24,99 €
»… wenn ich zum Reichspräsidenten gewählt würde, und ich Hitler zum Reichskanzler mache. Dann habe ich das Heft in Händen« – so träumte der letzte deutsche Kronprinz Wilhelm von Preußen im Januar 1932. Doch war er nicht der einzige Akteur auf der radikalen Rechten, der sich zu Beginn der 1930er Jahre mit den mächtig aufstrebenden Nazis politisch arrangieren wollte. Lothar Machtan spürt dieser Gemengelage informeller Machenschaften mit sensationellem Quellenmaterial nach, ohne die sich nicht begreifen lässt, wie es am 30. Januar 1933 überhaupt zu Hitlers Reichskanzlerschaft kommen konnte. Der Autor lässt die zentralen Akteure aus Ego-Dokumenten direkt zu uns sprechen und kommt damit den Geschehnissen so nah wie möglich. Ein faszinierendes Kammerspiel politischer Kungelei, bei dem der Hauptprotagonist in immer neuen Rollen auftritt und doch unbelehrbar einer Konstanten folgt: der utopischen Vorstellung, mit Hitler den gestürzten Hohenzollernthron wiederaufrichten zu können.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
LOTHAR MACHTANDer Kronprinz und die Nazis
Der Kronprinz und die Nazis
Hohenzollerns blinder Fleck
VonLothar Machtan
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Wir haben uns bemüht, alle Nutzungsrechte zur Veröffentlichungvon Materialien Dritter zu erhalten. Sollten im Einzelfall Nutzungsrechtenicht abgeklärt sein, bitten wir um Kontaktaufnahme mit dem Verlag.
Umschlagbild:Auktionshaus Christoph Gärtner GmbH & Co KG, Foto: Unbekannt.
Alle Rechte vorbehalten:© 2021 Duncker & Humblot GmbH, BerlinLektorat: Malte RitterSatz: L101 Mediengestaltung, FürstenwaldeDruck: Druckteam, BerlinPrinted in Germany
ISBN 978-3-428-18394-4 (Print)ISBN 978-3-428-58394-2 (E-Book)
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papierentsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für meine Enkelkinder Viola und Elias
Kaiser und Kronprinz beim Begrüßungskuss 1912 in Königsberg. Anders als hier inszeniert, war die Beziehung zwischen Wilhelm II. und seinem ältesten Sohn weder herzlich noch harmonisch.
Prolegomena
Vorspiel
Visitenkarte: Zwei Egodokumente eines Entthronten
Kapitel 1Aufbruch in die Politik
Heraus aus dem ewigen Wartestand
1930: Das Jahr der Politisierung
Sondierungen
Erste Begegnung mit Hitler
Exkurs 1: Zum Stellenwert der Monarchie nach 1918
Kapitel 2Die Fiederung
Neue Handlungsbedingungen
Nazis ante portas
Die Selbstmobilisierung
Prätendent oder Präsident?
Opposition von rechts
Brünings Überlebensversicherung
Sand im Getriebe
Exkurs 2: Zyniker der Macht: Kurt von Schleicher
Kapitel 3Eine neue Krone?
Deutschlands Schicksalsjahr
Wer kann Reichspräsident?
They are all a little Hitler-mad
Halb zog man ihn, halb sank er hin
Und weiter mit Hitler
… aber auch mit Schleicher
… und bei sich selbst
Exkurs 3: Schleichers „Fränzchen“: Franz von Papen
Kapitel 4Zwischen den Stühlen
Stühlerücken
Was tun?
Der Flirt mit Papen
Fallengelassen
Nebenkriegsschauplätze
Kapitel 5Verwirrung und Ausweg
Zwei Reichsführer auf der Lauer
Was sollen Kronprinzens wollen?
Kabale
Die Wende
Kapitel 6Zu Hause im Dritten Reich
Gelungener Wieder-Anschluss
Garnisonkirche und Ermächtigungsgesetz
Manie
Preußischer Erbfolgekrieg
Blauäugigkeit und Hitler-Begeisterung
An der Einheitsfront der nationalen Kräfte
Kapitel 7Eskalierendes Verhängnis
Abgehängt
Auf der Suche nach Auswegen
Weitere Warnschüsse
Die Durchkreuzung des Papen-Plans
Lange Messer und kurzer Prozess
Abgesang
Epilog
Zur politischen Aktualität des Themas
Abkürzungen
Anmerkungen
Bildnachweis
Danksagung
Register
Dieses Buch entfaltet das Politdrama einer verhängnisvollen Illusion aus den 1930er Jahren. Es handelt vom Aberwitz der Hohenzollern, durch eine Annäherung an Adolf Hitler monarchische Politik treiben und durch die Bejahung des Dritten Reiches ihren royalen Status verstetigen zu können. Damit fällt ein neues Licht auf die deutsche Schicksalswende von 1933. Im Blick auf den erlauchten Personenkreis ersteht eine Familientragödie – im Innenraum des 1918 entthronten deutschen Kaiserhauses. Von königlicher Prominenz aus der ersten Reihe wird die Rede sein, von deren weitreichendem Netzwerk in die Aristokratie und in die deutsche Militärführung hinein. Hochadel, Militärelite und die Machthaber im politischen Berlin – das sind die zentralen Bezugsgrößen und die Milieus meiner Erzählung.
Hauptprotagonist in dieser Figurenkonstellation ist der vormalige Kronprinz: Friedrich Wilhelm von Preußen, geboren 1882. Ein Mann, der nach dem Ende der Monarchie mit seinem Vater, dem früheren deutschen Kaiser, um die politische Neuausrichtung der Dynastie ringt – und um deren Führung. Nach ihrer Entthronung blieben die Hohenzollern lange Zeit sich selbst ausgeliefert. Als entmachtete Schicksalsgemeinschaft fühlten sie sich untereinander irgendwie verbunden, freilich in einer Art Versuchsanordnung aus Loyalitätszwängen, aus materiellen Abhängigkeiten, Hassliebe und Intrigen. Was sie einte, waren die Feindschaft gegen die Weimarer Demokratie sowie das Gefühl, immer noch etwas Besseres zu sein und eine privilegierte Behandlung weiterhin verdient zu haben. Bis etwa 1929 ist politische Lethargie die Signatur dieser Dynastiegeschichte. Doch dann wollen vor allem „Kronprinzens“, wie das frühere Thronfolgerpaar damals allgemein genannt wurde, noch einmal Einfluss auf die nun eskalierenden Zeitläufte nehmen. Sie möchten zurück auf den Thron und glauben, dass die Zeit für eine Restauration reif sei.
Will man erfassen, wie der reißende Strom der Zeit den Kronprinzen mitgezogen hat, so sollte man ihn am besten selbst beantworten lassen, was ihn zum Mitbeteiligten, ja -entscheider werden ließ, was ihn mitverantwortlich machte für die Geburt des Dritten Reiches. Das Quellenmaterial verschafft uns vielleicht keinen vollen Zugang zu seiner Gedanken- und Gefühlswelt, doch es erlaubt sehr wohl, seine Ambitionen und Schritte detailgetreu zu rekonstruieren – auch mit Blick auf die Vorstellungen, die ihn geleitet haben. Das gilt es transparent zu machen. So können die Leser und Leserinnen die [10] Essentials seines „Wirkenwollens“ selbst entdecken – aus großer Nähe zum historischen Geschehen.
Für eine politische Einflussnahme öffnete sich dem Kaisersohn nur ein schmales Zeitfenster: die Jahre 1931 bis 1933. Diese Schwellenzeit bildet den Rahmen meiner Forschung. Die Aufgabe war, die wichtigsten Facetten seines Wirkens sinnvoll zusammenzusetzen. Dabei ist der Blick weniger auf die pikanten Details der royalen Existenzweise unseres Protagonisten gerichtet als auf sprechende Indizien seiner politischen Verstrickung. Gleichwohl geht es um eine unvoreingenommene Betrachtung und nicht um die moralische Bewertung des Vorfindlichen – auch im heutigen Wissen darum, dass der einstige Thronfolger auf der „falschen“ Seite stand. Ein unbehagliches Narrativ vielleicht, aber ein aufschlussreiches. Ich collagiere sämtliche Elemente seiner Vergangenheit, derer ich habhaft werden konnte. Und ich ziehe daraus verallgemeinerbare Schlüsse. Ob es wirklich so war, weiß ich nicht. Auch andere Erzählperspektiven sind möglich, mithin andere Resultate. Urteilsmächtige Gewissheit lässt sich hier nicht generieren, eine nachvollziehbare Chronik und kritische Kommentierung aber sehr wohl. Und erst auf dieser Basis lassen sich Erklärungen finden für eklatantes Fehlverhalten und fatale Entscheidungen.
Das Quellenmaterial konfrontiert uns fortlaufend und in großer Unmittelbarkeit mit den politischen Vorgängen, in die unser Proband involviert war. Es entsteht eine Kaskade von „O-Tönen“, die uns die damalige Dynamik von Politik vermittelt. Sie zeigt, dass hier so gut wie nichts einer strukturell vorgegebenen Logik von Abläufen folgte – das gilt insbesondere für Hitlers Weg an die absolute Macht. Der 30. Januar 1933 war alles andere als das Resultat einer linear aufsteigenden Erfolgsstory. Der Geschichte vom Durchbruch der NSDAP im September 1930 bis zu Hitlers Selbstermächtigung zum „Führer und Reichskanzler“ im Sommer 1934 durchlief vielmehr bizarre Kurvenmuster. Wir erleben Hitler in wechselnden Seilschaften, Intrigen, Glücks- und Pechsträhnen, ohne übergreifendes Bestimmungsmerkmal. Die Geschichte blieb weitgehend offen. Und: Der Naziführer stand selbst Anfang 1933 für die damaligen Akteure „nur“ für nationalistische Massenmobilisierung, für gewalttätigen SA-Faschismus und einen fanatischen Willen zur Allmacht – aber nicht für Judenvernichtung und Weltkrieg für „Lebensraum“. Das wurde erst erkennbar, nachdem unser Protagonist die Bühne des Politiktheaters wieder verlassen hatte.
