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Die junge Lies Odenthal ist frustriert von ihrem Leben: Ihr Job ist langweilig, und ihr Freund hat sie gerade verlassen. Kurz entschlossen fasst sie sich ein Herz und reist nach Island – um dort ein Jahr auf einer Farm zu arbeiten. Doch bei der Ankunft trifft sie der Schock: Gunnarstaðir ist der einzige Hof im ganzen Tal und hat nur einen einzigen Bewohner, den alten, wortkargen Elías. Doch Lies beißt sich durch und gewöhnt sich langsam an die harte Arbeit im Schafstall, das dürftige Essen und den mürrischen Elías. Sie lernt die verzauberte Landschaft und das einfache Leben kennen und lieben, wobei ihr nicht zuletzt auch der Tierarzt Jói Magnússon hilft ...
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Seitenzahl: 442
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Die junge Lies Odenthal ist frustriert von ihrem Leben: Ihr Job ist langweilig, und ihr Freund hat sie gerade verlassen. Kurz entschlossen fasst sie sich ein Herz und reist nach Island – um dort ein Jahr auf einer Farm zu arbeiten. Doch bei der Ankunft trifft sie der Schock: Gunnarstaðir ist der einzige Hof im ganzen Tal und hat nur einen einzigen Bewohner, den alten, wortkargen Elías. Doch Lies beißt sich durch und gewöhnt sich langsam an die harte Arbeit im Schafstall, das dürftige Essen und den mürrischen Elías. Sie lernt die verzauberte Landschaft und das einfache Leben kennen und lieben, wobei ihr nicht zuletzt auch der Tierarzt Jói Magnússon hilft …
Über Dagmar Trodler
Dagmar Trodler, 1965 in Düren/Rheinland geboren. Sie arbeitete zunächst als Krankenschwester und studierte Geschichte und Skandinavistik. Sie lebt heute meistens auf Island. Gleich ihr erster Roman »Die Waldgräfin« wurde ein Bestseller. www.dagmar.trodler.de
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Dagmar Trodler
Der letztelange Sommer
Island-Roman
Wen kein Bangen mehr beschwert,
frei von hinnen reitet.
Heil führt ihn auf seinem Pferd,
Glück die Zügel leitet.
(BISCHOF JÓN ARASON, 1550)
Inhaltsübersicht
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Dank
Impressum
Der alte Mann kam erst aus dem Haus geschlurft, als der Hund sich schon heiser gekläfft hatte. Doch Lies hatte weder den Mut gehabt, an ihm vorbei zur Haustür zu gehen, noch laut zu rufen. Dabei war es nur einer dieser behaarten Spitze, die hier in Island jeder zu halten schien – klein, rund, unglaublich schnell und alles ankläffend, wassich bewegte.
Lies seufzte. Also doch jemand da. Der Typ, der sie von Egilstaðir aus freundlicherweise in diese grässliche, ostisländische Einöde gefahren hatte, hatte nicht mehr als drei Worte verloren, als sie ausgestiegen war, sie hatten Ähnlichkeit mit »Nice stay« gehabt. Koffer raus, Tür zu, Abfahrt. Selbst die Staubwolke, die sein Pick-up hinterließ, hatte sich hastig aufgelöst. Merkwürdig. Aber nun war der Hausherr ja da. Mutig nahm sie ihren Koffer und ging auf ihn zu.
Der Spitz sprang kläffend an ihr hoch – ein energisches Brummen des Besitzers, und der Hund ließ ab von ihr und kroch geduckt auf einen alten Teppich neben der Tür.
»Hallo – hæ. Goðan daginn«, versuchte Lies ihr Glück mit den wenigen isländischen Wörtern, die sie aus dem >Reiseführer behalten hatte. ›Den Rest lernst du schon von selber‹, hatte ihre Freundin gesagt.
Ha. Guter Witz.
Denn das, was aus dem Munde des Alten kam, klang eher wie ein unappetitliches Schmatzgeräusch denn wie Worte einer europäischen Sprache, zudem alles andere als willkommen heißend. Vielleicht war der doch nicht der Hofbesitzer? Oder sie war am falschen Hof abgesetzt worden? Fast wünschte sie sich das, wenn sie sich heimlich umschaute … Dann sagte ihr ein Gefühl, dass sie hier richtig war und dass es dem Schicksal wohl gefiel, ihr diese Prüfung abzuverlangen. Die Gegend sah nämlich nicht so aus, als gäbe es hier noch mehr Höfe.
Und so blieben sie voreinander stehen, ohne zu verstehen, was einer dem anderen sagen wollte. Der Alte musterte sie finster. Buschige graue Brauen wucherten über seinen wassergrauen Augen, die sie flink musterten und zwischen hunderten von Falten und Krähenfüßen zu verschwinden schienen. Ab und zu leckte er sich die Lippen, dann bemerkte sie seine furchtbar aussehenden Zähne. Die knollige Nase dominierte das Gesicht und erzählte von vergangenem Alkoholgenuss. So, wie er jetzt da stand, roch sie nichts. Dafür eine Mixtur aus Dutzenden anderer Gerüche, die verrieten, dass auf dem Hof Gunnarsstaðir nicht allzu viel Zeit auf Kleiderwaschen verschwendet wurde.
Das also war ihr Arbeitgeber für die nächsten Monate. Herzlichen Glückwunsch.
Was für eine Schwachsinnsidee.
Als hätte er ihre Gedanken gehört, drehte er sich ruckartig um, schwankte erst, dann fing er sich und humpelte zum Haus. Ein Bein war länger als das andere, die Hüfte verwachsen. Die schlabbrige Hose wurde von einem Hosenträger gehalten, und der Wind spielte an dem zu weiten Hemd, das rechts über den Hosenbund heraushing. Sicher war er früher mal ein stattlicher Kerl gewesen, breite Schultern und kräftige Arme hatte er immer noch. An der Haustür, die sich leise quietschend in den Angeln wiegte, drehte er kurz den Kopf und machte eine Bewegung – komm mit. Der Spitz blieb liegen, wo er hinbefohlen worden war, doch schwarze Äuglein überwachten jeden einzelnen von Lies’ Schritten, den sie aufs Haus zuging. An der Haustür drehte sie sich noch einmal um.
Braun und gleichgültig, mit langen weißen Schneetränen erhoben sich die faltigen Berge des Tales über ihr, und gleichgültig gurgelte der Gletscherfluss, den sie vom Auto aus gesehen hatte, weiter hinten vor sich hin. Gleichgültig wehte der ewige Wind – wer bist du, was willst du, was geht’s dich an –, blies ihre Haare stur in eine Richtung. Eine Schwalbe zerschnitt den Luftraum, schwang sich mit kühnem Bogen vor ihr in die Luft – hier bist du nun, hier bleibst du auch. Hier bleibst du, wirst schon sehen.
Was für eine Schwachsinnsidee.
Lies schluckte. Sie nahm allen Mut zusammen und machte den letzten Schritt auf das Dunkel des Hauseinganges von Gunnarsstaðir zu.
»Mach doch mal was ganz anderes«, hatte ihre Freundin Silke gesagt. »Nimm unbezahlten Urlaub und mach mal was ganz anderes.« Diese Idee an sich war ja nicht schlecht gewesen. Was sie jedoch dazu gebracht hatte, ausgerechnet Silkes Vorschlag in die Tat umzusetzen und für ein paar Monate auf einem Bauernhof in Island zu arbeiten, das wusste Lies nicht mehr. Was in aller Welt macht man Anfang April in Island?
Naja, irgendwie war in letzter Zeit alles so unerfreulich gewesen, vom ersten Tag des neuen Jahres an. Blöder Ärger mit den Eltern – weswegen eigentlich? Dann die Mieterhöhung. Kurz darauf ein Wasserrohrbruch, tagelang Gestank in der Bude, der neue Teppichboden fraß die Ersparnisse auf, die Versicherung stellte sich taub. Dann musste die Katze eingeschläfert werden. Und Thomas verkündete, dass er sich anderweitig verliebt hatte und packte seine Sachen. ›Anderweitig‹ war ausgerechnet ihre Freundin Sandra gewesen, und bei ihr war er dann auch gleich eingezogen. Leider sah man sich allwöchentlich beim Judotraining, weswegen Lies schon bald keine Lust mehr auf ihren geliebten Sport hatte und lieber zu Hause vor dem Fernsehen dahindämmerte. Und schließlich der ganze verdammte Ärger im Job. Der Job. Ja, das war vielleicht das Schlimmste von allem.
