Kaisersturz - Lothar Machtan - E-Book

Kaisersturz E-Book

Lothar Machtan

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Beschreibung

Schon bevor das Kaiserreich in den Wirren von Kapitulation und Umsturzbewegung zerbrach, krankte es an politischer Führungslosigkeit: Die Entscheidungsträger, die es im Herbst 1918 retten wollten, wurden am Ende zu seinen Totengräbern, weil es ihnen an Mut und Tatkraft fehlte. Mit stupender Quellenkenntnis und Einfühlungsvermögen in die Beweggründe der Hauptakteure zeichnet Lothar Machtan das Bild der deutschen Monarchie beim Tanz auf dem Vulkan. Dabei gerät vor allem das bizarre Zusammenspiel von Intrige und Politik im innersten Zirkel der Macht in den Blick: die Überlebensstrategie des deutschen Kaiserpaars, der politische Halbverrat des letzten kaiserlichen Kanzlers und der Vernunfts-Monarchismus von Ebert, dem Vorsitzenden der mächtigen SPD. Und die Politik der Straße übernahm bei diesem Countdown die Rolle des Brandbeschleuniger. So entsteht das spannende Szenario eines eigendynamischen ›Kaisersturzes‹, das den epochalen Umbruch von 1918 in neuem Licht erscheinen lässt: als Selbstentkrönung.

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Seitenzahl: 513

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Berliner Morgenpost: Extraausgabe vom 9. November 1918.

Lothar Machtan

KAISERSTURZ

Vom Scheitern im Herzen der Macht 1918

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg© 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Lektorat: Melanie Heusel, FreiburgSatz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. DonauUmschlagabbildung: Kaiser Wilhelm II. Gemälde von Ludwig Noster (1900).Foto: bpk BerlinUmschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt

Besuchen Sie uns im Internet:www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-3760-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-8062-3761-0eBook (epub): 978-3-8062-3762-7

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Impressum

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Letzter Akt, der Kaiser betritt die Bühne

1 Wer rettet das Kaiserreich?

Wilhelm II. – Der Autokrat

Prinz Max von Baden – Der letzte Kanzler des Kaisers

Fritz Ebert – Vernunftsmonarchist und Sozialistenführer

2 Das Ende naht

Die Hohenzollern klammern sich an die Macht

Ein Prinz im Haifischbecken der Politik

Eberts Beitrag zum Ende der Monarchie

Totengräber wider Willen

3 Die Revolution bricht los

Das Volk am Vorabend der Novemberrevolution

Das Wilhelminische Berlin unter der roten Fahne

4 Auf den Hauptschauplätzen des Machtwechsels

Im Großen Hauptquartier: Wilhelms letzte Tage in Spa

In der Wilhelmstraße 77

Werkstatt der Revolution? Im deutschen Reichstag

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Chronik zum Kaisersturz 1918

Abbildungsnachweis

Personenregister

Einleitung

Deutschland im Spätsommer 1918: Das Kaiserreich erlebt seine bislang schwerste Krise. Der Weltkrieg ist nach dem Scheitern der letzten deutschen Offensiven an der Westfront politisch sinnlos, die militärische Niederlage unabwendbar geworden. Man konnte sie nur mehr hinauszögern und günstigstenfalls eine Kapitulation abwenden. Die Demokratie hingegen ist unaufhaltsam auf dem Vormarsch, die Politisierung der unzufriedenen Volksmassen in vollem Gang. Offen bleibt, wie radikal, wie revolutionär sich diese Bewegung artikulieren wird. Der kaiserliche Machtstaat verfügt zwar noch über eine funktionierende Bürokratie, aber er besitzt schon lange keine politische Führung mehr. Mit einem regierenden Monarchen, der zum Schattenkaiser geworden ist, verliert der monarchische Gedanke an sich seine Aura.

In dieser Lage sind die politischen Akteure mit der Notwendigkeit konfrontiert, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Die überkommene Ordnung ist nur noch zu retten, wenn es gelingt, durch eine Art Volkskaisertum Vertrauen zurückzugewinnen. Dafür muss das Ansehen des Monarchen völlig erneuert oder der ›regierende Kaiser‹ durch einen geeigneteren Throninhaber ersetzt werden. Doch die Verantwortlichen scheitern daran, diese Krise besonnen zu bewältigen. Stattdessen geraten sie derart in Panik, dass sich bald Staatsführung und Herrscherdynastie wechselseitig bekämpfen und damit letztendlich ruinieren. Die unweigerliche Folge waren der gemeinsame Herr-schaftsverlust, der Einsturz der überkommenen Staatsordnung und – die deutsche Republik.

Erst knapp fünfzig Jahre zuvor hatte das Bismarckreich militärisch kraftstrotzend und politisch forsch die Weltbühne betreten und sich dort viele Jahrzehnte als Erfolgsstory verkauft. Im Sommer 1914 wähnte seine nun wilhelminische Führung sogar, es mit einer ganzen »Welt von Feinden« kriegerisch aufnehmen zu können. Jetzt aber musste der Kaiserstaat es sich gefallen lassen, von der Szene gejagt zu werden. Adieu Monarchie! Tragisch war an dieser Zeitenwende, dass es der deutschen Sozialdemokratie nicht gelang, aus jenem Prozess der Selbstbeschädigung ihrer notorischen Feinde als strahlender Sieger hervorzugehen, da die Partei bis November 1918 weder den festen Willen zur radikalen Überwindung des Kaiserreichs besaß noch das strategische Ziel einer demokratischen Republik verfolgte. Auch deshalb geriet Deutschlands Aufbruch in die Demokratie zur Sturzgeburt – mit nachhaltigen Folgen.

Diese reichlich verworrene Gemengelage gilt es, noch einmal Revue passieren zu lassen und zwar – anders als gemeinhin üblich – konsequent aus der Perspektive der damals politisch Maßgeblichen. Unser Blickfeld ist auf die Subjektivität dieser Entscheidungsträger gerichtet: Was trieb die Protagonisten an bei ihrem Handeln und – mehr noch – was lähmte sie? Wie haben sie die aufziehende Katastrophe wahrgenommen, empfunden, ihr entgegenzusteuern versucht? Warum überwarfen sie sich, statt zu kooperieren und wurden am Ende gar zu Antagonisten? Weshalb haben sie diesen internen Machtkampf so kurzsichtig und irrational geführt, dass er zur politischen Selbstvernichtung einer Herrscherdynastie führte? Und wer waren sie überhaupt, dass sie über so viel Einfluss verfügten?

Unsere Geschichte beginnt im August 1918, dem fünften Weltkriegssommer, als nach Überzeugung aller politischen Entscheidungsträger das deutsche Kaiserreich noch keineswegs verloren war. Noch gab es jede Menge Rettungspläne, ›Spindoktoren‹ und hektische Geschäftigkeit. Doch enden wird dieses Politdrama mit der fast friedlichen Machtübernahme durch die sogenannten Volksbeauftragten mit Friedrich Ebert an der Spitze, der seine wichtigste Aufgabe am 9./10. November darin sah, der ausgebrochenen Revolution ein vernünftiges Ziel, will sagen: enge Grenzen zu setzen. Eine solche Entwicklung lag zu Beginn unserer Erzählung außerhalb des Vorstellungsvermögens aller Beteiligten, und sie war auch keineswegs zwangsläufig angelegt im damaligen Weltgeist. Umso unbefangener lässt sich das Geschehen ergebnisoffen entlang der begründeten Vermutung erzählen, das deutsche Kaiserreich habe nicht ›naturnotwendig‹ so katastrophal untergehen müssen. Die historischen Akteure hatten es vielmehr in der Hand, die Dinge auch andersartig zu gestalten. Der Auszehrung und dem Verfall der Monarchie wäre immer noch entgegenzuwirken gewesen: durch sinnvolle Auseinandersetzung mit dem demokratischen Zeitalter, in dem sie unwiderruflich angekommen waren. So ›plastisch‹ wie im Betrachtungszeitraum dürfte die große deutsche Politik weder davor noch danach gewesen sein, verfügten jene an den Schalthebeln der Macht damals doch über ein operatives Potenzial von ungeahntem Ausmaß. Es war mithin vor allem anderen menschliches wie politisches Versagen, welches das deutsche Fiasko erzwungen hat, und diese Feststellung macht den Blick frei für die existenziellen Dramen, die integraler Bestandteil der Schlusskatastrophe waren.

Ja, Dramen: Die zentrale Aufgabe, die im Spätsommer 1918 im politischen Raum stand, war prinzipiell lösbar. Einem verantwortungsbewussten Krisenmanagement jedoch entgegenstand, dass es an der Spitze des Reiches schon lange keine auch nur halbwegs handlungsfähige und machtbewusste politische Führung mehr gab, nur mehr ein Ensemble von schwachen Persönlichkeiten mit großen Machtbefugnissen; von Menschen, die eine mehr oder weniger glänzende Vergangenheit hatten, aber plötzlich eine ungewisse Zukunft vor sich sahen und sich nun provoziert, ja kopflos fühlten. Damit jedoch besiegelten sie ihr Schicksal, schrieben ihr Wesen und ihre Befindlichkeit Geschichte. Die Rede ist von Leichtsinn und Dummheit, von Angst und Trotz, von Blindheit und Arroganz, von Feigheit und Versagen. Auch eine gehörige Portion Selbstzerfleischung war mit im Spiel. Es ist nicht gerade häufig, dass sich reale Politik wie die Handlung eines mitreißenden Romans entfaltet. Doch was im Herbst 1918 mit dem deutschen Kaiserreich geschah, seine rasante Selbstauflösung innerhalb weniger Wochen, kommt daher wie das fulminante Finale eines Stücks großer Literatur.