Es ist eine Herausforderung, dieses quecksilbrige Geschehen angemessen abzubilden und in eine erzählerische Ordnung zu bringen, die den Strom jener wüsten Zeiten nicht allzu sehr glättet. Es geht mir darum, die spezifische Signatur dieser Jahre möglichst eindringlich vor Augen führen, das heißt, vor allem als Gemengelage aus Irrungen und Wirrungen, aus Fehlein- und [11] Selbstüberschätzungen der Akteure. Aus heutiger Sicht geradezu unglaublich erscheint das Be- und Gefangensein der seit 1931 noch einmal einflussreich gewordenen alten wilhelminischen Eliten in ihrem Verständnis von Politik als Kabale, in ihrem notorischen und lernresistenten Nichtverstehenwollen der Dynamik und des Gewaltpotenzials der NS-Bewegung. Zur Vergegenwärtigung dieser politischen Unkultur empfiehlt es sich, die historischen Akteure als Icherzähler mit je eigener Perspektive, aber auch im Ganzen als mehrstimmigen Chor eines Politdramas auftreten zu lassen.
Zu diesem Chor zählte eine Zeit lang auch unser Antiheld. Doch überbewerten darf man seine Rolle nicht. Denn er war nie die Hauptfigur im Geflecht jener Männer, die Deutschlands Weg damals gespurt haben. Man sollte ihn deshalb weniger als Emblem für eine strukturell vorhandene gesellschaftliche Strömung nehmen, sondern eher als einen kontingenten Faktor, dem die Denaturierung der politischen Kultur verhalf, vorübergehend am Tisch der Entscheidungsträger Platz zu nehmen. Auch als Verkörperung von symbolischem Kapital war er im Grunde eine Luftnummer, denn der Royalismus ist in der Welt der deutschen Politik selbst in den 1930er Jahren nie über den Status einer Phantasmagorie hinausgelangt.
Die tiefere Ursache dafür findet sich in den besonderen Umständen, unter denen die Monarchie im November 1918 einstürzte, und in dem Beitrag, den die fürstlichen Herrscherhäuser selbst zu ihrer Entthronung leisteten. Dem Haus Hohenzollern, der ersten unter diesen Dynastien, und nicht zum wenigsten unserem Titelhelden fiel hier die wohl fatalste Rolle zu. Den damals 32-jährigen Thronerben hatte sein Vater, der Oberste Kriegsherr, gleich zu Beginn des Weltkrieges aus Prestigegründen in die Rolle eines Armee- beziehungsweise Heeresgruppenführers gehievt. Eine Aufgabe, die Wilhelm junior in jeder Hinsicht überforderte. Militärische Fehlentscheidungen, amouröse Eskapaden und politischer Übermut hatten sein öffentliches Ansehen so ramponiert, dass er es Ende November 1918 vorzog, seinen Posten zu verlassen und dem Vater ins holländische Exil zu folgen – freiwillig übrigens und entgegen dem eindringlichen Rat führender Militärs. Die königliche Regierung der Niederlande internierte ihn auf der kleinen Insel Wieringen, wo er am 2. Dezember eine Verzichturkunde unterzeichnete.
Damit war für ihn das Spiel aus, sein Berufs- und Lebensziel begraben. Doch rechnete er tatsächlich nur noch damit, dereinst als Privatmann ohne Ambitionen in die Heimat zurückkehren zu können? Zwei Schlüsseldokumente aus dem Januar 1919 geben auf den nächsten Seiten Auskunft darüber, wie er jenen Kaisersturz perzipiert hat, der ihn so tief mit in den Abgrund riss. Damit stellt sich unser Protagonist den Leserinnen und Lesern gleich einmal in seiner typischen Wesensart vor.
Während das Original der Abdankungsurkunde des letzten deutschen Kaisers als verschollen gilt, hat sich die authentische Verzichtserklärung des Kronprinzen im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes erhalten.
Visitenkarte: Zwei Egodokumente eines Entthronten
Friedrich Wilhelm an Wilhelm II. aus Wieringen vom 9. Januar 1919:1
Lieber Papa! – Einen sehr herzlichen Gruß möchte ich Dir senden. Hoffentlich geht es Dir gesundheitlich gut. Es muss für Dich noch schlimmer wie für mich hier sein. Meine Liebe und Treue zu Dir hat keine Einbuße erlitten. – Ich glaube, dass Du jetzt auch eingesehen hast, dass Max von Baden2 ein Schwein war, wie ich es stets sagte und dass Hindenburg3 in schamloser Weise Dich verraten hat. Ich habe ihn stets für einen Hanswurst gehalten; dass er aber ein ganz gemeiner Kerl ist, musste er noch beweisen, und das hat er prompt getan; über Gröner4 kann man überhaupt nicht sprechen. Ich hoffe nur noch zu erleben, dass alle diese Leute hängen. Das arme deutsche Vaterland, es ist zum wahnsinnig werden. – Mit den allerherzlichsten Grüßen – in alter Treue – Dein – Wilhelm
Friedrich Wilhelm an Wilhelm II. aus Wieringen, ohne Datum (um den 22. Januar 1919):5
Lieber Papa! – Für Deine mir von Müldner überbrachten Zeilen6 herzlichen Dank. Zu meinem Leidwesen ersehe ich aus ihnen, dass Deine und Mamas7 Gesundheit noch immer zu wünschen übrig lässt. Oft weilen meine Gedanken bei Euch, und ich hoffe von Herzen, dass Euch bald völlige Besserung und damit wenigstens etwas freundlichere Zeiten beschieden sein möchten. In dem längeren Gespräch, dass Du mit meinem Adjudanten [sic! – LM] hattest, wurden wichtige persönliche und andere Fragen berührt. Ihre unmittelbare Klärung in gegenseitiger Aussprache, die ich gerne herbei wünschte, wird mir vor der Hand versagt sein. Aber es kann mir nicht gleichgültig sein, wie mein Vater über mich denkt, umso weniger gerade jetzt, wo Gedanken den breiten Raum unseres Daseins einnehmen. In aller Offenheit und Ehrerbietung bitte ich Dich daher, auch mich anzuhören und nicht voreilig den Stab über Deinen Ältesten zu brechen, der das Beste gewollt und immer danach gestrebt hat, seinem Vater ein treuer loyaler Diener zu sein. – In der Frauenfrage wirst Du mir nie ganz folgen können. Mag sein, dass ich gefehlt habe.8 Aber die Wege der Herzen und Sinne lassen sich nicht immer so führen und richten, wie man selbst, wie die Welt und Allgemeinheit es wohl wünschte. Ein jeder hat seine Schwächen. Nicht jedem gelingt es, ihrer
Wilhelm von Preußen und sein Adjutant Louis Müldner von Mülnheim (1923). Als treuer Begleiter und politischer Kopf hat Müldner im Leben des ehemaligen Kronprinzen über Jahrzehnte hinweg eine tragende Rolle gespielt.
