen auf seine Umwelt blinde Reflexe und das wenige an scheinbarer Kommunikation wäre das Werk unverstandener Instinkte.

Im Suffix "ver" sind drei Silben zu einer einzigen verschmolzen, die im Gotischen noch voneinander getrennt waren:

Noch früher, bei den Römern, lauteten diese Vorsilben "per", "por" und "pro", und ganz ähnlich klang es bei den Griechen: "peri", "par" und "pro".

Die gemeinsame indogermanische Wurzel, der diese drei Silben entspringen, benannte als Vorstellung ein "Hinausführen-über". Mit der Vorsilbe "ver" bezeichnet die Sprache gemäß dieser Tradition verbaler Symbole eine Bewegung, die ihren Ursprung verlässt und hinaus, nach draußen, ins Offene drängt.

Durch den Verstand wird so der Unbeweglichkeit des "Standes" im Suffix "ver" ein Kontrapunkt gesetzt, so dass dem, was über das feste Gestade hinausführt eine Heimat bleibt, um deren Sicherheit herum sich das Starre im Spiel von seiner Sturheit befreien kann.

Der gemeinte Inhalt des "Hinausführens-über-etwas" klingt in den Wörtern "für", "fort" und "fern" deutlich durch. Auch diese drei stammen wie das Suffix "ver" aus derselben ursprachlichen Quelle. Folgender Gedankengang kann die Sinnverwandtschaft der Idee vom Verstand mit den Wörtern "für", "fort" und "fern" verdeutlichen:

Ist man verständig, führt der Verstand über den Standort des bisher Gedachten hinaus. Für mehr Verständnis weitet man seinen Horizont aus und greift damit nach dem, was bisher in der Ferne lag. So führt der Verstand fort von dort, wo man einmal auf vertrautem Boden fest und sicher stand. Man versteht nichts neu, ohne sich damit vom ursprünglichen Verständnis der Dinge zu entfernen. Verstehen ist Abschied und Aufbruch. Versteht man nicht, bleibt man im jenem überschaubaren Geistesdorf zurück, das den engeren Horizont der Vergangenheit umfasst. Dort ist alles in gewohnter Nähe. Dort ruhen die Dinge in gewohnten Grenzen, die man bereits so gut kennt, dass man sie zu verstehen vergisst.

Wen wundert es da, dass Reisen bildet, wenn das Verstehen an sich schon ein Verlassen der gewohnten Heimat ist. Das Wort "Verstand" heißt verständlich übersetzt "das Verschieben des Standortes" oder noch besser "das Über-das-Unbewegliche-hinausgehen". Der Verstand versteht sich nicht als feste Position oder als ein wägbares Vermögen der menschlichen Seele, sondern als Ruf zum Aufbruch in die Ferne ist "Verstehen" immer schon Bewegung und Verwandlung dessen, was sich da bewegt. Mit der Zahl der Standorte, zu denen ein Verstand hinüberwechseln kann, wächst mit der Beweglichkeit auch der sichere Boden einer neuen Stabilität.

"Dazwischen-sein" heißt auf lateinisch "inter-esse". Ein Standpunkt, an dem man zwischen den Elementen seiner Umwelt steht, ist daher der Brennpunkt eines persönlichen Interesses. Im Brennpunkt einer Linse wird ein Bild deutlich, weil das Licht im Brennpunkt scharf gebündelt wird. Das Bild, das dem Seher als Ich in seiner Seele deutlich wird, ist das Bündel seiner Interessen. In dem, der sieht werden seine Interessen sichtbar. Man ist so die Sichtweise seines eigenen Seins. Jemand ist, was das Sein von ihm sieht.

Als Individuum ist man Abbild und Brennpunkt seiner Interessen. Der Verstand führt, wenn man verständig ist und ihm folgt über das Bündel bisheriger Interessen hinaus. Wenn man ihn machen lässt, steigt der Verstand über das hinweg, was man bisher für sich hielt. Wer versteht, lässt ab.

Die Wendung "was-man-für-sich-hält" meint zweierlei: sowohl "womit man sich gleichsetzt" als auch "was man für sich festhält". Solange es eine Ferne zu verstehen gibt, versucht der Verstand uns zu verlassen. Er ist der Bewegungsimpuls, der versucht die Grenzen der Individualität zu überwinden. Wer sich sträubt, mit dem Verstand von sich fort zu gehen und als vorübergehende Metapher zu erkennen, was er bis dahin als feste Trutzburg des eigenen "Mit-sich-identisch- Seins" hielt, wird den Verstand verlieren. Verstand ist der Versuch, die Trennung der Gegensätze, die starr und unbeweglich auseinanderragen in jene Einheit zu verschmelzen, in der Widerspruch Bejahung ist. Im Verstehen sind Gewinn und Verlust, Sieg und Niederlage, Tod und Geburt ein und dasselbe. Der Verstand macht sich auf den Weg und durchquert die feste Struktur.