Sie wusste nur noch, dass sie dringend weggewollt hatte und dass ihr da alles recht gewesen war. Weg von allem, insbesondere aber weg von diesem staubigen, schmierigen Sechziger-Jahre-Schreibtisch im Finanzamt, weg vom allmorgendlichen Magendrücken, wenn sie die schwere Tür des Betonklotzhauses in der Seitenstraße aufstieß und sich sofort wie in einem Tresorraum eingesperrt gefühlt hatte. Weg von den staubigen Akten voller Schicksale, die zu lenken ihr Job war und die sie nach Auffassung ihres Abteilungsleiters viel zu großzügig und unökonomisch behandelte. Weg vom schalen Bürokaffee und altem Zigarettenqualm im überheizten Klo, in dem ganzjährig das Fenster aufstand, Heizöl auf Steuerzahlerkosten vergeudet wurde, weil die Thermostate kaputt waren, und wo man sich im Winter trotzdem den Hintern abfror. Weg von den Strickmusterdiskussionen der Kolleginnen, von billigen Pralinen, die Sodbrennen verursachten, und von irgendwelchen Frauenzeitschriften in Schreibtischschubladen, wenn man Klebeband suchte.
Weg von dieser Stimme, die sie im Schlaf verfolgte, näselnd, penetrant und mit ewig zu trockenem Mund. »So geht es nicht, Frau Odenthal, so läuft das nicht. Ich werde Ihre gesamten Akten prüfen lassen, und dann können Sie sich auf was gefasst machen.«
Arnold Packbiers Augen hatten unternehmungslustig geglitzert, während er die zuletzt geprüfte Stichprobe mit Verve auf ihren Schreibtisch pfefferte. Der Abteilungsleiter war bekannt dafür, dass er wie ein einmal geweckter Terrier keine Ruhe mehr gab. Und ihr Büro lag nur zwei Zimmer weiter, da war die Chance groß, ungewollt seine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Wir sind hier nicht die Wohlfahrt, wir sind Steuereintreiber, Frau Odenthal. Wir treiben Steuern ein, bei Leuten, die ordentlich Steuern zahlen sollen und das aber nicht wollen. Wir sind dazu da, dem Betrug des Bürgers auf die Spur zu kommen, und nicht, Wohltaten zu verteilen. Wenn Sie wohltätig sein wollen, Frau Odenthal, dann gehen Sie zur Caritas.« Dann hatte er auf ihrem Schreibtisch nach weiteren Akten gewühlt und sich drei aus dem Haufen in der Ablage genommen. »Ich werde jetzt mal weiterschauen, was Sie hier eigentlich so produzieren.« Damit war er aufrecht und triumphierend wie ein General abgezogen.
Und Lies hatte sich kurzentschlossen krankgemeldet.
»Island. Was soll ich bitte in Island?«, hatte sie Tage später gefragt, als Silke ihr das Jobangebot auf den Küchentisch gelegt hatte.
»Naaa –«, und Silkes Blick war geheimnisvoll geworden. »Fahr hin und schau’s dir an. Island ist anders. Wer einmal dort war, will immer wieder hin.« Und sie hatte ihr ein Foto dagelassen. Dieses Foto hatte Lies unzählige Abende vor dem Lichtausknipsen betrachtet, bis Fettflecken den Glanz des Fotopapiers zerstörten und die Ecken Eselsohren bekamen, und sie war mit dem Bild vor Augen eingeschlafen. Ein kleines rotes Haus auf einer Klippe, inmitten einer Wiese voller weißer Wollblumen. Wollblumen gab es hier nicht, sie hatte noch nie welche gesehen. Das blaue Blechdach passte zum sanften Blau des Himmels und erwiderte die Farbe des Meeres unterhalb der Klippe. Eine karge Felseninsel rundete das Ganze im Hintergrund ab.
Das Bild hatte sie die nächsten Tage verfolgt. Rotes Haus, blaues Dach. Klippe. Rotes Haus.
»Sag ich doch«, hatte Silke beim nächsten Treffen gesagt. »Alle paar Kilometer steht so ein putziges Haus.« Hatte grinsend ihre Reithose zusammengerollt und sie in den Beutel gesteckt. Lies mochte nämlich den Pferdegeruch nicht in ihrer Wohnung haben.
»Fahr hin und komm auf andere Gedanken.«
Andere Gedanken.
Weg aus der staubigen Wohnung an der Hauptverkehrsstraße und vom nebelig kalten Deutschlandwetter, weg von Axels nervenden Anrufen, von seiner aufdringlichen Verehrerschaft. Dabei war klar, was er wollte, und seine Höflichkeit ging ihr auf den Geist – sie hatte noch an Thomas’ Untreue zu knabbern und erst mal keinen Bock auf eine neue Beziehung. Weg von Packbier. Von den Akten, mit denen sie nicht weiterkam, wo sie Anträge nicht verstand und nicht zu fragen wagte, und von dem Riesenstapel, bei dem es ihr so leid tat, die errechneten Forderungen auszudrucken, weil sie wusste, was Briefe vom Finanzamt für so manche Familien bedeuteten, und den sie daher Tag für Tag von rechts nach links schob und ihn vor Packbier versteckte.
Und immer wieder Packbier, dessen Aktenprüfung wie ein Mühlstein auf ihrem Herzen lastete und zunehmend Düsternis verbreitete …
War weglaufen eine Lösung dringlicher Probleme?
Es war durchaus eine Lösung, hatte sie eines Abends entschieden.
Keine elegante, aber eine Lösung, mit der sich erst mal wieder schlafen ließ, ohne schweißgebadet wachzuwerden, mit Herzrasen und Angstattacken und Appetitlosigkeit, selbst wenn Silke Lammfilets mit Rosmarin für sie beide gebraten hatte.
Und so hatte sie eine Woche später unbezahlten Urlaub eingereicht, Arbeitsbefreiung für 12 Monate beantragt und spät in der Nacht geradezu beschwingt auf die Return-Taste ihres PCs gedrückt und die Online-Buchung für einen Hinflug am fünften April nach Island bestätigt. Jemand aus Silkes weitläufigem isländischen Bekanntenkreis hatte ihr dort eine Arbeitsstelle beschafft und würde ihr langweiliges, überschaubares Leben damit für eine Zeit unterbrechen.
Nach dem Tastendruck saß sie noch eine Weile still auf dem Kissen.
Nun hatte sie den Sprung gewagt. Los. Obwohl sie noch nie in Island gewesen war, keinen Isländer kannte, die Sprache noch viel weniger, und auch über das Land nicht viel mehr wusste, als dass es dort große Kälte und gefährliche Vulkane gab, und Schafe und diese merkwürdigen Ponys, von denen Silke gleich drei besaß, weil sich eins allein ja langweilte. Alkohol war teuer, Gemüse wuchs dort nicht, und die Einwohner waren schweigsam. Nun, Letzteres musste nichts Schlechtes bedeuten.
Vielleicht waren es die Vulkane, die ihre Entscheidung beeinflussten. Was war ein Vulkan gegen einen mit Akten bewaffneten Packbier? Beide machten Lärm und Ärger, beide störten den Alltag, beide hatten Einfluss auf ihr Wohlbefinden. Der Vulkan brach nur alle Jubeljahre mal aus, Packbier hingegen beinahe täglich. Ziemlich schräger Vergleich …
Die kleine Wohnung war schnell vermietet, Möbel und Krempel besaß sie eh nicht viel, Silke half ihr, die Sachen auf dem Hof ihrer Eltern unterzubringen. Die letzte Woche wohnte sie bei Silke, und so langsam, ganz langsam, stellte sich so was wie Nervosität ein. All die Wochen war es nichts als ein Plan gewesen. Jetzt gab es nur noch ihre Koffer, das Flugticket und Silke, die ihr so viel wie möglich über die kalte Insel zu erzählen versuchte. Manchmal hörte Lies hin, meistens jedoch hing sie ihren Gedanken nach …
Zwei Tage vor dem Abflug war dann der Anruf gekommen, die Familie in Island habe die bestellte Haushaltshilfe leider abgesagt, sie müsse sich aber keine Sorgen machen und könne ruhig den Flieger besteigen, man habe bereits einen anderen Arbeitgeber für sie gefunden. Lies hatte kurz vorm Durchdrehen gestanden – so kurz vor dem Ziel sollte alles über den Haufen geworfen werden?!