völlig Herr zu werden. Dass ich dies versucht, dass ich gekämpft habe, dessen kannst Du versichert sein. Und manche Ideale, nach denen ich mich in meiner Ehe immer sehnte, sind mir – bei aller Liebe und Wertschätzung für Cecilie9 – nicht beschieden gewesen. So darf ich wenigstens auf ein Begreifen hoffen. Derjenige indessen, der Dir in diesen Zeiten mit all den alten Geschichten das Herz noch schwerer gemacht hat, verdient fürwahr nicht mehr vor die Augen seines Königs zu treten, ohne vor Schamröte in den Boden sinken zu müssen.10 – In der inneren und äußeren Politik weißt Du, dass ich seit Jahren vielfach nicht die Ansichten Deiner verantwortlichen Ratgeber teilen konnte.11 Und leider hat der Verlauf der Ereignisse meinen Befürchtungen in zahlreichen Fällen recht gegeben. Diese abweichenden Ansichten waren nicht immer mein eigenes geistiges Eigentum. Du ahnst nicht, wie in den langen Jahren hunderte der besten Männer unseres Volkes aus allen Kreisen zu mir kamen mit banger Sorge für die Zukunft unseres Vaterlandes. Bei allen diesen Unterredungen und Verhandlungen habe ich stets loyal und treu gegen Dich gehandelt und bin stets bestrebt gewesen, nur Deinem Interesse zu dienen. – Du hast auch mit Müldner über meine Geldausgaben gesprochen. Gewiss hatte ich Passionen wie jeder junger Mensch, [15] und für Dinge, die mir Freude machten, habe ich Geld ausgegeben. Weder aber habe ich Geld verschwendet noch Schulden gemacht. Und wenn ich die letzten Jahren Deine Hilfe um Unterstützung anging, so geschah dies, weil meine Stellung als Oberbefehlshaber und Kronprinz während des Feldzuges größere Ausgaben bedingte, die andererseits aber wieder unserem Hause zu Gute kamen. [Diesen Satz hat Wilhelm II. mit Bleistift unterstrichen und mit einem Fragezeichen versehen. – LM] Und gerade bei diesem Gelde habe ich vielen Leuten Freude bereiten und meine Offiziere und Truppen beschenken können. Sicherlich ein gutes Anlagekapital! Schliesslich die Rennpferde. Die Rennen sind Zuchtprüfungen, und wenn der Kronprinz ein paar Pferde hat, so macht das vielen Leuten Freude [auch dieser Satz ist unterstrichen und am Rand mit einem Fragezeichen versehen], und regt sie auch an, dasselbe zu tun. Das kommt aber unserer Pferdezucht zu Gute. Gewiss, ich habe auch schlechte Jahre gehabt, aber im grossen ganzen haben die Pferde auch gute Gewinne erzielt, und da wir die Pferde selbst trainierten, war es lange nicht so teuer wie für die anderen. Im Übrigen ist es baarer Unsinn, wenn in dieser Hinsicht – und ich weiss, dass das von übelwollenden Leuten geschehen ist – von enormen Kosten gesprochen wurde. Denn im allgemeinen habe ich nie mehr wie 3 bis 4 Anteilpferde besessen. Dabei möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass gewisse Persönlichkeiten gerade darin etwas gesucht haben, durch wissentliche Übertreibungen und unlautere Machenschaften den Sohn dem Vater zu entfremden. […] – Endlich die militärische Seite. Seit langer Zeit habe ich den Zusammenbruch kommen sehen. [Randbemerkung Wilhelm II: „Mir hat er nie Etwas davon gesagt.“] Ludendorff gegenüber habe ich mehrmals meinen schweren Sorgen Ausdruck gegeben, ihn gewarnt und gesagt, es ginge so nicht weiter; er hat es mir nie geglaubt. Auch Dir gegenüber habe ich oft Andeutung in dieser Richtung gemacht. [Randbemerkung Wilhelm II.: „Nein!“] Entsinnst Du Dich noch des Tages in Spa, als gesagt hatte, die erste G[arde] D[ivision] sei nicht mehr kampffähig [Randbemerkung Wilhelm II.: „War ganz zuletzt“] und wie Du L[udendorff] das sagtest, sie dürfe nicht wieder eingesetzt werden, was er da antwortete? Und wie ich zurückkam, hat mir Schulenburg12 im Auftrag von Ludendorff eine Szene gemacht, weil ich Dir so etwas nicht sagen dürfte. – Zum Schluss noch über Hindenburg. Du schreibst, was ich über H. sagte, wäre Unsinn.13 Ich wünschte, es wäre so, aber leider ist es nicht. Bei der denkwürdigen Unterhaltung im Garten am 9. November14 haben doch Schulenburg und ich Dir geraten, die Sache durchzubiegen [Randbemerkung Wilhelm II.: „Schulenburg hat nachher selbst geraten nachzugeben.“], und als Du sagtest, Du wolltest an der Spitze Deiner Truppen heimkehren, da trat der rote Gröner vor und erklärte, die Truppen würden unter Deinem Befehl nicht zurückmarschieren. Man kann das nur als Schamlosigkeit bezeichnen. Und der Feldmarschall Hindenburg trat der Auffassung bei und erklärte Dir dann später, er [16] könnte für Deine Sicherheit nicht mehr garantieren. Eine Unwahrheit war das. Mein erprobtes Sturmbataillon Rohr15 hatte die Wache; ich habe selbst mit Unteroffizieren und Mannschaften gesprochen. Die hätten sich für Dich totschlagen lassen. [Randbemerkung Wilhelm II.: „Leider nein!“] Das Sturmregiment meiner 3. Armee traf denselben Abend in Spa ein mit ausgesuchten Offizieren, alle voller Stolz, Dich schützen zu dürfen; Du warst schon fort. Alles das weißt Du ja gar nicht. Im Übrigen waren 300 Offiziere der O[bersten] H[eeresleitung] in Spaa, die wohl auch einige Tage die Bewachung ihres Obersten Kriegsherrn hätten übernehmen können. Das alles wusste Hindenburg, hätte es wissen müssen, und doch erklärte er Dir, Du wärest nicht sicher. Dieser Mann ist keine Säule, und ihre Hohlheit wird bald im Volke erkannt werden. Wie wenig im Bilde der Feldmarschall über die ganze Kriegsführung im Westen war, davon kannst Du Dir ja gar keine Begriffe machen, das muss man selbst staunend miterlebt haben. Bei den eigenen Herren seines Stabes wurde er schon lange nicht mehr als auf der Höhe befindlich angesehen und bei vielen schon nicht mehr als voll genommen. Jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, dass die O. H. L., und ihr verantwortlicher erster Repräsentant war doch der Generalfeldmarschall, nicht nur nicht unsere heimatlichen Kräfte, unsere heimatlichen Verhältnisse, unsere heimatliche Auszehrung falsch eingeschätzt hat, sondern dass sie auch über unsere Lage an der Front, unsre Reserven und ihre Ersatzmöglichkeiten, über die Stärke unserer Gegner, die gesamte große Konstellation in der politischen Welt und last not least die immer bedrohlicheren Anzeichen der Auflösung und des Umsturzes in geradezu frevelhafter Weise hinweg gegangen ist, ohne dem obersten Kriegs- und Landesherrn klaren und reinen Wein über alle diese vitalen Fragen einzuschenken. Ich kann daher auch dem nicht zustimmen, dass alle Schuld auf Ludendorff geworfen wird; denn wer war schließlich der Chef des Generalstabes? Ganz abgesehen davon hat eben der weise und weit vorausschauende Staatsmann gefehlt, der die phantastischen Ziele der ehrgeizigen O. H. L. zu zügeln und auf das Maass des Erreichbaren herabzuschrauben wusste. – Über alle diese Dinge könnte man Bände schreiben. Die wenigen Worte, mit denen ich diese Vorgänge streifen konnte, sind aber eben die nackte Wahrheit, und die Geschichte wird sie einstmals im vollem Umfange an den Tag bringen. – Für heute will ich daher schließen mit der Versicherung, dass ich Dir ebenso in guten wie in schlechten Zeiten immer treu ergeben bleiben werde. Gott segne und schütze Dich! – Dein – getreuer Sohn – Wilhelm16
Ich habe diese Ausführungen selbst mit der Maschine geschrieben, um Dir das Lesen zu erleichtern.
Ein ungleiches Paar in einer unglücklichen Ehe: Cecilie und Wilhelm von Preußen nach dessen Rückkehr aus dem holländischen Exil im Oktober 1923 im Park ihres Schlosses im schlesischen Oels.
Heraus aus dem ewigen Wartestand
Nach knapp fünf Exiljahren in Holland hatte der Exkronprinz im Oktober 1923 nach Deutschland zurückkehren dürfen. Dort tat er sich schwer damit, die ihm auferlegte Daseinsweise als „unpolitischer“ Privatmann zu konservieren. Das Dilemma, in dem der Kaisersohn vier Jahre nach seiner Rückkehr steckte, hat Sigurd von Ilsemann, der fleißige Chronist der Doorner Exiljahre Wilhelms II., in seinem Tagebuch offenbart. Als Wilhelm mit seiner Frau Cecilie Anfang Juli 1927 zu Besuch in Doorn ist, notiert Ilsemann:
„Entsetzt ist der Kronprinz darüber, ebenso wie seine Frau, dass der Kaiser dauernd von seiner Rückkehr nach Deutschland spricht und sich auf den Thron anscheinend mehr Hoffnung macht denn je. Der Kronprinz sprach es wieder direkt aus, dass sein Vater überhaupt keine Chance mehr habe.“ Das habe man ihm aber natürlich nicht auf den Kopf zusagen dürfen. Als nur eine Woche später der ehemals hohe kaiserliche Regierungsbeamte und nunmehrige Politiker der Deutschen Volkspartei Kurt von Lersner nach Holland kam, hörte Ilsemann von diesem nun wiederum: Als Prätendent für die Krone käme Wilhelm junior „überhaupt nicht mehr in Frage, er habe sich durch sein Verhalten in Deutschland in den letzten Jahren seine Zukunft ganz verscherzt“.1 Das war die Krux: Während Wilhelm realistisch sah, dass die Zeit über alle Herrschaftsansprüche seines Vaters unwiederbringlich hinweggegangen war, wollte er partout nicht wahrhaben, dass auch für ihn selbst kaum mehr Aussicht bestand, eine politische Rolle zu spielen.
Es sei denn, er griffe selbst beherzt nach dem Mantel der Macht. Das wäre dann endlich ein Leben nach vorn geworden, raus aus dem erratischen Wartestand. Freilich auch ein Kraftakt mit großen Risiken. Denn eine geschichtliche Rolle zu spielen, das war nur möglich, wenn er bereit war, den Kampf aufzunehmen. Und das hieß: sich der Kritik der öffentlichen Meinung auszusetzen, womöglich mehr noch der des eigenen Vaters (sowie seiner Stiefmutter). Ein solches Leben zu beginnen, dafür gebrach es Wilhelm noch an persönlichem Mut und – das vor allem – an Entschlusskraft. Zumal eine Änderung seines Lebenswandels für ihn überhaupt nicht infrage kam, und die Chancen für eine Restauration der Monarchie in Deutschland nicht besonders [19] gut zu stehen schienen. Passivität schien da die vorteilhaftere Alternative.