Die menschliche Seite der deutschen Zäsur von 1918 freizulegen, diese Aspekte der Politikgeschichte mit situativer Genauigkeit einzufangen, ist erklärtes Ziel dieses Buches. Dafür muss es seine Leser mit den maßgeblichen Akteuren ›persönlich‹ bekannt machen, in deren Porträts deutsche Politikgeschichte schärfer denn je hervortreten soll. Das Buch lädt ein zu einer Entdeckungsreise an die Schauplätze, wo sich vor hundert Jahren Dramatisches abgespielt hat. Es zeigt, wie und warum es zu diesem beispiellosen Untergang einer vermeintlich so unverwüstlichen Institution wie der Monarchie hat kommen können. Ohne eindringliche Blicke in die Hinterzimmer des Politikgeschehens und über die Schultern der Entscheidungsträger ist das nicht möglich. Wir müssen tief eindringen in die Welt derjenigen, die damals für sich in Anspruch nahmen, Staat und Volk zu führen oder doch führen zu können. Wir müssen ihre Mentalität kennenlernen, ihre Denk- und Sprechweise, ihre Anschauungen. Das Buch will die damalige Welt der Großen Politik, beziehungsweise die Lebenswelten ihrer führenden Repräsentanten noch einmal neu vermessen und zwar entlang von zuvor verschütteten Handlungsalternativen und Möglichkeiten – ohne blinde Flecke und tote Winkel auszusparen, die auf dem Weg in die Instinkt- und Besinnungslosigkeit entscheidend waren. Die historischen Akteure werden in das Spannungsfeld von Persönlichkeit und Politik zurückversetzt, um ihre inneren Konflikte in allen, oft hochemotionalen Dimensionen zu ermessen. Gleichwohl ist es die Pflicht eines redlichen Historikers, diese ebenso von außen zu interpretieren und in den weitreichenden Konsequenzen auszudeuten. Insofern sind die Protagonisten immer wieder auch aus kritischer Distanz zu betrachten.

Auf diese Weise ist es möglich, zum Kern einer deutschen Katastrophe vorzudringen, die sich noch auf weit mehr bezog als das politische Überleben der gekrönten Häupter. Es geht in diesem Buch um Deutschland, um einen epochalen Einschnitt in seine Geschichte, eine Weichenstellung für das ganze 20. Jahrhundert. Weil der unerwartete Einsturz des Kaiserreichs eine politisch-kulturelle Leerstelle hinterließ, die keine der diversen politischen Kräfte 1918/19 aufzufüllen vermochte, musste das Ende der monarchischen Welt erst einmal ein primär negatives Ereignis bleiben. Die Frage, warum es die Demokratie im 20. Jahrhundert gerade in Deutschland so schwer hatte beziehungsweise warum sie sich hier so schwertat, hängt ganz wesentlich damit zusammen.

Am 28. November 1918 unterzeichnet Wilhelm II. nach dreißig Jahren als oberster Repräsentant des Deutschen Kaiserreichs seine Abdankungsurkunde. Sie beinhaltet nicht allein den Verzicht der preußischen Dynastie auf jedweden Herrschaftsanspruch. Sie ist zugleich die Todesbescheinigung für die Monarchie in Deutschland.

Letzter Akt – der Kaiser betritt die Bühne

Zunächst die Äußerlichkeiten: Am Montag, dem 9. September 1918, war der Reichsmonarch und Oberste Kriegsherr mit großem militärischen Gefolge im Ruhrgebiet zu einer Werksbesichtigung beim deutschen Rüstungsgiganten Krupp eingetroffen.1 Am selben und am folgenden Tage hatte er sich bei stundenlangen Wanderungen durch die Arbeitsstätten Einblicke in diverse Produktionsabläufe verschafft. Auch suchte er mit vielen Arbeitern das persönliche Gespräch, ohne aber – wie einer seiner treuen Begleiter enttäuscht beobachtete – »eine wirkliche Resonanz zu finden«. Wie stets bei öffentlichen Auftritten hatte der Kaiser viel Sorgfalt auf sein Erscheinungsbild gelegt. In tadelloser Garderegiments-Uniform trat er in Essen mit den Rangzeichen eines Feldmarschalls auf, reich dekoriert mit diversen Verdienstorden, darunter das Großkreuz des Eisernen Kreuzes, die höchste preußische Tapferkeitsauszeichnung, und das blau leuchtende Ordenskreuz des Pour le Mérite – allesamt Kleinode von nicht allein ideellem Wert. Außer dem Geschmeide seiner Ehrenzeichen zierten seinen Waffenrock goldene Tressen und Fangschnüre. Ebenfalls vergoldet waren die Sporen an seinen gewienerten schwarzen Schaftstiefeln. Auch dank der roten Lampassen an der Hose und der roten Ärmelaufschläge mit silbernen Gardelitzen war er von einer ›feldgrauen‹ Erscheinung weit entfernt. Dass er demonstrativ eine Parabellum-Pistole im Lederfutteral mit sich trug, verlieh ihm einen Anschein permanenter Kampfbereitschaft. Ob sie wohl geladen war? Am markantesten wirkte freilich das eiserne Beil am Holzstiel, das er als eine Art Spazierstock mit sich führte, ein Requisit aus Ungarn – dort Czakany genannt. Welche Wirkung sich der Monarch nur von diesem »Hackerl«, wie die Österreicher sagten, versprochen haben mag? Wir wissen es nicht genau. Doch aufschlussreich wäre es allemal, solche sonderbaren Details seines Erscheinungsbildes zweifelsfrei deuten zu können, denn auch Staffagen wie diese dienten dazu, Wilhelm II. in ein ganz bestimmtes Licht zu stellen.

Immerhin erahnen wir, dass er sich für die Krupp-Arbeiter in ihrer schmutziggrauen Fabrikwelt wie ein bunter Vogel ausgenommen haben muss. Bleiben auch Wilhelms Rollenphantasien hinter dieser kaiserlichen Inszenierung etwas unscharf, so ist doch erkennbar, dass der begabte Selbstdarsteller seinem Volk hier einmal mehr etwas ›vorspielte‹, wovon er sich staunende Bewunderung und Hochachtung versprach. Sich in Szene zu setzen, das beherrschte er wahrlich, allerdings ging es ihm dieses Mal um mehr: Er wollte an Popularität gewinnen, an Zuneigung, ja womöglich an Liebe. So wanderte er mit energischem Schritt ostentativ interessiert durch die riesige Werksanlage an Hunderten von Arbeitern vorüber, einzelne immer wieder ansprechend, wobei er seine Hand auf die Schulter der Auserwählten legte. Er gab sich freundlich, zugewandt oder besser gesagt: jovial.

Doch schon der scharfe Kontrast zwischen den von harter Arbeit gezeichneten Krupp-Werktätigen in abgenutzter Berufskleidung und dem geschniegelten und frisch wirkenden Kriegsherrn, der sie nur mit Handschuhen anfassen mochte, muss jede menschliche Annäherung erschwert haben. Auch wenn sich Kaiser Wilhelm alle Mühe gab: Das gekrönte Staatsoberhaupt und sein einfaches Volk blieben auf Distanz. Bis er in die Krupp’schen Fabrikhallen hineinschneite, mochte dieser Monarch von Gottes Gnaden für die dort Arbeitenden noch eine mystische Figur, eine Phantasiegestalt gewesen sein. Doch in dem Augenblick, wo sie ihm leibhaftig begegneten, war es um die auratische Erscheinung geschehen – da half auch keine exklusive Parade-Uniform mehr. Der Zauberbann war gebrochen, nicht aber das Eis. Man kam nicht wirklich ins Gespräch, fand keine Fühlung – mochte sich der Monarch auch noch so leutselig an die Fabrikmenschen wenden. Ob der hohe Besucher diesen Graben, diese Distanz, diese Teilnahmslosigkeit verspürt hat? Oder haben ihn die zahlreichen Claqueure aus leitenden Angestellten und vertrauenswürdigen Vorarbeitern, die ihm bei seiner Werksbesichtigung zur Seite standen, vor solch schmerzlicher Erkenntnis bewahren können?

Kaiser Wilhelms letzter öffentlicher Auftritt vor großem Publikum in der Friedrichshalle der Krupp’schen Werke in Essen am 10. September 1918.

Nun, die eigentliche Nagelprobe stand ihm noch bevor: Wilhelms persönlicher Auftritt beim Krupp’schen Arbeitervolk sollte in einer zündenden Ansprache gipfeln. Die politische Notwendigkeit einer solchen kaiserlichen Kundgebung vor breitem Publikum hatten ihm seine Berater seit Wochen eindringlich ins Bewusstsein geschrieben – jetzt, wo die Lage seines Reiches augenscheinlich auf eine nicht allein militärische, sondern auch politische Krise zusteuerte. Sie sollte ein Signal sein, von dem sich alle eine deutschlandweit spürbare Resonanz, einen Ruck versprachen. Der Monarch erklärte sich bereit, diese heikle Aufgabe zu übernehmen. Er wollte sein Bestes geben, um solch ein Zeichen zu setzen, mit wohlplatzierten Worten einen starken Eindruck machen. Fatal war nur, dass ihn offenbar niemand über die Erwartungen und die Stimmung seines Publikums aufgeklärt hatte. Und besser Informierte selbst danach zu fragen, das wäre diesem Herrscher nicht im Traum eingefallen. Er ahnte wohl nicht einmal, wie sehr der monarchische Gedanke bereits durch das Ausbleiben eines wenigstens scheinbaren Erfolgs an der Front gelitten hatte. Derart unvorbereitet, trat er reichlich ungeschützt auf den Plan. Dass er immerhin den Text seiner Rede beherrschte, vermochte die prekäre Ausgangslage nicht wettzumachen.

Wie die Krupp-Arbeiter den Kaiserbesuch in ihrer Fabrik erlebten.