»Mach dich nicht verrückt«, hatte Silke versucht, sie zu trösten, während sie am Flughafen einen Parkplatz suchte. »Wird bestimmt lustig. Wer weiß, wen du kennenlernst.« Schwungvoll hatte sie ihr Auto an der Parkbucht zum Stehen gebracht. »Guck mal – das hier stand heute Morgen in der Zeitung. Ich hab’s dir ausgeschnitten.« Und sie hatte ihr lächelnd einen kleinen Zeitungsausschnitt gereicht.
Im Flugzeug hatte Lies ihn ausgepackt.
»Es ist drei Uhr in der Frühe. Ein letztes Mal steigen wir, die Arme voll duftendem Heu, über den Mittelgang, wo sich die Schafe nach dem Futter recken. Die Stimmen der Mutterschafe mischen sich mit dem Quäken der Lämmer – Hunger, schneller! Kurz darauf wohliges Schmausen, hier und da ein leises ›Bäh‹, Ruhe im Stall. Ich nehme eins der Wollknäuel auf den Arm. Es riecht wie ein Baby, süßlich nach Milch, und die feine Flaumwolle streichelt sanft meine Wange. Durch die offene Tür zieht kühle Luft in den Schafstall. Aufmerksam sitzt der Bordercollie neben der Isländerin. Auf ein Wort hin läuft er los, lautlos und blitzschnell auf die trächtigen Schafe zu, um sie in den Stall zu treiben. Wie ein schwarzer Schatten kreist er um die Herde; kurz darauf drängeln sie im Futtergang aufgeregt um das Heu herum. Derweil schwankt vorne in der Box das neugeborene Lämmchen auf seinen staksigen Beinen. Emsig leckt die Mutter sein lockiges Fell, sein erstes Bähen verzaubert mein Herz. Die Isländerin strahlt mich an. ›Ich liebe das‹, sagt sie leise. ›Verstehst du jetzt?‹
Wir löschen das Licht und verriegeln den Stall. Die Sonne ist nicht untergegangen, das tut sie im Mai hier in Ostisland nicht mehr. Sie ruht gegen Mitternacht nur kurz aus, dann strahlt sie gleich wieder vom Himmel, und meine Müdigkeit verfliegt, als die frische Morgenluft mein Haar verwirbelt. Langsam gehe ich auf mein Ferienhaus zu. Die kahlen Berge beiderseits der Jökulsá á Brú nicken majestätisch ›Guten Morgen‹, Schwalben flitzen lautlos vor mir her, es duftet nach neuem Gras – dieser Ort ist zu magisch, um ins Bett zu gehen.«
Verzaubert hatte Lies den Papierfetzen sinken lassen und aus dem Fenster geschaut, wo die Wolken wie ein dickes Flaumkissen lagen und sie im Notfall auffangen würden. Nett klang das.
Was sie allerdings seither erlebt hatte, war nicht nett gewesen, und ihr Arbeitgeber war keine freundliche, strahlende Isländerin, sondern ein bärtiger, alter Sack.
Elías Böðvarsson auf Gunnarsstaðir.
Elías war nicht mehr zu sehen, verschluckt vom Dunkel der muffigen Diele. Es roch nach Stall, Essen von gestern und nach altem Mann. Mutig wagte sie sich weiter vor und wäre fast über Fetzen des zerlöcherten Linoleumbodens gestolpert, sie fing sich gerade noch, um gleich darauf in ein Meer von Schuhen zu fallen. Die ganze Diele stand voller breiter Treter, Stiefel, Generationen von Schlappen unbekannten Alters. Speckiges Leder und poröses Gummi hinterließen einen ekligen Film an ihren Händen. Gehörten die etwa alle diesem alten Mann?? Heftig schluckend rappelte sie sich aus dem Haufen auf, schob den Schuhberg zur Seite und tastete sich weiter vor, auf einen Lichtschein zu, zu dem Elías vielleicht verschwunden war.
Irgendwo knackte es, Papier knisterte. Ein Löffel fiel zu Boden. Im ganzen Haus roch es durchdringend nach Heizöl.
Es war die Küche, aus der das Licht kam, und jemand hatte Kaffee frisch aufgebrüht. Kaffee. Stark und schwarz und aromatisch. Lies schloss die Augen und sog den Duft ein – ein Kaffee würde sie retten nach der anstrengenden Fahrt über die Buckelpisten des isländischen Ödlands …
Das Linoleum flüsterte, dass jemand mit Socken darüberlief. Elías erschien in der Küchentür, die Kaffeetasse in der Hand, und wirkte nicht besonders einladend.
Lies schluckte. Was für ein unhöflicher Klotz. Der sah ja aus wie ein Troll. Sein Blick glitt an ihr herab, blieb an den Wanderschuhen hängen. Der struppige Bart bewegte sich, Worte rannen zwischen den Barthaaren heraus, sie verstand irgendwas von ›ausziehen‹ und ›sofort!‹. Siedendheiß fiel ihr ein, was Silke ihr eingeschärft hatte: immer die Schuhe ausziehen. Hastig nestelte sie an den Schnürsenkeln, tappte die paar Schritte zurück in die Dunkelheit und zog die Schuhe dort aus, wo es nach Schuhen, Fußschweiß und Schlimmerem roch und wo sie eben auf der Nase gelegen hatte. Als sie zurückkam, stand Elías immer noch in der Tür.
Und er reichte ihr den Kaffeebecher mit beinahe großmütiger Geste.
Das blieb dann aber auch die einzige freundliche Geste an diesem Tag.
So jedenfalls kam es ihr vor, als sie spätabends in ihrem Zimmer auf dem Bett lag und die Decke anstarrte. Durchgelegenes Bett, muffige Wäsche. Das Abendessen – Eintopf mit undefinierbarem, fettigem Inhalt – lag ihr zentnerschwer im Magen, sie hatte zu hastig gegessen, und das Wasser aus dem Hahn war so kalt wie drei Gletscher gewesen, noch nachträglich schüttelte es sie. Einen zweiten Teller Eintopf hatte sie dankend abgelehnt, worauf der Topf sofort in einer Kammer neben der Küche verschwunden war – bei Elías Böðvarsson schien zumindest rund um den Herd militärische Ordnung zu herrschen. In der Spüle jedoch türmte sich der Abwasch, ansonsten war die Küche leer, keine Regale, keine Ablagen oder Bilder, nur ein einziger kahler Hängeschrank. Die Wand hatte vom jahrelangen Kochdunst eine gräuliche Farbe angenommen. Neben dem wilden Eingangsbereich sah dieser Raum so unbewohnt aus wie eine Jugendherberge. Doch Lies war zu müde, um darüber nachzudenken, und hatte sich gleich nach dem Essen zum Schlafen verabschiedet.
In ihrem Zimmer jedoch wurde sie wieder munter, denn es war fürchterlich kalt – es gab nämlich keine Heizung. Die einzige Heizung im ganzen Haus war offenbar dieser bullernde Ölofen in der Küche. »Pfffff …« Vergiss die Küche. Ihr Gaumen lechzte nach einem Stück Schokolade. Andächtig wickelte sie einen Riegel aus dem Silberpapier – einer von vieren, die noch da waren. Deswegen biss sie auch nur ein Stück ab und packte den Rest wieder in die Nachttischschublade. Dieser Ort machte nicht den Eindruck, als ob man problemlos an Schokolade herankommen würde …
Nachdenklich sah sie sich um. Schrank, Stuhl. Eine nackte Glühbirne. Die Gardinen vor dem Dachfenster schienen hundert Jahre alt zu sein und schafften es, dünnfaserig wie sie waren, nicht mehr, den Raum zu verdunkeln. Und draußen wollte es irgendwie nicht so recht dunkel werden. Zum wiederholten Mal stand sie auf und sah aus dem Fenster. Stets dasselbe Bild: ein schrottreifer Traktor, eine verrostete Egge, eine Reifensammlung, ein blaulackierter Öltank. Dazwischen drei herumstreunende Schafe, die im harschen Schnee scharrten. Eins sah immer wieder in ihre Richtung. Ein Grauschwarzes mit weißer Blesse und endlos langen Rastahaaren. Seine Kiefer bewegten sich emsig kauend, unverwandt starrte es sie aus wässrig kalten Augen an. Was willst du hier? Wer bist du? Es sah nicht sehr freundlich aus. Schneeflocken tanzten durch die Luft und bedeckten die gelblich grauen Grasreste, die die Tiere sich freigescharrt hatten. Der Himmel wurde grauer. Hoffnung glomm in Lies auf, dass es vielleicht doch richtig dunkel werden würde – aber nein. Weit nach Mitternacht, und nichts als staubig finstere Dämmerung, die mit langen Fingern an den Gerätschaften fummelte, doch nichts vollständig zu bedecken vermochte. Sie drang durch das Fenster und stieg an Lies’ Beinen hoch. Zudem zog es durch die Fensterritzen. Sie würde sie ausstopfen müssen, bevor sie im Schlaf erfror, doch womit nur … Schafwolle vielleicht, davon gab es hier sicher genug.