Im Januar 1928 sollte es in Berlin zu einem folgenschweren Treffen kommen, nämlich einem vertraulichen Meinungsaustausch des Hohenzollernprinzen mit dem freikonservativen Historiker Hans Delbrück, der sich als politischer Publizist und Regierungsberater einen Namen gemacht hatte.2 Delbrück war 1922/23 engagiert für eine Rückkehr Wilhelms aus der Verbannung eingetreten und konnte sich daher wohlwollender Resonanz sicher sein. Seinen eigenen Aufzeichnung zufolge legte Delbrück dem Exkronprinzen nahe, sich doch demnächst zum Reichspräsidenten wählen zu lassen und dafür auf das Prinzip der Erbmonarchie zu verzichten. Letzterem Ansinnen gegenüber hielt Wilhelm sich wohlweislich bedeckt, ohne jedoch den Kandidaturplan direkt abzulehnen. Immerhin, so Delbrück, habe sein Adressat angedeutet, dass er „den gegebenen Boden [der Weimarer Reichsverfassung – LM] nicht verlassen werde“. Und den rührigen Professor sogar gefragt, „ob und in welcher Weise man die öffentliche Stimmung in dem Sinne unseres [sic! – LM] Planes vorbereiten könne“.3 Da man beiderseits die Zeit für noch nicht gekommen hielt – die siebenjährige Amtsperiode von Reichspräsident Hindenburg endete erst 1932 – blieb es bei einer unverbindlichen Besprechung. Doch eine Option stand jetzt im Raum, eine mit Langzeitfolgen.
Welche Spuren Delbrücks Anregung beim Adressaten hinterließ, konnte Kurt von Lersner schon kurz darauf erfahren, nachdem er mit Wilhelm „sehr ernst über diese Frage gesprochen“ hatte. Der Kronprinz hege tatsächlich die „Absicht, sich nach dem Tode von Hindenburg als Präsident aufstellen zu lassen“. Seine Frau Cecilie wiederum habe ergänzend vorgeschlagen, er „solle sich erst zum Führer eines Truppenteils machen und dann zum Regenten“. Jedenfalls hege auch sie „noch starke Hoffnung für ihren Mann als Monarch“. Der neue politische Kopf in der Berliner Generalverwaltung des ehemals Königlichen Hauses (dem früheren Hausministerium), Ulrich von Sell, machte ähnliche Beobachtungen: Der Kronprinz sehe sich als Deutschlands zukünftigen Monarchen, „ich weiß, dass er zu diesem Zwecke wiederholt mit verschiedenen Persönlichkeiten Zusammenkünfte hat“, und „dass die Kronprinzessin ihren Mann in diesen Plänen unterstützt!“4 Delbrücks Impfung zeitigte Wirkung.
Im Frühjahr 1928 stand dann erst einmal eine ausgiebige Vergnügungsreise nach Italien auf Wilhelms Agenda. Sie diente allerdings nicht ausschließlich dem Amüsement, sondern auch dem Studium der faschistischen Diktatur, die dort seit fast sechs Jahren herrschte.5 Es sollte nicht allein beim Studieren bleiben. Schon Anfang März gelangten Meldungen in die deutsche Presse, wonach der in einer Villa bei Neapel wohnende „Exkronprinz Vertreter der Presse empfangen und bei dieser Gelegenheit Mussolini als ‚das [20] größte Genie Europas‘ bezeichnet habe“. Er sehe „im heutigen Italien das Symbol von Ordnung und nationaler Disziplin“. Zum Schluss soll er die Pressevertreter sogar „mit dem Fascistengruß entlassen haben“.6 Dass Wilhelm seine Mussolini-Begeisterung mit zahlreichen anderen Prominenten seiner Zeit teilte7, ist das eine, seine öffentliche Anpreisung des faschistischen Herrschaftsmodells etwas anderes. Identifizierte er sich damit doch mit Praktiken, die nicht allein bei Demokraten und Menschenrechtlern als höchst anrüchig galten. Denn unter Mussolini war Italien zu einer Ein-Mann-Diktatur geworden, in der Willkür und Gewalt herrschten, in der Systemgegner konsequent ausgeschaltet, ja terrorisiert wurden, in der die Pressefreiheit stark eingeschränkt und in der Mussolini mit seinen Squadristen eine zu allem bereite, brutale Bürgerkriegsmiliz zu Gebote stand. Dass er die alten Eliten um den einflusslosen Monarchen Viktor Emanuel III. mehr oder weniger unbehelligt ließ, fiel dabei kaum ins Gewicht, hatten sie Mussolini doch die Macht gleichsam aufgedrängt und auch sonst an seinem Duce-Mythos in keiner Weise gekratzt. Das alles scheint dem deutschen Kaisersohn gefallen zu haben – wenn man voraussetzt, dass er wusste, wovon er sprach.
Seine Sympathien zu der italienischen Diktatur verstärkten sich noch einmal nach dem gut einstündigen Vieraugengespräch, das er Anfang Mai in Rom mit Mussolini führen durfte. „Meine Beziehungen zu faschistischen Kreisen“, schrieb er seinem Vater, habe diese Audienz ermöglicht. Er hätte ja schon „viele berühmte Staatsmänner kennengelernt, aber noch nie hätte einer auf ihn solchen Eindruck gemacht“. Alles, was Mussolini tue, sei „überlegt, durchdacht und wird dann mit rücksichtsloser Energie durchgeführt; Widerstand kennt er nicht“. Und überhaupt: Der Faschismus sei „eine fabelhafte Einrichtung“, er habe „Land und Leute durch den Willen eines Mannes vollkommen umgekrempelt“. Genauer: „Sozialismus, Kommunismus, Demokratie sind ausgerottet, und zwar mit Stumpf und Stiel; eine geniale Brutalität hat dies zuwege gebracht“.8 Solch einen brachialen Autoritarismus dürfte sich unser Mussolini-Fan auch für Deutschland gewünscht haben. Und allem Anschein nach wollte er es jetzt nicht mehr bei frommen Wünschen belassen. Mussolini hatte neue politische Lebensgeister in ihm geweckt: Faschismus auch in Deutschland? Warum eigentlich nicht.
Zunächst musste er freilich mit dem wenigen vorliebnehmen, was im Deutschen Reich zumindest eine Aussicht auf eine Rechtsregierung eröffnen konnte, und das waren die Organisationen und Führer des reichlich gespreizten Lagers der sogenannten nationalen Opposition.9 Dazu zählte Hitlers NSDAP, die bei den letzten Reichstagswahlen Ende Mai 1928 mit gerade einmal 2,6 Prozent der Wählerstimmen und zwölf Abgeordneten ins deutsche Parlament einzog. Unter ihnen Hermann Göring, der als ausgezeichneter Fliegeroffizier im Ersten Weltkrieg mit dem Kronprinzen als seinem vorgesetzten [21] Armeeführer in nähere Berührung gekommen war. Diesen Kontakt wollte Wilhelm wieder aufleben lassen mit einem „langen, lustigen Brief“, der Göring zu seiner Wahl beglückwünschte.10 Aber auch bei der Führung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), die bei den Wahlen fast ein Drittel ihrer Stimmen eingebüßt hatte, wurde er vorstellig, um ihr „gründlich die Wahrheit“ zu sagen, wie Ilsemann zu berichten weiß.11 Offenbar war ihm der zuletzt ziemlich systemkonforme Kurs der Rechtskonservativen säuerlich aufgestoßen. Gut möglich, dass er mit dieser Kritik die nun bald einsetzende Radikalisierung der Parteipolitik mit angestoßen hat. Schließlich suchte er auch wieder das Bad in der Menge – und zwar bei dem rechtsnationalen Agitationsverband Stahlhelm, wo bereits seine Brüder Oskar, Eitel Friedrich und August Wilhelm seit einem Jahr demonstrativ mitmarschierten.12 So ließ er sein Erscheinen am 1. Juli auf einer Kundgebung des Stahlhelms in Oppeln bejubeln. Der Bundesvorsitzende Franz Seldte verlieh dort einmal mehr seinen antidemokratischen Ressentiments Ausdruck und die Vossische Zeitung sah bereits Gefahr in Verzug. Der Exkronprinz könne nicht früh genug vor solchen „Stahlhelmspielereien gewarnt werden“, hieß es dort. Schließlich gebe es doch „andere Spiele, die ihm freistehen und auch weniger gefährlich für ihn sind. Zum Beispiel Golf in Wannsee.“13
Dieser Kommentar reflektierte auf den hinlänglich bekannten Hedonismus unseres Hohenzollern und gab zugleich einer gewissen Sorge Ausdruck, dass der Bonvivant in dubioses Fahrwasser geraten könnte. Tatsächlich folgte Wilhelm erst einmal wieder seinen Neigungen, indem er sich den gesamten Sommer über in Österreich und Bayern verlustierte. Auch für den Rest des Jahres 1928 ist weiter nichts überliefert, was auf ein anhaltendes politisches Interesse schließen ließe. Erst das neue Jahr machte deutlich, dass die Inspirationen vom Frühjahr mehr als nur ein Strohfeuer entfacht hatten. Das hing freilich auch mit einer Veränderung der Lage im politischen Berlin zusammen.