Ein unverständiger Esel hat es verständlicherweise leichter. Der Esel ist stur, weil er von dort, wo er in sich steht, nicht fort kann, selbst wenn er in Galopp verfiele. Er kann nicht aus sich heraus; er steht stur auf der Stelle, weil er zwar einen festen Stand hat, aber kein "für" und kein "fern" und kein "fort". Er geht und steht ohne Verstand. Solange er die Welt nur von sich aus kennt, von dort, von wo aus seine Augen die saftigste Karotte sehen, weiß er nichts von sich und der Eselei in seiner Welt. Er kann sich selbst nicht sehen. Er weiß nicht, dass es ihn gibt und dass er, obwohl er doch eigentlich eselhaft stur ist, einen Reiter durch die Gegend trägt, weil der ihm seine Sturheit mit einer Karotte überlistet. Kein Esel kann deshalb sagen:

"Ich bin der Esel Jonathan und ich bin stur, obwohl ich auch nachgiebig bin. Ich stehe für mich, obwohl ich auch fort von mir könnte".

Erst durch das Verstehen, dadurch dass man sich aus sich herausstellt und dass einem als Esel der Kopf woanders steht als im Bauch und in den Beinen, entsteht dem, der weiß, ein Bewusstsein seiner selbst. Selbstbewusstsein entsteht, indem man sich selbst versteht, indem man aus sich selbst verrückt. Selbstbewusst wird ein Verstand, der sich abgerückt vom Recht auf seine Starre auch zulässt, wenn er schwindet.

Man versteht einen Sachverhalt nicht nur unverbindlich ins Blaue hinein, sondern der Verstand sucht nach dem "Für", denn das "Ver" in "Verstand" hat ja hörbar mit "für" und nichts mit "gegen" zu tun. Man hat immer nur Verständnis für etwas, nie gegen etwas. Daher ist der Verstand ein "Fürstand" und kein bloßer Gegenstand. Er ist ein reiner Bezug, der nur in der bejahenden Bewegung auf das Ferne zu tatsächlich ist. Er will seine Weite, damit er als Fürstand zum tragenden Boden dessen wird, was als Sache und Gegenstand sein Ausgangspunkt ist. So schöpft der Verstand aus der Quelle, die er selbst sprudeln lässt.

3. ABSICHT

Manches hehre Ziel steht für die Flucht vor einem Drachen.

Zwischen der Hand und dem, was ihr abhanden kam, klafft überhandbreit eine Lücke.

Im Stollen werden Erze abgebaut. Man bricht sie aus dem Berg, wo sie bis zu diesem Raub Jahrmillionen lang in ihrer dunklen Mutter ruhten und zerrt sie fort von ihrer wundgeschlagenen Lagerstätte.

Abstürzen in Abgründe gegenüber ist man absolut abgeneigt. Beim Abgrund besteht zwischen der Stelle, von der man abrutscht und jener wo man aufschlägt eine vertikale räumliche Trennung. Eine horizontale räumliche Trennung findet sich oben an der Kante und zwar zwischen der kritischen Abrutschstelle und jenem noch sicheren Ort, auf den zu man sich von der Abrutschstelle wegneigt. Absolut mag nun die Abneigung gegen Abstürze sein, passiert das Malheur aber doch, dann gibt man mit dem letzten Atemzug im freien Fall womöglich einen gellenden Schreckensschrei ab, dessen jäh abbrechende Vibrationen nach dem Aufschlag noch eine Zeitlang unterwegs zu den Ohren der umstehenden Hörer sind. Die mitteilsamen Vibrationen müssen nämlich erst den Abstand zwischen Hörer und Schreier überwinden. So absolut wie jene Abneigung gegen Abstürze ist auch die Verschrobenheit vorstehender Formulierungen. "Absolut" kommt von lateinisch "ab-solvere" und heißt losgelöst. Der Begriff "absolut" spricht also vom Abgetrennten.

Bei Ebbe fließt das Wasser ab, denn auch das Wort "Ebbe" ebbt mit einem Nachkommen der Silbe "apo" an.

