Der kopflose Dämon sucht meine Familie heim - Agata Malcher - E-Book

Der kopflose Dämon sucht meine Familie heim E-Book

Agata Malcher

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Beschreibung

Jeder Mensch kommt mit einer bestimmten Aufgabe zur Welt. Manche von uns erleben Ereignisse, die an ihre psychischen und existentiellen Grenzen gehen. Aus Angst oder Scham erzählen wir nicht oder kaum darüber. In diesem Buch beschreibt Agata Malcher ihr Leben und wie sie es geschafft hat wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Mit ihrer Autobiografie möchte sie Menschen, die ähnliche Situationen erlebt haben ermutigen, sich nicht hinter einer Maske zu verstecken und den Glauben an sich wieder zu "entdecken".

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Für meine Kinder

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

KAPITEL 1: EINLEITUNG

KAPITEL 2: NACH DER TRAUUNG

KAPITEL 3: ANDREAS GEBURT

KAPITEL 4: ABSCHIEDSFEIER

KAPITEL 5: BAD ABBACH

KAPITEL 6: WIEDERAUFNAHME DES STUDIUMS

KAPITEL 7: MARTINS BLONDINE

KAPITEL 8: NACH DEM STRASSENFEST

KAPITEL 9: GEBURTSTAGSFEIER VON KARL-HEINZ

KAPITEL 10: FORTSETZUNG MEDJUGORJE

KAPITEL 11: ZURÜCK AUS MEDJUGORJE

KAPITEL 12: GEBURTSTAGSVORBEREITUNG

KAPITEL 13: JOHANNAS ERKENNTNISSE

KAPITEL 14: MEIN VERÄNDERTES AUSSEHEN

KAPITEL 15: MARTINS FAMILIE WÄHREND SEINES KRANKENHAUSAUFENTHALTS

AUTORIN

VORWORT

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

aus meiner jahrelangen Tätigkeit weiß ich, dass es viele Menschen gibt, die ähnliche Situationen wie ich durchlebt haben. Die Betroffenen trauen sich nicht, darüber zu reden, um von ihrer Familie oder ihren Freunden nicht ausgelacht oder gar verstoßen zu werden. Oder noch schlimmer: Sie schämen sich für ihre Situation, was sie zur leichten Beute macht.

Ein teuflisches Geheimnis in sich zu tragen, erfordert sehr viel Stärke.

Aber wie viel Stärke kann ein Mensch aufbringen? Wie oft denken diese Menschen an Selbstmord oder an eine Flucht aus ihrer Situation?

Menschen sollten miteinander reden können, ohne verurteilt zu werden. Hinter vielen Geschichten stecken Angst, Demütigung, Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Oft verstecken sich die Betroffenen hinter einer Mauer des Schweigens. Wie oft stoßen sie auf Unverständnis der Mitmenschen, wenn sie diesem Grauen freiwillig ein Ende setzen.

Ich schreibe über mein Leben, weil ich überlebt habe. Wäre Johanna nicht in mein Leben getreten, so hätte ich meine Geschichte nicht veröffentlichen können. Aber, liebe Lesende, machen Sie sich selbst ein Bild davon.

Johanna ermunterte mich dazu, meine Geschichte niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Anfangs hielt ich es nicht für notwendig. Es mussten einige Jahre vergehen, bis ich mich dazu entschließen konnte.

Das erste Buch entstand in einer Zeit, die mit vielen Emotionen behaftet war. Meine Zeit mit Martin war sowohl auf psychischer als auch auf physischer Ebene noch sehr präsent. Oft kämpfte ich mit Tränen oder wurde zornig, während ich meine Geschichte niederschrieb.

Das letzte Kapitel entstand, nachdem Martin uns verlassen hatte. In dieser Zeit habe ich Martin und mir vergeben, für alles, was sich bei uns abgespielt hatte. Letzten Endes empfand ich Mitleid für Martin, denn er konnte oder wollte sich nicht für ein Leben ohne seine Sucht entscheiden.

Ich empfinde viel Dankbarkeit für diese Lebenserfahrung und dass ich diese Hölle überlebt habe. Dankbarkeit deswegen, weil ich durch meine eigene Lebenserfahrung vielen Menschen, die zu mir kamen, helfen konnte.

Es gibt keine Lebenserfahrung, die falsch oder richtig ist. Es gibt lediglich Entscheidungen, die jeder für sich treffen sollte, um das Beste daraus zu machen. Oft dauert es viele Jahre, bis man zu dieser Erkenntnis gelangt. Die Zeit arbeitet für uns, damit wir wachsen und richtige Entscheidungen für uns treffen.

Jeder Mensch, der sich in einer ähnlichen Situation befindet, sollte an eines denken: Niemand von uns ist allein, und zur gegebenen Zeit reicht uns jemand seine Hand. Dieser führt uns und hilft uns, alles zu überstehen. Manchmal werden uns mehrere Begleiter zuteil. Wichtig ist, sich nicht in Kummer zu verlieren oder gar aufzugeben. Das Leben ist kostbar und lebenswert, daran sollten wir denken, wenn der Kummer oder die Angst größer werden als wir selbst.

Machen wir das Beste daraus.

Der erste Schritt in diese Richtung ist, wieder oder überhaupt Vertrauen in sich selbst zu gewinnen. Denn nur daraus entsteht der Glaube an sich selbst. Dann können wir alles erreichen. Daraus resultiert die Freude am Leben und alles, was uns hinterher widerfährt, können wir schneller und leichter überwinden.

Etwas sehr Wichtiges dürfen wir bei allem nicht vergessen: den Menschen und sich selbst alles Widerfahrene zu verzeihen. Wenn wir es nicht tun, bleiben wir in unserer alten Geschichte stecken und nehmen diesen Kummer überall mit hin. Auch über den Tod hinaus. Verzeihen heißt, von ganzem Herzen zu vergeben. Hierbei sollte man sich die Frage stellen: »Will ich dieses alte Leben und die Menschen, die mir weh getan haben, immer an der Backe haben?« Ich denke nicht, dass es der Fall ist. Aber oft höre ich: »Ich verzeihe ihm nicht, was er mir angetan hat!« In diesem Fall blockiert man sich selbst und übersieht den eigentlichen Weg, den man gehen sollte, um irdische Erfahrungen zu sammeln. Manchmal kennt die Sturheit keine Grenzen. Aber das sollte jeder für sich entscheiden.

Ein besonderes Anliegen gilt unseren Kindern, die beschützt werden müssen. Denn oft sind sie einer Situation ausgeliefert, aus der sie nicht ausbrechen können. Geben wir ihnen die Liebe, die sie zum Wachsen benötigen, denn sie sind diejenigen, die unsere Zukunft bestimmen.

Wir sollten diese unschuldigen Seelen achten und ihnen helfen, sich auf dieser Erde zurechtzufinden. Das wünsche ich allen Erziehungsberechtigten.

Mögen Sie Ihre Kinder so behandeln, wie Sie behandelt werden möchten. Und geben Sie nicht das, was Ihnen widerfahren ist, an die nächste Generation weiter.

Zum Schluss möchte ich mich bei Johanna, meiner Lebensretterin, für ihre jahrelange Unterstützung bedanken.

Bei meinem Bruder Valentin möchte ich mich für seine Hilfe in jeglicher Hinsicht und Ratschläge in den letzten Jahren bedanken. Liebes Brüderchen, ich bin dankbar, deine Schwester zu sein.

Zuletzt möchte ich mich bei meiner Freundin Susanne für ihre Begleitung und Realisierung bei der Herausgabe der Bücher bedanken.

Ich wünsche Ihnen alles Gute beim Lesen der Bücher. Den Lesenden, die sich in meinen Schilderungen wiederfinden, wünsche ich viel Kraft und Ausdauer, die richtige Entscheidung für sich zu treffen.