Wie hoffnungsvoll diese im Hause Preußen wahrgenommen wurde, verdeutlicht ein internes Schreiben von Louis Müldner, der rechten Hand des Prinzen. Er bezieht sich dabei auf seinen Besuch bei Kronprinz Rupprecht von Bayern in München am 10. April 1929, dem er – wohl im Auftrag seines Hohen Herrn – erklärte, dass „die Zeit in den letzten Monaten für uns, d. h. für den monarchischen Gedanken gearbeitet“ hätte. „Der Bankrott des parlamentarischen Systems und die Unmöglichkeit, eine bürgerliche Regierung zu bilden“, würde „selbst bei den Gegnern der Monarchie die Überzeugung“ nähren, „dass wir in Deutschland auf diesem Wege nicht vorwärts kämen“. Es seien „Bestrebungen im Gange“, mit ausdrücklicher Billigung von Hindenburg demnächst ein parteiunabhängiges „Fachkabinett zu bilden und eine Persönlichkeit aus dem Rechtslager mit der Bildung zu beauftragen“.14 Wie [22] wir aus anderen Quellen wissen, war Müldners Mutmaßung nicht bloß frommer Wunsch. Denn schon Mitte März 1929 hatte es tatsächlich eine vertrauliche Unterredung des Reichspräsidenten mit dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der DNVP, Kuno Graf von Westarp, gegeben, bei der Hindenburg ankündigt hatte, demnächst ohne und sogar gegen die SPD regieren zu wollen, gegebenenfalls auch mit Reichstagsauflösung und Notverordnungen.15
Diese Botschaft reaktivierte sogleich Wilhelms politischen Geltungsdrang. Er suchte nun direkten Zugang zu den Kreisen, von denen er sich die Forcierung des Kurswechsels versprach.16 Dazu zählte auch sein früherer Stabschef im Ersten Weltkrieg und enger Berater, der inzwischen 64-jährige Friedrich Graf von der Schulenburg, der die „geschlossene Rechtsopposition“, die der neue DNVP-Vorsitzende Hugenberg jetzt geschaffen habe, als einen Erfolg bewertete. Politisch sei sie aber „nicht entscheidend“. – „Die Frage ist so zu stellen, ob diese Opposition einmal in die alleinige Macht kommen wird. Das verneine ich.“ Mit Blick auf die Chancen einer monarchischen Restauration meinte Schulenburg, „dass nicht die rechtsradikalen Kreise den Thron wieder aufrichten werden, sondern die Masse des Volks muss es sein, die sich wieder zur Monarchie bekennt und einen auf den Schild hebt“. Und noch etwas war Schulenburg wichtig: „Viele gerade auf unserer Seite sehen den einzigen Ausweg aus allen inneren und äußeren Zerfahrenheiten in der Diktatur. Einverstanden, aber die Diktatur ist nicht das Allheilmittel, sondern der Diktator, d. h. der Mann mit den dazu nötigen titanischen Fähigkeiten. Diesen besitzen wir nicht“. Dem Kronprinzen ließ er dann noch seine „Anhänglichkeit an seine Person“ versichern.17
So rechtsbürgerlich-konservativ sich Schulenburg hier gab, in Wahrheit war der Mann bereits auf dem Weg zur Radikalisierung. Das zeigt seine Teilnahme am ersten deutschlandweit wahrgenommenen Parteitag der NSDAP Anfang August 1929 in Nürnberg. Auch die zweite Frau des deutschen Exkaisers Hermine hatte sich dort eingefunden, um mit Adolf Hitler, dem Shootingstar der Nationalsozialisten, in Kontakt zu treten. Wilhelms Bruder August Wilhelm, genannt Auwi, war dort ebenfalls mit von der Partie und schwärmte von dem überwältigenden massenpolitischen Aufbruch, den er dort wahrnahm. Doch Auwi musste sich auch manches absprechende Urteil über seinen ältesten Bruder anhören: „Es ist schwer da etwas zur Verteidigung zu sagen, wo man absolut mit den Leuten auf der gleichen Seite fühlt und alle Versuche angestellt hat – vergeblich – ihn aus dieser Luxussphäre des Nichtstuns in jüdischer Umgebung zu lösen.“18
Hier war jetzt wirklich Remedur angesagt. Doch wie sollte das Image gedreht werden? Die Antwort lautet: durch das Medium Politik. Noch im November 1929 wandte sich Wilhelm direkt an Schulenburg mit der Bitte, ihm die Lage zu erklären. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Und sie [23] hatte es in sich, beginnend mit einer pauschalen Verdammung des Systems von Weimar: „Sozialismus und Demokratie haben sich festgefahren und das deutsche Volk – seine arbeitende, werktätige Bevölkerung – ruiniert.“ Dazu komme „eine Korruption in der öffentlichen Hand“. Das Staatsbudget würde „belastet durch ein Beamtentum, das weniger und schlechter arbeitet als früher, dafür sich aber in seiner Zahl verdoppelt und verdreifacht hat, und ganz ungerechtfertigt hohe Gehälter bezieht. Heute haben wir tatsächlich eine Rätediktatur. Die parlamentarischen Minister kommen und gehen, sie sind völlig in der Hand ihrer Beamten, und diese herrschen unumschränkt.“ Dann wird Schulenburg grundsätzlich, indem er erst einmal allen traditionellen Parteien „das staatsmännische Denken“ abspricht, weil sie nur „ihren eigenen Brei kochen“. Kein Wunder also, sagt Schulenburg, „dass alles nach dem Diktator ruft“. Ihm sei es recht, wenn er „aus der Masse der Arbeiter ersteht. Er muss doch mit einem eisernen Besen auskehren und das Steuer nach rechts werfen. Das Volk ist heute schon so weit, sich von ihm führen zu lassen, es wird ihm folgen, auch wenn der Schlussstein seines Werkes die Monarchie sein würde.“ Hinsichtlich eines Kandidaten für eine solche Staatsspitze äußert sich Schulenburg eher kryptisch, wenn er sagt, man könne hier nicht weitermachen, „wo wir vor 11 Jahren aufgehört haben“. Notwendig sei vielmehr ein „‚Prätendent‘, der von allen beachtet und von einer überwältigenden Mehrheit geachtet wird“. Wenn in den bürgerlichen Parteien der monarchische Gedanke wieder zu neuem Leben erweckt werden solle, müsse eine Person da sein, die vor allem anderen durch „Leistung, Persönlichkeit und Würde“ besticht.19
Wir wissen nicht, wie der Adressat dieses etwas orakelhafte Statement gedeutet hat. Aber wir dürfen davon ausgehen, dass er in vieler Hinsicht mit dem alten Schulenburg übereinstimmte. Namentlich was die Notwendigkeit anlangte, mit eisernem Besen auszukehren und das Steuer nach rechts zu werfen. Da traf es sich gut, dass sich einflussreiche Männer um Hindenburg mit ähnlicher Intention tatsächlich an diesem Steuer zu schaffen machten. Namentlich Kurt von Schleicher, ein alter Bekannter des Exkronprinzen, der im Reichswehrministerium inzwischen eine einflussreiche Stellung erlangt hatte. Schleicher ließ bereits Weihnachten in einschlägigen Politikerkreisen informell verlautbaren: Die Zeit der Koalitionskabinette sei vorbei. „Not tut sobald als möglich ein Präsidialkabinett, vom Reichspräsidenten in alleinige Verantwortung gestellt“.20
Das war das Startsignal für eine Neuausrichtung der deutschen Reichspolitik. Es ging um die „Entparlamentarisierung“ des Regierungshandelns und um die Stärkung der Machtposition des Reichspräsidenten. Die Ordnung von 1918 sollte revidiert werden. Weitere Symptome der Trendwende zeigten sich auch in einer Mauserung der Deutschnationalen Partei, die bis dato ein Sammelbecken konservativer Kräfte mit leicht anachronistischen Tendenzen [24] gewesen war. Jetzt wandelte sie sich zu einer rechtsradikalen Organisation, die den Schulterschluss mit anderen Vertretern der Rechten suchte. Ganz offen forderte ihre neue Führung die Überwindung des Parlamentarismus und die Errichtung einer nationalistischen Diktatur. Wie sich denn auch die Stahlhelmführung um ein politisches Profil bemühte, das genau hieran anschloss.21
Es passt ins Bild, dass mit Auwi Ende 1929 der erste Hohenzoller seinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP stellte.
Im ehemaligen Herrscherhaus kommt jetzt zum ersten Mal nach 1918 wieder so etwas wie Freude an einer Zukunft auf. Und aus dem vormaligen Thronerben wird eine öffentliche Person, die sich in der für sie neuen Welt der Berliner Politik etablieren will. Diese Selbstmobilisierung wirkt wie eine Medikation gegen den Schwund von Lebenssinn und -perspektive und gegen das Gefühl von Ohnmacht in Zeiten gefühlter Stagnation. Im Austausch mit echten Politikern beginnt Wilhelm, eine neue Idee von sich selbst und seinem Leben zu entwickeln. Bis dato war er nur prominent qua ererbtem royalen Prestige gewesen, viel zu tief eingebunden in seine überkommene Rolle. Das ändert sich jetzt, weil ihm das Medium Politik einen neuen Raum erschließt, um sich selbst zu erfinden, weil es eine Erweiterung des Horizonts verspricht und mit Abenteuern winkt. Eine politische Selbstverleugnung ist das freilich nicht. Die Hauptparameter für seine Mitgestaltung einer anderen, neuen Politik heißen: Reaktion und Restauration – doch in einem ganz anderen Setting als vor der Novemberrevolution von 1918 und zumindest gedanklich befreit von den unzeitgemäß gewordenen Dogmen des Legitimismus.