Als Versammlungsort für sein Publikum hatte das Direktorium die Friedrichshalle ausgewählt, ein erst vor Kurzem errichtetes Gebäude in der Krupp’schen Werkssiedlung Friedrichshof. In dem festlich dekorierten Saal sollen sich an jenem Dienstag gegen Mittag an die 2000 Menschen versammelt haben,2 die Krupp-Beamten und Honoratioren aus Essen in den vorderen bestuhlten Reihen, dahinter und seitlich davon Teile der Belegschaft – ob zuvor sorgfältig ausgesuchte, das wissen wir nicht. Dem breiten Publikum gegenüber hatte die Werksleitung Aufstellung bezogen sowie das uniformierte kaiserliche Gefolge, das sich wie eine Schutzwehr in unmittelbarer Nähe des Rednerpults formierte. Hinter dieser etwa sechzigköpfigen Gruppe grüßten zwei mächtige Büsten die Versammelten: die eine, auf der rechten Seite, vom legendären Firmengründer Alfred Krupp und die andere vom Besuchskaiser allerhöchstselbst, dem als Imperator Rex in Bronze gegossenen Wilhelm II.3 Direkt unter diesem Kunstwerk war das Rednerpult platziert worden, wo Firmenchef Gustav Krupp von Bohlen und Halbach mit seiner Begrüßungsansprache schon einmal Ton und Takt für das Kommende vorgab. Es erfülle alle mit Stolz, dem Kaiser gezeigt zu haben, »dass die deutsche Industrie in ihrer Gesamtheit – Werksleiter, Beamte und Arbeiter – keine Arbeit und Mühe gescheut« habe, »um den Anforderungen [dieses gewaltigen Krieges] zu genügen.« Und dann legte er noch »im Namen der deutschen Industrie das Gelöbnis« ab, »nicht zu erlahmen, bis Eure Majestät das Schwert in die Scheide befehlen, ein Jeder an seiner Stelle mit Herz, Sinn und Hand gemäß den Aufgaben, die ihm des Vaterlandes Dienst auferlegt.«5

Mit diesem vorauseilenden Treuegelübde im Ohr betrat nun der Stargast das Rednerpodest – vor ihm das Konzept seiner Rede, wie sie der Chef seines Geheimen Zivilkabinetts Friedrich von Berg aufgesetzt hatte. Barhäuptig stand er da, der nun bald sechzigjährige Kaiser, mit wohlgeformten Locken, die ihm sein Frisör noch am Morgen in sein ergrautes, aber fülliges Haar gebrannt hatte – ein nicht ganz unwichtiges Detail der Eitelkeit. Mit dem gesunden rechten Arm umfasste er das Pult, während der verkrüppelte linke auf seinem Schleppsäbel ruhte. Totenstille.

Gemäß seiner Vorlage hob Wilhelm II. mit einer Art von Hommage an seine »lieben Freunde von den Kruppschen Werken« an.5 Denen gelte es heute, seinen »kaiserlichen Dank auszusprechen« dafür, wie sie »dem deutschen Heere und seinem Obersten Kriegsherrn zur Verfügung gestanden« – sprich: das dringend erforderliche Kriegsmaterial geliefert hätten. »Unter steigenden Schwierigkeiten« sei das geleistet worden, »Schwierigkeiten [in] der Ernährung, Schwierigkeiten [in] der Bekleidung, [unter] Verlusten, Trauer und Sorgen aller Art, von denen kein Haus verschont geblieben« sei, »weder das Fürstenhaus noch das schlichte Arbeiterhaus«. Dass auch die Kruppianer »so opferwillig ihre Pflicht getan haben trotz der drückenden Sorgen«, das verdiene seinen »Dank als Landesvater«. Kenne der doch ganz genau die »drückenden Sorgen von Not und Jammer und Elend«, die alle getroffen hätten. Es solle sich keiner im Volk einbilden, dass er darüber nicht Bescheid wisse. Aber: Er habe auch erfahren, »dass diese Sorgen doch immer überstrahlt wurden von dem Gedanken, erst die Pflicht, das andere kommt später«. Das »was an landesväterlicher Anregung hat geschehen können, um die Last nach Möglichkeit zu mildern und die Sorgen unseres Volkes zu verteilen«, sei erfolgt. Im Übrigen solle man seine »irdischen Sorgen« vertrauensvoll dem lieben Gott überantworten und dessen Herz durch Pflichterfüllung erweichen.

Schon diese rund vier Redeminuten von insgesamt etwa vierzig verraten viel zum Thema Empathie. Weitere herzgewinnende Schritte auf die Menschen zu, welche in der Friedrichshalle an diesem Septembertag vor ihm standen, mochte und wollte dieser Monarch sich nicht abringen. Wärmere Töne waren von ihm nun überhaupt nicht mehr zu vernehmen. Zweifel sind daher angebracht, ob man Wilhelms Dankeserweis bei der verräterischen Wahl seiner gestelzten Worte überhaupt einen empathischen nennen kann. Hier blutete kein Monarchenherz, und so konnte er auch die Herzen seiner Zuhörer nicht öffnen. Von einer inneren Bereitschaft, wirksame Abhilfe für die entsetzlichen Leiden seines Volkes zu schaffen, ist schon gar nichts zu spüren. So wohlwollend Wilhelms Dankesworte auch daherkommen, der Redner kann nicht überzeugend vermitteln, dass er die empfangene Hilfe seines Volkes tatsächlich zu schätzen weiß und sie zu vergelten gedenkt. Vollends um jede Wirkung brachte er sich durch die Relativierung dieser Opferleistung zu einer »Pflicht«, einer moralischen Bringschuld nicht zuletzt ihm, dem »Obersten Kriegsherrn«, gegenüber. Diese Selbstbezogenheit wurde im Fortgang seiner Rede noch aufdringlicher, aber bereits an dieser Stelle hatte sein Annäherungsversuch an das Publikum wenig Aussicht auf Erfolg. Vollends missglückte er dann wohl durch den Satz über seine eigene »Sorge und die Not, jeden Tag die Verantwortung für ein Volk von 70 Millionen zu tragen und dazu noch für die Verbündeten zu sorgen und alle die Schwierigkeiten und die zunehmende Not des Volkes zu sehen«. Es sei wahrlich nicht leicht gewesen, diese Last seit »5 Jahre[n] zu tragen«. Und nun komme zu dieser »schweren Verantwortung« auch noch die Erkrankung seiner »vielgeliebten Gattin« hinzu, an deren Krankenbett er soeben »drei schwere Wochen« verbracht habe – eine Heuchelei, wie noch darzulegen bleibt.

Bei alledem ging es ihm letztlich nur um sich, den bewundernswürdigen Kaiser. Die Arbeiter aber sah er nicht – weder im übertragenen Sinn noch ganz konkret, waren sie doch von seiner Entourage beinahe gänzlich verdeckt.6 Und was er mit seinen Worten anrichtete, ging ihm schon gar nicht auf: Er zog zwischen sich und seinen »lieben Freunden« eine Mauer des Unverständnisses und der Ignoranz.

Zum ideologischen Kern seiner Ansprache leitete der Redner mit der rhetorischen Frage über, wem die Deutschen ihre drückenden Sorgen denn eigentlich zu verdanken hätten. Seine Antwort lautete: den »Angelsachsen« mit ihrem »absoluten Vernichtungswillen uns gegenüber«. Und woher rühre dieser »Hass der Vernichtung«? Weil sie den Deutschen ihre Leistungen und ihre Kultur „neiden“. Damit war Wilhelm beim Lieblingsthema seiner Weltkriegsrhetorik, dem »angelsächsischen Charakter«.7 Jetzt gerieten seine Ausführungen zu einer klassischen Tirade, in die er sich nach einhelliger Beobachtung aller Zeitzeugen immer mehr hineinsteigerte. Er fing wild an zu gestikulieren und erregte sich dermaßen, dass ihm große Schweißperlen auf die Stirn traten. In seinem Furor soll sich der kaiserliche Agitator immer weiter vom Redekonzept gelöst und frei gesprochen haben – leidenschaftlich und fantastisch. Das konnte nicht ohne Entgleisungen abgehen. So bezeichnete er den ungebrochenen Kriegswillen der Engländer kurzerhand als »Ausdruck der absoluten Unterlegenheit«. Und setzte fort: »der Kampf zwischen den Angelsachsen und uns ist ein Kampf von zwei Weltanschauungen. Die unsere beruht auf dem guten Willen, Glauben, Ehrfurcht vor Religion und Sitte, Treue und Glauben, den schönsten Eigenschaften; des Gegners drüben auf Geld und Ländergier und Verdienst auf Kosten anderer.« Er habe über die tieferen Ursachen dieses Krieges »lange nachgedacht«, um zu erkennen: »Auf der Welt ficht das Gute mit dem Bösen, das ist mal von oben so eingerichtet«. Eine gute Viertelstunde lang mussten seine Zuhörer diese Mischung aus ideologischen Versatzstücken der deutschen Kriegspropaganda, Plattitüden und aufdringlicher Belehrung stillschweigend über sich ergehen lassen. »Seine laute Sprache vergrößerte die Stille, die ihr Echo war« (Erik Reger). Doch das alles merkte er gar nicht. Er hatte sich offenbar vergessen, realisierte nicht die Ungunst, in der er immer weiter versank und die er nicht zuletzt durch eingestreute gönnerhafte Redewendungen wie »Lasst Euch mal was sagen« oder »Wir wollen uns doch mal darüber klar sein« und »Ich frage Euch mal ganz einfach und ehrlich« noch vergrößerte. Das war kein geeigneter Tonfall, um die Leute anzusprechen oder gar zu packen und mitzunehmen – das war ungehörig, selbst für einen Monarchen.

Ganz ungeniert gab der Redner am Schluss den wahren Zweck seines Besuches zu erkennen. Dazu nahm er zunächst wieder die verhassten Angelsachsen aufs Korn. Die wüssten natürlich, dass es an der Front jetzt »ums Ganze« gehe. Vor Deutschlands Streitmacht hätten sie aber »den größten Respekt«, und genau deshalb versuchten sie es heute mehr denn je »mit der Zersetzung, um uns mürbe zu machen durch Gerüchte und Flaumacherei«. Die landesweit verbreiteten Tendenzen, Deutschlands Lage schwarz zu malen, kämen mithin gar nicht »aus den Kreisen des deutschen Volkes, das sind künstliche Machwerke«. Wilhelm drohte, wobei er mit dem Säbel donnernd auf den Holzboden stieß: »Jeder, der auf ein solches Gerücht hin hereinfällt, ganz einerlei, ein jeder, der ein solches Gerücht, sei es im besten Sinne, weitergibt, der ist ein Verräter und gehört an den Galgen.« Abermals berief er sich lautstark auf den Herrgott im Himmel: »Wir sind von da oben abkommandiert, ein jeder an seinen Platz, Du an Deinem Hammer, Du an Deiner Drehbank, Ich auf meinem Thron. Und wir können nur auf Gottes Hilfe bauen. Und der Zweifel, das ist der größte Undank gegen den Herrn.«