Die Schokolade schmolz langsam an ihrem Gaumen. Süß und dickflüssig floss der Saft die Kehle herab – wunderbar. Ein kleines Stück Schokolade rettete den beschissenen Abend. Wer hätte das gedacht.
Auf dem Nachttisch stand eine alte Petroleumlampe. Lies suchte nach einem Feuerzeug im Rucksack und brachte sie zum Brennen. Die Petroleumlampe war zwar gnadenlos altmodisch, doch durch das Licht draußen wirkte es gleich erlösend dunkler. Mit dem sanften Öllicht gewann das Mobiliar an Freundlichkeit, und sie machte sich auf Entdeckungsreise. Vielleicht sollte sie doch mal den Koffer auspacken? Sie könnte auch die Jacke ausziehen, die sie immer noch trug. Sie war wie ein Panzer gegen Kälte und Unfreundlichkeit. Aber nun gab es ja Licht und vielleicht auch ein bisschen Wärme. Mit dem Pulloverstapel in der Hand öffnete sie die Schranktür, zählte die Regalbretter. Eins für Pullis, eins für Unterwäsche, eins für die Hosen. Eins für alles andere. Die Bretter waren mit altem Zeitungspapier ausgelegt, und eine uralte Flasche Parfüm stand einsam, schlank und unnahbar wie eine Madonna auf dem obersten Brett. Tosca. Mit dem Zeigefinger schob sie sie zur Seite, um die Pullis abzulegen. Das Zeitungspapier war mit den Jahren so dünn geworden, dass es riss, und darunter kam ein weiteres Stück Papier zum Vorschein. Ein altes Schwarzweißfoto. Ein Foto von einem jungen Mann in Uniform, die Fliegermütze keck auf dem Blondschopf sitzend, mit dem Rücken lässig gegen einen Flugzeugpropeller gelehnt. Ein irgendwie unheimlicher Gruß aus der Vergangenheit.
War das Elías selbst? Sein Sohn? Bruder? Ob es noch Familie gab?
An der Schrankinnenseite hingen weitere Fotos. Bilder von Island aus längst vergangenen Zeiten, Höfe, Berge, ein Fischkutter. Vermummte Menschen am Gletscher, struppige, kleine Pferde mit hohen Rückenlasten und gesenktem Kopf.
Gedankenvoll schraubte sie den Parfümflaschenverschluss auf und roch an der Flasche. Erinnerungen an die Oma stiegen in ihr hoch. An ein düsteres Schlafzimmer, wo es stets nach Fußcreme roch und nach Weihwasser, weil sie täglich darauf wartete, vom Herrgott abberufen zu werden. Der jedoch hatte anderes zu tun und ließ sie am Leben. Omas Toscafläschchen war sicher zwanzig Jahre alt, wenn sie überhaupt jemals Parfüm benutzt hatte. Dieses Fläschchen war noch älter und roch sehr intensiv. Tosca passte so gar nicht in diese wilde Einsamkeit. Sie fragte sich, wie dieses Parfum wohl hierhergekommen sein mochte …
Mit den eingeräumten Kleidern im Schrank und ein paar Büchern auf dem leeren Regal wirkte das Zimmer gleich freundlicher. Lies beschloss, sich nicht weiter zu beklagen. Die Klospülung funktionierte einigermaßen, Wasser gab es zwar nur kalt aus der Leitung, dafür reichlich, im Gegensatz zu manchem griechischen Landhotel, und gegen Kälte hatte sie noch zwei filzige Wolldecken im Schrank gefunden. Die muffige Bettwäsche würde man sicher waschen können. Sooo schlimm hatte sie es hier auf Gunnarsstaðir also nicht getroffen, und mit dem knurrigen Alten würde sie schon fertig werden.
Müde von dem anstrengenden Tag schlief sie ein.
Am anderen Morgen saß Elías mit der Kaffeetasse am Tisch, genau so, wie sie ihn gestern Abend verlassen hatte. War er überhaupt im Bett gewesen? Er aß ein mit Marmelade bestrichenes Brot und griff zwischendurch in eine Schale, in der sich auseinandergerissene kalte Kochfleischstücke türmten. Das Fleisch aß er mit den Fingern. Vor ihm aufgeschlagen lag eine Tageszeitung, die er grimmig studierte.
Lies war froh, dass er ihr einen Kaffeebecher herüberschob und mit dem Kinn auf das Essen deutete. ›Gastfreundlich sind sie wirklich alle‹, hatte Silke erzählt. Naja, vielleicht war die Gastfreundschaft dieses Mannes hier ein bisschen eingerostet. Lies beschloss, erst mal nichts krummzunehmen und abzuwarten. Sie nahm von dem Brot und schmierte dick Marmelade darauf, weil es sich hart anfühlte und sie großen Hunger hatte. Der permanente Heizölgestank schlug ihr auf den Magen. War dieser Ofen undicht? Man bekam ja eine Vergiftung, wenn das immer so war … Schweigend aßen sie, ohne einander anzuschauen, genauso wie gestern Abend. Elías zog die Zuckerdose herüber und schaufelte Zucker in seine Tasse. Dem fünften folgte ein sechster Löffel, dann goss er Kaffee aus der Thermoskanne über den Zucker, und Lies wurde schlecht vom Zugucken. Lange hörte man nichts anderes als das Klirren des Löffels am Tassenrand.
Der Essensgeruch mischte sich mit dem Heizöl in der Luft. Da kein Fenster offen war, konnte die Mischung auch nicht abziehen. Ob hier überhaupt je ein Fenster geöffnet wurde? Zweifelnd sah sie den altertümlichen Fenstergriff an, der vielleicht bei dem Versuch zerfallen würde. Draußen tanzten wieder einzelne Schneeflocken an der Scheibe vorbei. Ein Schaf blökte eintönig. Elías zog fröstelnd die Schultern zusammen und rieb sich den Arm. Die Hand auf dem verfilzten Strickpullover war groß und kräftig, dicke Adern hoben sich über der erstaunlich glatten Haut ab, als wollten sie demonstrieren, dass diese Hand schon viel im Leben angepackt hatte. Jetzt hing sie nur müde über dem Ärmel.
Lies fühlte sich genauso unbehaglich wie gestern Abend, aller Mut war verschwunden. Der schwarze Kaffee brannte auf der Zunge. Er war widerlich stark. Milch gab es keine. Sie schob sich einen letzten Brotkrümel in den Mund – welcher Teufel hatte sie geritten, hierherzuwollen, war das wirklich besser als Packbiers tägliches Genörgel, Aktenasthma und Spätabendfrust mit Dornfelder, Schokoriegeln und Schnulzenfernsehen? Aktenasthma.
Ihr fiel etwas ein. Seit sie auf dieser kalten Insel war, hatte sie keinmal husten müssen.