Über welche Machtressourcen verfügte dieser Hohenzollernprinz, als er die politische Theaterbühne betrat? Da waren seine Bekanntheit als Repräsentant des ehemaligen Herrscherhauses, die Strahlkraft eines großen Namens, die zwar nicht mehr besonders stark, aber immer noch vorhanden war, und der Nimbus eines alerten Thronanwärters. Aber das war’s dann auch schon. Womit er nicht punkten konnte, das war maximale Vorbildlichkeit. Sonderlich beliebt im Volk war er ebenfalls nicht. Man wusste, dass seine Ambitionen nicht im Intellektuellen, geschweige denn im Moralischen oder Religiösen wurzelten. Auch in der Politik scheint er vorzugsweise seinem Beuteschema gefolgt zu sein: Er schloss sich demjenigen an, von dem er sich die größtmögliche Konnivenz – und die Erfüllung seines mehr oder weniger versteckten Herzenswunsches versprach: die Betrauung mit einer Führungsaufgabe. Die innere Souveränität, um selbst große Politik zu machen, lässt sich ebenso wenig erkennen wie ein ausgeprägter Wille zu herrschen. Es gab bei ihm einen chronischen Mangel an Machtfähigkeit. Doch Politikunfähigkeit kann man das nicht nennen.
1930: Das Jahr der Politisierung
Als der Vorsitzende der Zentrumsfraktion Heinrich Brüning zum deutschen Reichskanzler ernannt wird, tritt Ende März 1930 die erste Präsidialregierung auf den Plan, halbherzig geduldet durch die Sozialdemokratie. Wie diese sogenannte Hindenburg-Regierung ohne Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag eingefädelt wurde, das trägt bereits deutlich die Handschrift Kurt von Schleichers – eines Strippenziehers, über dessen politisches Profil wir noch gesondert Auskunft geben werden. Die Auflösung des vierten deutschen Reichstags und die vorgezogenen Reichstagswahlen im September 1930 markieren dann bereits einen deutlichen Einschnitt in der Weimarer Politikgeschichte, denn sie hatten im inneren Machtgefüge der Republik eine eklatante Verschiebung nach rechts zur Folge. Plötzlich trat der Nationalsozialismus auf die Bühne, ein Phänomen von unberechenbarer Kraft – vor allem durch die charismatische Persönlichkeit ihres fanatischen Anführers: Adolf Hitler. Am Jahresende ist die Weimarer Demokratie schließlich von autoritären Machtinteressen geradezu umstellt. Bestrebungen, die auf eine Aushöhlung der demokratischen Verfassung zielen, erfahren immer mehr öffentliche Unterstützung. Das faschistische Diktaturregime Mussolinis wird dabei zur Blaupause der rechtskonservativen Republikfeinde. Die Epigonen der wilhelminischen Eliten setzen eher auf ein Monarchiemodell zur Überwindung der nun immer offensichtlicher werdenden Staatskrise. Ihnen wird bald auch Brüning sich zuneigen.
Die definitive Entscheidungsinstanz, der Drehzapfen des ganzen Herrschaftssystems, bleibt freilich Hindenburg.22 Und diese Rolle wollte er sich von niemandem streitig machen lassen. Ebenso wenig wie seinen Anspruch, das gleichsam „gesalbte“ Oberhaupt des Deutschen Reiches zu sein: ein Souverän, dem sich alle unterzuordnen hätten. Skrupellos und illoyal hat er diesen Nimbus, diese Aura, diese Machtversessenheit verteidigt gegen alles, was da kam. So zählt er auch bei aller formeller Ehrerbietung gegenüber der Hohenzollerndynastie innerlich und politisch-real zu den entschiedenen Gegnern einer Restauration der Monarchie – sogar über seine eigene, inzwischen absehbare Lebenszeit hinaus. Im November 1918 hatte er selbst mit Hand angelegt, um Kaiser und Kronprinz durch Abschiebung nach Holland politisch ein für alle Mal loszuwerden. Darin blieb er fest. Und auch sonst ließ er sich in seiner Eigenwilligkeit durch niemanden übertreffen. Selbst seine „Kamarilla“ hatte hier oft das Nachsehen.
Ganz wesentlich für die Bewertung und Perzeption dieser Vorgänge durch unseren Protagonisten wird die Intensivierung seiner Verbindung zu Kurt von Schleicher – jetzt politischer General in den Kulissen der Macht. Schleicher zieht ihn auf die Bühne der großen Politik, wo er zunächst nur eine Nebenrolle erhält. Doch dieses Engagement eröffnet ihm Zugänge zu den maßgeblichen [26] Entscheidungsträgern. Komplementär dazu scheint es ihm geboten, seine Fühler auch nach den Nazis auszustrecken, die jetzt in aller Munde sind. Er tritt eine Sondierungs- und Entdeckungsreise an, deren Erkenntnisgewinn nicht ohne Weiteres zu bestimmen ist. Auf der Suche nach einem neuen Spitzenplatz im sich verschiebenden Machtgefüge des Deutschen Reiches erwächst ihm in Gestalt seines Bruders Auwi zeitgleich ein lästiger Konkurrent – und ein gefährlicher dazu. Denn kaum, dass Auwi sein Schicksal bedingungslos dem Willen der Naziführung um Goering, Goebbels und Hitler überantwortet hat, wird dieser braune Prinz zur „Petze“, die keine Skrupel mehr hat, die politischen Interna ihrer Dynastie den neuen Freunden frei Haus zu liefern.
So lesen wir in Goebbels’ Tagebuch am 23. Januar 1930 den Eintrag: „Abends bei Göring. August Wilhelm erzählt: die Tragödie eines großen Hauses. Erschütternd! So sah es also vor dem Kriege und von 14 bis 18 in Deutschland schon aus! Da musste der Zusammenbruch kommen. August Wilhelm hat wenigstens daraus gelernt, was man von seinen Verwandten nicht gerade behaupten kann.“23 Doch die scheinen zunächst ahnungslos geblieben zu sein. Jedenfalls hat Bruder Wilhelm bei seiner Tischrede zum 71. Geburtstag seines Vaters am 27. Januar 1930 in Doorn ausdrücklich Auwis „Aufklärungsarbeit“ gelobt.24 Doch schon einige Tage später, als der mit Lob Bedachte den eigenen Geburtstag in seiner Potsdamer Villa Liegnitz mit seinen neuen nationalsozialistischen Freunden nachfeierte, blieb dem großen Bruder die Teilnahme verwehrt. „Das geht nicht“, soll Auwi ihm wörtlich gesagt haben, „es würde eine ganze Reihe der Eingeladenen, wenn Du kommst, sofort die Villa verlassen“.25 Immerhin durfte Auwis Schwägerin Kronprinzessin Cecilie die Honneurs machen an diesem sicher makaberen Feier-Abend im Ambiente des Parks von Sanssouci. Auch Graf Schulenburg hatte inzwischen Gefallen an der NSDAP gefunden. „Ich sehe“, so schrieb er am 23. Februar 1930 an seinen Schwager von Arnim-Boitzenburg, „in der nationalsozialistischen Bewegung zur Zeit den einzig möglichen Weg zur Monarchie.“ Man bräuchte dafür aber einen geeigneten Prätendenten. „Der Kaiser kann es nicht sein. Der Kronprinz hat viele guten Seiten, die ihn zum Monarchen befähigen; aber der Lebenswandel wird, fürchte ich, ein Stein des Anstoßes sein, der nicht zu beseitigen ist.“26
Auf merklich weniger Skepsis stieß der vormalige Kronprinz hingegen in den Kreisen des Berliner politischen Establishments, die Schleicher ihm erschloss. So notierte der Staatssekretär in der Reichskanzlei Hermann Pünder nach einem Diner geradezu beglückt: Er habe sich „völlig offen fast drei Stunden mit dem hohen Herrn unterhalten“.27 Berührungsängste vor ausgesprochenen Prototypen der demokratischen Weimarer Regierungskultur wie Pünder hatte der vormalige Thronfolger offenbar keine. Auch auf die Pflege [27] seiner privatgesellschaftlichen Beziehungen zum jüdischen Besitz- und Bildungsbürgertum bleibt er bedacht. So macht er sich im Frühjahr 1930 mit seiner damaligen Geliebten Hilde Ullstein erneut nach Italien auf. Die ersten Stationen sind Taormina und Neapel, wo er im Grand Hotel Vesuvio residiert. In seiner Reisebegleitung befand sich auch der ihm seit Langem verbundene und für ihn schreibende österreichische Schriftsteller Karl Rosner, ein Jude, der damals die Berliner Dependance des Cotta-Verlages leitete. Durch Rosner kam es zu einer Einladung des jüdischen Schriftstellers Robert Neumann zu einem Diner, an dem auch dessen Freund Georg Reik teilnahm. Reik berichtet darüber später folgendes: „Bei Tisch bemühte sich der Prinz, uns seine objektive und liberale Gesinnung vor Augen zu führen, wobei er sich andrerseits seinen euphorischen Zynismus zu bemänteln keinen Zwang antat. Die liberale Haltung krönte er, indem er uns einige jüdische Witze erzählte, die im Zusammenhang mit seiner Majestät, dem Deutschen Kaiser standen.“ Dann sei das Gespräch allerdings „ernst“ geworden. Denn „Neumann gab ein kristallklares Bild der Weltlage mit einer vorsichtigen Kritik des Duce, den der Prinz bewunderte.“ Dieser „hörte ihm mit interessierter Miene zu. Unzweifelhaft machte Neumanns eminentes Wissen auf diesem Gebiet Eindruck auf ihn.“ Zum Abschied habe er Neumann seine Fotografie mit Unterschrift übereicht.28 Die Episode ist charakteristisch für die Mentalität unseres Probanden. Zunächst und vor allem sollte sein persönliches Wohlbefinden möglichst unbeeinträchtigt bleiben. Deshalb „politisierte“ er an Rückzugsorten seiner Wahl, und nicht dort, wo der Alltag der Politik zuhause war. Und er wählte seine Gesprächspartner nach Gusto. Auf diese Personenkreise blieb das jeweilige Image ausgerichtet, das er sich gab und das bisweilen eben auch weltoffen, ja bürgerlich-liberal daherkommen konnte.