Jetzt hatte der Kaiser sein Kernanliegen erreicht: »Euch, Männer, Frauen und Mädchen aufzufordern, nicht locker zu lassen, nicht anders als auf die Stimme des Gewissens und der Pflicht zu hören und Eure Pflicht zu tun, bis der Friede da ist.« Ein jeder Deutsche müsse »das erfasst und begriffen haben, das Äußerste heranzuschaffen, um uns zu wehren.« Das wollte er nun gleich auch an Ort und Stelle besiegeln, indem er auf einen Theater-Coup8 zurückgriff, mit dem er bei Kriegsausbruch tatsächlich einmal Eindruck hatte schinden können. Damals Anfang August 1914, als die Wogen der deutschen Kriegsbegeisterung noch hochschlugen, hatte er im Anschluss an seine Thronrede zur Reichstagseröffnung im Berliner Stadtschloss die dort versammelten Parteivorstände spontan aufgefordert, ihm in die Hand zu geloben, mit ihm »durch dick und dünn, durch Not und Tod« zusammenzuhalten.9 Gut vier Jahre später in Essen versuchte er es noch einmal mit den Worten: »Wer das Herz auf dem rechten Fleck hat, wer die Treue hält, der stehe jetzt auf und verspreche mir, bis zum letzten Augenblick im Namen aller, der gesamten deutschen Arbeiterschaft: Wir wollen durchhalten bis zum Letzten und nicht die Waffen niederlegen.« Doch diese melodramatische Aktion lief ins Leere. Zwar war die Versammlung so zusammengesetzt, dass Wilhelms Aufforderung (»Wer das will, der antworte mit Ja!«) nicht ganz ohne akustische Resonanz blieb. Doch alle Beobachter des Szenarios waren sich darin einig: Des Kaisers eindringliche Ermahnung, ja moralische Nötigung zu Opferbereitschaft sowie Siegeszuversicht fand bei den meisten Menschen in der Essener Friedrichshalle kein Gehör, geschweige denn Zustimmung. Vielmehr schlug ihm robuste Gleichgültigkeit entgegen. So kam er denn mit einem etwas linkischen »Ich danke schön« zum Ende und machte sich mit formelhaften Parolen wie »Jetzt heißt es: Germanen die Schwerter in die Höhe« hastig davon.

Auf der Stelle verabschiedete sich der Monarch von seinem Gastgeber, stieg in sein Auto und ließ sich unverzüglich zum Bahnhof bringen, wo sein fürstlicher Hofzug auf ihn wartete. Irritation stand auch ihm ins Gesicht geschrieben, und sichtlich nervös fragte er seinen Kabinettschef und alten Schulfreund: »Na, wie fandest du meine Rede?« Als ihm Bergs zögerliche Antwort die Bedenken seiner ganzen Entourage spiegelte, blaffte er unwirsch: »Ja, ich weiß ja, ich kann reden, was ich will, euch passt es ja doch nie.«10 Diese kaiserliche Verstimmung zeigt, dass selbst er sich nicht ganz des allgemeinen Eindrucks erwehren konnte, das von ihm Erwartete wieder nicht geleistet zu haben. Er hatte sich selbst einmal mehr eine Falle gestellt und war beleidigt, als er sich dort wiederfand.

Die deutsche Pressezensur hat verhindert, dass wir über die tatsächlichen Reaktionen der Zuhörer damals in Essen umfassend im Bilde sind, doch völlig unwissend sind wir nicht. Zum Beispiel ist bekannt, was seine damalige Begleitung, also die eigenen kaisertreuen Leute, darüber auf die Nachwelt gebracht hat. »Manches wäre besser nicht gesagt worden«, war da noch die harmloseste Bewertung. Der Redenschreiber Berg hatte eigenen Angaben zufolge den Friedrichssaal mit hochrotem Kopf verlassen. Er sah seine Hauptaufgabe jetzt erst einmal darin, den stenografierten Redetext so umzuformulieren, dass man ihn überhaupt zur Veröffentlichung freigeben konnte. Das allerdings wäre vielleicht besser unterblieben, denn trotz Streichung und Umformulierung anstößiger Passagen stellte diese kaiserliche Ansprache der deutschen Monarchie ein politisches Armutszeugnis aus. Der Chef des kaiserlichen Marinekabinetts Admiral von Müller nannte sie privat »kläglich«, »sehr taktlos und unehrlich«. Die Reaktionen seitens der Arbeiter bezeichnete er als »äußerst kühl«; sie seien »gar nicht darauf eingeschnappt«. Er hielt Bergs »Frisieren« des Textes für lange »nicht einschneidend genug«, um vielleicht doch noch eine halbwegs positive Wirkung zu zeitigen.11 Auch Alfred Niemann, ein stramm konservativer Adjutant des Kaisers, beklagte die »offenkundigen Fehlgriffe in der Ausdrucksweise« seines Herrn, die bei den Arbeitern »inneren Widerspruch erzeugten«. Er habe während der Ansprache in die Gesichter dieser Zuhörer geblickt: »Die Mienen erstarrten, und je mehr der Kaiser sich steigerte, umso offenkundiger wurde die Ablehnung.« So beschlich »alle das Gefühl, dass der Wurf misslungen war«, und die »Entfremdung zwischen Kaiser und Volk nicht behoben werden konnte« – ein vernichtendes Gesamturteil, bedenkt man, wie loyal diese Militärs waren.

Bleibt nur die Frage, warum diese Getreuen ihren Obersten Kriegsherrn nicht vor der Blamage bewahrt haben. Der Verdacht liegt nahe, dass hier nicht nur vorauseilender Gehorsam eine Rolle spielte, zumindest bei Friedrich Berg, dem Inspirator und geistigen Urheber der ganzen Inszenierung. In seiner altpreußisch-konservativen Sturheit hatte dieser einflussreiche Ratgeber offensichtlich gar nicht vorausgeahnt, auf welch verlorenen Posten er seinen kaiserlichen Freund mit der Essener Mission stellen würde. Zwar kennen wir den Berg’schen Rede-Entwurf nicht im Original, doch ist zu bezweifeln, dass dieser Text wirklich bewegendes oder gar zündendes Potenzial besaß. Denn auch dieser Mann besaß kein Sensorium für die Stimmung im Volk und für den gefährlichen Ernst der Lage. Vom Gefühlsleben der Arbeiter wusste er nichts, und es interessierte ihn wohl auch nicht. Deshalb hielt Berg grundsätzlich mehr als zwei Drittel aller gehaltenen Reden für publikationswürdig. Dass es ihm fernlag, dem Monarchen ernsthafte Vorhaltungen zu machen über den missratenen Auftritt und ihm die Gründe dafür im Einzelnen auseinanderzusetzen, passt ebenfalls in dieses Bild botmäßiger Politikberatung. Nicht weniger bezeichnend ist, dass der amtierende deutsche Reichskanzler, Graf Hertling, in die Essener Aktion gar nicht einbezogen wurde. Schließlich war er als verantwortlicher Leiter der Reichspolitik der erste politische Berater des deutschen Kaisers, nicht der Chef eines kaiserlichen Geheim-Kabinetts, und eigentlich hätte er den Redetext autorisieren müssen. Gleichviel, hauptverantwortlich für den Fehlschlag war allemal der Kaiser selbst in seiner voluntaristischen Eigenmächtigkeit. Sein Selbstverständnis, niemandem für sein Agieren rechenschaftspflichtig zu sein, hat ihn auch in Essen geleitet. Seine tatsächlich immer noch unangreifbare Machtstellung, seine politische Unverantwortlichkeit, aber auch seine Geltungssucht haben einen derart anstößigen Bühnenauftritt überhaupt ermöglicht und anschließend verhindert, daraus wenigstens Lehren zu ziehen.

Um den damals angerichteten politisch-moralischen Flurschaden richtig zu ermessen, sind weitere Meinungen von Augenzeugen heranzuziehen. Etwa die Aussage des Krupp-Direktors Ernst Haux, der in seinen Erinnerungen schreibt, seine Frau sei »sehr bekümmert« über die Kaiserrede gewesen.12 Sogar der bürgerliche Teil der Essener Großveranstaltung scheint mithin Wilhelms Worten nur aus Höflichkeit ohne Murren gelauscht und am Ende eher widerwillig beklatscht zu haben. Offenbar hatte der Monarch selbst diesen Menschen nichts mehr zu sagen, was auch aus dem eisigen Schweigen der führenden linksliberalen Blätter in Deutschland über diesen vorgeblich doch so wichtigen kaiserlichen Auftritt erhellt. Was mögen da erst die Arbeiter empfunden haben?

Der amerikanische Historiker William Manchester hat in den 1960er-Jahren in Essen bei Recherchen zu einer Familienbiografie der Krupps13 noch damalige Versammlungsteilnehmer interviewen können. Demzufolge sei kein einziger Arbeiter der Aufforderung des Kaisers nachgekommen, ihm völlige Hingabe im Existenzkampf seines Reiches zu versprechen. Es gibt keine Quellen, die zu diesem Befund im Widerspruch stehen. Insofern darf davon ausgegangen werden, dass sich die überwiegende Mehrheit der Krupp-Arbeiter – gemäß damaliger Usancen – dem hohen Besuch gegenüber ausgesprochen respektlos verhalten hat, unempfänglich für das patriotische Theater, das sich vor ihren Augen abspielte, apathisch fast.14 Nur wenige fühlten sich allerdings derart provoziert, dass sie ihren Unmut auch spontan artikulierten. »Wann ist endlich Frieden?«, soll ein Mann gerufen haben, und ein anderer: »Hunger«.15 Richtig bedrohlich scheint die trotzige Haltung dieser Menschen für den Herrscher zwar nicht gewesen zu sein, von offener Empörung noch weit entfernt, aber schon die Geringschätzigkeit, mit der das Arbeiterpublikum seinen Kaiser konfrontierte, kam einem Tabubruch gleich. Noch nie zuvor hatte man Wilhelm II. in seinem öffentlichen Leben derart auflaufen lassen wie an diesem Septembertag in Essen.