Elías faltete seine Zeitung sehr sorgfältig zusammen, strich die Kanten glatt und legte sie auf die Bank neben sich. Dann stand er auf. Mit einer Hand deutete er auf die Spüle, wo sich fein säuberlich gestapelt der Abwasch von Wochen türmte, wie sie bereits gestern Abend festgestellt hatte. Sie erinnerte sich, dass sie für Haus und Hof angestellt worden war – was immer das hieß. Niemand hatte ihr erklärt, was das genau bedeutete. Aber das hier war der Anfang – also spülen. Spülen war einfach, überschaubar, und es gab wenig Fehlerquellen – es gab nur schmutzig und sauber. Erholsam eindimensional. Lies krempelte sich die Ärmel hoch. Was war ein Spülberg gegen einen Aktenberg voller nicht zu klärender Fragen? Schmutz konnte man wegwischen – auf Fragen gab es selten zufriedenstellende Antworten und meist noch mehr Fragen und am Ende Ärger. Nee – das hier sah aus, als würde es nach ihrem Geschmack werden.
Die Haustür klapperte, und der Hausherr verschwand.
Spülen ist zwar einfach – auf Gunnarsstaðir jedoch ein ungleicher Kampf. Der Durchlauferhitzer verweigerte stoisch seinen Dienst, soviel sie auch an den Knöpfen drehte, und sie musste Wasser auf dem Herd erwärmen. Vielleicht hing das Gerät auch nur zur Zierde da. Ärgerlich sah sie den Wasserbehälter an. »Das ist echt wie im Mittelalter hier«, murrte sie vor sich hin, während sie Küchenschränke auf und zu klappte auf der Suche nach Spülmittel und einer Bürste. Irgendwo kläffte der Hund. Sie sah aus dem Fenster. Die Sonne strahlte vom Himmel, wie um sich Mühe zu geben, den Neuankömmling zu überzeugen, dass es hier nicht gar so übel war.
»Pah!«, machte Lies und runzelte die Stirn. Das, was sie draußen sah, wirkte wie aus Stein. Steinerne Berge mit Falten aus weißem Eis. Steinerner Boden, Grashalme, die zu Stein gefroren waren und sich auch Windstößen nicht mehr beugen konnten. Lies legte die Hand auf die Fensterscheibe. Die Kälte drang bis in ihre Knochen. Thermopane war hier ein Fremdwort, dafür gab es wenigstens eine zweite Scheibe vor der Scheibe. Trotzdem fühlte sie, wie eisig es draußen war. Rasch steckte sie ihre Hand unter die Achsel. Das Schaf mit den Rastalocken hoppelte über die Straße und weg vom Haus. Wo es wohl hinlief? Ob es noch mehr von ihnen gab? Sie seufzte. Mehr Menschen jedenfalls schien es nicht zu geben auf Gunnarsstaðir. Über die Anzahl an Mitbewohnern hatte man in der Arbeitsagentur nicht gesprochen. Leider.
Elías blieb verschwunden, den ganzen Vormittag lang, während Lies sich durch verkrustete Töpfe und schimmelnde Speisereste schrubbte, dicke, stinkende Beläge von Fettgebackenem vom Porzellan schabte, vergammelte Breiüberreste in einem Topf sammelte und hart gewordene Kartoffel von Gabeln kratzte. Dabei knurrte ihr Magen, denn die Scheibe Brot war ja für den hohlen Zahn gewesen. Aber sie fand auch nichts in der Küche, was sie zum Essen reizte. Lebte Elías tatsächlich nur von Brot und diesem kalten Fleisch?? Der Schrank war gähnend leer, nicht mal eine Salzstange oder Knäckebrot befand sich da drin – nur eine Packung Brühwürfel unbekannten Alters. Höhnisch tickte die alte Uhr über ihr an der Wand – siehste – siehste – siehste.
Im Kühlschrank fand sie allerhand Dinge: ein altes Portemonnaie, Handwaschpaste. Einen angeschnittenen Käse mit grünlichem Pelz. Ein Stück Salzfisch. Einen auftauenden Fleischberg. Ein Schälchen mit Schrauben und einen Seitenschneider. Der Kühlschrank auf Gunnarsstaðir schien ein seltsamer Ort zu sein, schnell warf sie die Tür wieder zu.
Aus lauter Verzweiflung nahm sie dann doch ein Stück Fleisch aus der Schale, mit spitzen Fingern, man wusste ja nicht mal, wie alt das Zeug war … und hätte fast auch »siehste« gesagt, weil es einfach entsetzlich schmeckte. Elías Böðvarsson hatte offenbar eine Vorliebe für Salz.
Entnervt schluckte sie diesen und auch den nächsten fiesen Fleischbrocken hinunter, spülte mit Kaffee nach und goss, vorerst gesättigt, einen weiteren Kessel heißes Wasser in die Spüle. Immer noch Töpfe und Teller. Zu essen gab es nichts, aber Geschirr besaß Elías für eine ganze Armee. Sie tauchte die Arme in die allmählich immer fettiger werdende Brühe, denn aus der Spülmittelflasche waren nur noch wenige Tropfen gekommen, und man durfte sich allen Ernstes fragen, wie eigentlich Nachschub diesen Hof erreichte. Wo sie schon mal dabei war, kratzte sie auch gleich den fettigen Belag von den Kacheln und wunderte sich, dass rote Farbe zum Vorschein kam. Kein rotes Haus, aber rote Küchenkacheln – immerhin. Vielleicht fanden sich ja noch mehr heimliche Schönheiten in dieser Einsamkeit …
»Na, da hat Elías dir ja gleich den richtigen Job gegeben«, brummte jemand hinter ihr. Sie fuhr ob der deutschen Worte herum. »Hæ.«
Ein Mann war unbemerkt in den Türrahmen getreten. Groß und breitschultrig, nachtschwarzes, vom Wind verwirbeltes Haar und unergründlich dunkelblaue Augen. Eine Sonnenbrille klebte kess auf seiner Stirn, obwohl es hier doch gar keine Sonne gab. Er streifte seine Schuhe vor dem Kücheneingang ab und schob sie mit dem Fuß beiseite, ohne den Blick von ihr zu lassen.
»Du kommst aus Deutschland, hab ich gehört«, sprach er gleich weiter. »Ich hab in Deutschland studiert, weißt du. In Heidelberg.« Jetzt schaute er fast stolz drein. Sein isländischer Akzent war dezent, die Stimme tief und angenehm. Interessiert sah er sie an. Lies machte das zwar verlegen, sie fühlte sich jedoch gleichzeitig besser, einfach, weil jemand zu ihr sprach. Und dieser Jemand war nett und jung und sah gut aus. Stumm nickte sie und zog die Hände aus dem Spülwasser. Er sah sogar unverschämt gut aus, und sie war die Putzfrau. Super. Klar muss mir so was passieren, dachte sie noch, da trat er einen Schritt näher, mit schräg gelegtem Kopf, um nicht am Türsturz anzustoßen, denn der war für kleinere Menschen als ihn gebaut.
»Und wo ist er, der Alte?«
Lies zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn seit heute Morgen nicht mehr gesehen.« Auch als die Hände schon trocken waren, trocknete sie sie weiter ab, und das Handtuch litt.
Der Mann nickte nachdenklich. Dann klappte er seine langen Beine zusammen und schob sich hinter den wackeligen Esstisch. »Ich nehm mir ’nen Kaffee. Willst du auch?«
Lies blinzelte. Der schien sich hier ja wie zu Hause zu fühlen … oder war das vielleicht so in Island? Stolperte man einfach in ein Haus und machte es sich bequem? Ohne abzuwarten, goss er auch ihren Becher voll, und sie bekam Gelegenheit, das malträtierte Küchenhandtuch beiseitezulegen. Der Stuhl, auf den sie sich setzte, knarzte. Schweigend tranken sie und hörten der tickenden Wanduhr zu. Dann hielt er ihr eine große, aber erstaunlich feingliedrige Hand hin.
»Jóhann Magnússon. Nenn mich Jói, wenn du magst.«
Sie stutzte, dann gab sie ihm ihre vom Spülen verschrumpelte Hand. »Lies heiß ich. Lies Odenthal.«
»Lies«, wiederholte er.
»Lies«, bestätigte sie.
»Lies Odenthal. Hast du einen Gott in deinem Namen versteckt?«
»Was? Was meinst du?«
»Odenthal. ›Oden‹ ist Odin, ein alter Wikingergott. Hat er dich nach Island gebracht?« Er lächelte sie offen an. Lies verstand überhaupt nicht, wovon er sprach, und nickte nur hilflos. Jói rührte drei Löffel Zucker in den Kaffee und trank.
Das Gespräch versickerte.