Mit dem Diktator Mussolini, den er kurz darauf abermals in Rom in Privataudienz traf29, dürfte er ganz anders verkehrt haben. Auch die Impulse, die er dort empfing, sollten ganz andere Folgen zeitigen als das L’art pour l’art des Gedankenaustauschs in Neapel. Was wir gleich nach seiner Rückkehr in den Tagebucheintragungen seines Adjutanten und Ratgebers Müldners erkennen können.30 Dort ist den gesamten Mai über von zahlreichen Besprechungen seines Hohen Herrn in Schloss Cecilienhof die Rede: unter anderen mit Reichspräsident Hindenburg, dem Reichsminister Treviranus, dem Fraktionsvorsitzenden der DNVP, Ernst Oberfohren, dem wehrpolitischen Sprecher der NSDAP, Franz Ritter von Epp, und natürlich seinem Freund Schleicher, der gerade zu einem der wichtigsten Männer im politischen Berlin avanciert. Vor wenigen Wochen erst hatte Schleicher den Zentrumspolitiker Heinrich Brüning auf den Kanzlerstuhl lanciert und ihm seinen Vertrauten Erwin Planck als Chef der Reichskanzlei an die Seite gestellt. Damit war das Spitzenpersonal der Wilhelmstraße näher denn je an Schleichers unmittelbare Einflusssphäre herangerückt. Für den Exkronprinzen [28] scheint das wie eine Einladung gewirkt zu haben, nun auch politisch richtig mitzumischen.
Das bezeugt der Brief, den er am 16. Juni 1930 seinem „lieben Schleicher“ zukommen ließ: „Ich hatte gestern eine lange eingehende Besprechung mit meinem alten Chef Graf Schulenburg über die augenblickliche politische und wirtschaftliche Situation. Du weißt, dass ich auf das Urteil des Grafen viel Wert lege“. Schulenburg beurteile die Arbeit Brünings ungünstig. Wenn „die gutgesinnten Kreise“ an seiner Regierung „nicht vollkommen irre werden sollen, muss sehr bald und schnell von Seiten des Kabinetts verständige und positive Arbeit geleistet werden.“ – „Du weißt, dass ich nicht zu den Schwarzsehern und übernervösen Leuten gehöre, aber ich glaube tatsächlich in diesem Fall, dass es höchste Zeit für dieses Kabinett ist, an dem wir doch schließlich alle mitgearbeitet haben [sic! – LM] und auf das wir selbst große Hoffnungen setzten, rücksichtslose Maßnahmen zu ergreifen, um seinen sehr gesunkenen Kredit in den nationalen und gut bürgerlichen Kreisen wieder zu heben.“31
Reichlich präpotent für eine Privatperson ohne Amt und ohne Verantwortung, sollte man meinen, wenn man das liest. Doch darf man die Bereitschaft in gewissen Kreisen nicht unterschätzen, dem abgedankten Kronprinzen Gehör zu schenken. In aller Deutlichkeit zeigt sich hier, wie unterentwickelt die demokratische Kultur in einem Regierungssystem gewesen sein muss, das sich solche Interventionen nicht rigoros verbat. So konnte sich im Schutz der Gemäuer von Schloss Cecilienhof und unter dem Schirm seines Hausherrn 1930/31 tatsächlich eine Art von Nebenregierung formieren, die bereits Züge einer Kamarilla trug. Am 20. Juni 1930 brachte der Schlossherr dort Schulenburg und Schleicher zusammen, um sich von diesen beiden gewieften Politikern im Generalsrang beraten zu lassen und gemeinsam Pläne zu schmieden.32 Im Rückblick auf dieses Treffen hat sich Schulenburg zwei Tage später an Schleicher gewandt: Es sei ja „klug und weise“, schreibt Schulenburg, dass der Kronprinz jetzt „Anlehnung an die Wehrmacht sucht“. Doch halte er dessen Ansicht für ganz „irrig, dass die Armee und besonders ihr Führer [gemeint ist der Chef der Heeresleitung – LM]33 sich ihm monarchisch verpflichtet“ fühle. Die Wehrmacht sei auf die heutige Republik eingeschworen und ihr allein verpflichtet. Als neuer Oberbefehlshaber käme für ihn deshalb auch nur ein Mann vom Format eines Kurt von Hammerstein-Equord, dem damaligen Chef des Truppenamtes34, infrage, der unbeeinflussbar seinen Weg ginge. „Und der auch Potsdam gegenüber [gemeint ist Wilhelm von Preußen – LM] den Mut aufbringt, eine Beeinflussung abzulehnen“. Schulenburg glaube zwar an die Wiederkehr der Monarchie. Aber: „Auf dem Wege einer Revolution durch die Wehrmacht möchte ich sie nicht hergestellt sehen, denn die Schwierigkeit liegt nicht darin, sich mit Maschinengewehren auf den Thron zu setzen, sondern ohne die Gewalt der Waffen sich auf dem [29] Thron zu halten. Das Versagen der Republik arbeitet für den monarchischen Gedanken besser als alles andere. Umso vorsichtiger muss aber der Prätendent sein“. Schulenburg begrüßt ausdrücklich, dass der Kronprinz zu Schleicher „in einem engen Vertrauensverhältnis“ stehe, und es könne nur von großem Nutzen sein, wenn dieses Verhältnis Bestand behielte. Dabei müsse er Schleicher aber „unbedingt auf die Gefahr hinzuweisen, wenn die unerlässliche Diskretion gebrochen wird“. „Sie wissen ebenso wie ich, dass der Kronprinz sehr offenherzig ist, und auch bei [seinem Adjutanten – LM] Müldner hat man nicht die Gewähr absoluter Diskretion gegen Jedermann.“ Dem erzähle der Kronprinz ja leider alles. Schulenburg rät, jeden womöglich bestimmenden Einflussversuch Müldners konsequent auszuschalten.35
Die Arkana, die Schulenburg hier enthüllt, sind in mancherlei Hinsicht bemerkenswert. Zunächst geben sie uns eine Vorstellung der politischen Ambitionen, die Wilhelm damals umgetrieben haben, besser gesagt, der Flausen in seinem Kopf: In der irrigen Annahme, die Reichswehrführung sei durch und durch monarchistisch und den Hohenzollern treu ergeben, scheint er tatsächlich mit dem Gedanken geliebäugelt zu haben, die deutsche Monarchie durch eine Art Militärputsch restaurieren zu können. Deshalb blieb er so erpicht darauf, persönlich Einfluss auf Personalentscheidungen zu nehmen. Und das erklärt auch, warum er von der Reichsregierung so „rücksichtslose Maßnahmen“ – will sagen: eine wirksame Repression, ja Ausschaltung der Linken – verlangt wie in dem oben zitierten Brief an Schleicher. Aber es ist nicht die horrende Anmaßung solcher Herrscherallüren, der Schulenburg hier entgegentritt, ihn treibt vielmehr die Sorge um, dass Wilhelm kein Hehl aus seinen Begehrlichkeiten machen könnte, er mithin vor sich selbst zu schützen ist. Als Aufpasser sei Schleicher der richtige Mann. Dagegen spricht er Müldner die Qualitäten eines Korrektivs und Warners rundweg ab. Und noch etwas offenbart sich hier, nämlich die Unfähigkeit beziehungsweise der Unwille beider Vertrauensleute, dem abgedankten Thronfolger in direkter Konfrontation entgegenzutreten. Diese Nachsichtigkeit von Persönlichkeiten, denen es wahrlich nicht an Selbstbewusstsein, an Erfahrungswissen und persönlichem Mut mangelte, gegenüber einem Mann ohne Macht und geistige Größe ist mehr als erstaunlich. Aber auch aufschlussreich, offenbart sich doch die ungebrochene Bindungskraft einer tief verinnerlichten Dienstverpflichtung. Ein Verkehr auf Augenhöhe war damit ausgeschlossen. Diese unnatürliche, ja gestörte Kommunikationskultur im Umfeld unseres Protagonisten muss man stets mitdenken, wenn man ihn schwadronieren hört – so zügellos und so vermessen, ganz wie sein alter Vater in Doorn.