Ihre

Agata Malcher

KAPITEL 1:

EINLEITUNG

Es war ein wunderschöner Sommertag. Man konnte das Zwitschern der Vögel und das Klirren des Frühstücksgeschirrs unserer Nachbarn hören. Ein Schauspiel, das sich jedes Wochenende wiederholte. Es war mittlerweile 8 Uhr geworden und für mich war es Zeit, aufzustehen und nach unseren beiden Kindern Alexander und Andrea zu sehen. Dieser Morgen war für mich alles andere als schön und sonnig. Ich war sehr traurig und zugleich zornig darüber, was in dieser Nacht passiert war. Weil ich kaum ein Auge zugemacht hatte, war ich sehr müde und erschöpft. Ich ging ins Erdgeschoss, um mir eine Tasse Tee zu machen. Auf dem Tisch in der Küche sah ich einige leere Bierflaschen, daneben stand eine leere Flasche Wodka. Es war sehr still, fast unheimlich. Mit der Tasse Tee in der Hand ging ich ins Wohnzimmer. Hier sah ich meinen Mann Martin, völlig betrunken, auf dem Boden liegen, während sein Bruder Piotr auf der Couch schlief. In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich noch an diesem Tag das Haus mit unseren Kindern verlassen würde.

Ich ging zurück in die Küche, da hörte ich schon Alexander und Andrea die Treppe herunterlaufen. Beide kamen lachend in die Küche gestürmt. Mir wurde klar, dass es meine Aufgabe war, diese Kinder vor meinem brutalen und aggressiven Ehemann zu schützen. Beide setzten sich an den Frühstückstisch und warteten. Es dauerte nicht lange, bis ich Schritte im Flur hörte. Ich dachte, dass es mein Mann sei, in der Tür stand jedoch Piotr. Ich wunderte mich, dass er nach diesem Alkoholrausch so nüchtern wirkte. Er begrüßte uns, nahm sich eine Flasche Sprudelwasser und trank sie vor unseren Augen aus. Er schaute uns an, sagte jedoch nichts und tat, als ob in dieser Nacht nichts geschehen sei. Ich merkte an den Kindern, dass sie nervös wurden, sie waren doch erst fünf und sechs Jahre alt. Ich überlegte krampfhaft, wie ich ohne großes Aufsehen das Haus mit ihnen verlassen könnte, und fand eine Lösung.

In aller Freundlichkeit bat ich meinen Schwager, sich an unseren Tisch zu setzen und mit uns zu frühstücken. Um mein Vorhaben nicht zu verraten, musste ich sehr vorsichtig sein. Wir unterhielten uns über alles Mögliche. Mein Herz pochte vor Aufregung. Ich verbarg meine Nervosität, so gut es ging. Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis ich den Mut fasste, ihm zu sagen, dass er mit Martin zum Einkaufen fahren müsse. Mein Einkaufszettel wurde ziemlich lang, denn ich dachte, dass die Einkaufszeit desto länger wäre, je länger der Zettel war, sodass wir mehr Zeit hätten, um das Haus zu verlassen.

WIE ALLES ANFING

Alles hatte an einem wunderschönen Tag im Juli 1977 begonnen. Wir lebten in einem kleinen Ort mit etwa dreitausend Einwohnern in der Nähe von Münster. Meine Familie bestand aus meinen Eltern Katharina und Günther, meinen drei älteren Brüdern Jörg, Patrick und Robert sowie meinem jüngeren Bruder Valentin. Wir hatten sehr liebevolle Eltern, und so waren auch meine Kindheit und Jugendzeit sehr glücklich gewesen. Meine Mutter kümmerte sich um den Haushalt und unsere Erziehung, mein Vater, ein gutmütiger und fleißiger Mann, war selbstständiger erfolgreicher Unternehmer, der jeglichem häuslichem Streitgespräch aus dem Weg ging. Er beschäftigte zwölf Angestellte, die für den Verkauf von Bädern und Zubehör zuständig waren. Wir wohnten in der Mitte der Ortschaft in einem Bungalow, umgeben von Obstbäumen und vielen Blumen, um die sich meine Mutter liebevoll kümmerte. Man nannte sie auch »die Blumenfrau«.

An jenem Sommertag feierte ich mit meinen Eltern und Geschwistern meinen 18. Geburtstag. Wir frühstückten gemeinsam, unterhielten uns angeregt über die Schule und was ich danach studieren wollte. Wir sprachen auch über frühere Zeiten und lachten viel dabei. Irgendwann am Nachmittag kam meine Cousine Susanne mit ihrem Ehemann Stefan und ihrer Mutter, meiner Tante Marta, die mir zum Geburtstag gratulierten. Sie war eine sehr schlanke, dunkelhaarige ältere Frau, der man ansah, dass sie in ihren jungen Jahren sehr hübsch gewesen sein musste. Ich bereitete mit meiner Mutter Kaffee und Kuchen, die dann auf der Terrasse serviert wurden. Meine Cousine, die erst kürzlich geheiratet hatte, besuchte uns sehr oft. Ich genoss unsere gemeinsamen Stunden.

Nach dem Kaffeekränzchen stand ich auf und fing an, das Geschirr aufzuräumen. Während meine Mutter und ich in der Küche beschäftigt waren, blieben unsere Gäste zusammen mit meinem Vater und meinen Geschwistern auf der Terrasse. Es dauerte nicht lange, und Tante Marta gesellte sich zu uns. Meine Mutter war einige Jahre jünger als sie, und während sie die Fröhliche war, war ihre Schwerster die Ernsthaftere, Ruhigere, und wir Kinder liebten sie. Nach kurzer Zeit fragte sie plötzlich, ob ich denn die Geschwister ihres Schwiegersohnes Stefan kennen würde. Schulterzuckend antwortete ich, dass ich noch nicht die Gelegenheit dazu gehabt hätte, weil ich bei der Hochzeit meiner Cousine nicht dabei gewesen war. Sie fing an, zu erzählen, wie toll und intelligent Stefans Familie sei und dass er einen Bruder hätte, der Medizin studieren würde. Ich hörte mit halbem Ohr zu, weil es mich nicht besonders interessierte, vor allem, weil ich wusste, dass ihr Schwiegersohn aus Polen kam. Nicht dass ich Vorurteile gehabt hätte, denn auch wir hatten bis zur Einreise nach Deutschland in Polen gelebt, weil uns die Grenze zwischen West und Ost teilte.

In diesen Jahren war es fast unmöglich, eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, geschweige denn eine Liebesbeziehung. Während Tante Marta wie ein Wasserfall auf mich einredete, wie anständig und fleißig sein Bruder Martin wäre, sagte ich nur: »Tante, ich bin nicht an einer Heirat interessiert.« Ich wunderte mich, dass ich in diesem Zusammenhang das Wort Heirat benutzt hatte. Ich musste ohnehin zuerst noch mein Abitur bestehen, um anschließend Musik studieren zu können. Kurze Zeit später ging sie zu den anderen, und wir sprachen nicht mehr darüber. So vergingen die Monate; ich war mit meiner Schule beschäftigt, spielte oft und viel Klavier und erhielt Gesangsunterricht. So verging das Jahr, und irgendwann im März des darauffolgenden Jahres kam Tante Marta uns wieder besuchen.

Meine Cousine Susanne, die jetzt ihr erstes Kind erwartete, kam auch mit. Bei dieser Gelegenheit fragte sie mich, ob ich die Patenschaft für ihr Kind übernehmen würde; ich freute mich sehr darüber und stimmte zu.