Diese niederschmetternde Erfahrung, vom Volk nicht mehr geliebt, ja nicht einmal gebührend respektiert zu werden, war das eine. Das andere war der weitere Umgang damit. Von der problematischen Publikation der geschönten Kaiserrede nur zwei Tage später war bereits die Rede. Die 2.000 Zuhörer von Essen sahen sich, die Ansprache noch im Ohr, mit der weithin verbreiteten Falschmeldung konfrontiert, die Massenversammlung in der Friedrichshalle hätte dem Kaiser »mit lautem Ja« versprochen, bis zum Endsieg durchzuhalten und zu kämpfen. Da dürfte es heftigen Widerspruch gegeben haben, mit politischer Resonanz weit über die Grenzen der Ruhrmetropole hinaus. Der Glaubwürdigkeit der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit, um die es ohnedies damals schon schlecht bestellt war, hat das einen weiteren, in seiner Wirkung nicht zu unterschätzenden Schlag versetzt. Ohne sich dessen im Geringsten bewusst zu sein, ließ man die kaiserliche Predigt von Essen auch noch millionenfach als Plakat drucken – auf knallrotem Untergrund – und zwar auf ausdrücklichen Wunsch des Monarchen hin, der sogar angeregt hatte, man möge seinen Redetext von den Kanzeln der evangelischen Kirchen des Königsreichs verkündigen.16

War das nur Verblendung, politischer Irrglaube? Nein, die Imageberater – wie wir sie heute nennen würden – scheinen sich von dieser Propagandaarbeit tatsächlich eine öffentliche Aufwertung des deutschen Kaisers versprochen zu haben. Und bei der unfreien, oft staatlich gelenkten Presse von damals war diese Spekulation auch nicht ganz verfehlt, denn viele bürgerliche Blätter gaben sich damals deutschlandweit sichtlich Mühe, dem Reichsmonarchen mit geradezu verklärtem Blick anlässlich seines Auftritts in Essen zu huldigen. Man geht aber wohl nicht fehl in der Annahme, dass solche Ausdeutungen bei der großen Masse der Zeitungsleser nicht durchweg Begeisterung entfachten. Die Adressaten dieser kaiserlichen Kundgebung »müssten schon völlige politische Analphabeten« sein, um solchen Expektorationen Glauben zu schenken, unkte die sozialdemokratische Münchener Post. Und sie legte noch eins drauf: Dass der Gang des Kaisers zu den Arbeitern so »grauslich verunglückt« sei, nehme doch kein Wunder, wenn man weiß, »in wie bizarren romantischen Farben er die Welt sieht. Soll das zum Verhängnis des deutschen Volkes werden?«17 Solche freimütigen Urteile konnten freilich nur in Bayern publiziert werden, wo die öffentliche Meinung damals weit weniger geknebelt war als in Preußen. Oder aber in Sachsen, wo die Leipziger Volkszeitung die Kaiserrede als eine einzige politische Provokation interpretierte, weil sie die Entmündigung des Volkes fort- und festschreibe: Man werde »Deutschlands innere Verhältnisse beurteilen nach dem Ton dieser Rede und hier das gerade Gegenteil von Demokratie und Freiheit sehen«.18 Der deutsche Kaiser wird beide Artikel wohl niemals zu Gesicht bekommen haben.

Plakat mit der Krupp-Rede des deutschen Kaisers, wie sie für die Öffentlichkeit nachträglich frisiert worden war.

Die manipulative Pressekampagne des preußischen Zivilkabinetts scheint denn auch – vielleicht sogar mehr noch – einen anderen Adressaten im Blick gehabt zu haben als die deutsche Öffentlichkeit, nämlich den deutschen Kaiser selbst. Dem hoffte man mit schmeichlerischen Zeitungsartikeln auf Bestellung über seine Abfuhr in Essen hinwegzuhelfen. Denn der Stachel dieser Beleidigung scheint doch tiefer gesessen zu haben, als er jemals zugeben mochte. Wahrscheinlich hatten Berg auch Gewissensbisse über die ›unmögliche Mission‹ dazu motiviert, so etwas wie Schadensausgleich zu leisten – in Form von Zeitungsausschnitten, die dem Gekränkten einreden sollten, seine Essener Aktion sei allem Argwohn zum Trotz schlussendlich doch ein großer Erfolg mit Prestige-Gewinn gewesen. Jedenfalls ist überliefert, wie beglückt Wilhelm über solche bestellten Lobreden war und sich schon bald in den beruhigenden Gedanken einlebte, er habe tatsächlich mit seiner Rede »in Essen die Arbeiter [auf den Monarchen] verpflichtet«.19An dieser irrigen Überzeugung hielt der Kaiser dann fortan hartnäckig fest, und es gab niemanden in seiner Umgebung, der diesen Märchenglauben erschüttern mochte.

Mit seinem Fabrikbesuch bei Krupp hatte sich dem Kaiser die seltene Möglichkeit geboten, massenwirksam und glaubwürdig den Beweis anzutreten, dass er die Zeichen der Zeit, den Anbruch einer neuen Ära erkannt hatte. Angesichts der desolaten militärischen Lage wäre es die Aufgabe eines politisch klugen Monarchen gewesen, das deutsche Volk vorsichtig auf die sich abzeichnende Kriegsniederlage einzustimmen – und zugleich seine Bereitschaft zu (demokratischen) Neuerungen im politischen System zu signalisieren. Das hätte den Menschen Orientierung und Hoffnung gegeben. Aber nichts dergleichen geschah, sondern im Gegenteil: Er verlangte gebieterisch Gehorsam und Opferbereitschaft, plädierte für die Fortsetzung eines verlorenen Krieges um jeden Preis und blieb krampfhaft bemüht, diesem angeblich alternativlosen Vorgehen einen höheren Sinn zuzuschreiben.

Offenbar glaubte er tatsächlich, die Uhr wieder auf August 1914 zurückstellen zu können, und zwar durch die vermeintlich unbeschadete Aura seines gottbegnadeten Kaisertums. Wilhelms Auftritt war der untaugliche Versuch, dem Zeitgeist nachzulaufen, ohne ihn wirklich aufzunehmen. Der Kaiser blieb authentisch, und genau das war sein Fehler, denn für seine kaiserliche Selbstinterpretation war die Zeit abgelaufen. Er vermeinte immer noch, sagen zu dürfen, was er wirklich dachte, ohne auch nur zu ahnen, wie sehr er sich damit schadete. Was die Öffentlichkeit jetzt sehen wollte, war ein glaubwürdig besorgter Landesvater, der immerhin zu begreifen versuchte, dass die Menschen mehr als genug hatten von Krieg, Entbehrungen und hohler Propaganda. Sie wollten nichts mehr wissen von einem bramarbasierenden Autokraten in martialischer Aufmachung. Das hohle Pathos seiner altväterlichen Rhetorik und die anhaltende Verklärung der tatsächlichen Lage mussten die Leute ja geradezu wütend machen. Seine Sinne schienen in der Tat »blind und taub zu sein – selbst für die gärenden, krisenhaften deutschen Zustände um ihn herum«.20

Der Kaiser hat in Essen weit größeren politischen Schaden angerichtet, als sich bloß selbst zu blamieren. Er riss die ganze Institution Monarchie noch tiefer in die Vertrauenskrise, in der sie schon seit Monaten steckte, ja er machte diese Vertrauenskrise zu einer fundamentalen: indem er den Glauben an die Entwicklungsfähigkeit dieser Einrichtung untergrub und damit an ihre Heilsamkeit überhaupt. Dazu muss man wissen, wie sehr die politische, aber auch die unpolitische Öffentlichkeit in Deutschland darauf programmiert war, in diesem ihrem Kaiser die Verkörperung des monarchischen Gedankens schlechthin zu sehen. Doch die Monarchie stand jetzt im Begriff, zu einem hoffnungslosen Fall zu werden, weil sie die Menschen nicht mehr erreichte – weder politisch noch emotional. Mit der Gottähnlichkeit der Hohenzollern war es im September 1918 endgültig vorbei – jetzt hätten sie nur noch durch positive Leistungen, genauer: durch Dienst am Volk ihre Daseinsberechtigung garantieren können und die Voraussetzung dafür wäre die Bereitschaft zum ehrlichen Dialog mit eben diesem Volk gewesen. Doch Wilhelm von Preußen blieb unverändert in der Illusion seiner Unantastbarkeit befangen. Sein maßgeschneidertes Konzept der selbstberauschenden Autosuggestion war in Essen nur objektiv gescheitert. Subjektiv glaubte er unverändert an die Richtigkeit seiner ›eigenen‹ Politik – losgelöst von dem, was die Menschen in Deutschland damals wirklich umtrieb.

1Wer rettet das Kaiserreich?

Viel zu spät realisierte die politische Führungsriege im Kaiserreich den Autoritätszerfall der gekrönten Häupter, die in Deutschland selbst 1918 noch nahezu eigenmächtig herrschen durften. Immerhin waren sie sich aber darüber im Klaren, dass das politische Schicksal der monarchischen Ordnung in erster Linie abhing von Stehvermögen und Erscheinungsbild ihrer Leitfigur: des Reichsmonarchen Wilhelm II., zugleich König von Preußen und Oberhaupt der Hohenzollern. Ihn ganz persönlich politisch zu bearbeiten, lag in der Logik des deutschen Herrschaftssystems. An dessen Spitze existierte mit dem sakrosankten Kaiser nämlich eine im weitesten Sinn des Wortes unverantwortliche »allerhöchste« Machtinstanz, der die letzte Entscheidung in allen Fragen des politischen Willens oblag. Formell bestimmte Seine Majestät, was im Interesse des deutschen Reiches lag und was nicht, und die Geschäftsführer des Politikbetriebs hatten ihn stets in dem Glauben gelassen, dass er tatsächlich Deutschlands Alleinherrscher wäre. Das erwies sich nun, im Herbst des fünften Kriegsjahres, als schwere Hypothek – wo die Aussichten auf einen militärischen Sieg der Mittelmächte so rasant schwanden, das Volk sich enttäuscht von den hohlen Versprechungen der Kriegspropaganda abwandte und soziale Unruhe und politische Opposition sich regten. Ein außergewöhnlich hoher Handlungsdruck hatte sich aufgebaut, mit dem die Berliner Staatsspitze umgehen musste, möglichst nutzbringend, aber eben auch gezwungenermaßen im direkten Einvernehmen mit dem ›regierenden‹ Kaiser.

Als die Krise akut wurde, litt der Reichsmonarch jedoch schon länger an jenem Bedeutungsverlust, mit dem er schließlich das ganze System anstecken sollte; eine politische Ordnung, die ohnedies schon schwächelte. Auch bei den maßgeblichen Männern der Reichsregierung waren politisch virulente Krankheitssymptome auszumachen: Passivität, Obedienz, billigende Inkaufnahme von als falsch Erkanntem, Fatalismus, ganz zu schweigen von heftigen Aversionen gegen die Demokratie. In ihrem praktischen Handeln blieben sie auf die monarchische Staatsautorität fixiert und entsprechend befangen. So befand sich da, wo eigentlich die Entscheidungsmitte der deutschen Politik sein sollte, eine nur im bürokratischen Sinn funktionstüchtige Zentrale.