Ein „ab-er“ im Satz kündigt an, dass der, der da spricht, sich von dem, was er sagte, klammheimlich wieder absetzt. Auch das „aber“ kommt von „apo“ Man höre, was ein ehrgeiziger Redner mit geübter Überzeugung sagt: "Wir sind für die Erhaltung unserer Umwelt, brauchen aber neue Straßen".

Bei den Wahlen gibt das Volk seine Stimme ab. So kommt sie weg. Kein Wunder, dass die Mehrheit dann aufs Neue für vier Jahre schweigt. Von den Möglichkeiten artikulierten Ausdrucks bleibt es ihr zwischenzeitlich jedoch belassen, hoffnungsvoll auf Holz zu klopfen. Was die Abgeordneten derweil fernab beschließen, verschlägt der schweigenden Mehrheit manchmal über ihr Schweigen hinweg ihre Sprache.

Der Ab-ergläubische ist vom wahren Glauben abgefallen. Wehe ihm, denn jetzt ist er bindungslos wie Staub auf trockener Erde.

Eine Abfolge ist wohlgemerkt mehr als ein zufälliges Nacheinander diskreter Elemente. Solch ein zufälliges Nacheinander entsteht zum Beispiel beim mehrfachen Werfen eines Würfels oder beim Roulette, weil die Zahlenreihen hier durch Handlungssequenzen entstehen, nämlich durch das Schütteln des Bechers oder das Drehen des Tellers, durch Sequenzen also, die durch die echte Willkür der Knobler und Croupiers in jeweils diskrete Einzelakte voneinander abgetrennt werden. Gewinnsysteme beim Roulette gibt es nicht, weil die Freiheit des Croupiers unberechenbar bleibt und mit jedem Wurf einen neuen Zufall erzeugt.

Eine echte Sequenz dagegen entsteht, wenn auf holpriger Strecke lose Eierbriketts von einer Lore herab und in den Graben kullern oder wenn eine schamlose Kuh im Laufen ihre Fladen fallen lässt. Die Sequenz diskreter Elemente besteht aus dem Nacheinander indiskreter Exkremente, das dann im zweiten Falle auf dem Boden liegt und den Betrachter an Hand aufeinander bezogener Elemente erkennen lässt, dass sich die Fladenspur auf das sinnvolle Ganze des trottenden Rindviehs bezieht.

Beim Fallen der Eierbriketts weisst die Sequenz ihrer Lage zuletzt auf das physikalische Spiel der Bewegungsvektoren im Feld schiefer Ebenen hin. Wohin die schwarzen Klunker rollen ist kein Zufall, sondern sinnvolle Gestalt, die man sehenden Auges erkennen kann.

"Sequi" und "sehen" sprechen von einer Spur, die als Teil eines Ganzen sichtbar wird und dass es der Sinn des Sehens in sich trägt, die Spur zu verfolgen, bis sie sich zu einem Ganzen ergänzt.

Das Sichtbare wird mit optischen Mitteln zwar aufgespürt, aber erst, wenn man ihm nachgeht, wird es tatsächlich errungen. "Sehen" meint daher mehr als einen passiven Vorgang, bei dem auf dem Boden von Gesetzen der optischen Physik Lichtstrahlen und Bilder durch Augen und Nerven zur Sehrinde dringen, so als seien diese Augen organische Objektive einer biologischen Kamera. Tatsächliches Sehen, ein Sehen also, das Tat eines lebenden Organismus ist und damit mehr als ein Aufblitzen flüchtiger Potential im gereizten Hirnareal, erschöpft sich nicht im Funktionieren der Organe. Wer so mit seinen Augen umgeht, der sieht nicht, sondern er glotzt; oder er ist gerade scheintot.

Wirkliches Sehen heißt Handeln. Dazu gehört, dass man das Gesehene als Spur begreift und weiterverfolgt. Sehen fordert dazu auf, die Spur des Erkannten weiterzuverfolgen, als nur bis zu dem Horizont, den ein kurzsichtiger Wissenschaftler in positivistisch vereinfachter Sicht als Sehweite des Organismus definieren könnte. Bereits einfaches Sehen setzt in Bewegung und zu sehen, ohne sich damit fortzusetzen setzt aktiven Widerstand voraus. Eigentliches Sehen setzt sich unmittelbar in die Füße fort, damit der, der mit den Augen sieht, es auch mit den Beinen tut.