Weil ich mit meinen Hausaufgaben für die Schule noch nicht fertig war, ging ich in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Es dauerte nicht lange, bis es an der Tür klopfte. Es war meine Tante. Sie fragte, ob sie hereinkommen dürfe. Ich legte meine Bücher zur Seite, und wir setzten uns auf die Couch. Wir unterhielten uns über die Schule und was ich später einmal machen wollte. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder anfing, über Martin zu reden. Ich erfuhr, dass er 1958 in einem kleinen Dorf in der Nähe von Gdańsk geboren worden war, wo seine Familie bis heute lebte, und dass er zurzeit in Warschau Medizin studieren würde. Ich war ein Jahr jünger als Martin. Sie bedrängte mich förmlich mit den Worten, mich mit ihm in Verbindung zu setzen: »Er wäre mit Sicherheit keine schlechte Partie für dich, du könntest ihn dir wenigstens einmal anschauen.« Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis sie wieder mein Zimmer verließ. Als meine Tante mit meiner Cousine wieder heimgefahren war, sprach meine Mutter noch am selben Tag das Thema Martin an. Ich winkte ab und sagte nur, dass wir zwar auch aus Polen stammen würden, meine polnischen Sprachkenntnisse jedoch bei Weitem nicht dazu ausreichten, um mich mit jemandem zu unterhalten. Doch meine Mutter blieb hartnäckig, so war sie nun mal, und sagte nur: »Das würdest du schon schaffen. Und wenn es darauf ankäme, könnte er die deutsche Sprache schnell erlernen.« In dieser Nacht konnte ich kaum ein Auge zumachen, weil ich immerzu an das Gespräch mit meiner Tante und meiner Mutter denken musste. Ich war zum ersten Mal neugierig, wie denn Martin aussehen möge.

FERIEN IN POLEN

Es vergingen zwei Wochen. Ich saß mit meinen Eltern am Mittagstisch. Bei dieser Gelegenheit offenbarte mir meine Mutter, dass sie und mein Vater gern nach Polen fahren würden, und sie würden sich wünschen, dass wir Kinder mitführen. Ich sagte nur, dass ich es mir überlegen würde. Aber zu dieser Zeit wusste ich bereits, dass ich mitfahren würde, um Martin kennenzulernen. So beschlossen wir, in den großen Ferien im Juli 1978 nach Polen zu reisen. Weil ein Bruder meines Vaters mit seiner Familie noch dort lebte, konnten wir zwei Wochen bei seiner Familie unterkommen. Die Monate vergingen wie im Flug, und das Schuljahr neigte sich dem Ende zu. Endlich kam der Tag, an dem ich mein Zeugnis bekam. Ich war sehr zufrieden mit meinen Noten und konnte mich nun auch auf unsere Reise nach Polen freuen.

Innerhalb der nächsten zwei Tage packte ich meine Koffer für die Reise, die am 3. Juli begann. Gegen 12 Uhr mittags kamen wir an der deutsch-polnischen Grenze in Görlitz an. Meine Mutter hatte einen Kaffee und zwei Tafeln Schokolade für die polnischen Zöllner vorbereitet, damit wir ohne Probleme über die Grenze fahren konnten, nach dem Motto: Wer schmiert, der fährt. Der Zöllner nahm die Geschenke sofort an und steckte sie in seine speziell dafür genähte, sehr lange Hosentasche. Interessant war für mich zu sehen, wie ausgeklügelt dieses Hosensystem war. Not macht erfinderisch. So konnten wir ohne Probleme die Grenze nach Polen überqueren.

Am späten Abend kamen wir bei meinem Onkel und seiner Familie an. Sie lebten in einem Stadtteil von Katowice. Es war ein sehr herzlicher Empfang. Wir lernten unsere Cousine und zwei Cousins kennen. So saßen wir alle bis in die Nacht hinein zusammen. Meine Eltern und mein Onkel unterhielten sich über frühere Zeiten, als alle noch in Polen gelebt hatten. Meine polnischen Sprachkenntnisse waren besser, als ich dachte. Immerhin unterhielten sich meine Eltern und die älteren Geschwister manchmal auf Polnisch.

FAMILIE NIDEK

Am 5. Juli war es endlich so weit, und wir fuhren mit unserem Auto nach Gdańsk. Die Straßenverhältnisse waren schlecht, sodass wir insgesamt sechs Stunden brauchten, um von Katowice nach Gdańsk zu kommen. Gegen 15 Uhr kamen wir endlich an. Meine Mutter sollte ein kleines Päckchen im Namen der Schwiegertochter und des Sohnes Stefan übergeben. Das Dorf, in dem die Familie lebte, war nicht groß. Die gesamte Familie erwartete uns schon am Tor ihres Hauses. So lernte ich Stefans Eltern Sabina und Helmut sowie seine drei Geschwister Piotr, Dorota und Martin kennen. Es war ein sehr netter, jedoch kühler Empfang. Ich war sehr aufgeregt und gespannt auf die nächsten Stunden. Wir gingen ins Haus. Mir fiel sofort die übertriebene Sauberkeit auf. Obwohl es draußen warm und sonnig war, war es im Inneren des Hauses dunkel und kühl, fast unheimlich. Man führte uns in ein Wohnzimmer.

Ich spürte, dass Martin mich die ganze Zeit über beobachtete, was mich ein wenig nervös machte. Ich setzte mich an den Couchrand. Es dauerte nicht lange, bis Martin neben mir auf einem Stuhl Platz nahm. Trotz des netten Empfangs fühlte ich mich nicht wohl. Seine und meine Eltern unterhielten sich sehr nett, blieben aber sehr reserviert. Vielleicht lag es auch daran, dass wir uns das erste Mal sahen. Martin fing mit mir sofort ein Gespräch über sein Medizinstudium an. Ich erfuhr, dass er im dritten Semester war. Wir sprachen über meine Schule und was ich denn zu studieren vorhätte, über die neueste Popmusik im Westen und vieles mehr. Wir verstanden uns auf Anhieb, und es schien mir, als ob wir uns schon Jahre kennen würden.

Sein Äußeres war sehr sportlich und gepflegt. Sein Gesicht war eher blass, und er hatte volles schwarzes Haar. Er war einen Kopf größer als ich und ähnelte seiner Mutter. Seine Geschwister waren alle dunkelhaarig; deren Gesichtshaut war dunkler als die von Martin. Ich folgerte daraus, dass sie ihrem Vater Helmut ähnelten. Ich unterhielt mich sehr gern mit Martin.

Irgendwann fragte er mich, ob wir uns noch einmal während unseres Aufenthaltes in Polen wiedersehen könnten. Noch bevor ich antworten konnte, meinte er, dass er mich auch in Katowice besuchen würde. Ich freute mich sehr über diesen Vorschlag. Von ihm erfuhr ich, dass seine Schwester Ärztin war und sie ihn zum Medizinstudium überredet hatte. Sie war Anfang dreißig und hatte langes schwarzes Haar. Ihr Gesicht war sehr blass, und es schien, als ob sie dunkle Ringe unter den Augen hätte. Sein jüngerer Bruder Piotr sah eher unscheinbar aus; er war sehr schlank. Die drei Stunden waren wie im Flug vergangen, und es war an der Zeit, sich zu verabschieden. Noch bevor wir ins Auto einstiegen, fragte Martin meine Eltern, ob er mich wiedersehen könne. Dieser Vorschlag gefiel mir. Ich merkte, dass meine Mutter froh darüber war, und sie meinte, dass sie nichts dagegen hätte. So tauschten wir unsere Adressen aus und luden ihn und seine Eltern nach Katowice ein. Wir verabredeten uns für den kommenden Sonntag.

Auf der Rückfahrt konnte meine Mutter die Begeisterung über Martin nicht verbergen. Sie wollte wissen, wie ich ihn fand und worüber wir uns unterhalten hatten. Es wunderte mich, dass mein Vater sich zu diesem Thema nicht äußerte. Wie versprochen, besuchte uns Martin am Sonntag mit seinen Eltern.