Sondierungen
Aber auch die Zeiten und Zustände scheinen sich jetzt mehr denn je auf seine Vorstellungen zuzubewegen: Ende Juli 1930 werden der Reichstag vorzeitig aufgelöst, eine neue Notverordnung in Kraft gesetzt und Neuwahlen für September ausgeschrieben. Jetzt ist das von der Rechten ersehnte Präsidialregime definitiv etabliert und damit womöglich ein erster Schritt zur Wiederherstellung obrigkeitsstaatlicher Verhältnisse getan. Auch Müldner, den Wilhelm gleichsam zum Chef seines privaten Geheimkabinetts gemacht hatte, wurde von Schleicher entgegen den Wünschen von Schulenburg weiterhin mit Samthandschuhen angefasst. Sonst hätte er sich wohl kaum herausgenommen, Schleicher mit einem Brief wie diesem zu kommen: Sein Hoher Herr sei soeben in die Sommerfrische nach Heiligendamm abgefahren und werde sich anschließend zur Gamsjagd nach Oberösterreich begeben. „Zwischendurch möchte der Kronprinz gern, wie wir gestern zusammen besprachen, einmal [Reichskanzler] Brüning sehen, und ich bitte Sie, das irgendwie zu ermöglichen.“ Hoffentlich sei „bei Brüning auch der gute Wille vorhanden, jedenfalls haben wir ihm Chancen genug gegeben, den Kronprinzen mal kennen zu lernen.“36 Nur innerfamiliär zeichneten sich deutliche Konfliktlinien ab – vor allem in Gestalt eines verschärften Zwistes zwischen Auwi und Wilhelm. Je mehr die Nazibegeisterung des jüngeren Bruders wächst, desto größer wird sein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den „Dummheiten“ des Kronprinzen, dem er vor allem einen „sinnlosen Verkehr mit den Großjuden“ vorwirft.37
Unterdes setzt der große Bruder seine Bemühungen um politische Geltung ehrgeizig fort. So etwa Anfang September bei einem wohlinszenierten Besuch in Wien, wo er im Grandhotel zu einer Pressekonferenz einlädt und staatsmännisch verkündet: Bei den vorgezogenen Wahlen in Deutschland müssten sich alle staatserhaltenden Kräfte zusammentun, um die notwendigen Wirtschaftsreformen zu ermöglichen. Insbesondere plädiert er für eine „Reform der Arbeitslosenfürsorge“. Diese habe „vielfach den Charakter einer Rente angenommen“ und sei Ursache dafür, „dass die Arbeiter nur durch verhältnismäßig hohe Löhne einen Anreiz bekommen könnten. Der Kronprinz empfahl als Hilfsmittel die Einführung des Arbeitsdienstjahres aufgrund einer allgemeinen Arbeitspflicht.“ Außerdem sei „der ganze Regierungs- und Verwaltungsapparat in Deutschland zu kostspielig“. Es gelte, seinem Land „wieder jenen Platz an der Sonne zurück zu erobern, der ihm aufgrund seiner stolzen Geschichte gebühre“.38 Diese Ausdeutung lag ganz auf der Linie Schulenburgs, wie wir oben gesehen haben. Und wohl auch von Alfred Hugenberg, dem neuen Scharfmacher an der Spitze der DNVP, den Wilhelm noch kurz vor seiner Reise nach Österreich in Berlin konsultiert hatte.39
Karikatur aus dem sozialdemokratischen Vorwärts vom 5.9.1930. Nicht zuletzt aus solchen überzeichneten Bildern ist zu ersehen, dass der frühere Thronfolger jetzt wieder öffentlich wahrgenommen wurde.
Er wurde jetzt wieder öffentlich wahrgenommen. Dazu trugen auch Schlagzeilen wie die der Vossischen Zeitung eine Woche vor den Reichstagswahlen bei: „Der frühere Kronprinz geht nicht zu Hitler“. Zugrunde lag „eine von der Strasserschen Richtung der Nationalsozialisten verbreitete Mitteilung von dem bevorstehenden Eintritt des früheren Kronprinzen in die Hitler-Organisation“, die Müldner im Auftrag seines Herrn umgehend zu dementieren hatte.40 Da in personalpolitischen Gerüchten wie diesem meist ein Gran Wahrheit steckt, kann man vermuten, dass Wilhelm auf der Rückreise von Wien Station in München gemacht hat, um Fühlung mit der Führung der Hitlerpartei aufzunehmen. Doch Genaueres ist nicht überliefert. Wohl aber wissen wir, dass er am 14. September den Wahlabend zusammen mit seinem Freund Schleicher in Berlin im Hause des Friedrich Wilhelm von Willisen verbachte, einem der engsten Berater von Reichskanzler Brüning.41 Der Gesprächsbedarf wird groß gewesen sein. Denn bei diesen Wahlen wird die NSDAP völlig überraschend zur zweitstärksten Fraktion im Parlament. Das nationalkonservative Lager erleidet einen massiven Bedeutungsverlust, das gesamte Machtgefüge der extremen Rechten verschiebt sich. Die Verlockung des Völkisch-Nationalistischen ist massenwirksamer als die Zugkraft des [32] Konservativ-Autoritären. So avancieren die Nazis zur Hauptkraft der rechten Fundamentalopposition gegen die Weimarer Republik und damit auch gegen den Status quo in der Berliner Wilhelmstraße.
Es sei denn, es gelänge, sie in die Brüning-Schleichersche Regierungsstrategie einzubinden. Für Schulenburg gibt es denn auch akuten Handlungsbedarf: „Für mich steht außer allem Zweifel“, schreibt er an Schleicher, „dass die national socialistische Bewegung eingefangen werden muss, was nur dadurch geschehen kann, dass sie in die Verantwortung eingespannt wird.“ Dabei dürfe jedoch „das Reichswehrministerium den Nazis unter keinen Umständen ausgeliefert werden“. Wilhelm Groener, der amtierende Reichswehrminister, müsse bleiben. Das sei unabdingbar, „mag das Kabinett aussehen, wie es will“. Jedenfalls müssten die Verhandlungen mit Hitler „äußerst geschickt und so geführt werden, dass der Wille zur Verständigung offenbar ist und dass das Odium in der Öffentlichkeit nur auf die Nazis fällt, wenn sich die Verständigung wegen überspannten Forderungen derselben zerschlägt“. Der Adressat sieht das genauso. Schleicher versichert Schulenburg, die vorgetragenen Gedanken würden sich „mit den meinigen völlig decken“, und er „glaube auch, dass es gelingen wird, die von Ihnen vorgeschlagene Linie zu gehen“.42
Zwei Wochen später sollte es tatsächlich zu einer ersten Unterredung zwischen Brüning und Hitler kommen – eine unverbindliche Sondierung, die zu weiter nichts führte, führen konnte.43 Denn noch zwei Tage zuvor hatte Hitler öffentlich erklärt: Ihm genüge der Wahlerfolg vom 14. September keineswegs. Sein Ziel sei „die Erreichung der restlosen politischen Macht in Deutschland auf legalem Wege“.44 Wenn man die verfahrene innenpolitische Lage auflösen und eine Staatskrise abwenden wollte, durfte es bei dieser unfriedlichen Koexistenz allerdings nichts bleiben. Dass eine rechte Sammlungspolitik ohne die Einbeziehung der Hitlerbewegung nicht mehr funktionieren konnte, das war allen Strippenziehern klar. Er sehe jetzt „die Möglichkeit zur Bildung einer großen Rechten, die die Mehrheit hat, und ich wünsche, dass sie zustande kommt“, hatte Schulenburg in dem eben zitierten Brief an Schleicher geschrieben. Dabei hatte er nicht zuletzt auch das außerparlamentarische Terrain im Blick. Diese Anregung gab nun wiederum Schleicher die Idee ein, auf eine Art Dyarchie, eine Doppelherrschaft, im rechten Segment des politischen Kräftefeldes loszusteuern. Auch die Naziführung wusste schließlich, dass ihre Massenbewegung aus eigener Kraft das „Novembersystem“ nicht aus den Angeln heben konnte, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Sie brauchte einen Koalitionspartner jenseits der Parteien, und zwar einen mit Massenanhang. Schleicher sah diesen Koalitionspartner im Stahlhelm, dem inzwischen etwas angestaubten paramilitärischen „Bund der Frontsoldaten“. Ihn galt es zu mobilisieren und auf Vordermann zu bringen. Und das sollte Schleichers kronprinzlicher Freund bewerkstelligen. Doch konnte der das überhaupt?
[33] Jedenfalls wird Wilhelm am 5. Oktober 1930 (wie vor ihm schon Hindenburg) Ehrenmitglied des Frontsoldatenbundes in den Landesverbänden Schlesien und Brandenburg.45 Dafür lässt er sich am gleichen Tag auf dem 11. Reichsfrontsoldatentag in Koblenz, wo nicht weniger als 120.000 Stahlhelmer aufmarschieren, gebührend feiern.
Zusammen mit dem früheren Reichswehrminister Seeckt, so lesen wir in der Tagespresse, applaudiert der Hohenzoller am symbolträchtigen Deutschen Eck dem Bundesführer Seldte, der in seiner Rede auch gleich die passenden Töne anschlägt: Die Entscheidung über Deutschlands Schicksal werde „nicht von Parteien und Parlamenten getroffen werden, sondern allein von den starken und gesunden Kräften, die sich außerhalb des parlamentarischen Wirkungsfeldes in stoßkräftiger Form gefunden und gebildet haben. Unter diesen Kräften soll und wird der Stahlhelm in erster Linie stehen.“ Bereits am Vorabend hatte der Bundesvorstand des Stahlhelms eine Entschließung verabschiedet, die sein Feindbild ganz offen fixierte: „Hinweg mit der unfruchtbaren marxistischen Diktatur in Preußen [gemeint war die dortige SPD-Regierung – LM], die das Erwachen und Gesunden des größten deutschen Bundesstaates verhindert. Der Reichspräsident als Reichsverweser [sic! – LM] soll in Zukunft auch das Amt des preußischen Staatspräsidenten innehaben.“46 Die Selbstinszenierung des Kronprinzen im Stahlhelm-Setting von Koblenz stellt insofern mehr dar als fishing for compliments eines alten Heerführers. Sie ist ein politisches Statement. Er macht sich zum Resonanzverstärker der sogenannten nationalen Opposition und steigt hinab in die Niederungen des Nahkampfs. Kein Wunder, dass dieser Auftritt von der demokratischen Presse als eine hochproblematische Kundgebung gewertet wird.47