Als hätte er sich an den dort gelagerten Schrauben verschluckt, gurgelte der Kühlschrank laut auf, bevor er begann, wieder zu lärmen. Lies erinnerte sich, dass das Kühlfach voller Eis hing und man das Gerät sicher wöchentlich abtauen musste. Sie hasste es, Kühlschränke abzutauen. Sie hasste Speisereste. Sie hasste spülen, wenn kein Ende abzusehen war. Dennoch – ihr Besuch schwieg, und der Abwasch tat sich nicht von allein, weswegen sie aufstand und ihre Hände wieder ins heiße Wasser eintauchte, um mit Abscheu die letzten fettigen Töpfe zu schrubben. Jói schlürfte schweigend seinen Kaffee. Sie spürte, dass er sie beobachtete und seine Blicke über ihre Figur wanderten. Im Geiste verdrehte sie die Augen. Konnte man als Frau nicht mal in Ruhe gelassen werden? Sie hasste glotzende Kerle, und an ihr gab es auch nichts zu glotzen. Keine Figur, kein Busen, kein Hintern. Aschbraune, schulterlange Egalhaare, in die sich erste Silberfäden mischten. Mit 30 graue Haare – toll. Lies wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie kamen alle von Packbier, jede einzelne Strähne. Vielleicht noch von Thomas, aber auf den meisten Strähnen stand breit und dick ›Finanzamt‹. Trotzdem klopfte ihr Herz wegen der Blicke hinter ihr.
Der letzte Topf thronte zum Abtropfen auf dem Abwasch, und während sie die Hände wieder abtrocknete, drehte sie sich zu dem glotzenden Kerl um. Der saß jetzt rittlings auf einem der klapprigen Küchenstühle und sah aus dem Fenster, wahrscheinlich schon die ganze Zeit, weil es an ihr wirklich nichts zu glotzen gab. Lies wusste nicht recht, wie sie das finden sollte. Ihr Herz hörte deswegen jedoch nicht auf zu klopfen, und sie war heilfroh, als er den Mund aufmachte, um etwas zu sagen.
»Soll ich dir den Hof zeigen?«, fragte er und stand auf.
»Wir finden Elías sicher im Stall. Da kann er dir gleich deine Arbeit zeigen.«
»Hm«, machte Lies.
Jói sah sie prüfend an. »Elías redet nicht viel.«
Stumm schüttelte sie den Kopf. Nicht viel? An genau zwei Worte konnte sie sich erinnern seit gestern Abend. Im Übrigen war ›nicht viel‹ relativ, dieser Jói taugte ja auch nicht gerade zum Alleinunterhalter.
»Weißt du was? Ich bring ihn für dich zum Reden.« Grinsend zog er ein Döschen aus der Westentasche. »Hiermit schaffen wir das. Komm.«
»Hat Elías keine Familie?«, fragte Lies vorsichtig, als sie über die graue Wiese zum Stall herüberwanderten.
Jói schüttelte den Kopf. »Nicht seit ich ihn kenne. Und das tue ich schon seit ein paar Jahren.« Er kratzte sich am Ohr und stapfte mit großen Schritten vorwärts. Erst am Schafgatter sprach er weiter – offenbar war das wohl in Island so. Nur nicht zu viel von allem. Nicht zu viel Sonne, nicht zu viel Grün, nicht zu viel Essen. Bloß nicht zu viele Worte. Sie schluckte. Von anderem hingegen gab es viel. Kaffee. Steine. Wind. Schweigen.
»Die Leute sagen …«, Jói hielt das Gatter für sie offen, »die Leute sagen, es hätte da einen Vetter gegeben, oben in den Westfjorden. Mit dem habe er sich heillos zerstritten. Bestimmt ist der auch schon tot. Und sonst…« Er zuckte mit den Schultern und schloss das Gatter hinter ihnen wieder sorgfältig.
»Ich dachte immer, jeder in Island hat Familie«, sprach Lies, mutig geworden, weiter. So hatte Silke es ihr erklärt – irgendwie waren sie hier alle miteinander verwandt. Keine Kunst bei gerade mal dreihunderttausend Einwohnern. Sollte man meinen.
»Elías hat keine. Ausnahmen bestätigen die Regel«, grinste Jói. »Ich weiß nicht, was mit seiner Familie ist.«
»Hat er mich dann für den Hof bestellt?« Die Tatsache, dass sie nicht wirklich willkommen gewesen war, ließ Lies keine Ruhe.
»Eine Dame aus dem Krankenhaus hat das arrangiert. Er war krank, musst du wissen.«
»Krank?«
»Genau.«
Doch damit war das Gespräch gerade, wo es interessant wurde, leider beendet, denn sie hatten den Stall erreicht. Lies hatte das Gebäude zunächst gar nicht als solches erkannt, weil es in den Hang hineingebaut war und auf der Seite, von der sie sich genähert hatten, komplett aus Grassoden gefertigt und entsprechend niedrig war. Wie grausilberne Brotscheiben lagen die Grassoden aufeinander, fein säuberlich und ohne Lücken gestapelt, und aus manchen Zwischenräumen wuchsen Grasbüschel heraus. Nach hinten streckte sich das Gebäude in die Länge und war in moderner Bauweise aus Wellblech zusammengesetzt. Die niedrige Tür war nur angelehnt, Jói stieß sie auf. Vorsichtig stieg Lies hinter ihm die Stufe hinab, froh darüber, dem eisigen Wind draußen entkommen zu können. War es wirklich schon April?
Heftiger Stallgeruch schlug ihr entgegen, doch empfand sie den beim zweiten Riechen als gar nicht mehr so unangenehm. Sie wunderte sich, Viehställe hatte sie anders in Erinnerung. Vor allem aber war es wärmer als draußen, ein Grund mehr, schnell hereinzukommen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Im Halbdunkel erkannte sie Dutzende von Bretterverschlägen, in denen sich weiße Wollknäuel bewegten, hier und da blökte eins, die meisten jedoch waren mit Kauen beschäftigt. Elías war nicht zu sehen.
»Typisch Elías«, grinste Jói, »immer im Dunkeln, Petroleum kostet ja Geld. Eines Tages wird er sich noch den Hals hier brechen.« Scherzhaft rief er etwas ins Dämmerlicht hinein, da tauchte der Alte nicht weit von ihnen aus einem Verschlag auf, richtete sich mühsam auf und grunzte zurück.
»Wir dürfen das Licht anmachen«, sagte Jói leise. Er schien sich auszukennen, denn er tastete sich in eine Ecke, wo eine riesige Petroleumleuchte stand, und hantierte mit Streichhölzern. Funzeliges Licht flackerte auf. Die Lampe hängte er an einen Haken in der Mitte des Stalles. Ein Schaf blökte ärgerlich wegen der Störung auf, ein leises metallisch klingendes Meckern. Woanders hüpfte etwas Weißes über Holzplanken und verschwand unter der Mutter. Lämmer. Es gab Lämmer hier! Lies’ Laune hob sich ein wenig, ihre Miene wurde weicher. Kleine süße Lämmer mit schmalen Kindergesichtern und zierlichen rosafarbenen Mäulern; gleich neben der Tür sah sie eines, im übernächsten Verschlag sogar zwei …
Die Männer tauschten einige Worte, Lies trat näher, um zu sehen, was Elías in dem Verschlag tat. Er sah sie, winkte sie nachdrücklich herbei, bückte sich – und einen Moment später klatschte er ihr eine eklig glibbrige Masse in die Hände, während er mit schmutzigem Finger auf eine Tonne am Ende des Ganges zeigte. Konsterniert sah Lies auf ihre Hände. Der kalte Glibber tropfte zäh durch die Finger, er roch durchdringend nach altem Blut und aufgetautem Fleisch … Reflexartig warf sie das Zeug von sich, rannte aus dem Stall und erbrach sich draußen gleich neben der Tür ins spärliche graue Gras. War es Einbildung, oder hörte sie drinnen den Alten verächtlich lachen?