DER ERSTE KUSS

Nachdem wir alle Kaffee getrunken hatten, schlug Martin vor, spazieren zu gehen. Ich war sehr froh darüber, mit ihm eine kurze Zeit allein verbringen zu können. Bei dieser Gelegenheit lernten wir uns näher kennen und merkten sehr schnell, wie viele gemeinsame Interessen wir hatten. In der Nähe war ein wunderschöner Park mit vielen Blumen, ein sehr idyllischer Ort. Nach einiger Zeit setzten wir uns auf eine der Bänke. Wir unterhielten uns. Plötzlich verspürte ich stechende Schmerzen an meinen Beinen. Ich sah hinunter und glaubte kaum, was ich da sah. Meine Beine waren voller blutiger Mückenstiche. So etwas hatte ich noch nie erlebt, außerdem wunderte ich mich, weil Martin keinen einzigen Mückenstich hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass er eine Hose trug und keinen Rock wie ich. Er nahm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte mir die Blutstropfen behutsam ab.

In diesem Moment spürte ich, dass ich für ihn mehr als nur Freundschaft empfand. Ich hatte Tausende Schmetterlinge im Bauch. Er sah mich durchdringend an, fast prüfend. In dem Moment wusste ich, dass auch er mehr für mich empfand als nur Freundschaft. Er nahm mich in seine Arme und küsste mich. Ich spürte, dass unsere Zuneigung etwas Besonderes war, zumindest für mich. Wir blieben noch eine Weile sitzen, danach nahm er meine Hand, und wir gingen zurück. Auf dem Heimweg fragte er mich, ob er mich wiedersehen könne. Ich freute mich darüber, wusste aber, dass wir nicht mehr viel Zeit hatten, weil sich unser Urlaub dem Ende näherte. Noch bevor wir uns verabschiedet hatten, fragte er meine Eltern, ob wir ihn und seine Familie noch einmal besuchen könnten. Meine Mutter lächelte und sagte: »Wenn die Zeit dafür ausreicht, werden wir euch gern besuchen.«

Es kam der Tag unserer Abreise. Die Zeit bei unseren Verwandten war sehr schön; sie waren alle sehr freundlich. Mein Onkel meinte, wenn irgendwann die Zeit kommen sollte und die Grenzverhältnisse gelockert würden, kämen sie uns besuchen. Damals wussten wir noch nicht, wie viele Jahre noch vergehen sollten, bis es so weit war. Deshalb fuhren wir nicht sofort nach Hause, sondern machten einen Umweg über Gdańsk. Martin und seine Familie erwarteten uns bereits, und wir verbrachten noch zwei Stunden bei ihnen, bevor wir nach Deutschland zurückkehrten. Bei dieser Gelegenheit lud ich Martin ein, uns in den Semesterferien zu besuchen. Er versprach es – wenn er ein Ausreisevisum bekäme. Wir verabschiedeten uns, und tief im Innern wusste ich, dass ich Martin wiedersehen wollte.

ERSTE WARNUNGEN

Die Ferien neigten sich dem Ende zu, und ich musste mich auf das neue Schuljahr vorbereiten. Für mich war dieses Jahr besonders wichtig, weil ich es mit dem Abitur abschließen wollte. Die Wochen vergingen. Martin und ich schrieben uns regelmäßig Briefe und telefonierten alle zwei Wochen miteinander. Es war nicht einfach, aber ich schaffte es jedes Mal, einen Brief in polnischer Sprache zu schreiben. Das Telefonieren war recht mühsam, weil eine Verbindung oft erst nach mehreren Stunden hergestellt werden konnte – doch es war die Mühe wert. Ich dachte sehr oft an ihn, auch während ich mich auf das Abitur vorbereitete. Es war, als ob ich keinen anderen Gedanken mehr fassen konnte. Es kam mir vor, als ob Martin nicht in meinem Herzen, sondern in meinem Kopf wäre.

ERSTES WIEDERSEHEN MIT JOHANNA

Ich war mitten in meinen Prüfungsvorbereitungen, als eine Tante uns mit ihrer Freundin Johanna besuchte. Tante Irmgard war die Schwester meines Vaters. Auch nach vielen Jahren konnte man sehen, welch weiche und schöne Gesichtszüge sie hatte. Ich mochte sie, weil sie ein sehr fröhlicher und bodenständiger Mensch war, gleichzeitig aber sehr ernst sein konnte. Während wir uns unterhielten, flüsterte sie mir ins Ohr, damit es niemand hören konnte, ob ich etwas über meine Zukunft wissen wolle. Ich verstand nicht, was sie mir sagen wollte. Schnell offenbarte sie mir, dass ihre beste Freundin Johanna mir die Zukunft vorhersagen könne. Weil ich so etwas noch nie gemacht hatte, nahm ich den Vorschlag meiner Tante nicht sehr ernst und sagte nur: «Warum nicht?«

Kurze Zeit später saßen Johanna und ich in meinem Zimmer. Sie war klein und untersetzt. Ihre Lesebrille bedeckte fast ihr gesamtes Gesicht. Es sah sehr lustig aus. Doch anstatt mir die Zukunft vorherzusagen, legte sie Karten. Später erzählte sie mir, dass viele Menschen Angst davor hätten, ihre Zukunft von ihr zu erfahren, weshalb sie sich der Karten bediente.

Die 24 Karten, es waren einfache Spielkarten, legte sie nebeneinander. Sie erzählte mir einiges, was ich schon wusste und was mich erwarten würde. Ihre Vorhersage habe ich bis heute nicht vergessen. Sie lautete: »Heirate nicht den jungen Mann mit den schwarzen Haaren, an den du ständig denkst, denn in deiner Ehe wirst du durch die Hölle gehen und deine Ehe wird die Hölle auf Erden sein.« In diesem Moment stand ich auf, winkte mit der Hand ab und sagte entrüstet: »So ein Unsinn.« Ich verlor keinen Gedanken mehr daran, dass der Mann, in den ich verliebt war, mir etwas Schlimmes antun könnte. Nach diesem Tag habe ich Johanna längere Zeit nicht mehr gesehen.

Im Mai bestand ich mein Abitur. Einige Wochen danach rief mich Martin an und teilte mir mit, dass er für drei Monate, von August bis Oktober, ein Ausreisevisum nach Deutschland bekommen würde. Meine Freude darüber, ihn wiederzusehen, war unbeschreiblich. Sehnsüchtig wartete ich auf seine Ankunft und stellte mir vor, was ich ihm in Deutschland alles zeigen würde.

DIE HAARLOCKE UND DER ERSTE BISS

Am 3. August war es dann endlich so weit, und meine Eltern und ich konnten Martin endlich vom Bahnhof in Hamburg abholen. Bei unserer Begrüßung schien er sehr erschöpft und abgemagert zu sein. Zu Hause erzählte er mir, dass er sehr anstrengende Prüfungen hinter sich hätte. Wir verbrachten sehr viel Zeit miteinander; es war wunderschön. Wir besichtigten den Hamburger Hafen, Köln mit seinem Dom, Düsseldorf und vieles mehr. Die Zeit verging wie im Fluge.

Meine Mutter war eine fabelhafte Gastgeberin. Für sie war Martin der perfekte Schwiegersohn und dazu noch Arzt. Mein Vater war sehr zurückhaltend und bemühte sich, freundlich zu sein. Aber ich kannte ihn. Irgendetwas störte ihn an dieser Geschichte. Aber was? Ich hatte nicht den Mut, mit ihm darüber zu reden. Oder war es eher die Tatsache, dass ich vor seiner Meinung Angst hatte? Nach zwei Monaten sagte mir Martin, dass seine Eltern einige Wünsche hätten, die er erfüllen müsse. Er zeigte mir einen Wunschzettel, der eher einem langen Einkaufszettel glich. Mit dieser Liste ging ich zu meiner Mutter. Nachdem sie diese überflogen hatte, schaute sie mich etwas verwundert an und sagte: »Na gut, ich werde mit deinem Vater reden.« Ich merkte sofort, dass sie entschlossen war, die Wünsche seiner Eltern zu erfüllen.