Die Wahrnehmungsverzerrung und die ganz persönliche Bewertung der Dinge durch den Reichsmonarchen korrespondierten mit der Horizontverengung und der Kleinmütigkeit der ihm unmittelbar nachgeordneten Funktionsträger in der zivilen Reichsleitung. Die Hauptwurzel dieses Übels blieb aber die Konzentration der staatlichen Machtfülle in der Hand einer gesalbten Person von Gottes Gnaden.

Um das ganze Ausmaß dieser deutschen Misere im Herbst 1918 zu erfassen, fällt unser Blick jetzt auf die politischen Spielfelder, in denen dieser oberste Entscheidungsträger sich damals bewegte: auf den konkreten Erfahrungshorizont seines damaligen Selbstverständnisses, auf seine außerpolitischen Abhängigkeiten und Beschränkungen und natürlich auf sein eigenes Wollen in jenen dramatischen Wochen, als das Schicksal seines Reiches vielleicht nicht an einem seidenen Faden, aber doch bereits an ganz wenigen Fäden hing. In diesem Blickfeld zeichnen sich die Verwerfungen des Herrschaftssystems am schärfsten ab. Wollte sie diese Unstimmigkeiten wirksam bekämpfen, so musste die Politik vor allem anderen dieses leisten: das eigensinnige, eigenwillige und nicht zuletzt eigenmächtige Staatsoberhaupt von Gottes Gnaden politisch wirksam einzubinden in halbwegs aussichtsreiche Strategien zur Überwindung der akuten Kalamitäten. Und ihn in Mithaftung für das zu nehmen, was der nicht mehr zu gewinnende Krieg der ganzen deutschen Staatsführung an politisch-moralischem Tribut auferlegte. War das überhaupt möglich?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir unseren Betrachtungswinkel hin zu zwei anderen wichtigen Teilnehmern im Kampf um die Erhaltung der deutschen Monarchie erweitern. Denn das politische Schicksal des Reichs hielten damals neben dem preußischen Kaiser noch diese beiden Protagonisten in Händen: der süddeutsche Ausnahmepolitiker Prinz Max von Baden sowie sein badischer Landsmann Friedrich Ebert, sozialdemokratischer Parteiführer und wohl stärkster Volksvertreter des deutschen Reichstags. Es geht also nicht allein um die Figur des gekrönten Herrschers, sondern vielmehr um ein Triumvirat, das allerdings realhistorisch weniger ein Bündnis als vielmehr eine politische Schicksalsgemeinschaft war. Nimmt man jeden dieser drei ›Partner‹ genau in den Blick, so tritt auch die politisch-kulturelle Konstellation jenes deutschen Herbstes deutlich hervor. Ihre Porträts zeigen parallel verlaufende Leben, wechselseitige Abhängigkeiten, aber auch Blockaden und natürlich Abgrenzungen, Abneigungen, ja Feindseligkeiten. Eine bloße Analyse der politischen Interessen käme nur der Figur Friedrich Eberts zu, Kaiser und Prinz hingegen leiteten primär persönliche Motive in ihren Handlungen und Entscheidungen.

Wilhelm II. – Der Autokrat

Nicht etwa eine Miniaturbiografie des letzten Monarchen in Deutschland gilt es hier zu erzählen,1 es geht vielmehr um eine kaleidoskopische Darstellung seiner öffentlichen Person und ihrer Auffälligkeiten. Wir betrachten einen Mann im sechsten Lebensjahrzehnt, der auf eine lange Fürstenehe zurückblickt und sechs erwachsene Kinder hat; auf eine Herrscherfigur mit dreißigjähriger Erfahrung als Throninhaber von Preußen, als deutscher Kaiser, als mächtigster Mann in Deutschland und – auch das war Wesentlich für sein Selbstverständnis – als wohl reichster Mensch im Staat.2 Sein Vermögen bestand nicht allein aus dem immensen Familienbesitz der Hohenzollern mit zahlreichen Schlössern und sonstigen Liegenschaften, aus einem wertvollen Kunstbesitz und den sonstigen Schätzen inklusive der Wertpapiere und des vielen Bargelds. Es speiste sich auch aus der sogenannten Krondotation, die ihm der preußische Staat und das Reich als jährliche Zahlungen zur Verfügung stellten. Bei Ausbruch des Weltkriegs waren dies nach heutigem Geldwert insgesamt mehr als 100 Millionen Euro. Einen Großteil dieser Summe verschlang die Bezahlung des Personals, das sich um die royale Hofhaltung, die Verwaltung der Schlösser und Gärten, die Belange des Herrscherhauses sowie die persönlichen und öffentlichen Angelegenheiten des Kaisers zu kümmern hatte, mehrere Tausend Personen waren das. Anders wäre seine ebenso aufwändige wie glanzvolle Lebensweise gar nicht möglich gewesen. Auch wenn das Kriegsgeschehen dieser Prachtentfaltung deutliche Schranken setzte, führte Kaiser Wilhelm II. bis zuletzt ein opulentes Fürstenleben, in dem es an nichts mangelte. Die preußisch-deutsche Herrscherfamilie hatte 1918 also weitaus mehr zu verlieren als einen Titel, nämlich den Spitzenrang in der Gesellschaft und Entscheidungsbefugnisse. Es ging um ihre Daseinsform schlechthin.

Mit einer majestätischen Statur war Wilhelm II. zwar nicht gesegnet, wohl konnte er sich aber auf einen durch Drill und Selbstdisziplin trainierten Schauspielerkörper verlassen. Dennoch verlangte es ihm einige Mühen ab, auf all seinen Wegen den Anschein von kaiserlicher Würde und Unantastbarkeit zu wahren. Aus denselben Gründen war er bei seinen Auftritten auch derart bemüht, seine körperliche Behinderung, den schlaffen verkürzten linken Arm, zu kaschieren. Berüchtigt und gefürchtet war etwa der schmerzhafte Händedruck seiner Rechten, mit der er seine Besucher spüren ließ, über welch körperliche Kraft er dennoch verfügte. Außerdem war er ausgesprochen eitel: Jeden Tag ließ er sich frisieren und sorgfältig an- und umkleiden. In der deutschen Kostümgeschichte gebührt ihm ohne Zweifel ein Ehrenplatz. Auch ausgesuchte Requisiten waren ihm dabei wichtig. So trug er am Ringfinger der rechten Hand einen Brillanten mit einem in winzigen Rubinen eingelegten Christusmonogramm »X« und »P«. Die Würde seines hohen irdischen Amtes reichte ihm offensichtlich nicht. Er bestand auf der bewundernden Anerkennung seiner gottgewollten Einzigartigkeit.

Meist war der Kaiser mit seiner Entourage unterwegs – einer ausgesuchten Schar dienstbarer Geister, darauf eingeschworen, auf jeden Wink hin herbeizuspringen. Beflissen sorgten sie auch unaufgefordert für das untadelige Erscheinungsbild des Monarchen. Keine leichte Aufgabe angesichts der Sprung- und Launenhaftigkeit, für die dieser Kaiser berüchtigt war. Doch kam dem innersten Kreis dieser ständigen Begleiter noch eine weitaus wichtigere Bedeutung zu, als bloß die äußerliche Wahrung des kaiserlichen Nimbus. Diese hochrangigen Adjutanten, Kabinettschefs und Hofstaatsmänner sicherten die vermeintlich souveräne Machtstellung ihres Herrn nicht allein nach außen ab, sie boten ihm selbst einen psychologisch wichtigen Halt. Vor jenem Kollektiv konnte er sich jederzeit rückhaltlos Luft machen, was seinem Selbstwertgefühl sehr entgegenkam.

Wilhelms Mitteilungsdrang war stark ausgeprägt, wobei er sich bei Schilderungen oft in theatralischen Eifer hineinsteigerte. Dabei flatterte dann seine Rechte wild umher, um die meist bildhaften Sätze in beredten Gesten zu unterstreichen. In dieser Weise hielt der Kaiser seine Monologe, denn ein eigentliches Gespräch mit ihm zu führen, gelang nur selten. Er verfügte über eine große phantasievolle Auffassungsgabe, konnte vielschichtige Informationen zu einem eindringlichen Bild zusammenfassen und sich in sein fast untrügliches Gedächtnis einprägen. Doch unverkennbar war zugleich die Tendenz, sich an seinen eigenen Worten stark zu machen, ja zu berauschen. Diese Selbstagitation diente angesichts der vielen Herausforderungen zur Beruhigung seiner überspannten Nerven, hatte jedoch auch unliebsame Folgen. So war Wilhelm für unachtsame Äußerungen berüchtigt und hat damit viel Porzellan zerschlagen. Doch längst nicht alles, was er im Affekt an Respektlosigkeiten von sich gab, war wörtlich zu nehmen. Vieles war seiner Takt- und Geschmacklosigkeit geschuldet, gleichwohl er durchaus die Gabe besaß, mit einem einnehmenden Konversationsstil zu gefallen. Überhaupt lässt sich sagen, dass sein Charakter eine ganze Reihe solcher Widersprüche aufwies.

Dieser Monarch war kein Genießer oder Bonvivant, kein großer Esser, alles andere als ein Gourmet und auch nicht besonders trinkfreudig. Und doch gehörte es zum unverzichtbaren Ritual seines kaiserlichen Alltagslebens, sich häufig zu Tisch zu begeben. Zumeist blieb es freilich bei hastig eingenommenen Mahlzeiten im stets gleichen Kreis seiner »Herren«. Diese Zusammenkünfte nahmen jedoch, zumal wenn keine Gäste anwesend waren, gelegentlich durchaus kameradschaftliche Formen an – etwa bei gemeinschaftlich genossenen Zigarren oder Zigaretten. Überhaupt war viel Tabakqualm um ihn herum, wenn er nicht gerade Frischluft auf einem der ausgiebigen Spaziergänge genoss; eine Leidenschaft, der er ebenso frönte, wie er Ausflüge in seinem 60-PS-Mercedes zelebrierte.

Der Oberste Kriegsherr, leutselig – und stilisiert förmlich.