Geht man einer Sache nach, dann ist man folglich kon-sequ-ent. "Konsequent" gehört ebenfalls zur Sinnfamilie des Sehens und Nachfolgens und heißt auf deutsch "folgerichtig". Folgerichtig ist das Verhalten, das der Richtung der gesehenen Spur folgt. Sehen ist eine ganzheitliche Tat, die uns also im wahren Sinne der Sache Beine macht. Die Sequenz der Wirklichkeit, die am physiologisch Sichtbaren ihren Anfang hat, geht der, der sieht, zu Ende. Pflanzen haben deshalb keine Augen, weil sie einer Spur nicht folgen könnten.

Sehen ist gefährlich und ängstliche Menschen meiden Blickkontakt. Wer weiß denn schon, wohin das führt, wenn man einer Spur mit frecher Neugier und Abenteurerlust nachgeht? Hinter dem Horizont der blanken Optik beginnt jedenfalls ein unbekanntes Land und im noch unentdeckten Dickicht lauert womöglich ein riesiger Drache, ein hungriger grüner Lurch mit warzigen Lippen, der den tapferen Spurensucher mit einem nassen Zungenschnalzen direkt von seiner Fährte schnappt. Gulp!

Jeder hat schon aus Furcht vor den unabsehbaren Konsequenzen der Begegnung mit einem dumpf erahnten Schicksalsprüfungstier hinter dem Horizont seiner Sinne den Blick gesenkt und absichtlich vom Offensichtlichen weggeschaut. Um von einer offensichtlichen Spur in der Nähe abzusehen, hat mancher ein unverrückbar fernes Ziel ins ängstliche Auge gefasst. Dabei ist der Drache am Ende der Spur von Nahem betrachtet oft viel kleiner als der Angstliche aus der Ferne denkt.

Nach der Analyse beider Bestandteile des Wortes "Absicht" folgt jetzt, was der Begriff über die dynamische Struktur jener Systeme verrät, deren Weh und Wandel so sehr dem Einfluss ihrer Absichten unterliegt. Solche Systeme sind die Menschen.

Eine Absicht ist ein Ziel, auf das man es abgesehen hat. Das Absichtenhaben bedeutet, dass man von etwas absieht, und zwar von dem Teil der Möglichkeiten, der der konkret ins Auge gefasste Absicht nicht dienlich ist oder ihrer Verwirklichung sogar im Wege steht.

Zur Illustration ein konkretes Beispiel:

Der Bauer vom Erbhof Eichenreich fragt sich zu Recht, ob der fesche Hans, der um die Hand seiner geliebten Tochter Lene angehalten hat, dies mit ehrlichen Absichten tat. Mit den "ehrlichen Absichten" ist gemeint, dass Hansens Absicht es aufs Herz und, in Gottes Namen, auf die Hüften Lenes abgesehen haben sollten und nicht etwa auf die Aussicht auf eine reiche Mitgift. Am besten, Hans wäre vor Liebe quasi blind und wüsste gar nichts davon, dass ein Heirat mit Lene nicht nur sein Herz sondern auch seinen Beutel füllen würde. Ehrlich sind die Absichten des trunkenen Freiers außerdem nur dann, wenn er die Reize anderer Töchter im Dorfe gar nicht wirklich sieht. Auch von den Hüften Annas, den Schenkeln Gretchens und den drallen Brüsten der lockend lachenden Edeltraut sollte der ehrlich die Ehe mit Lene beabsichtigende Hans den Blick abwenden. Hans sollte die fremden Reize nicht "wirklich" sehen, er sollte von ihnen absehen. Wenn er sie sieht, sollte das bei ihm nichts weiter bewirken.

Absichten formen die Weite und den Horizont des Lebens, indem man leichter sieht, was zu ihnen passt und übersieht, was man durch ihren Drang zur Wirklichkeit an Möglichkeiten fahren lässt. Absichten sind damit Regelgrößen der Identität. Wofür man sich hält und wer man faktisch ist, hängt davon ab, was man absichtlich in seiner Bedeutung vergrößert und wovon man im selben Atemzuge absieht, weil es die erklärte Absicht für belanglos erklärt.

Absichten sind komplexe Wirkstrukturen des Lebens. Sie bestimmen, was vom Möglichen als relevant in den Vollzug des Lebens wahrgenommen wird. Sie steuern Austausch zwischen Phantasie und Realität.

Beabsichtigt man etwas, fasst man ein Ziel ins Auge, dann engt diese Absicht die Wahrnehmungsweite ein, um den Impuls zum beabsichtigten Ziel zu verstärken. Beim Erreichen des Zieles wird das Absehen beendet. Das Absehen von den Alternativen diente der Verwirklichung einer Phantasie. Durch die Verwirklichung einer Absicht verändert sich die Realität und gibt den Blick frei auf ein neues Feld möglicher Sichtweisen. Ihr Drang zur Verwirklichung vergrößert der Phantasie ihre Möglichkeiten. Die Wirklichkeit ist der Ort, an dem das Mögliche wächst, das seiner Grenzen überdrüssig ist.