Am vorletzten Tag seiner Abreise sagte er nebenbei: »Ich möchte ein Andenken von dir, am besten deine Haare; die werde ich mir dann auf die Rückseite deines Fotos kleben.« Ohne zu überlegen, ließ ich ihn eine meiner Haarlocken abschneiden. Doch das war ihm nicht genug. Er sagte, er wolle auch mir ein Andenken von sich hinterlassen, beugte sich zu mir herunter und, ohne jegliche Vorwarnung, biss er plötzlich in meinem rechten Oberarm. Ich schrie auf vor Schmerz, und als ich die Bisswunde sah, war ich teils überrascht, teils wütend auf ihn. Aber ich war unfähig, etwas zu sagen, geschweige denn ihm Vorwürfe zu machen. Martin steckte die Haarlocke in ein Taschentuch und sagte: »Jetzt habe ich ein Andenken von dir und du eins von mir. Von nun an wirst du immer an mich denken.« Dann wechselte er das Thema und tat so, als ob nichts geschehen wäre. So kannte ich mich gar nicht. Ich hatte wortlos alles hingenommen. An diesem Abend konnte ich lange nicht einschlafen.

Als er am nächsten Tag abreiste, brachten wir Martin mit sieben Koffern voller Dinge, die seine Eltern sich gewünscht hatten, zum Bahnhof. Der Abschied fiel mir sehr schwer. Meine Tränen konnte ich nicht verbergen. Er war etwas gerührt, zeigte aber kaum Gefühle. Vielleicht war es seine Art, so mit den Dingen umzugehen.

Nachdem er nicht mehr da war, fühlte ich eine sehr große Leere im Innern meines Herzens. Die ersten Tage waren sehr schwer für mich. Damals dachte ich, dass er die Liebe meines Lebens sei. Ich wusste, dass kein anderer Mann außer Martin für mich infrage kam. Die Sehnsucht, die ich nach ihm verspürte, tat weh. Ich musste ständig an ihn denken. Ich dachte, dass es mit der Zeit besser werden würde und die plötzliche Leere in meinem Herzen nach seiner Abreise mit der Zeit zurückgehen könnte. Ich hoffte, dass mich der Beginn meines bevorstehenden Musikstudiums ablenken würde.

DIE WARNUNG MEINES VATERS

Pünktlich zum Semesterbeginn nahm ich in Hamburg mein Musikstudium auf. Meine Hauptfächer waren Klavier und Gesang. Ich übte beides oft und lange. Jetzt erst wurde mir bewusst, wie selten ich mich während seiner Anwesenheit damit befasst hatte. Die Sehnsucht nach Martin war noch stärker als zuvor. Ich wachte nachts oft auf und dachte nur an ihn. Tagsüber war ich müde und unkonzentriert. Weil es mir unmöglich war, täglich mit dem Zug nach Münster zu reisen, mieteten meine Eltern ein Appartement in Hamburg für mich. Ich lernte einige Kommilitonen kennen. Am Anfang gingen wir öfter aus, unterhielten uns über die Professoren und unser Studium. Mit der Zeit ging ich jedoch immer seltener aus.

Die Wunde auf meinem Oberarm, die mir Martin zugefügt hatte, verheilte nur sehr langsam, und ich verspürte immer wieder einen schmerzenden Stich an dieser Stelle. Nach vier Wochen fuhr ich das erste Mal nach Hause zu meinen Eltern.

Als meine Mutter mich sah, fragte sie sehr besorgt: »Kind, du siehst aber schlecht aus, hast du etwa abgenommen?« Ich antwortete nicht. Danach ging ich zu meinem Vater ins Geschäft. Wir unterhielten uns über Hamburg und mein Studium, dabei schaute er mich prüfend an und fragte: »Geht es dir gut in Hamburg, bist du mit deinem Studium zufrieden?« Ich antwortete, dass ich sehr zufrieden sei und ich mich freue, wieder daheim zu sein.

Meine Mutter sprach sehr oft von Martin, was für ein toller Mensch er sei und welch ein schönes Paar wir abgeben würden. Ich freute mich, meine Geschwister zu sehen, und wir hatten eine schöne Zeit. Eines Abends fragte mich mein Vater, ob ich Martin ehrlich lieben würde und ich mir wirklich vorstellen könne, ihn zu ehelichen. Diese Frage kam für mich sehr plötzlich. Ich brauchte einige Zeit, um sie beantworten zu können. Als ich ein sicheres »Ja« über die Lippen gebracht hatte, schaute er mich an und sagte: »Sei vorsichtig, und überleg es dir gut.« Ich erschrak über die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme. So kannte ich ihn nicht. Es war das erste Mal, dass er sich in dieser Weise dazu äußerte. In seiner Stimme lag etwas, das mich beunruhigte. Nach knapp einer Woche fuhr ich wieder nach Hamburg zurück.

Mittlerweile versuchte ich, mich mehr auf mein Studium zu konzentrieren, was mir auch gelang. Ich schlief besser und ging mit meinen Freunden wieder öfter aus. Die Annäherungsversuche der Kommilitonen übersah ich, denn für mich kam nur ein Mann infrage, und das war Martin. Kurz vor Weihnachten fuhr ich wieder nach Hause. Die Bisswunde auf meinem Oberarm war fast verheilt. Die Weihnachtsfeiertage vergingen sehr schnell. Wir musizierten viel. Ich spielte Klavier, meine Mutter Akkordeon, und wir sangen Weihnachtslieder. Heiligabend gingen wir alle zur Christmette. Wir waren streng katholisch erzogen und praktizierende Christen. Während der Feiertage stellte ich mir vor, wie schön es wäre, wenn Martin mit uns feiern würde. Ich beschloss, mit ihm Silvester zu verbringen.

SILVESTERFEIER MIT MARTIN

Nach den Feiertagen offenbarte ich meiner Mutter mein Vorhaben. Sie warnte mich davor und meinte, im Osten gebe es sehr viel mehr Schnee, dann wäre auch noch die lange Zugfahrt und überdies sei die Zeit, sich darauf vorzubereiten, viel zu kurz. Außerdem war eine Zugfahrt zur Zeit des Kalten Krieges in ein kommunistisch regiertes Land beschwerlich und unvorhersehbar. Ich ließ mich von meiner Idee nicht abbringen. Es war mir egal, ich war bereit, für Martin alles auf mich zu nehmen, und meinte: »Das wird bestimmt die schönste Silvesterfeier, die ich je erlebt habe.«

Ich packte meine Koffer, mein Vater besorgte mir eine Zugfahrkarte und am 29. Dezember konnte ich endlich meine Reise antreten. Ich fühlte, dass meine Eltern unruhig waren. Die lange Zugfahrt, die Kälte und der Aufenthalt in einem kommunistischen Land waren nicht ungefährlich. Alle, sowohl meine Eltern als auch meine Brüder, wünschten mir eine wunderschöne Zeit mit Martin.

Es war eine sehr mühsame Fahrt, zumal wir wegen eines Zugdefekts sechs Stunden an der deutsch-polnischen Grenze standen. Unser Fenster ließ sich nicht ganz schließen, sodass man nur durch einen kleinen Spalt nach draußen sehen konnte. Auch die zunehmende Kälte machte uns sehr zu schaffen. Es schneite so heftig, dass sich durch den offenen Fensterspalt immer wieder Schneeflocken in das Innere des Waggons verirrten. Die Zollkontrolle war übertrieben streng.

Eine ältere Frau hatte drei goldene Ringe als Geschenk für ihre Enkelinnen. Es waren wunderschöne, sehr alte Andenken von ihrer Großmutter. Weil sie Angst hatte, man würde ihr die Ringe abnehmen, teilte sie diese unter den weiblichen Mitreisenden auf. Wir waren sechs Personen im Abteil. Später bekam sie die Ringe zurück und war erleichtert, dass alles gut überstanden war.