Erschöpft hockte sie sich gegen die Stallwand und versuchte, die verschmierten Hände am Gras abzuwischen. Der Wind kühlte die erhitzte Stirn, Schneeflocken tanzten an ihr vorbei. Der saure Geschmack im Mund verursachte neues Würgen. Sie zitterte, und der Fleecepulli unter der dicken Jacke vermochte nicht mehr zu wärmen. Hundeelend fühlte sie sich. Das hier war schlimmer als Packbier und alle Akten zusammen. Viel schlimmer. Unerreichbar – das hier war unerreichbar. Island. Was für eine bescheuerte Idee. Sie begann zu grübeln, wie sie, kaum angekommen, von diesem Ort wegkommen könnte. Noch heute. Am liebsten gleich. Jói vielleicht …
Die Tür klapperte.
»Elías ist doch ein verdammter alter Teufel.« Jói steckte grinsend den Kopf heraus. »Aber das war nur eine Nachgeburt, er hätte dir genauso gut das Lämmchen auf den Arm geben können.«
»Was – Nachgeburt«, murmelte Lies, »spinnt der, ich kann so was nicht, soll er doch selber …«
»Komm«, sagte Jói, »sei nicht so empfindlich. Elías erklärt dir jetzt, was du tun sollst. Komm.«
Giftig sah Lies ihn an. Eben noch hatte sie ihn gutaussehend und charmant gefunden – und jetzt schlug er sich auf die Seite des Alten und nannte sie empfindlich – na wunderbar. Wo war der Ausgang aus diesem Kino? Es gab keinen Ausgang – außer Jói. Und da sein Auto die einzige Chance schien, hier wegzukommen, und sie es sich daher nicht mit ihm verscherzen wollte, stand sie auf und folgte ihm, Böses im Herzen. Sie hasste den Stall. Sie hasste Nachgeburten und alte Männer, Petroleumlampen, verschimmelte Kühlschränke, eintönig schmeckendes Hammelfleisch. Sie hasste die alten Säcke, die damit lebten. Und beim zweiten Betreten roch der Stall prompt feindselig. Gehässig. Ammoniak ätzte in ihren Augen, das Blöken nervte, überall Schmutz und Unordnung, gleich am Eingang trat sie in eine breiige Masse, und der blöde Köter kläffte rum … Elías saß auf dem Geländer. Auf seinem Schoß hockte ein Lamm, und seine grobknochigen Hände, die das Lamm zart unter dem Köpfchen hielten und mit einer Flasche fütterten, bildeten einen eigenartigen Gegensatz zu dem bärbeißigen, ebenfalls feindseligen Gesicht, das er aufsetzte, als sie sich näherte. Wie du mir, so ich dir.
Lies straffte sich. Okay, er wollte Krieg. Also los, schlechter Laune konnte sie Kontra geben, viel besser als Packbiers perfider Beamtenzickigkeit. Der Alte von Gunnarsstaðir gewann im Kampf um den unangenehmsten aller Gegner wieder an Boden.
Mit ebenfalls finsterem Gesicht wandte sie sich an Jói. »Frag ihn, was meine Arbeit ist.«
»Du musst Isländisch lernen, Lies.«
»Ich hab keinen Bock, Isländisch zu lernen. Frag ihn.«
»Keinen Bock.«
»Keinen Bock, nein«, sagte sie heftig.
Jói sah sie an und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann aber tat er, wozu sie ihn aufgefordert hatte. Elías hörte sich die Frage an, die im Übrigen im Isländischen viel länger wirkte als auf Deutsch. Wütend fragte sie sich, was er wohl noch alles für Geschichten über sie erzählte – ach, egal. Mit verschränkten Armen blickte sie die Decke an – besser die als diesen alten, unfreundlichen Sack.
Elías brummte. Dann glitt sein Blick an ihr herunter. Abschätzend. Und er sagte genau einen Satz. Jói kratzte sich am Ohr.
»Und?«, fragte Lies ungeduldig. Sie hatte Hunger wie ein Bär, jetzt wo der Magen leer war, und ihre Laune wurde immer schlechter. »Und?«
»Er sagt, du sollst alles machen, was er macht, aber ohne ihn zu stören.«
»Du nimmst mich auf den Arm.« Jetzt schaute sie sehr böse drein, und Jói überlegte, dass diese Deutsche, so hübsch und nett sie auch aussah, doch verdammt viele Haare auf den Zähnen hatte. Na, das würde ja eine lustige Hausgemeinschaft auf Gunnarsstaðir geben …
»Nein, genau das hat er gesagt. Mach einfach alles, was er macht, dann lernst du es schon. Und lauf ihm nicht zwischen den Füßen rum, das kann er nicht leiden.«
Gab es irgendwas, was Elías überhaupt leiden konnte? Na, das Lämmchen vielleicht. Bei genauerem Hinsehen war es wirklich niedlich. Lies’ schlechte Laune wankte, als das kleine Viech sie ansah und zu meckern begann.
»Es sagt dir willkommen, hörst du?«, bemerkte Jói leise. Sie begegnete seinem ernsten Blick. Sie wusste darauf nichts zu sagen. Elías ließ das Tier in den Verschlag zurückfallen und griff sich das nächste, ohne ein Wort zu sagen.
»Hier im Stall sind die Mutterschafe.« Jói zog sie ein Stück den Gang hinunter. »Die stehen hier, bis die Lämmer groß genug sind, um mit den Temperaturen klarzukommen, dann treibt man sie nach draußen auf die Weide. Du wirst einen Blick dafür kriegen, wann sie so weit sind. Sie bekommen mehrmals am Tag Heu – das findest du dort hinten, die Ballen am Tor, und Wasser müssen sie stets zur Verfügung haben. Einfach immer gucken, wenn kein Heu mehr da ist, neues hinlegen. Der Wasserhahn ist mit Schafwolle umwickelt, damit er nicht einfriert, die Eimer stehen dort neben der Tür. Die Mutterschafe müssen immer Wasser und Futter haben, sonst geben sie nicht genug Milch, und die Lämmer bleiben schwach. Die Böcke dort drüben…«, er deutete auf einen abgetrennten Teil des Stalles, wo mehr Bewegung herrschte und wo vielleicht zehn Schafe auf einem Haufen umherwuselten, »die Böcke bekommen nur dreimal am Tag. Draußen hab ich auch noch welche entdeckt, denen kannst du am Zaun Heu hinlegen. Im Herbst werden die Böcke kastriert, und manche von ihnen kommen, wenn sie groß genug sind, zum Schlachter.«
»Aha.« Lies verzog das Gesicht. Das hier war ja härtestes Bauernleben. Sie fand es furchtbar.
Da legte er seine Hand auf ihren Arm. »Einfach ein bisschen nach dem Rechten sehen, ob’s allen gut geht. Du wirst sehen, man arbeitet sich schnell ein. Geh einfach herum, schau dir alles an, nimm alles in die Hand und probier’s aus. Island ist ganz viel Ausprobieren.« Seine Braue zuckte. »Wirklich. Ach ja, und wenn’s zu sehr stinkt, den Mist rausräumen. Hinten durch das Tor, da findest du den Misthaufen und die Schubkarre. Ist doch ganz leicht, oder?« Jói lächelte. »Und im Haushalt kennst du dich sicher besser aus als ich.«
»Hmhm«, kommentierte Lies seine Kurzeinführung. Die Hand auf ihrem Arm verursachte Kribbeln auf der Haut. Als merke sie das, verschwand sie.
»Fang an«, grinste Jói. »Ich lenk ihn ab.« Damit zog er die kleine Dose aus der Jackentasche, entnahm ihr ein stark riechendes, tabakartiges Zeug, tauchte es mal kurz in den Wassereimer, um es durchzuwalken, und schob es sich dann unter die Oberlippe, bis er aussah wie ein Boxer nach dem Kampf. »Tabak«, sagte er undeutlich auf ihren ungläubigen Blick hin. »Feiner guter Tabak.« Ein letztes Mal auf die dicke Oberlippe gedrückt, stapfte er mit einem Zwinkern an Lies vorbei auf den Alten zu. Sie hörte Murmeln, den Deckel der Dose, und stellte sich vor, wie Elías Böðvarsson sich die Oberlippe bis zum Ohr mit Tabak vollstopfte und vom Drogenrausch vielleicht tatsächlich mal lachte.
Und Lies fing an.
Sie rupfte von einem riesigen Heuballen das Heu herunter, lud sich die Arme voll und stolperte durch den Stall, dessen Eigenheiten ihr noch nicht vertraut waren und dessen geheime Stolperfallen sie nicht kannte, ebensowenig wie die gierigeren Exemplare unter den Mutterschafen, die ihr auf den Futtergängen die Hörner gegen die Beine stießen, weil sie nicht schnell genug war und auch die Mengen nicht richtig abschätzte.