Für Thomas Mann war Kaiser Wilhelm mit seinem »dekorativen Talent« eine Figur der »imperiale[n] Gala-Oper«.3 Und in der Tat sieht man ihn nicht allein bei öffentlichen Auftritten als einen künstlerischen Darsteller agieren, der seiner Umgebung unentwegt einreden will, in seiner Person seien Reich, Macht und Gottesgnade verkörpert. Wir haben es hier mit einer speziellen Form von »Theatrokratie« (Friedrich Nietzsche) im Dienste der Monarchie zu tun, die von ihrem Hauptdarsteller ungemein ernst genommen wurde. Er war überzeugt, sein Volk wolle ihn so und nicht anders sehen, ihn als grandiosen Hauptdarsteller auf der großen Weltbühne bewundern. Deshalb entwickelte er nachgerade eine Passion für die theatralische Selbstdarstellung, erschien sie ihm doch nicht nur als ein legitimes, sondern als das einzige Mittel, um seine kaiserliche Macht dauerhaft zu festigen.

Sich selbst so glänzend zu inszenieren, bereitete ihm aber auch sichtlich Spaß und Wohlempfinden. Scharfsichtige Beobachter haben schon vor hundert Jahren erkannt, dass sein unablässiges Rollenspiel einem eher tragisch zu nennenden Umstand geschuldet war: Wilhelm war seiner allzu menschlichen Natur nach außerordentlich hilfsbedürftig, weich und kindisch, was er auf keinen Fall zeigen durfte. So blieb er »auf den Eindruck bedacht, dauernd mit sich selbst kämpfend, seine Natur bezwingend, um ihr Haltung, Kraft, Beherrschung abzugewinnen«.4 Wilhelms imperiale Attitüde war mithin weit mehr als vorlaut oder unsensibel, sie war eine existenzielle Schauspielerei. Mit etwas mehr innerer Selbstachtung wäre sein Streben nach äußerlich strammer Haltung weniger aufgesetzt gewesen, doch zeitlebens trieb ihn die Angst um, seinen anspruchsvollen Aufgaben nicht gewachsen zu sein oder für ungeeignet befunden zu werden. Deshalb wollte er sich permanent als wirksam erleben und musste sich dafür die ganze Welt zur Bühne machen.

Immer gelang es ihm selbstverständlich nicht, sein Naturell gänzlich zu maskieren. Auf solche Momente, in denen er sich ungeschminkt zeigte, wird an anderer Stelle noch ausführlich zurückzukommen sein, zeigen sie doch, wie die Selbstzweifel am Ende immer größer wurden. Seine Umwelt befriedigte zum Schluss sein Bedürfnis nach Verehrung immer weniger, doch selbst dann noch zeigte er wenig Geschick und Gespür in eigener Sache. »Schließlich versagte sogar sein Theatertalent: statt auf das Stichwort zu einem effektvollen Abgang zu hören, wartete er, bis er von der Szene gejagt werden musste.«5 Zu sehr war er selbst seiner eigenen Maskerade erlegen.

Doch kehren wir noch einmal zu den Anfängen zurück: Seit seiner Krönung zum deutschen Reichsmonarchen im Jahr 1888 hatte Kaiser Wilhelm enorm viel Macht inne. Er entschied über Krieg und Frieden, konnte den Reichskanzler berufen und entlassen, ohne auf Reichstag und Bundesrat Rücksicht zu nehmen. Und er war Oberbefehlshaber von Armee und Marine. Darüber hinaus verfügte der Kaiser über einen eigenen Behördenapparat: das Geheime Zivilkabinett, das Militärkabinett und das Marinekabinett. Mittels der drei Kabinettschefs entschied er alle wesentlichen Personalangelegenheiten im Staatsapparat und bei den Streitkräften – oft nach Gutdünken. Die Möglichkeiten Wilhelms II., Macht auszuüben, gingen aber noch weit über die verfassungsmäßigen Befugnisse hinaus. Vom Reichsgründer Bismarck war insbesondere die höhere Beamtenschaft darauf eingeschworen, ihm strikt zu gehorchen. Wer sollte Wilhelm nach dem Sturz des Titanen Bismarck da noch widersprechen? Es war in der Tat eine souveräne, besser autokratische Herrschaft, die dieser Kaiser mehr als drei Jahrzehnte hatte ausüben und – auch das – auskosten dürfen. Denn er gefiel sich sehr in der Rolle des eigenmächtigen, selbstherrlichen Reichsmonarchen. Ein Kaisertum ohne autoritäre Gestaltungsmacht und ohne Weisungsbefugnis gegenüber seiner Regierung war für ihn undenkbar.

Natürlich hatten berufene und unberufene Ratgeber immer wieder versucht, auf Entscheidungen des Kaisers Einfluss zu nehmen. Mehr oder weniger erfolgreich, im Guten wie im Schlechten. In eine echte Krise war seine Herrschaft vor Ausbruch des Weltkriegs durch solche Einflüsterungen aber nur einmal geraten, als zwei Affären in den Jahren 1907 und 1908 die politische Öffentlichkeit ernsthaft gegen ihn aufgebracht hatten. Doch die immer noch loyale Volksvertretung hatte Kaiser Wilhelm damals noch einmal ohne wirksame Beschneidung seiner Machtbefugnisse davonkommen lassen.6 In den folgenden Jahren stieg das Ansehen des Kaisers dann allmählich wieder, bis ihn schließlich die Feierlichkeiten zu seinem 25. Regierungsjubiläum im Juni 1913 auf dem bisherigen Höhepunkt seines Ansehens zeigten.

Die Rolle Wilhelms bei Kriegsausbruch 1914 war ambivalent. Seine berüchtigten Randbemerkungen vom 2. Juli – »Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald!«7 – und sein sogenannter Blankoscheck für die Regierenden Österreich-Ungarns vom 5. Juli bildeten zwar die Basis für die riskante Politik des Reichskanzlers Theodor von Bethmann Hollweg in der Julikrise. Am Ende drängten jedoch Bethmann Hollweg und Generalstabschef Moltke den zwischenzeitlich zögerlich gewordenen Kaiser in den Krieg hinein. Wilhelms Ansprache vom Balkon des Berliner Stadtschlosses am Abend des 1. August und seine emotionale Rede vor den Fraktionen des Reichstags drei Tage später – »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche« – verschafften ihm noch einmal größere Popularität.

Apotheose des deutschen Burgfriedens, wie er in den ersten Kriegsjahren zur Staatsraison erklärt und in zahllosen Publikationen und Manifestationen öffentlich zelebriert wurde.

Doch von da an ging es bergab mit seinem Prestige. Die bemerkenswerte Loyalität, die ihm sein patriotisches Verhalten bei Kriegsausbruch eingebracht hatte, verspielte er rasend schnell. Dessen ungeachtet blieb sein Glaube an die anhaltende mythische Wirkkraft jenes August-Erlebnisses durch nichts zu erschüttern. Auf ewig sei das deutsche Volk jetzt mit seinem Kaiser auf Gedeih und Verderb verbunden, lautete sein Credo. Dem entsprach auch seine Einbildung, von ihm gehe immer noch ein Zauber aus, dem niemand widerstehen könne.

Am 16. August 1914 reiste der Kaiser in das sogenannte Große Hauptquartier nach Luxemburg ab. Es sollte im Verlauf des Krieges mehrfach den Ort wechseln und befand sich zuletzt im belgischen Kurort Spa. Dem Großen Hauptquartier gehörten neben der Obersten Heeresleitung (OHL), also dem Generalstab der Armee und dem Kaiser, Vertreter der Reichsregierung, der Marine und der Bundesstaaten an. Wilhelm II. hielt sich fast die gesamte Kriegszeit über im Großen Hauptquartier auf. Er blieb damit zwar fast immer im sicheren Hinterland, fühlte sich aber als tapferer »Frontsoldat«. Ohne das Eiserne Kreuz an seiner Brust sollte man ihn fortan in der Öffentlichkeit nicht mehr erblicken. Nun war der Kaiser als Staatsoberhaupt mit unverändert weitreichenden Vollmachten zugleich Deutschlands »Oberster Kriegsherr«. Um diese großen Möglichkeiten staatsklug zu nutzen, hätte er nun einen festen politischen Führungswillen zeigen, klare Ziele haben und – tatsächlich – arbeiten müssen. An alledem aber haperte es bei ihm. So versagte er von Anfang an auch bei seiner wohl wichtigsten Aufgabe, nämlich die politische und militärische Führung des Reiches zu koordinieren.

Der zweite Chef der Obersten Heeresleitung, General Erich von Falkenhayn, wusste den Monarchen zu nehmen und schloss ihn geschickt von jeglicher Mitwirkung an den militärischen Operationen aus. Wilhelm entging das natürlich nicht, doch er befahl lediglich: »Falkenhayn muss doch [wenigstens] nach außen die Fiktion erhalten, dass ich alles persönlich anordne.«8 Im geschützten Raum bekannte er ebenso freimütig wie zutreffend: »Wenn man sich in Deutschland einbildet, dass ich das Heer führe, so irrt man sich sehr. Ich trinke Tee und säge Holz und gehe spazieren, und dann erfahre ich von Zeit zu Zeit, das und das ist gemacht, ganz wie es den Herren beliebt.«9 Diesen Umstand bestätigte ein halbes Jahr später der wohlinformierte bayerische Gesandte in Berlin, als er seinen Ministerpräsidenten wissen ließ: »Nach allem, was ich höre, setzt der Kaiser seine sehr aktive Untätigkeit fort und damit hat er sich gewissermaßen selbst ausgeschaltet.«10 Mit anderen Worten führte Wilhelm also im Großen Hauptquartier sein altes Leben weiter: Auch dort erledigte er die Regierungsgeschäfte zumeist im Umhergehen, machte am Nachmittag gern einen Ausflug und hielt abends Monologe oder spielte Karten mit seinen »Herren«. Im Übrigen wurde in der Tat viel Holz gehackt11 – offenbar war reichlich Ablenkung nötig, um die politische und militärische Passivität zu ertragen. Für Zerstreuung sorgte ebenfalls die kleine schwarze Teckelhündin namens »Strolch«, die nicht nur im Großen Hauptquartier seine ständige Begleiterin war. Die schlaue Dackeldame kannte wohl die vermeintlich allmächtige Stellung ihres kaiserlichen Schutzherrn und führte sich entsprechend auf – sehr zum Leidwesen des von ihr angeknurrten oder gebissenen Leibpersonals.