Nachdem der Zugschaden behoben worden war, konnten wir endlich weiterfahren. Vor dem Antritt meiner Reise nach Polen hatte ich Martin angerufen und ihm mitgeteilt, dass ich Silvester mit ihm verbringen wolle. Er freute sich sehr und sagte mir am Telefon, dass er für uns Karten für eine Silvesterfeier besorgen würde, obwohl es zeitlich sehr knapp sei. Bis zur Ankunft in Gdańsk blieben noch etwa vier Stunden. Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung ein. Plötzlich merkte ich, dass mich jemand am Arm rüttelte und in polnischer Sprache sagte: »Wach auf.« Ich traute meinen Augen nicht – vor mir stand Martin. Wir begrüßten uns sehr herzlich und freuten uns auf unsere gemeinsamen Tage. Er meinte, wir hätten noch drei Stationen bis zur Ankunft. Von ihm erfuhr ich, dass wir in einem noblen Restaurant in Gdańsk Silvester feiern würden. Er war überzeugt davon, dass ich bei ihm zu Hause übernachten würde. Ich machte ihm jedoch klar, dass mein Vater für mich ein Zimmer in einem Hotel reserviert hatte. Ich konnte sein enttäuschtes Gesicht sehen. Danach sagte er halblaut: »Schade, meine Mutter wird darüber nicht sehr erfreut sein.« Diesen Satz verstand ich damals nicht, und so dachte ich nicht weiter darüber nach. Eine Stunde später kamen wir endlich in Gdańsk am Hauptbahnhof an. Er besorgte ein Taxi, und wir fuhren zu ihm nach Hause. Ich war sehr erschöpft und müde. Seine Mutter erwartete uns schon mit einem warmen Essen. Sie war sehr nett, und wir unterhielten uns über die beschwerliche Reise. Später gesellten sich Martins Schwester und sein Vater zu uns, der mich auch sehr herzlich begrüßte. Es war recht spät geworden, und ich wollte nur noch ins Bett. Es wunderte mich, dass er seiner Mutter noch nichts von meinem bevorstehenden Aufenthalt im Hotel verraten hatte. So sagte sie: »Du siehst erschöpft aus, ich habe für dich ein Bett vorbereitet.« In dem Moment sagte Martin: »Anna wird im Hotel übernachten.« Seine Mutter wurde plötzlich sehr blass, ihre Nasenspitze wurde dunkelrot, und in ihren dunklen Augen konnte ich einen unglaublichen Zorn erkennen, wie ich es bisher noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Ihre Verwandlung ging dermaßen schnell vonstatten, dass ich kein Wort hervorbringen konnte. Kurze Zeit darauf sagte sein Vater: «Nun gut, dann fahr mit ihr ins Hotel.« Wir verabschiedeten uns und fuhren mit dem Auto seines Vaters los. Ich checkte ein, und Martin brachte mir noch meinen Koffer aufs Zimmer. Wir umarmten uns zum Abschied, und er ging mit den Worten: »Dann bis morgen.« Ich hielt es für klüger, keine Fragen bezüglich der plötzlichen Stimmungsschwankung seiner Mutter zu stellen. Ich freute mich auf unseren bevorstehenden Tag. Er kam am nächsten Tag gegen Mittag ins Hotel. Gemeinsam verbrachten wir den ganzen Nachmittag in Gdańsk. Wir aßen zu Mittag, besuchten einige Sehenswürdigkeiten und freuten uns, dass wir endlich mal wieder allein sein konnten. Gegen 17 Uhr fuhr er nach Hause. So konnten wir uns, jeder für sich, für den bevorstehenden Abend zurecht machen. Gegen 19 Uhr war ich mit Schminken und Ankleiden fertig. Ich trug einen langen schwarzen Rock, dazu eine goldene Bluse und einen vergoldeten Schmuck mit roten Glitzersteinen. Diese Kleidung passte gut zu meinen blauen Augen und meinen blonden hochgesteckten Haaren. Der goldene Gurt aus dem gleichen Stoff wie meine Bluse unterstrich meine schlanke Figur. Ich warf einen Blick in den Spiegel und war mit meinem Aussehen sehr zufrieden. Den Zorn seiner Mutter hatte ich längst vergessen.

DIE ERSTEN VORWÜRFE

Beschwingt stieg ich in ein Taxi und, wie besprochen, fuhr ich zu Martin. Außer Martin und seiner Mutter, die mich sehr kühl begrüßte, war keiner daheim. Mir fielen sofort wieder ihr blasses Gesicht und ihre rote Nasenspitze auf. Ihre Wut hielt wohl länger an, als ich dachte. Martin bat mich, am Esstisch Platz zu nehmen. Danach brachte er mir etwas zu trinken. In seinem schwarzen Anzug und seinem weißen Hemd, einer dazu passenden schwarzen Fliege sah er sehr gut aus. Während wir alle drei am Tisch saßen, zögerte seine Mutter nicht lange und fragte: »Na, wie hast du geschlafen?« Von ihrem zornigen Tonfall überrascht, antwortete ich: »Gut, es ist ein schönes Hotel.« Daraufhin fing sie an, mir Vorwürfe zu machen, wie ich denn dazu käme, ihre Gastfreundschaft abzulehnen, und dass sie wüsste, was wir im Hotelzimmer getan hätten, und als gute Katholikin hätte ich doch den Anstand haben müssen, wenigstens in die Kirche zu gehen, um das alte Jahr zu verabschieden. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, sowohl wegen ihres Tonfalls als auch wegen der unverständlichen Vorwürfe. Ich blickte zu Martin, aber er hielt den Kopf gesenkt und sagte nichts. Es war eine sehr bedrückende Stimmung im Raum, und ich ärgerte mich über diese unbegründeten Vorwürfe seiner Mutter, war aber unfähig, etwas zu erwidern. Mir traten die Tränen in die Augen. Kurze Zeit später stand Martin auf und sagte: »Wir können fahren, das Taxi ist da.« Ohne ein Wort standen wir auf und verabschiedeten uns knapp von seiner Mutter. Jetzt erst sah ich, dass sie Tränen in den Augen hatte, was noch unverständlicher für mich war. So viel Wut und Zorn hatte ich bisher noch nie erlebt. Mir war sehr elend zumute. Ich war so deprimiert und traurig, dass meine ganze Freude auf den bevorstehenden Abend wie weggeblasen war. Der Saal, in dem wir unsere Silvesterfeier verbringen sollten, war sehr nobel und wunderschön geschmückt. Es waren viele fröhlich gestimmte Paare, die mit uns feiern sollten, anwesend. Wir saßen mit vier Paaren an einem Tisch. Obwohl wir viel tanzten und die Menschen sehr fröhlich waren, konnte ich mich nicht freuen. Im Gegenteil, meine Stimmung war bedrückt, und ich hatte oft Tränen in den Augen. Ständig musste ich an Martins Reaktion und daran denken, was mir seine Mutter vorgeworfen hatte. Er hatte mich mit keinem Wort verteidigt. Nun, ich muss gestehen, dass ich diese Familie kaum kannte, was die Situation für mich nicht unbedingt einfacher machte. So begrüßten wir das neue Jahr 1980. Gegen 4 Uhr morgens brachte mich Martin ins Hotel und fuhr nach Hause. Ich überlegte, ob ich überhaupt noch zu ihm fahren oder gleich am nächsten Tag in den Zug nach Deutschland steigen sollte. Aber nach dieser langen Nacht musste ich mich zuerst ausruhen, danach wollte ich eine Entscheidung treffen. Es sollte jedoch anders kommen, als ich dachte.