Jói und Elías scherzten sparsam herum, irgendwann standen sie auf, immer noch mit dicken Oberlippen, und begannen ebenfalls Futter herumzutragen, und Lies konnte sich abschauen, wie groß die Mengen für die einzelnen Tiere waren. Ob Jói das mit Absicht tat oder ob man das in Island so machte – beim Nachbarn einfach mal mitanpacken, wenn man schon grad da war, das wusste sie nicht, war aber froh über diese kleine Unterstützung. Und irgendwie musste sie nicht nur auf das Heu gucken, sondern auch immer wieder dem schwarzen Schopf hinterherschauen. Weil er so gut aussah, und weil seine Anwesenheit guttat.
Doch leider dauerte die Hilfe nicht lange an, denn unvermutet stolperte Elías zum Stall hinaus, Lies hörte was von »kaffipása«, und weg waren die beiden, und die Stalltür schlug unfreundlich hinter ihnen zu. Der Spitz, der auf einem Haufen alter Wolle in der Ecke hockte, knurrte sie an, als wolle er ihr bedeuten, den Männern ja nicht zu folgen. Männerkaffee war Männerkaffee. Schließlich war es schon Mittag, und die Arbeit noch lange nicht getan. Und sie, Lies, war zum Arbeiten hier. Der Spitz hechelte.
»Is’ ja schon gut«, murmelte Lies.
Sie richtete sich auf und sah sich um. Ohne Elías sah der Stall weitaus weniger bedrohlich aus. Das Licht der Petroleumlampe schien warm und gnädig auf die zusammengehämmerten Verschläge, und auch der Geruch, der ihr eben noch so feindselig erschienen war, normalisierte sich wieder. Es gab zwei Futtergänge oberhalb der Verschläge, über die man alle Schafe erreichte. Heu türmte sich auf diesen Gängen, und gehörnte Schafsköpfe wackelten über den Halmen, die zufrieden malmten und ab und an einen Schluck Wasser aus den zerschnittenen Plastikkanistern soffen, die neben den Verschlägen als Trinknäpfe standen. Sie bewunderte die kunstvoll gedrehten Hörner der Tiere, die es nicht zu stören schien, wenn man sie anfasste. Zumindest beim Fressen nicht. Die Wolle fühlte sich unglaublich fettig an, und so ein Schafskopf hat nichts Weiches mehr, wenn man die Finger aufs Fell legt. Hart wie Holz war so ein Kopf, fremd für die Hand, und das Schaf schien gar nicht zu merken, dass es dort angepackt wurde. Lies verstand nun, woher der Begriff ›Schafskopf‹ kam.
Nein, der Stall war geradezu friedlich. Sie erinnerte sich an diesen Zeitungsausschnitt, den Silke ihr gegeben hatte. So ähnlich war das hier. Nur die nette Isländerin fehlte. Aber sonst … Weiches Licht, Windstille. Hier und da meckerte mit heller Stimme ein Lamm. Es raschelte, wo Nasen im Heu stöberten, es hüpfte und polterte über Planken, oder ein Mutterschaf blubberte. Sonst hörte sie nichts. Erholsam.
Dann ein heftiger Schlag.
Lies fuhr zusammen.
Er zerriss den Frieden, störte die Idylle, störte Lies, die sich für einen Moment auf der Brüstung ausruhte, weil sie solch körperliche Arbeit überhaupt nicht gewohnt war, und dann auch noch ohne Frühstück und Mittagessen!
Wieder ein Schlag, ein Tritt, Holz splitterte. Ihr Herz schlug heftig.
Lies schlich in die Richtung, von wo aus der Lärm kam. Ans Ende des Stalles war ein weiterer Verschlag gebaut, nur nicht in den Boden hinein wie die Schafsboxen, sondern höher, als sie gucken konnte, und als sie zwischen die Bretter lugte, blickte sie in zwei empörte, riesengroße schwarze Augen. Gleich darauf krachte es erneut, direkt vor ihr.
Lies fuhr zurück. Ein Pferd. Hinter der Holzwand stand ein Pferd.
Sie mochte keine Pferde.
Silke hatte welche. Silke roch, wenn sie vom Reiten kam, gab ihr ganzes Geld für diese Viecher aus und hatte nie Zeit. Manchmal fiel sie beim Reiten runter, manchmal fluchte sie über Tierarztkosten und darüber, was eins der Viecher wieder verbrochen hatte. Vor allem aber roch sie nach ihnen, egal, welches Kleidungsstück sie aus dem Schrank zerrte.
Hier in diesem Verschlag roch es anders – es stank nach Urin und Mist.
Die Augen hinter den Brettern blitzten ärgerlich. Ein kurzes heftiges Schnauben, dann trat das Pferd erneut mit dem Vorderhuf gegen die Holzwand. Lies fuhr zurück. Ein Teufel auf vier Beinen! Auf so was hatte sie ja gar keine Lust, überhaupt nicht.
»Heißt du Packbier, oder was?«, knurrte sie und trat den Rückzug an, bei den Schafen war es friedlicher. Sie drehte den Wasserhahn auf, den sie zwischen Wollresten gefunden hatte, und ließ Wasser in die Eimer laufen, um die Näpfe der Schafe aufzufüllen. Hinter der Boxenwand quiekte es böse, gleich darauf bollerte es wieder gegen die Wand. Der Mist quatschte unter den Hufen, als das Pferd hin und her stapfte und wütend schnaubte.
Lies hörte sich das Gepoltere von den Wassereimern aus eine Weile an. Als es immer heftiger wurde, begann sie jedoch, um die Boxenwand zu fürchten. Was, wenn das Pferd sie zertrümmerte? Kopflos hier im Stall umherrannte – oder sie am Ende gar angriff? Bestimmt konnte es eine Wand eintreten. Wer konnte schon ahnen, wozu so ein eingesperrtes Pferd noch alles fähig war … Sie fasste sich ein Herz und näherte sich noch einmal der Box. Das Pferd hielt inne, schnaubend und mit blitzenden Augen.
Die Tür war in der Mitte zweigeteilt. Mit zitternden Fingern öffnete Lies den Riegel vom oberen Teil, um in die Box hineinzuschauen. Sie hatte keine Ahnung von Tieren, aber vielleicht stimmte ja etwas nicht, dass es sich so gebärdete.
»Halt dich bloß zurück, Packbier – komm mir nicht zu nahe, hörst du, bleib wo du bist …« Als das Fenster aufschwang, wich das Pferd zurück, heftig schnaufend. Lies ließ den Blick durch die Box wandern. Sie sah Matsch und Mist, aber kein Futter.
»Okay … Hast du Hunger, Packbier, ist es das?«, fragte sie leise und betrachtete das Tier genauer. Weiß war es, schneeweiß mit überschäumender, dichter, langer Mähne, in der sich Schmutzklumpen gefangen hatten. Die dunkelgrauen Nüstern weiteten sich bei jedem Atemzug, Empörung stand in der Luft.
»Du hast Hunger«, stellte Lies nüchtern fest. Wie zur Bestätigung schaukelte das Pferd nickend mit dem Kopf. Ein Vorderhuf scharrte über den Boden. Hunger. Und so pflückte sie einen Arm voll Heu vom Ballen. Als sie wieder an der Tür stand, machte das Pferd einen Schritt auf sie zu. Nur einen, dann blieb es wie angewurzelt stehen, auch als sie ihm das Heu hinhielt. Seine Augen weiteten sich, die Nüstern blähten sich, aber es blieb auf seinem Platz stehen.
»Herrgott. Dann eben nicht«, knurrte Lies und ließ den Haufen unterhalb der Tür in den Mist fallen. Schritt für Schritt kam das weiße Pferd näher, ohne sie aus den Augen zu lassen, und bediente sich vorsichtig an dem Heu, immer noch wachsam, und Lies störte es nicht weiter. Da schnaubte es schließlich zufrieden, als wollte es sagen – endlich hast du kapiert.
Nachdenklich blieb Lies an der Tür stehen und betrachtete den Stall, der dämmrig vor ihr lag.
Alles schien mit einem Mal so einfach.