Nach außen gab sich Kaiser Wilhelm als unerschütterlicher Verfechter eines deutschen Siegfriedens, der seinem Reich Sicherheit und Weltgröße garantieren müsse. Gegen die Ratschläge, sich doch öfters in Berlin zu exponieren, sträubte er sich, hätte es für ihn doch bedeutet, wenigstens symbolisch die entsetzlichen Leiden seines Volkes mitzutragen. Da fühlte er sich unter den Militärs im Großen Hauptquartier erklärtermaßen wohler, was seine Herren dort nicht uneingeschränkt goutierten, hatten sie doch ihre liebe Mühe, den stets hohen Erwartungen ihres unberechenbaren Befehlsgebers zu entsprechen. Als der Chef seines Militärkabinetts Lyncker ihm dennoch einmal »in aller Form über seine Pflichten gegenüber dem hungernden und leidenden Volk Bescheid« zu sagen wagte, »gab es einen Mordskrach […], der damit endete, dass [der Kaiser] laut schimpfend im Zorn herausrannte und die Tür mit Gewalt und Krach zuschmiss«. Lyncker hielt es für verhängnisvoll, »an maßgebender Stelle so gar kein Verständnis für die allgemeine Not zu finden«, und glaubte schon Anfang 1917, dies werde sich noch einmal rächen. »Schon jetzt wird in weiten Kreisen nicht gut vom Kaiser gesprochen; es bleibt doch nicht geheim, wie er in dieser Zeit sein Leben hinbringt.«12

Falkenhayn rechnete schon seit Ende 1914 nicht mehr mit einem militärischen Sieg der deutschen Seite. Er befürwortete deshalb einen Kompromissfrieden, vorzugsweise mit Russland. Wilhelm II. stimmte diesen Überlegungen zu, doch Reichskanzler Bethmann Hollweg sabotierte ihre Umsetzung. Er war fälschlicherweise davon überzeugt, Falkenhayn wolle ihn nur verdrängen und selbst Kanzler werden. Deshalb griff er die Kritik einiger Militärs an Falkenhayn auf und schlug dem Kaiser vor, den Generalstabschef zu entlassen und an seiner Stelle Ludendorff zu ernennen. Wilhelm reagierte empört. Er war zwar verärgert, weil Falkenhayn ihn von den militärischen Entscheidungen fernhielt, schätzte den General aber gleichwohl persönlich sehr. Entschieden weigerte er sich, Ludendorff zu berufen, der ein »zweifelhafter, von persönlichem Ehrgeiz zerfressener Charakter« sei.13 Als auch Hindenburg am 12. Januar die Entlassung Falkenhayns forderte, bescheinigte der Kaiser ihm entrüstet die »Allüren eines Wallenstein«.14 Gegen alle Anfeindungen hielt Wilhelm seinen Generalstabschef fast zwei Jahre lang im Amt. Erst als Rumänien Ende August 1916 an der Seite der Entente in den Krieg eingriff, wurde der Druck auf den Kaiser so stark, dass er den Kanzler fallen lassen musste. Hindenburg wurde nun Generalstabschef, Ludendorff »Erster Generalquartiermeister«. Alle Eingeweihten merkten rasch, dass Ludendorff in diesem Duo als entschlussfreudiger Stratege das Sagen hatte und dass Hindenburg de facto an des Kaisers Stelle als Oberster Kriegsherr getreten war. Umso mehr bestand der so in den Schatten gestellte Monarch darauf, dass wenigstens weiterhin so getan werde, als habe er das letzte Wort in Staat und Armee.

Längst war an Wilhelm auch die Forderung ergangen, den politisch nur mehr herumlavierenden Reichskanzler Bethmann Hollweg zu entlassen. Doch an ihm hielt der Oberste Kriegsherr ebenfalls zunächst hartnäckig fest, bis das Duo Hindenburg-Ludendorff im Juli 1917 durch freche Rücktrittsdrohung dessen Verabschiedung erzwang. In seiner Ratlosigkeit ernannte der Kaiser Georg Michaelis zum Nachfolger, einen farblosen Verwaltungsbeamten, der mit dem neuen Amt völlig überfordert war. Nur kurz darauf traf sich der Monarch in zwanglosem Rahmen mit Vertretern der Reichstagsfraktionen in Berlin, um eben diesen Eindruck demonstrativ zu zerstreuen. Während die Reichstagsmehrheit sich schon auf einen »Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker« orientiert hatte, schwadronierte der Monarch bei dieser Gelegenheit unbekümmert davon, den bald besiegten Feinden Land, Rohstoffe und Geld wegzunehmen. Und dann verkündete er noch, wo Seine Garde auftrete, da gebe es keine Demokratie.15 Ein verheerenderes Zeugnis seiner Politikunfähigkeit hätte er kaum ablegen können. Ein Teilnehmer meinte später, die Zusammenkunft sei »der tiefste Spatenstich zum Sturz des bisherigen Regimes« gewesen.

Nach der Berufung von Hindenburg und Ludendorff an die Spitze der Obersten Heeresleitung stand Wilhelm II. militärisch im Abseits. Bald wusste alle Welt: Wilhelm »konnte weder Krieg noch Frieden führen«.16 Politisch hatte er schon seit 1917 nur mehr von der Würde des Kaisertums gezehrt, doch die hatte er mit der Ernennung dieser militärischen »Halbgötter« nun auch noch verspielt. Sich geschickt als Volkskaiser zu gerieren, vermochte beziehungsweise wollte er nicht. Und eine andere Karte, die er noch hätte ausspielen können, um Popularität zu erlangen und die Existenzkrise seines Regimes abzuwenden, gab es nicht.

Je weniger der Kaiser im Laufe des Krieges politisch und militärisch zuwege brachte, je mehr sein tatsächlicher Einfluss schwand, umso stärker kaprizierte er sich auf die Repräsentation einer Macht, die ihm formell und habituell immer noch zu Gebote stand. Noch immer galt er offiziell als unverantwortlich und unantastbar, doch gerade diese außerordentliche Machtfülle verhinderte jede (selbst-)kritische Reflexion. Darüber hinaus war er überaus leicht und aus unterschiedlicher Richtung zu beeinflussen. Ein Übriges tat sein machtpolitisches Dogma, nur eine autokratische Militärmonarchie altpreußischer Provenienz könne dem Reich seine führende Stellung in Europa und der Welt sichern.

Wer den Kaiser beraten wollte, hatte – vor allem in inhaltlichen Dingen – den Schein zu wahren, Seine Majestät allein sei für die Reichspolitik verantwortlich. Doch wegen seiner kurzen Aufmerksamkeitsspanne hielt ohnedies kein Beratungsversuch lange vor. Als ein Genie der Selbsttäuschung ging Wilhelm – von lichten Momenten abgesehen – davon aus, dass überhaupt nur seine Interventionen weitreichende politische Folgen zeitigen könnten. Tatsächlich wurde er in der Welt der Großen Politik jedoch schon seit 1915 nur noch als Nebenfigur wahrgenommen. Umso mehr, als er von jeder Kundgebung eines eigenen politischen Willens absah und schlecht informiert blieb bis hin zur Ahnungslosigkeit. Große Distanz wahrte er zu gesichertem Wissen und zu kritischer Reflexion der Lage. Seine mangelnde Bereitschaft, eine ehrliche Bestandsaufnahme der nüchternen Fakten auch nur zuzulassen, geschweige denn zur Grundlage seiner eigenen Meinungsbildung zu machen, war notorisch. Sonderlich engen Kontakt zur politischen Wirklichkeit hätte er aus seinem höfischen Elfenbeinturm heraus zwar ohnehin schwer aufnehmen können, aber er suchte ihn nicht einmal. So blieb er dauerhaft unfähig, die Außenwirkung seines Auftretens auch nur annähernd zutreffend zu beurteilen.

Dennoch war dieser Kaiser in politischer Hinsicht nicht gänzlich blind oder taub. Für die Gefahren und Risiken seiner eigenen Machtstellung, für den Hintersinn der Meldungen, die an ihn gelangten, und für die menschlichen Schwächen seiner Weggefährten besaß er sogar einen bemerkenswerten politischen Instinkt. Seine rasche Auffassungsgabe und seine Geistesgegenwart bei politischen Beratungen waren freilich nur das eine, seine Ungeduld und seine Stimmungsschwankungen waren das andere. Er erfasste durchaus das Wesentliche in politischen Konfliktsituationen, aber alles musste immer temperamentvoll und »energisch« entschieden werden und war dann keineswegs noch einmal zu prüfen. Die Fähigkeit, sich im politischen Streit zu mäßigen, die Dinge aus nüchterner Distanz sachlich zu betrachten und zu beurteilen, ging ihm völlig ab. Was ihm aber am meisten fehlte, war leutselige Gelassenheit.

Er redete sich ein, aufgrund seiner langen Regierungserfahrung, politisch nicht mehr dazulernen zu müssen, und kannte in den meisten politischen Fragen doch nur Momentwahrheiten. Folglich fand er sich mit Veränderungen rasch ab und ließ sich notfalls sogar politisch verbiegen. Seine innere Haltung aber berührte das überhaupt nicht, nicht einmal seine moralische. Insofern war und blieb er der politischen Führungsaufgabe nicht gewachsen, ja nicht einmal an ihr zu wachsen vermochte er.

Dieses Defizit geht freilich nicht allein auf Wilhelms Charakterschwächen zurück. Hier blieb auch ein kräftiger Schuss Ideologie mit im Spiel. Denn auch im 20. Jahrhundert lebte dieser Monarch noch in tiefster Überzeugung davon, der Herrgott persönlich habe ihn zum Sendboten und Vollstrecker seines Willens gemacht. Dieser Glaube an die eigene Auserwähltheit blieb immer bestimmend für sein Selbstverständnis. Auch die Lenkung der großen Politik fasste er so auf. Namentlich während des Weltkrieges. Insofern führte er seinen Kampf gegen ein Zerrbild der Entente, das er selbst generiert hatte. Will sagen: Er kämpfte gegen eine Welt von Feinden, deren vermeintliche Wesenheit eine Fiktion war. Kein Wunder, dass sein Denken und Handeln bisweilen wahnpolitische Züge annahm oder eine politische Ahnungslosigkeit verriet, die ihn für das operative Geschäft gleichermaßen disqualifizierte. Fataler aber noch wirkte sich aus, dass es niemanden in seinem Umfeld gab, der ihn aus jener ideologisch verformten Welt irriger politischer Vorstellungen herausgeholt hätte. So konnte er sich fortgesetzt einreden, für Deutschland unverzichtbar zu sein.