ZWEITER KUSS, ZWEITES SIEGEL

Am nächsten Tag gegen 12 Uhr mittags klopfte es an der Tür. Halb im Schlaf öffnete ich. An der Türschwelle stand Martin mit einem Blumenstrauß in der Hand. Er überreichte ihn mir und nahm mich in die Arme. Es dauerte nicht lange, und meine Enttäuschung und mein Vorhaben gehörten der Vergangenheit an. Ich freute mich, dass er da war. Wie selbstverständlich sagte er: »Meine Eltern würden dich gern zu uns zum Essen einladen.« Ohne zu überlegen, sagte ich zu. Ich kann es mir bis heute nicht erklären, weshalb ich meine Meinung damals so schnell geändert habe. Es war, als ob nichts Schlimmes gewesen sei.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich angezogen und mir die Haare zurechtgemacht hatte. Danach fuhren wir in sein Elternhaus. Die ganze Familie wartete auf uns. Wir wünschten uns alles Gute für das neue Jahr. Martins Mutter wünschte uns eine glückliche gemeinsame Zukunft. Für mich kam der Satz etwas zu voreilig, weil weder Martin noch ich über eine gemeinsame Zukunft gesprochen hatten. Erstaunlicherweise hatte sie sich sehr viel Mühe gemacht, mich freundlich zu empfangen. Der Tisch war reich gedeckt, und wir unterhielten uns alle sehr nett. Alles in allem war es eine sehr angenehme Atmosphäre. Die Zeit verging sehr schnell, und es kam der Tag der Abreise. Ich verabschiedete mich von Martin und seiner Familie. Er brachte mich am 3. Januar nach Gdańsk zum Zug. Weil die Straßen an diesem Tag leer waren, kamen wir früh am Bahnhof an. So hatten wir noch genug Zeit, um miteinander gemütlich eine Tasse Tee zu trinken. Wir bedauerten beide, dass die Zeit so schnell vergangen war. Plötzlich zog Martin ein Kästchen aus seiner Hosentasche, öffnete es und zog eine Kette mit einem Anhänger heraus. Die Kette war aus Silber, und der Anhänger war eine kleine Glocke. Er legte sie mir um den Hals, mit den Worten, dass es nur eine Hälfte sei und er die zweite Hälfte der Glocke bereits um seinen Hals trüge. Danach sagte er: »So werden wir immer miteinander verbunden sein.« Wir küssten uns, und mir wurde bewusst, dass ich mit ihm mein Leben verbringen wollte, ja, ich liebte Martin. Es war ein schönes Gefühl, jemanden in seiner Nähe zu haben, den man liebte.

Gegen 11 Uhr kam der Zug am Bahngleis an, wir verabschiedeten uns, und ich stieg ein. Der Zug fuhr los, und Martin winkte mir noch eine Weile. Meine Augen füllten sich mit Tränen, trotzdem war ich froh, bald wieder zu Hause zu sein.

Die Semesterferien neigten sich dem Ende zu, und ich musste wieder nach Hamburg zurück. Ich dachte oft an meinen geliebten Martin und an die schöne Zeit, die ich mit ihm verbracht hatte. Der Zwischenfall mit seiner Mutter war fast vergessen. Im Gegenteil, es war, als ob es ihn nie gegeben hätte. Wir schrieben uns lange Briefe, in denen wir unsere gegenseitige Liebe und Sehnsucht beteuerten. Für mich war es nicht einfach, denn ich brauchte so manches Mal die Hilfe meines älteren Bruders. Auch ohne Wörterbuch ging es nicht. Im Mai schrieb mir Martin, dass seine Mutter sehr gern nach Deutschland zum Arbeiten kommen würde und ob wir ihr diesen Wunsch ermöglichen könnten. Weiterhin schrieb er, dass sie bei meiner Cousine Susanne und ihrem Mann Stefan wohnen würde. Es dauerte nicht lange, und meine Mutter fand eine Arbeitsstelle in einer Telefonfabrik, die ein Familienunternehmen war. Mir war dabei nicht wohl zumute, aber ich redete mir ein, dass alles gut gehen würde.

GESTALTWANDLUNG

Frau Nidek, Martins Mutter, kam im Juni, nachdem sie ein Ausreisevisum erhalten hatte, bei meiner Cousine an. Erst drei Wochen zuvor hatte sie ihre zweite Tochter bekommen. Meine Cousine empfing ihre Schwiegermutter herzlich, aber reserviert, ebenso verhielt sich ihr Ehemann Stefan. Zwei Tage nach ihrer Ankunft trat Frau Nidek die Arbeitsstelle in der Fabrik an. Es vergingen zwei Wochen, bis wir uns an einem Sonntag wiedersahen. Obwohl Susanne ein eher fröhlicher und offener Mensch war, kam sie mir sehr nervös und niedergeschlagen vor. Ihre Augenringe waren nicht zu übersehen. Ihr Ehemann beschäftigte sich fast die ganze Zeit mit seinen kleinen Töchtern. So kannte ich ihn nicht. Denn er war immer sehr gesprächig und offenherzig. Die Situation war sehr angespannt. Wir unterhielten uns mit Frau Nidek über ihre Arbeit und ob ihr die Arbeitsstelle gefallen würde. Sie sagte, dass sie sehr zufrieden sei und sich freuen würde, einige D-Mark zu verdienen, weil sie und ihr Mann für das Studium ihrer Kinder sehr viel Geld aufbringen müssten. In der Zwischenzeit ging meine Cousine zu ihrem Ehemann und den Töchtern, kurze Zeit darauf gesellten sich auch meine Brüder zu ihnen. Am Tisch blieben nur noch meine Eltern, Frau Nidek und ich sitzen. Es störte mich nicht, dass wir uns aufteilten, denn auf diese Weise konnten wir uns in Ruhe unterhalten. Sie erzählte uns, wie ihre Tätigkeit aussah, wie sie die Telefonteile reinigen musste, um diese wieder zusammenzusetzen, und vieles mehr. Plötzlich wechselte sie das Thema und ging auf ihren Sohn Stefan los. Ihre Unzufriedenheit war nicht zu überhören. Danach beklagte sie sich, dass ihre Schwiegertochter sie schlecht behandeln würde und sie sich sogar ihr Essen selbst kaufen müsse. Wir konnten es kaum glauben, denn das junge Ehepaar war uns gegenüber immer sehr gastfreundlich.

Frau Nidek verstieg sich immer mehr in ihren Behauptungen und Äußerungen. Mir fiel auf, was ich schon einmal in ihrem Haus erlebt hatte, nämlich, dass sie im Gesicht weiß wurde und ihre Nasenspitze sich rot färbte. Es war kein angenehmer Anblick. Wir schauten sie an und konnten kein Wort herausbringen. Sie beklagte sich weiter, beschimpfte ihre Schwiegertochter als unzuverlässig und unsauber und sagte, dass sie nicht die richtige Partnerin für ihren Sohn sei.

Danach lobte sie ihre Enkelinnen, vor allem die ältere, wie brav und lieb sie sei. Über die jüngere sagte sie: »Schade, aber die kleine Julia ist sehr krank, wer weiß, ob sie noch gesund wird.« Wir waren schockiert, weil es keinen Anlass gab, das zu glauben oder zu vermuten. Im Gegenteil, sie entwickelte sich prächtig, ihr Gesicht war rosig, und sie lächelte oft. Außerdem waren bisher keine gesundheitlichen Probleme aufgetreten. Normalerweise hatte Frau Nidek braune Augen. Doch als sie über die Krankheit der kleinen Julia sprach, wurden sie dunkelbraun, ja, fast schwarz. Ich fühlte mich sehr unwohl, eine Welle von Angst durchzog mich. Ich schaute meine Mutter an und merkte, dass sie plötzlich blass wurde.

Sie stand auf und bat mich, ihr beim Tischabräumen zu helfen. In der Küche fragte sie mich, ob ich auch die Veränderung in den Augen von Frau Nidek bemerkt hätte. Ich antwortete ihr, dass es kaum zu übersehen gewesen sei. Wir konnten uns das nicht erklären, aber jede von uns wusste, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte. Zudem bemerkte ich, dass mein Vater, der irgendwann dazugekommen war, den Kopf wortlos senkte. Bei jeder anderen Person hätten wir meine Cousine und ihre Familie in Schutz genommen – doch nicht bei Frau Nidek. Die Unfähigkeit, ihr zu widersprechen, wuchs mit jedem ihrer Sätze.