Abgesehen vom Vergnügen, das die Spekulation über das Thema "Absicht" macht, gibt die Analyse des untersuchten Begriffes auch lebenspraktische Erkenntnisse preis. Wenn Absichten derart großen Einfluss auf den Ausschnitt der Welt haben, die man unter ihrem Diktat erlebt, dann lohnt es die eigenen Absichten zu kennen, um nicht von ihnen geblendet zu sein. Es gibt Absichten, die man kennt und deren Scheuklappen man durch die Kenntnis durchschaut und es gibt solche, deren verborgener Steuerung man unterliegt, ohne etwas Konkretes von ihrer Macht zu ahnen. Kann sich eine unbewusste Absicht dadurch, dass sie von einem Menschen Besitz ergreift, verwirklichen, fallen ihre Scheuklappen beim Erreichen des Zieles ab und als Dank dafür, dass die eigenmächtige Absicht ein Bewusstsein ohne dessen Wissen für ihre Zwecke gebraucht hat, belohnt sie es mit einem neuen Blick auf die Dinge. Nach dem Ende einer Absicht wächst die Freiheit zur Wahl.

Anders ist es mit Absichten, die, zum Beispiel wegen begrenzter Möglichkeiten, nicht verwirklicht werden. Ihr Absehen vom tatsächlich Möglichen zu Gunsten des unerreichbaren Zieles ist keine nützliche Verengung der Aufmerksamkeit, der eine neue Weite folgt, sondern nutzlose Verblendung. Wer solche Absichten nicht bei sich durchschaut, bleibt ihr Gefangener. Gefangenschaft droht also dem, der nicht weiß, was er bestimmt nicht kann.

4. LÖSUNG

Man ist das Problem, dessen Lösung man sucht.

Beim Löschen einer Ladung Importbananen, räumen die Schauerleute den Frachtraum der "Albatros" frei. Der Schiffsbauch, in dem die krummen Früchte aus Afrika kamen, ist nach getaner Arbeit bis auf ein paar verschreckte Vogelspinnen wieder leer. Nach dem Löschen der Ladung löscht Leichtmatrose Lüddensen in der Hafenspelunke "Hart Backbord" seinen Durst. Übertreibt er dabei, lässt er sich von der Wirtin dazu verführen, tief ins Glas zu schauen und versäuft er die ganze Heuer, dann kann es sein, dass es in seinem Kopf zu einem Filmriss kommt, der die Erinnerung an das Löschen der Ladung und das Laden des Umtrunks am Tresen auslöscht.

Der Begriff "löschen" hat in dieser Geschichte zwei verschiedene Quellen. Wo er vom Löschen des Durstes und der Erinnerung spricht, geht er auf "liegen" zurück und beschreibt ursprünglich, wie der Durst und die Erinnerung daran, von der Wirtin zum Trinken verführt worden zu sein, zum Erliegen kommt. Im selben Sinne erreicht es die Feuerwehr mit ihren Spritzen, dass ein lodernder Großbrand sich kleinmütig legt.

Zum Wesen der problematischen Situation gehört also eine räumliche Beziehung zwischen dem Betroffenen und seinem Hindernis und eine vektorielle Ausrichtung dessen, der das Problem überwinden will. Räumlich festgelegt ist der Ort, wo das dann Problematische nach seinem Geworfensein zum Liegen kommt, nämlich auf dem Weg und damit vor den Bewegungsvektor dessen, dem das so entstandene Problem entlang seiner Entwicklungsrichtung zum Hindernis wird. Dabei wird das Geworfene wohlgemerkt nur dann problematisch, wenn der, vor dessen Füße es fällt, einen ausgerichteten Bewegungsimpuls in sich trägt, der auf ein Soll jenseits des Problems zielt.

Wirft ein Herbststurm einer roten Schnecke auf ihrem zielstrebigen Weg vom Gebüsch zu Nachbar Meiers Schrebergarten einen morschen Ast vor die verschreckten Fühler, dann wird der Ast für die Überwindungskünste der Schnecke zu einem vor sie dahingeworfenen Problem. Fällt der Ast aber hinter die Schnecke, dann kommt ein Problem gar nicht erst auf, ebenso wenig, wenn die Schnecke nur da hockt und schläft und womöglich davon träumt, dass sie höher als eine Schwalbe fliegen kann und Hindernisse von der Art herabgefallener