Der Höhepunkt des Abends war, als Stefan mich fragte, ob ich mit ihm Windeln für die kleine Julia holen würde, weil er diese zu Hause vergessen hätte. So stiegen wir in sein Auto und fuhren los. Plötzlich blieb er an einem Waldrand stehen, legte seine Hand auf meinen Oberschenkel und gestand mir seine Zuneigung. Ich war schockiert, denn ich kannte ihn nicht von dieser Seite, und es hatte nie einen Anlass gegeben, ein solches Verhalten zu vermuten. Ich legte seine Hand zur Seite und sagte: »Komm, vergessen wir es. Wir wissen beide, dass du deine Frau und deine Kinder liebst.« Er schaute mich an, und ich merkte, dass ihm diese Situation furchtbar peinlich war. Er drehte seinen Kopf zur Seite und sagte: »Es tut mir leid, ich weiß nicht, was über mich gekommen ist!« Anschließend fuhren wir weiter. Er holte die Windeln, und wir fuhren zurück. Noch an diesem Abend fragte ich Susanne, was bei ihnen los sei. Sie antwortete, dass alles in Ordnung wäre. Mein Gefühl sagte, dass ich keine weiteren Fragen stellen sollte.

Am nächsten Morgen fuhr ich nach Hamburg. Zwei Tage nach unserem Wiedersehen rief mich meine Mutter an und erzählte mir, dass Susanne sie angerufen und gefragt habe, ob ihre Schwiegermutter sich bei uns gemeldet hätte. Meine Mutter fragte sie erstaunt, was bei ihnen los sei und wieso alle so nervös wären. Nach diesen Worten fing Susanne zu weinen an und sagte: »Tante, ich halte das nicht mehr aus, sie beleidigt mich, wo sie nur kann, und hetzt Stefan gegen mich auf. Ständig erzählt sie, dass Julia sehr krank sei.« Ich konnte es nicht fassen, war aber gleichzeitig sehr traurig darüber, denn Martin war auch ihr Sohn, und wenn ich ihn heiraten sollte, dann wäre sie auch meine Schwiegermutter.

Zwei Wochen nach diesem Gespräch fuhr ich nach Hause. Meine Mutter und ich unterhielten uns über den letzten Besuch von Frau Nidek. Ich erzählte ihr, was an jenem Abend im Auto mit Stefan passiert war. Sie nahm es genauso wenig ernst wie ich und meinte nur, dass im Leben viele Situationen vorkommen würden, in denen man einen kühlen Kopf bewahren müsse. Ihrer Meinung nach sollte man nicht immer alles ernst nehmen. Wir merkten nicht, dass mein älterer Bruder Patrick an der Tür stand und lauschte.

JULIAS PLÖTZLICHE KRANKHEIT

Noch am selben Abend rief meine Cousine sehr aufgeregt an, weinte am Telefon und sagte, ihre Tochter Julia sei sehr krank und sie hätten sie bereits ins Krankenhaus gebracht. Es war jedoch Wochenende und der diensthabende Oberarzt hatte an diesem Wochenende keinen Dienst, sodass die kleine Julia von einem Assistenzarzt behandelt wurde. Ihre Hirnhautentzündung wurde nicht sofort erkannt, und als am Montagfrüh der Oberarzt seinen Dienst antrat, war es für eine erfolgversprechende Behandlung zu spät.

Noch am Montag erfuhren Susanne und Stefan, dass Julia einen Gehirnschaden davongetragen hatte und ein lebenslanger Pflegefall bleiben würde. Wir konnten es nicht fassen. Und alle fragten sich, was da passiert war. Allein diese Situation und die Worte von Frau Nidek bezüglich der Krankheit von Julia hätten mich aufhorchen lassen müssen, aber ich war so verliebt in ihren Sohn, dass an eine Trennung von Martin nicht zu denken war.

Bevor ich wieder nach Hamburg fuhr, besuchte ich Susanne. Sie war mit ihrer älteren Tochter beschäftigt. Ich war froh darüber, denn so konnte ich mich mit ihr in Ruhe unterhalten. Sie weinte, als sie mich sah, und ihre Augenringe ließen erkennen, dass sie bereits einige Tage lang geweint hatte. Sie erzählte mir, dass ihre Schwiegermutter sie überall schlecht machen würde, sogar bei ihren Nachbarn, mit denen sie einen sehr guten Kontakt pflegte. In den letzten Tagen hatte Frau Nidek andauernd gesagt, dass Julia sehr krank sei und wir keine Freude an ihr haben würden. Weiterhin meinte Susanne, dass es wie ein Fluch sei, diese Frau im Haus zu haben. Danach sagte sie: »Sie heult ständig, wie schlecht sie es bei uns hat, ist aber gleichzeitig kalt wie Eis.« Unter Tränen erzählte sie, dass Julia die ganze Nacht geschrien habe und sie deshalb mit ihr am nächsten Morgen gegen 5 Uhr ins Krankenhaus gefahren sei. Susannes Worte über Frau Nidek waren so unglaublich, dass ich ihre Schwiegermutter ein wenig in Schutz nahm. Daraufhin sagte sie: »Wenn du Martin heiratest, wirst du diese Frau kennen lernen.«

Weder meine Cousine noch ihr Ehemann konnten ihr etwas recht machen, und es gab fast täglich irgendwelche Beleidigungen und Auseinandersetzungen mit ihr. In diesen drei Monaten verlor Susanne sehr viel Gewicht; sie wurde schmal und blass. Ihr Ehemann Stefan stritt oft mit seiner Mutter und nahm Susanne, so oft es ging, in Schutz.

Anfang September fuhr Frau Nidek zurück nach Polen. Sie verabschiedete sich von allen so herzlich, als ob nichts gewesen sei. Ihr Verhalten gab mir viel zu denken. Ich sprach darüber auch mit meinen Eltern. Meine Mutter sagte: »Du wirst nicht mit ihr leben, sondern mit Martin, und er scheint ein guter Mensch zu sein.« Wie wenig Menschenkenntnis sie hatte, sollte sich erst später herausstellen. Mein Vater sagte: »Anna, sei vorsichtig, und überlege dir gut, was du tust. Du hast immer noch genug Zeit, dir die ganze Sache kritisch durch den Kopf gehen zu lassen.«

ABSCHIEDSBRIEF AN MARTIN

Ich schrieb Martin noch zwei Briefe, dann beschloss ich, obwohl ich ihn immer noch sehr liebte, die ganze Angelegenheit zu beenden. Möglicherweise waren es das aggressive Verhalten seiner Mutter und die Äußerungen meines Vaters, die mir einiges zu denken gaben. Ich schrieb Martin, dass es besser sei, Abstand voneinander zu nehmen und sich nicht mehr zu sehen. Am nächsten Tag bat ich meine Mutter, den Brief abzuschicken. Sie weigerte sich, mir diesen Wunsch zu erfüllen, und meinte, dass man so eine Entscheidung erst einmal überdenken solle, bevor man etwas tue, was man später bereuen könne. Noch am selben Tag brachte ich den Brief zur Post.

Das Abschicken des Briefes fiel mir sehr schwer. Die Tage vergingen, und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich sehnte mich nach Martin und konnte mich kaum auf meine bevorstehende schriftliche Prüfung konzentrieren. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde ich und desto mehr sehnte mich nach ihm. Sogar mehr als zuvor. Ich hatte sehr viele schlaflose Nächte, träumte oft von ihm, und manchmal glaubte ich, ihn vor meinem Bett stehen zu sehen. Ich redete mit niemandem darüber, da ich befürchtete, man könne an meinem Verstand zweifeln.